Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Funktion des Obszönen im Fastnachtspiel
2. Form und Funktion der Fäkalmotivik im „Vasnachtspil vom Dreck“
2.1. Verkehrung der Alltagswelt durch die Bauern
2.2. Verkehrung der medizinischen Kunst durch die Ärzte
2.3. Die Lehre des Bauern
2.4. Funktion des Epilogs
3. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Einleitung
Im Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts ist die Trieb- und Vitalsphäre des Menschen Gegenstand vieler Darstellungen. Ein Großteil der überlieferten Fastnachtspiele thematisiert die Bereiche des Sexuellen und Fäkalen. Der Rahmen der Festlichkeiten zur Fastnacht erlaubte es, sich über die geltenden Normen gesellschaftlicher Moralvorstellungen und Werte hinwegzusetzen und sie ins Gegenteil zu verkehren.
Im „Vasnachtspil vom Dreck“ wird der Bereich des Fäkalen zum Mittelpunkt der Darstellung gemacht und im Schutz der ´Narrenfreiheit` ein unterhaltsames Spiel mit gesellschaftlichen Verhaltensvorschriften getrieben. Die Rolle des Bauernnarren wird genutzt, um gesellschaftlich tabuisierte Körperfunktionen zu benennen, sich in skatologischen Wortspielen zu ergehen und das affektive Ausleben von Körperlichkeit zu inszenieren. Triebhafte Verhaltensweisen und Unmäßigkeit werden auf diese Weise spielerisch zur Norm erklärt und treten an die Stelle des gesellschaftlichen Zwangs zur Selbstbeherrschung, der mâze.
Die Werteverkehrung betrifft Themen, die für das soziale Miteinander des Handwerkerstandes von Bedeutung waren. In der vorliegenden Arbeit soll herausgestellt werden, auf welche Weise die Inszenierung verkehrter Welt durch Bezugnahme auf verschiedene Bereiche des Alltagslebens der Nürnberger Handwerker erfolgt. Außerdem wird reflektiert, welche Funktion die Fäkalmotivik haben könnte. Nach einer kritischen Reflektion einiger kontroverser Forschungsbeiträge erfolgt eine detaillierte Analyse des Fastnachtspiels, die dem dreiteiligen Aufbau des Stücks folgt.
1. Die Funktion des Obszönen im Fastnachtspiel
Um Wesen und Funktion der Fäkalthematik besser bestimmen zu können, sollen zunächst Thesen der Fastnachtsspielforschung zur Funktion des Obszönen im Fastnachtspiel des 15. Jahrhundert vorgestellt und kritisch reflektiert werden.
Johannes Müller erklärt die „grosse Beliebtheit der analen und skatologischen Obszönität im Fastnachtspiel“[1] unter Zuhilfenahme von Sigmund Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung. Die Deutschen seien stärker als andere Völker von analen Fixierungen geprägt.[2] Es ist jedoch problematisch, psychoanalytische Annahmen auf die mittelalterliche Literatur anzuwenden. Sigmund Freuds Theorie wurde an der Wende zum 20. Jahrhundert auf Ergebnissen von Fallstudien begründet, nicht auf der Basis mittelalterlicher Literatur. Sie lässt sich daher nicht auf die spezifische Situation der Nürnberger Handwerker im späten 15. Jahrhundert übertragen. Die ausführliche, ins Detail gehende Beschreibung der Defäkation im Fastnachtspiel führt Müller darauf zurück, dass „die Ausscheidungsfunktionen, anders als heute, weit weniger tabuisiert waren als die Sexualität“[3].
