Dieser Roman erzählt die Geschichte eines alten Mannes, der über seine drei Ehen sinniert. Drei Ehefrauen, drei Töchter, drei Kapitel eines Daseins, das von Liebe, Irrwegen, Leidenschaft und Scheitern geprägt ist.
Während er mit leiser Ironie und einer entwaffnenden Offenheit über Philosophie, Haikus, das Altern und die Zumutungen des Körpers nachdenkt, entfaltet sich das Porträt eines Mannes, der rückblickend versucht, seine eigene Geschichte zu verstehen. Dabei stellt sich ihm die Frage: Wie werden Beziehungen heute gelebt – und was hält sie wirklich zusammen?
Inmitten dieser Rückschau entsteht etwas Unerwartetes: ein zartes, kluges Band zwischen ihm und seiner Enkelin. Sie bringt eine Leichtigkeit in sein Leben, die er fast vergessen hatte, und zwingt ihn zugleich, die über Jahre verfestigten Gewissheiten zu überprüfen.
Ein stiller Roman über das Älterwerden, familiäre Bindungen, die Unschärfe von Erinnerungen und den unbestechlichen Blick zurück.
Eine Übersicht der bisher erschienenen Bücher des Autors findet sich auf seiner Homepage unter: www.bonfranchi.info
6. Camilla
7. Barbara
8. Johanna
9. Barbara
10. Tiffany
11. Johanna
12. Rhea
13. Josette
14. Johanna
15. Tiffany
16. Rhea
17. Josette
18. Tiffany
19. Rhea
20. Tiffany
21. Josette
22. Rhea
23. Josette
24. Rhea
25. Tiffany
26. Tiffany und Josette
27. Josette
28. Rhea und Josette
29. Pamira
30. Josette und Tiffany
31. Elisabeth
32. Elisabeth
33. Der alte Mann und Elisabeth
34. Rhea
35. Tiffany, Rhea und Josette mit Pamira
36. Tiffany und Josette
37. Rhea
38. Der alte Mann und Barbara
39. Der alte Mann und Tiffany
40. Der alte Mann und der Clubbetreiber
41. Der alte Mann und Elisabeth
42. Der alte Mann und Pamira
43. Rhea und Josette
44. Rhea und Tiffany
45. Der alte Mann und Rhea
46. Elisabeth und der alte Mann
47. Elisabeth
48. Pamira
49. Pamira und der alte Mann
50. Pamira
51. Der alte Mann und Elisabeth
52. Der alte Mann
53. Der alte Mann und das Begräbnis
Über den Autor
Riccardo Bonfranchi
Der alte Mann und seine Frauen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 9783389165607
Impressum:
Copyright © StorySphere 2025
Ein
Imprint der GRIN Publishing GmbH, München,
Germany
Druck und
Bindung: Books on Demand GmbH,
Norderstedt, Germany
Text: © 2025 Copyright by Riccardo Bonfranchi
Alle Haikus sind aus dem Buch ‘HAIKU’ – Japanische Gedichte. Krusche, Dietrich (Hrsg.), dtv, München 2023 (20. Aufl.)
Umschlaggestaltung: GRIN, Motiv generiert mit DALL-E
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Vorwort
Natürlich könnte man vermuten, dass ich, also der Autor, dieser hier beschriebene alte Mann sein könnte. Es könnte sein, aber es muss es nicht. In dieser Geschichte geht es um die Erinnerungen eines alten Mannes. Aber man weiss, dass Erinnerungen Gemachtes sind. In dem Moment, wo man sich zu erinnern glaubt, erschafft man Wirkliches. Man stellt sich vor, dass es so gewesen ist und in Wirklichkeit stellt man sich vor, wie es gewesen sein könnte und dies aus der jetzigen Sicht. Es ist demnach eine Art contradictio in adjecto, ein Widerspruch in sich selbst. Man meint nur, es wäre so gewesen und erschafft dabei gleichzeitig eine völlig neue Realität, die aber wiederum nicht real ist. So hat das Ganze denn auch etwas Therapeutisches. Philip Roth spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Autofiktion, weil man bemüht ist, was aber in sich selbst betrachtet sinnlos ist, seine Vergangenheit zu eruieren. Ein notwendiges, aber fruchtloses Unterfangen, weil die Vergangenheit mit der Gegenwart, geschweige dann mit der Zukunft aber auch nichts zu tun hat. Oder vielleicht doch, ein bisschen. Ich weiss es nicht. Also erkläre ich, dass die hier auftretenden Personen fiktiv sind und mit der Realität nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Aber es könnte natürlich schon auch sein, dass sich hie und dort gewisse Erinnerungsschnipsel in die Geschichte hineingeschlichen haben (könnten).
1. Der alte Mann
Der alte Mann sass allein in seiner Wohnung. Gerade gestern hatte jemand, er konnte sich gar nicht mehr genau erinnern, wo es gewesen war, nahm sein Gedächtnis, also sein Kurzzeit-Gedächtnis jetzt immer mehr ab, also dieser Jemand hatte gesagt, irgendetwas mit W. Den Rest des Wortes hatte er nicht verstanden und hatte daraus das Wort Wohnung gebildet. Also er war der Meinung, dass er Wohnung gehört, also verstanden hätte. Im Laufe der Erzählung konnte er sich dann, kontextartig, zusammenreimen, dass die betreffende Person, von der er im Moment nicht mehr wusste, wer sie gewesen war, Wallis, also den Kanton in der Schweiz, gemeint hatte. Ärgerlich fand er, wieso er nicht in der Lage gewesen war, den zweiten Buchstaben auch zu verstehen, denn dann wäre er schon bei Wa gewesen. Wieso er dann ein Wo daraus gemacht hatte, bzw. sich in seinen Gehörgang bzw. ins Gehirn, eingeschlichen hatte, war ihm unerklärlich und ärgerlich zugleich.
Aber dagegen gab es ja Hörgeräte, die er seit bereits einigen Jahren trug. Das war auch nicht immer einfach, aber sich darüber auszulassen, fehlte ihm die Lust oder die Energie. Er schalt sich selber, was sollte dieses ewige Gejammer, nur weil man alt war. Gut, Seniorinnen und Senioren bzw. ihre Gebrechen und was sie doch Sinnvolles im Alter tun sollten, war in Mode. Starb man/frau früher mit 66, so fängt heute das Leben damit erst an. Was für ein Unsinn, dachte er. Die Gebrechen fangen dann an. Aber Tatsache war schon, dass man eben heute mindestens 80 Jahre alt werden konnte. Die Zeitspanne, wo man sich durch Arbeit selbst erhalten musste bis hin zur Zeit des Ablebens, war in den letzten Jahrzehnten ständig gestiegen. Was konnte man dagegen tun? Ganz einfach, indem man die Lebensarbeitszeit verlängerte, dann verkürzte sich automatisch auch die Restzeit bis zum Tod. So einfach war das. Oder eben vielleicht doch nicht. Weil nicht arbeiten zu müssen und trotzdem ökonomisch abgesichert zu sein, ist ein Privileg und wer gibt dieses schon gerne auf.
Der alte Mann war nicht besonders gross, so leicht unterdurchschnittlich, etwas mehr, aber nur wenig, als 170 Zentimeter. Er war breitschultrig und hatte einen Bauchansatz, wenn auch nur einen kleinen. In einer Männer-Umkleidekabine hatte er einmal, es muss Jahrzehnte her sein, jemanden sagen hören, dass der eigene Bauch nur so weit vorstehen dürfe, damit man seinen eigenen Schwanz noch ordentlich sehen könne. Darauf würde er, als dieser damalige Erzähler, bei der täglichen Gewichtskontrolle genau achten. Die Männer darum herum hatten gelacht. Er hatte diesen einen Satz nie vergessen und sah ihn als richtig an. Männer, die seit Jahren ihr eigenes Gemächte nie mehr gesehen hatten, verachtete er. Diese hatten keine Selbstachtung, stopften sich voll. So war es auch bei seinem Vater gewesen. Als dieser tot, nach einem Herzinfarkt, im Spital auf einer Bahre lag, bedeckt von einem grossen Tuch, sah man nur einen riesigen Berg, so ungefähr in der Mitte der Bahre. Er fand dieses Bild abscheulich. Dies konnte aber auch mit seinem Verhältnis zu seinem Vater zusammenhängen. Aber er verspürte keine Lust, darüber näher zu sinnieren.
So sass er denn nach dem Frühstück manchmal so da. Die Zeitung hatte er auch schon gelesen, das Kreuzworträtsel in Minutenschnelle gelöst und dachte an irgendetwas. Die Gedanken fliessen lassen. So wie auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Dabei wäre er froh darum gewesen, wenn er davon etwas verloren hätte. Aber was würde das denn bedeuten, nämlich dass diese verlorene Zeit wieder zurückkehren würde. Ein witziger Gedanke, fand er.
Er wohnte im Parterre und hatte vor seinem Wohnzimmer einen kleinen Garten. Dieser bestand allerdings nur aus Gras und war eigentlich eine kleine Wiese. Links Nachbarn, rechts Nachbarn und deshalb war sein Garten ein Überquerungsfeld für Katzen. Sie kamen unregelmässig. Er wollte nicht, dass sie sich auf seiner kleinen Wiese niederliessen und ihre Notdurft verrichteten. So streichelte er sie nie und gab ihnen auch nie etwas zu fressen. Die Katzen hatten dies kapiert. Sie schauten, er schaute nicht zurück und so übten sie sich weiter in Transit. Kamen von links und verliessen sein Grundstück nach rechts oder umgekehrt. Je nachdem, wohin ihre Gelüste sie trieben, mutmasste er.
Er las viel. Vor allem Romane, gute Romane, was immer man auch darunter verstehen konnte. Paul Auster, Philip Roth, Orhan Pamuk und vor allem Haruki Murakami, auch: Kenzaburo Oe. Japanische Autoren hatten es ihm angetan. Alle diese Männer waren in etwa in seinem Alter, fiel ihm auf. Warum war das so? Darüber musste er wirklich mal etwas intensiver nachdenken. Haikus las er auch gerne. Wie man etwas über ‘Gott und die Welt’ in so einer knappen Form unterbringen konnte, das war schon grosse Kunst. Er wünschte, er wäre dazu auch in der Lage. War er aber nicht. Das musste man sich auch erstmal eingestehen können, dachte er. Genau, fiel ihm da noch ein, er hatte alle Bücher von Meg Wolitzer auch sehr gerne gelesen. Also doch noch eine Frau. Beruhigend.