Die Annahme, dass im Spätmittelalter ein freierer Umgang mit skatologischen Themen möglich war, setzt voraus, dass von dem Spielgeschehen der Fastnachtspiele auf die historische Wirklichkeit geschlossen werden kann. Das Thematisieren der Defäkation fand jedoch im Rahmen der Fastnacht statt, die Gelegenheit bot, Konventionen des gesellschaftlichen Miteinanders zeitweilig außer Kraft zu setzen und tabuisierte Themen zu inszenieren. Dafür sprechen zahlreiche Bildzeugnisse des Spätmittelalters sowie Fastnachtsbräuche, die fäkale Vorgänge thematisieren.[4] So war die „öffentliche Präsentation menschlicher Exkremente oder täuschend ähnlicher Imitationen“[5] ein beliebter Spaß zur Fastnachtszeit, der noch heute praktiziert wird. Werner Mezger stellt vor diesem kulturhistorischen Hintergrund heraus, dass diese bis heute ausgeübten Fastnachtsbräuche ihren Ursprung im Wesen der spätmittelalterlichen Narrenidee haben. Die Fastnachtsnarren „wollen die Welt auf den Kopf sehen, drehen das Unterste nach oben, entblößen das zu Verbergende, nehmen den Kot als Speise, verkehren alle Ordnungen in ihr Gegenteil“[6]. Die Affinität der Fastnachtsnarren zur Fäkalsphäre zeigt sich auch im „Vasnachtspil vom Dreck“, in dessen Mittelpunkt ein Kothaufen von enormen Ausmaßen steht, über dessen Verwendungsmöglichkeiten und Entstehung sich die Narren im Bauernkostüm ausgiebig unterhalten.
Rüdiger Krohn hat sich der Frage gewidmet, ob durch die Inszenierung des Obszönen im Fastnachtspiel bestehende Normen in Frage gestellt werden. Er behauptet, dass die Obszönität „einen bewußten, kompensatorischen Verstoß gegen die herrschende Moral“[7] darstellt. Dazu weist er auf sozialhistorischer Ebene die gravierende Einschränkung der Rechte des Nürnberger Handwerkerstandes nach. Seit der Niederschlagung des Aufstandes von 1348/49 und dem Verbot der Zünfte verstärkte der Rat der Stadt Nürnberg seine Disziplinierungsversuche der Handwerkerschaft. Durch die Einrichtung des städtischen Rugsamtes wurde ein Kontrollinstrument geschaffen, das die Überwachung und Kontrolle des Handwerkerstandes verschärfte.[8] Weil die Gesellenordnung einen Arbeitstag von 15 Stunden vorschrieb, hätten die Handwerker außerdem kaum Zeit für gesellschaftliche Unternehmungen und kaum Gelegenheiten zum Kontakt mit Frauen gehabt.[9] Die Fastnachtspiele hätten deshalb eine Ventil- und Kompensationsfunktion im Sinne eines fiktiven und zeitweiligen Ausbruchs aus geltenden Konventionen und Zwängen. Sie seien von den Handwerkern verstanden worden „als einmalige Möglichkeit, sich vorübergehend von all jenen Zwängen zu befreien, denen sie das ganze Jahr über ausgesetzt waren“[10].
Die Annahme, dass ein Ausbrechen aus den gesellschaftlichen Konventionen nur während der Fastnacht möglich gewesen wäre, impliziert, dass gesellschaftliche Normen außerhalb dieser ´Ausnahmezeit` auch wirklich eingehalten wurden. Bastian Hagen legt dar, dass Darsteller und Publikum nicht nur im fiktionalen Spiel ihre Triebbedürfnisse befriedigen konnten.[11] So gab es mit etwa hundert kirchlichen Fest- und Feiertagen eine ausgeprägte Festkultur neben der Fastnachtszeit.[12] Gegen einen sexuellen Triebstau spricht beispielsweise, dass Prostitution im Rahmen des städtischen Bordells geduldet wurde.[13] Zudem lassen überlieferte Ratsdekrete auf zahlreiche Normübertretungen der Handwerkerschaft schließen. Geahndet wurden unter anderem illegale Zünfte und Trinkstuben, exzessive Feste und illegale Prostitution.[14] Die Fastnachtspiele haben demnach „keinen konkreten strategisch-instrumentellen Sinn“[15]. Ihr Hauptthema ist „das Gegeneinander von Triebhaftigkeit und Affektregulierung, Luststreben und gesellschaftlichem Zwang zur Selbstbeherrschung“[16].