Vielleicht sollte ich noch etwas einkaufen, rief er sich in Erinnerung und beschäftigte sich mit der Frage, in welches Geschäft er gehen könne. Meistens entschied er sich unmittelbar vor dem Verlassen des Hauses noch um. Die Gründe hierfür waren oft nicht rational nachvollziehbar. Aber das störte ihn nicht. Warum sollte es auch. Das brachte höchstens etwas Abwechslung in sein Leben. Dafür hatte er vergessen, die Spülmaschine anzustellen. Aber das war auch kein Problem, dann holte er dies eben nach dem Einkauf noch nach. Dem Geschirr war es ohnehin egal, wann es mit Hitze und Hochdruck behandelt wurde. Vermutete er. Beim Einkaufen stellte er zum x-ten Male fest, dass vor allem alte Leute und junge Mütter unterwegs waren und um die Regale strichen.
Ob man es als Hobby bezeichnen konnte, wusste er nicht so genau, aber er beschäftigte sich gerne mit Philosophie. Manchmal besuchte er auch einen Kurs an der Volkshochschule. Das war jeweils nur teilweise befriedigend. Nicht wegen den Dozentinnen oder Dozenten, sondern wegen dem Publikum. Da gab es immer wieder Leute, vornehmlich Männer, die mit ihrem Wissen, Teil-Wissen, Pseudo-Wissen auftrumpfen wollten. Er fand das widerlich, es nervte ihn und er schaute dann zur Decke. Da die Volkshochschule in einem alten Haus untergebracht war, mitten in der grossen Stadt, war die Decke mit Stuck verziert. Vielleicht sah es auch nur so aus, als ob er intensiv darüber nachdenken würde, was da ein Kollege von sich gab, aber meistens, so fand er, war es ausgekochter Unsinn. Schade um die Zeit, aber der Dozent, die Dozentin konnte diesen Kunden ja nicht unterbrechen oder ‘abwürgen’. Sie war ja im Dienstleistungsgewerbe tätig. Also musste sie immer schön höflich und verständnisvoll reagieren. War die Frage auch noch so unsinnig bzw. Stuss, den kaum jemand verstanden hatte. Aber egal. Zu Hause beschäftigte er sich ab und an mal mit Nietzsche. Dieser feierte ja heuer seinen 125sten Todestag, sofern er dazu überhaupt in der Lage war. Vermutlich nicht. Nietzsche wanderte in seinem Leben viel und hinterliess einen riesigen Nachlass. Er schrieb unzählige Notizen in Schreibhefte. Heidegger war sogar der Meinung, dass man Nietzsche nur verstünde, wenn man sich seinen Nachlass zu Gemüte führen würde. Besonders das Buch ‘Ecce homo’ hatte es ihm angetan. In diesem Buch rekapituliert Nietzsche zehn seiner Bücher. Aber diese Passagen fand der alte Mann nicht so interessant wie diejenigen, in denen Nietzsche persönliche Ansichten zu Gott und der Welt äusserte. So verabscheute er das Christentum, liebte aber Jesus, diese im Grunde revolutionäre Gestalt, der sich weder vor Gott noch dem Teufel, geschweige denn vor Obrigkeiten fürchtete. So verstand Nietzsche die Figur von Jesus. Hochinteressant fand der alte Mann dies. Auch die Formel ‘Wie man wird, was man ist’ fand er spannend. Aber wie auch der antik-griechische Dichter Pindar meinte, soll man ja der werden, der man ist. Das ist natürlich ein Paradox, weil es gegen jegliche Entwicklung im Sinne eines Reifeprozesses spricht. Aber trotzdem gefielen ihm diese beiden Sichtweisen. Der alte Mann dachte, dass man im Kern schon angelegt hat, wer man dann einmal sein wird. Aber dass ein Mörder, tatsächlich als erwachsener Mensch dazu bestimmt ist, einen anderen Menschen zu töten, so weit war er dann doch nicht bereit zu gehen. Hier kamen sicherlich auch die äusseren Umstände dazu. Aber wer weiss, vielleicht hätte ein anderer Mensch diese Tat eben doch nicht begangen. Dann stand er auf, streckte sich und liess aus der Maschine eine Tasse Kaffee heraus, süsste mit künstlichem Zucker, dann noch ein kleiner Schluck Milch und die Zwischenmahlzeit war angerichtet.
An einem anderen Tag fiel ihm ein, dass da doch ein deutscher Schriftsteller vor einigen Jahren einmal das Bonmot geprägt hatte, dass das Alter ein Massaker ist. Nun gut, dieser Autor lebt mittlerweile auch nicht mehr und hat es, also das Leben, hinter sich gebracht. Das Leben, dem immer wieder ein Sinn untergejubelt werden soll. Dabei hat es keinen, wir müssen ihm einen geben, einen einhauchen. Hat nicht einmal eine andere Geistesgrösse gemeint, dass Leben leben will, inmitten von Leben. Oder so ähnlich, dachte er. Aber Sartre und Camus sind ja nicht mehr in. Da habe ich ja heute meinen philo-historischen Tag, fiel ihm auf. Erinnerungen von früher tauchten wieder einmal auf, drückten an die Oberfläche seines Bewusstseins. Aber interessiert heute niemanden mehr. Aber es ist normal und muss auch so sein. Wo wäre denn der Fortschritt geblieben, wenn Altes auf ewig Bestand hätte. Neue Generationen haben ein Anrecht darauf, ihre eigenen Erkenntnisse in die Welt hinauszuposaunen. Irgendwie muss es ja weitergehen, wenn auch kein Ziel ersichtlich ist, geschweige denn überhaupt vorhanden sein kann. Es gibt keine Ziele. Das Leben hat keine und das wiederum ist auch gut so. Wenn man ein Ziel erkennen könnte, gäbe es bestimmt wieder diese Schlaumeier, die der Versuchung erliegen würden, eine Abkürzung nehmen zu wollen, um ans Ziel zu gelangen. Ob der Tod ein Ziel ist, sinnierte er, verwarf aber diesen Gedanken. Der Tod ist einfach ein Ende und dies gehört zu jeglichem organischen Leben. Ob das bei anorganischen Leben auch so ist, vermochte er nicht einzuschätzen. Möglich, man müsste einen Naturwissenschaftler oder auch eine Naturwissenschaftlerin fragen. Aber vermutlich würde man sie nicht verstehen. Geistes- und Naturwissenschaften haben das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Für die Empirie ist der Tod das Ende des biologischen Lebens, egal ob Mensch, Tier oder Natur. Aber auch Berge können sterben, indem sie donnernd zu Tal stürzen und alles mit sich reissen und sich todbringend verhalten. Wenn dann der Berg nicht mehr existiert, spricht man aber nicht vom Tod des Berges, sondern eher von seinem Verschwinden. Das Ergebnis ist aber im Grunde das Gleiche: Was vorher da war, ist nun nicht mehr. Demnach kann alles, was auf dieser Erde Existenz hat, egal wie lange, auch eines Tages wieder verschwinden. Egal ob organisch oder anorganisch. Schwund muss sein, damit Neues entstehen kann, wenn überhaupt. Was dann zu der berühmten Frage führt: Warum ist etwas und warum ist nicht nichts?
Dabei stellt sich aber die Frage, ob der Mensch den Berg zum Absturz gebracht hat. Stichwort: Klimawandel, dachte er. Der Mensch als Mörder der Natur. Aber vielleicht wird es auch als Totschlag gewertet, weil es eher mit Dummheit als mit Heimtücke zu tun hat. Und wenn dem so wäre, wie wäre der Mensch, wäre die Menschheit dann zu bestrafen? Aber darum muss man sich, so vermutete er, keine Gedanken machen, weil sich die Menschheit schon darum bemüht, sich selber zu bestrafen. Ein circulus vitiosus, schmunzelte er.
Neben Nietzsche las er auch gerne japanische Gedichte. Vor allem die Haikus hatten es ihm angetan. Er besass mehrere Bücher mit diesen eigenartigen Gedichten. Es waren kleine Gedichte, die sich nicht reimten, sondern es ging um die Anzahl der Silben. Aber im Deutschen funktionierte das nicht so wie im Japanischen. Das spielte für ihn auch keine Rolle. Er las sie einfach gerne. Eine Verbindung zu Nietzsche vermochte er nicht herzustellen. Bei Nietzsche ging es immer um den Menschen, um Gott oder Nicht-Gott, um Genealogie der Moral. Haikus hatten mit Moral und den Menschen nichts zu tun. Sie beschäftigten sich mehr mit der Natur. Er hatte sich auch schon überlegt, selber solche Haikus zu fabrizieren. Aber diese würden dann mit Menschen zu tun haben. Es wären eben moderne Haikus. Solche, wie sie ihm passen würden. Ein Haiku, das ihm besonders gut gefiel, lautete:

(Basho, S. 47)
Er dachte darüber nach und fand, dass dieses Haiku eine interessante Geschichte erzählte. Denn wenn der Frühling vorbei ist, ist ja Sommer und er fragte sich, warum dann sowohl Vögel wie Fische diesem Frühling nachtrauern sollten. Schon etwas merkwürdig, was der Herr Basho im 17. Jahrhundert da aufgeschrieben hatte. Vielleicht wird den Vögeln und Fischen klar, dass wenn der Frühling vorbei ist, sie vielleicht auch bald dem Tod ins Auge sehen müssen. Genauso wie er selber, dachte der alte Mann. Der Frühling hat ja mit dem Werden zu tun. Während des Frühlings ist der Mensch noch jugendlich, in der Blüte des Werdens. Im Sommer strebt er seinem Höhepunkt zu, bevor dann im Herbst das Welken beginnt und der Winter bringt ohnehin den Tod. Der alte Mann spürte den Winter, obwohl es noch einige Zeit bis dahin war, vielleicht. Diesen Rundgang hatte er vor einiger Zeit auch in einer Illustrierten abgebildet gesehen.
Dann dachte er, vielleicht wäre es einfach Zeit für einen Spaziergang. Lange Strecken mochte er nicht gehen. Obwohl es ihm nach dem Einsetzen eines Herzschrittmachers wesentlich besser ging, war es eben doch nicht mehr das Gleiche wie in den Zeiten, als er noch täglich Sport betrieben hatte. Tempi passati, dachte er. Meistens hatte er vor, eine ehemalige Telefonzelle anzusteuern, um zu sehen, ob sich da wieder neue Bücher angesammelt hatten. Diese Vorgehensweise hatte sich seit einigen Jahren etabliert, als die Telefonzellen auf Grund der Existenz der Handys nicht mehr gebraucht wurden. Da der jeweilige Abriss zu teuer geworden wäre, liess man sie einfach stehen. Mit dem Ergebnis, dass irgendjemand auf der Welt auf die glorreiche Idee gekommen war, dass man darin auch alte, bereits gelesene Bücher, die man nicht mehr haben wollte, ausstellen konnte. Andere Menschen hatten dann Regale, Gestelle in diesen Bücher-Zellen, müsste man sie jetzt ja eigentlich nennen, aufgebaut und so hatte sich ein emsiges Tauschen, Geben-und-Nehmen von gelesenen Büchern entwickelt. In seiner Umgebung existierten drei solcher Zellen, die er in unregelmässigen Abständen aufsuchte und sich darin verlustierte. Es bereitete ihm ein gewisses Vergnügen, darin zu stöbern. Die Auswahl war vielschichtig und von Reiseliteratur zu Fantasy, Krimis, Kochbüchern, Ratgebern und Sprachbüchern war im Grunde alles zu haben. Da hatte doch der Fortschritt ein in höchstem Masse sinnvolles Abfallprodukt kreiert, dachte er. Ob Handys so sinnvoll sind, wie immer in der Werbung propagiert, wollte er für heute mal dahingestellt sein lassen, aber dass man die ehemaligen Telefonzellen nun zu Bücherzellen umfunktioniert hatte, fand er eine grandiose Idee. Und in der Praxis funktionierte sie dann auch noch.