Hedda Ragotzky macht ebenfalls deutlich, dass die im Fastnachtspiel inszenierte verkehrte Welt keine Gegenwelt neuer Normen sei, „die kritisch über die bestehende Ordnung hinausweist“[17]. Der Reiz bestehe „in der Verkehrung als Prinzip“[18], das keine neuen Möglichkeiten der Sinngebung erkennbar werden ließe. Michail Bachtin betont ebenso, dass der Karneval „den Wechsel, den Vorgang der Abfolge – nicht das, was der Wechsel jeweils bringt“[19] feiert. Die „fröhliche Relativität eines jeden“[20] werde verkündet. Die sonst geltenden gesellschaftlichen Normen, „Pietät und Etikette“[21], werden für die Dauer der Fastnacht außer Kraft gesetzt. So auch Norbert Schindler: der Karneval ist ein „Fest des Körpers“[22], sein Thema ist „der Widerstreit des ´wilden` und des ´zivilisierten` Körpers, der elementaren und der kultivierten Bedürfnisse, des Zwangs und der Freizügigkeit“[23]. Auch im „Vasnachtspil vom Dreck“ wird der ´unzivilisierte` Körper, die Trieb sphäre des Menschen, in Szene gesetzt durch die Verkehrung der Normen der offiziellen Welt. Auf welche Weise die Verkehrung erfolgt, wird im Folgenden durch die Analyse des Spiels dargestellt.
2. Form und Funktion der Fäkalmotivik im „Vasnachtspil vom Dreck“
2.1. Verkehrung der Alltagswelt durch die Bauern
Der Bauer in der Narrenrolle ist die beliebteste Figur im Fastnachtspiel. Dieser Typus entsprach nicht der Lebenswirklichkeit der Bauern.[24] Das Bauernkostüm diente, wie auch andere Verkleidungen der Fastnachtspieler, vielmehr dazu „ihren Lustaffekten und Triebbedürfnissen [...] spielerisch und tiefernst zugleich freien Lauf zu lassen“[25]. So konnte „ein frivoles Spiel mit gesellschaftlichen Verhaltensvorschriften“[26] getrieben werden. Hedda Ragotzky stellt heraus, dass der literarische Bauerntypus als Repräsentant von „Diesseitigkeit“, „Triebhaftigkeit“ und „Geschlechtlichkeit“ der Neidhart-Tradition verpflichtet ist.[27] Im Fastnachtspiel des 15. Jahrhundert wird der Bauer der Neidhart-Tradition, der „Gegenbild höfischer Kompetenz“[28] ist, zum Träger der Narrenrolle und verkörpert das närrische Treiben der Fastnacht durch das „Prinzip der Verkehrung“[29].
[...]
[1] Müller, Johannes: Schwert und Scheide. S. 195.
[2] Vgl. Ebd.
[3] Ebd. S. 196.
[4] Vgl. Mezger, Werner: Narrenidee und Fastnachtsbrauch. S. 171ff.
[5] Ebd. S. 174.
[6] Ebd. S. 180.
[7] Krohn, Rüdiger: Der unanständige Bürger. S. 7.
[8] Vgl. Ebd. S. 75f. Dazu auch Bastian, Hagen: Mummenschanz. S. 28f.
[9] Vgl. Ebd. S. 90ff.
[10] Ebd. S. 89.
[11] Vgl. Bastian, Hagen: Mummenschanz. S. 67.
[12] Vgl. Ebd. S. 31.
[13] Vgl. Ebd. S. 47.
[14] Vgl. Ebd. S. 49.
[15] Bastian, Hagen: Mummenschanz. S. 78.
[16] Ebd.
[17] Ragotzky, Hedda: Der Bauer in der Narrenrolle. S. 85.
[18] Ebd.
[19] Bachtin, Michail: Der Karneval und die Karnevalisierung der Literatur. S. 51.
[20] Ebd.
[21] Ebd. S. 48.
[22] Schindler, Norbert: Widerspenstige Leute. S. 165.
[23] Ebd. S. 165f.
[24] Vgl. Bastian, Hagen: Mummenschanz. S. 71.
[25] Bastian, Hagen: Mummenschanz. S. 74f.
[26] Ebd.
[27] Vgl. Ragotzky, Hedda: Der Bauer in der Narrenrolle. S. 77.
[28] Ebd.
[29] Ebd. S. 81.