So machte er sich auf den Weg und nahm auch zwei Bücher mit, die er in die Zelle legen wollte. Das eine hatte er sehr spannend gefunden. Es war ein Buch von Alice Walker, einer schwarzen US-Amerikanerin, die eine ergreifende Geschichte über ein Frauen-Schicksal geschrieben hatte. Das andere Buch hingegen hatte ihn gar nicht interessiert. Es war ein Krimi, ein Dutzend-Krimi, wie es sie zu Tausenden gab und das dem obligaten Topos des ‘who-done-it’ folgte. Tatort, dann kam die Spusi und der Kommissar mit seinem Team, irrlichterte danach ca. 290 Seiten lang in der Gegend und der Geschichte herum, bis dann eine liegen gelassene Zigaretten-Packung den Kommissar, er war legendär, warum auch immer, auf die hoch-intelligente Idee brachte, dass es eben doch nicht der Gärtner, sondern der verschrobene, hoch-neurotische und schwule 18-jährige Sohn des Star-Anwaltes war, der den Mord, wenn auch im Affekt, verübt hatte. Schon tausend Mal gelesen und jeweils die 200 Seiten überschlagen, um nur den Anfang und das Ende mitzubekommen. Der Rest, also die überwiegende Mehrheit des Buches, war, so seine Meinung, aufgeblasener Firlefanz. Nicht mehr, aber keinesfalls weniger. Dann kehrte er wieder nach Hause zurück, sah in den Briefkasten, stellte fest, dass eine Rechnung von seiner Ärztin eingetrudelt war und er die 10 Prozent des Selbstbehaltes zu zahlen hatte. Sie war eine nette Frau und er hatte grosses Vertrauen zu ihr. Er legte die Rechnung weg, er wollte sie am Wochenende elektronisch begleichen. Wohl dem, der den QR-Code erfunden hatte. Ja, wir jungen Leute erledigen das heute eben so, sagte er, schmunzelnd, zu sich selber. Danach liess er die Kaffeemaschine blubbern, ächzen und stöhnen und rundete das Gift mit ausreichender Sahne ab und setzte sich in seinen Sessel. Den hatte ihm seine zweite Ex-Frau vor ca. 20 Jahren geschenkt. Dabei dachte er an seine drei erwachsenen Kinder, allesamt Mädchen.
Der Wind hatte mittlerweile aufgefrischt, wie er an der Hecke seines Gartens, also dem Stück Wiese, unschwer verfolgen konnte. Die Blätter zitterten und die weniger robusten, die schon etwas älteren, fielen ab. Das gab ihm dann wieder Arbeit, diese toten Blätter zusammenzurechen und in der grünen Tonne zu entsorgen. Jeder hat noch so seine Ämtchen, dachte er, auch wenn man im Grunde keines mehr hat. Oder gelten nur die Ämtchen als Ämter, die allgemein anerkannt sind und wer hat die Legitimation zu sagen, was ein Amt oder nur eine Beschäftigung ist? In der Ferne hörte er die Sirene eines Krankenwagens oder war es die Polizei? Er konnte diese Sirenentöne nie voneinander unterscheiden. Spielte auch keine Rolle und war im Grunde für ihn uninteressant. Was ihn dann zu der Frage führte, was denn überhaupt noch von Interesse, von Belang für ihn war. Aber darüber nachzugrübeln, da war er sich allerdings sicher, brachte nie ein Resultat, sondern versetzte ihn eher in eine leicht depressive Stimmung. Also besser die Finger oder die Hirnwindungen davon lassen. Sinnlos.
Was sich für ihn schon eher zum Nachdenken lohnte, waren seine Töchter. Diese hatten Zukunft bzw. standen dafür. Zwei waren seine leiblichen Töchter und die dritte hatte zwar einen anderen Vater, aber er hatte viele Jahre mit ihr und seiner dritten Frau zusammengelebt. Da ihr Vater schon früh verstorben war, hatte er Josette danach adoptiert. Für ihn existierte kein Unterschied zwischen Josette und ihren beiden Halbgeschwistern. Die beiden anderen Töchter waren zwar von ihm, hatten aber jeweils eine andere Mutter und waren deshalb auch Halbgeschwister. Wobei, wenn man es genetisch exakt betrachtete, die dritte Tochter mit ihren beiden Halbschwestern überhaupt nicht verwandt war. Aber man sagt das eben so. Aber er hatte sie adoptiert, als ihr leiblicher Vater bei einem Unfall verstarb. Dies alles kümmerte ihn wenig oder gar nicht. Er vermutete, dass sich das bei seinen drei Töchtern genauso verhielt. Sie waren mittlerweile erwachsene Frauen. Sie blieben zwar seine Töchter, aber sie waren keine Kinder mehr. Sie waren autonom. Und das war gut so. Ab und an mal erinnerte er sich an die drei Töchter, als sie noch klein waren bzw. an deren Mütter.
2. Die Töchter
Der alte Mann hatte drei Frauen, offizielle, also: drei Ehefrauen. Sie heissen der Reihenfolge nach: Camilla, Barbara und Johanna. Mit diesen drei Frauen hat er je eine Tochter, in der Reihenfolge: Tiffany, Rhea und Josette. Für ihn sind sie Geschwister, also Halbgeschwister. Mit jeder der drei Frauen hat der alte Mann für einige Jahre, gar nicht so wenige, jeweils zusammengewohnt. Er hatte demnach in drei Familien gelebt. Die Gründe für die jeweiligen Ehen waren immer einsichtig, folgerichtig, aber im Grunde profaner Natur. Will sagen, es waren dreimal, wenn auch unterschiedliche, sachliche Gründe, die zu einer Heirat geführt hatten. Die Scheidungen waren dann schon eher emotionaler Natur. Somit waren es dreimal jeweils andere Gründe, warum eine Heirat angezeigt gewesen war. Vielleicht wird darauf noch zu sprechen sein müssen. Zwei der drei Kinder, Töchter, waren zur Zeit ihrer Entstehung geplante Wunschkinder. Es war, so erschien es ihm in der Nachbetrachtung, ein logischer und emotional jeweils fundierter Entscheid, in einer liebevollen, d.h. funktionierenden Partnerschaft ein Kind zu zeugen. Und so kam es dann jeweils auch. Genau gleich verhielt es sich bei der Adoption der dritten Tochter. Auch auf diese hatte er sich gefreut.
Wie bereits erwähnt, war das dritte Kind adoptiert. Aber er sah darin keinen Unterschied zu den beiden anderen Mädchen. Dass es immer Mädchen waren, kann ja nur Zufall gewesen sein. Er fand diese Tatsache eher erheiternd. Den Wunsch, dass er doch auch einmal einen Stammhalter, also einen Sohn, zu zeugen hätte, tat er als dummes Geschwätz ab. Was soll das? Diesen Wunsch hatte er nie verspürt. Könnte auch sein, dass man, also er selbst, in eines der bekannten Konkurrenzverhältnisse ‘Vater – Sohn’ hineingerissen worden wäre. Diese Konstellation kannte er aus seiner eigenen Geschichte zur Genüge. Dazu verspürte er gar keine Lust. Und so kam ihm die Tatsache, dass er in seinem Leben drei Mädchen hatte, sehr gelegen. Aber was heisst hier ‘hatte’. Er hatte sie ja noch immer, wenn er auch nicht mehr mit ihnen zusammenlebte.
Nietzsche hatte, soweit bekannt, keine Kinder. Am 25. August 2025 konnte man, wenn man sich dazu bekannte, den 125sten Todestag von Nietzsche feiern, oder einfach seiner gedenken. Er hatte das eigentlich nicht vor, aber die Zeitungen war voll davon. Journalistenfutter, dachte er. Er fragte sich, ob all diese Schurnis wohl mal ein Buch von Nietzsche gelesen, durchgearbeitet, studiert hatten. Er bezweifelte es. Aber im Grunde war es ihm egal, er überflog diese Jubi-Tralala-Meldungen lediglich und dachte, was es wohl bedeutet, wenn man von sich schreibt, dass man gute Bücher schreiben kann. Das muss man auch erst einmal bringen. Er wäre dazu wohl nicht in der Lage. Aber er war ja auch nicht Nietzsche und noch lebte er und war auch noch nicht seit einhundertfünfundzwanzig Jahren tot.
Seine Mädchen waren nun schon, wie gesagt, seit Jahren keine mehr. Es waren Frauen geworden. Zu allen unterhielt er aber unregelmässig-regelmässigen Kontakt. Diese bedeuteten ihm extrem viel. Sie stellten einen Teil seiner Lebens-Wirklichkeit dar. Manchmal neigte er auch dazu, zu vermuten, dass seine drei Töchter der einzige ihm noch verbliebene Bezug zur Realität zu sein schien. Später kam dann noch eine Enkelin dazu. Aber dazu eben später mehr.
Was hatte er denn sonst noch? Im Beruf war er seit längerem ausgeschieden. Er hatte zwar nach seiner freiwillig vollzogenen Frühpensionierung freiberuflich noch weitergearbeitet. Man konnte ihn buchen, hatte er immer, mit einem verschmitzten Lächeln, zum Besten gegeben. Er sei eben ein Callboy. Man musste ihn nur kontaktieren, zumeist per Mail, und er erscheint und liefert. Es ging dabei immer um Beratungen, Weiterbildungen oder Supervisionen. Dieses Geschäft florierte nicht übel, kam aber mit und vor allem nach der Corona-Pandemie zum Erliegen. Das war klar und nachvollziehbar. Dass seine berufliche Selbständigkeit aber nach Ende der Pandemie am Boden liegen blieb, betrübte ihn schon. Manchmal verfiel er deswegen in eine regelrechte Niedergeschlagenheit. Es kamen keine Mails mehr: «Wir würden uns freuen, wenn Sie…», oder so ähnlich. Jemand sagte ihm dann eines Tages: «Das ist doch klar, dass du nicht mehr gebucht wirst. Diejenigen, die dich buchen könnten, die also die Kompetenz hierfür hätten, sind mittlerweile auch pensioniert und buchen gar nix mehr. Und deren Nachfolger kennen dich nicht.» «Aha», hatte er nur geantwortet und gedacht: Bullshit. Der Bekannte hatte dann noch hinzugefügt: «Und ausserdem bist du ein Mann.» Er hatte fragend zurückgeblickt. «Ist doch klar», hatte der Bekannte ergänzt: «Frauen, die in Betrieben etwas zu sagen haben, buchen natürlich Frauen.» «Was ist das denn für ein Unsinn», hatte er verärgert geantwortet. «Es kommt doch auf die Qualität des Gelieferten an und da spielt doch das Geschlecht wohl kaum eine Rolle.» «Holy Einfalt», hatte der Bekannte nur gesagt und ihm noch einen schönen Tag gewünscht und war gegangen.
Also waren seine Töchter, eingestandenerweise, sein einziger Lebensinhalt. Dies neben seinen körperlichen Verfallserscheinungen, inklusive der unregelmässig-regelmässigen Arztbesuche. Darüber wollte er sich aber im Moment keine Gedanken machen. Obwohl sich zu diesem oder jenem immer wieder Gedanken, Entscheide, Fach-Diskussionen mit seiner Hausärztin oder einem Spezialisten, die sie ihm vermittelt hatte, aufdrängten. Da führte dann jeweils kein Weg daran vorbei. Aber da verhielt er sich passiv. Die Traktandenliste wurde vom Knie (rechts), vom Magen (Öffnung oben), vom Herz (AV-Block), von der Achillessehne (Druckschmerz), von der Prostata (Urinverhalt) etc., vorgegeben. Dazu kamen noch die verminderten Sinne. Er hörte nicht mehr gut, sah nicht mehr gut, roch weniger, schmeckte kaum noch etwas und das Tasten war auch nicht mehr gut, weil seine Finger oft taub waren. Aber hierzu brauchte er sich weder Sorgen noch Gedanken zu machen. Das Alter war ein Massaker, eben. Haben wir bereits gehabt, dachte er. Bei all diesen Verschlechterungen, so dachte er, gibt es immer wieder noch andere Männer, Menschen, wies er sich zurecht, denen es noch schlechter ging. Er hatte keinen Krebs, sein Herzschrittmacher arbeitete zuverlässig, Hörgeräte funktionierten auch, mehrere Brillen versahen ihre Dienste, eine massive Bandage stützte das Kniegelenk und was dergleichen noch mehr solcher Hilfsmittel sind, die man in westlichen Industrienationen problemlos erwerben konnte. Andere Männer, nun doch wieder, waren bereits gestorben und hatten deshalb keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern, Töchtern. Was ihn wieder zum hier eigentlich angesprochenen Thema zurückführte. Aber er wurde müde und dachte, dass vielleicht ein Nickerchen auf dem Sofa nicht das Schlechteste wäre, was er nun tun könnte. Vorab griff er aber wieder einmal zu seinem Haiku-Buch und las:

(Basho, S. 29)
Dieses Haiku fand er lustig. Ein denkender Besen, da musste man auch erst mal draufkommen. Ist es nicht so, dachte er, dass man beim Fegen oft gar nicht an den Besen, oder den Untergrund, den man fegt oder an den Schmutz denkt. Man tut es einfach, gedankenverloren oder gedankenleer. Weil man mit dem Schnee schon abgerechnet hat, schon fertig ist. Er ist zwar noch da, aber nur noch für eine kurze Weile und dann ist er weg. Geschmolzen und hat sich in nichts aufgelöst. Könnte das nicht auch ein Sinnbild für sein jetziges Leben sein? Ist er nicht selber bereits dieser Schnee, der in kümmerlichen Resten noch vorhanden ist, der aber bereits dem Untergang geweiht ist? Und der Besen des Schicksals fegt ihn demnächst weg. Damit konnte er leben, nämlich damit, dass er es bald hinter sich haben wird. Er wurde schläfrig und das Haiku-Buch rutschte ihm aus der Hand und fiel sachte auf den Teppich. Er hörte es schon nicht mehr, weil ihn der kleine Bruder des Todes bereits umfangen hatte. Nur kurze Zeit später erwachte er.
Immer wieder erstaunlich, fand er, wie völlig unterschiedlich seine Töchter sind. Und immer wieder war er über diese Einsicht erstaunt. Sie stammen ja auch von verschiedenen Frauen und die dritte auch noch von einem anderen Mann ab, sie sind in jeweils völlig unterschiedlichen situativen Verhältnissen aufgewachsen und sind, last, but not least, unterschiedliche Individuen. Aber dass auch er selber zur jeweilig besagten Zeit des Sozialisationsprozesses einer seiner Töchter auch nicht mehr derselbe war, war eine eher neue Erkenntnis seinerseits. Sicherlich war er bei seiner dritten Tochter ein anderer Mensch als noch bei seiner ersten.
Bei der ersten Tochter, ihre Mutter war Camilla, war er noch Student gewesen und konnte, alte 68er Prüfungsordnung, wie er sich gerne erinnerte, sich ihr mit viel Zeit widmen. Das war bei der dritten Tochter schon ganz anders. Da stand er bereits voll im Berufsleben und war weniger zu Hause. Mit all den damit verbundenen Belastungen. Bei der mittleren Tochter arbeitete er auch bereits, war aber Dozent, also Lehrer, und konnte somit etwas weniger Zeit mit ihr verbringen als mit der ersten, aber immer noch wesentlich mehr als mit der dritten. Die Frage, ob man Kinder für sein eigenes Seelenheil, oder auch seine eigene Lebenszufriedenheit braucht, war für ihn nie eine Frage. Warum auch? Das biologistische Argument, dass man Kinder haben muss, damit die Menschheit nicht ausstirbt, zählt ja für die Einzelne, den Einzelnen nicht. Wenn es Milliarden von Individuen gibt, erscheint diese Frage obsolet. Die Frage war wohl für die ersten Menschen, die ersten Gruppen von Homo sapiens sapiens relevant. Ob es ihnen allerdings bewusst gewesen war, wissen wir nicht. Auch sind die Gründe, warum wir uns fortpflanzen, vielfältig. Der Gedanke, dass man damit aber etwas für die Erhaltung der Art, unserer Gattung tut, spielt wohl nur in den allerseltensten Fällen eine Rolle. Über die wahren, wirklichen Gründe, warum Menschen Menschen zeugen, brauche ich mich hier nicht auszulassen, dachte er. Dazu ist wohl schon genug geschrieben worden, war seine Meinung.
Er brauchte, erneut, eine Pause und griff wieder zum Haiku-Buch. Er blätterte wahllos darin herum. Das jetzt Gefundene fand er äusserst passend:

(Issa, S. 75)
Er fand dieses Haiku genau passend zu seiner momentanen Stimmung. Der Autor feiert den Umstand, dass er noch lebt. Köstlich, einfach genial. Dabei realisiert er, dass er noch lebt, weil er noch in der Lage ist, Schmerzen oder Ärgerliches empfinden zu können. Einfach super! Er feiert sich nicht, weil er einen Lottogewinn gemacht oder einen Erfolg errungen hat. Solche Dinge sind, so seine Meinung, Schall und Rauch. Sie verwehen. Aber die Mücke, die bleibt und ärgert oder schmerzt ihn sogar.
Er schaute zum Fenster hinaus. Auf der gegenüberliegenden Seite, es mögen gut und gerne ca. 100 Meter sein, sah er immer mal wieder eine Frau eine Zigarette rauchen. Interessant an dieser Szene fand er weniger die Frau als vielmehr die Tatsache, dass sie rauchte und den Stummel dann vom Balkon schmiss. Er fragte sich, wie viele Stummel da wohl im Laufe der Jahre zusammengekommen sein müssen. Sie fielen ja in einen Innenhof, wo nie ein Strassenfeger seine segensreiche Arbeit verrichtete und den Dreck der Leute wegkehrte. Er dachte, er könnte eines Tages dort durch die vordere Haustüre und hinten wieder hinausgehen. Natürlich würde er dies nie tun. So sehr beschäftigte es ihn nun auch wieder nicht. Aber problematisch fand er das Verhalten dieser Frau schon. Wie war er nur auf diese Betrachtung gekommen, fragte er sich. Egal, dachte er. Tatsache war, dass er von jeder Frau, das heisst von diesen drei Frauen, die er auch geehelicht hatte, je ein Kind hatte.
Bei der zweiten Frau, also Barbara, hatte er eigentlich keines mehr gewollt. Sie hatte dann gemeint, dass dies in höchstem Masse unfair wäre, denn er hätte schon eines und sie noch keines. «Das ist doch kein Fussballspiel, wo es darum geht, dass wer am Schluss die meisten Tore erzielt hat, gewonnen hat», hatte er ihr geantwortet. Ihre Antwort: «Ich will eben eines von dir, und zwar von dir!». Also bekamen sie eines, Rhea. Gegen Argumente, die die Fairness bemühen, ist naturgemäss schwer anzustinken. Wenn dann noch ein Schüsschen Schmeichelei die eigene Eitelkeit kitzelt, ist die Sache geritzt, sprich: der Samen in die Muttererde gepflanzt. Und so kam es denn auch, die zweite Tochter kam zur Welt. Das war gut so. Er konnte sich noch gut an diese, für ihn, zweite Geburt erinnern. Aber nun kam Barbara erst recht in Schwung und wollte noch ein Zweites. «Natürlich auch von dir», versuchte sie ihn zu überzeugen. Er sagte dazu nicht viel, sondern machte einen Termin bei einem Urologen und liess sich, in den Sommerferien, so in etwa drei Monate nach der Geburt seiner zweiten Tochter, die Samenleiter kappen, also unterbinden. Barbara nahm es, zu seinem Erstaunen, gelassen hin. Er sagte nur: «Mit einem zweiten Kind hättest du deine Absicht, ein zweites Studium absolvieren zu können und wieder in die Arbeitswelt einsteigen zu können, auf Jahre hinaus verschieben müssen.» Er hatte keineswegs Dankbarkeit von ihr erwartet. So glich seine Entscheidung, nie mehr ein Kind bekommen zu können, eher einer Win-win-Situation. Sie hatten auch nie mehr darüber gesprochen und er blieb seiner Gewohnheit, in einer dreiköpfigen Familie zu leben, treu. Er hatte eine zweite Tochter, die er genauso liebte wie ihre Vorgängerin, und sie hatte ihr ‘Prinzesschen’, wie er seiner zweiten Frau unterstellte, dass sie emotional zu ihrer Tochter stand. Als diese Tochter dann volljährig war, kam es zu seiner zweiten Scheidung. Diese hatte Barbara wohl bereits seit längerem geplant, wollte aber den Schulerfolg ihrer Tochter durch eine Scheidung nicht unnötig belasten und wartete deren Hochschulreife noch ab.
So ergab er sich seinen Erinnerungen. Er ertappte sich in letzter Zeit immer wieder, wie er in solchen Erinnerungen versank. War das gut, oder musste man das als pathologisch vermerken auf dem Krankenblatt? Gut, diese gab es ja nicht mehr, weil die Ärzte ja immer mit den fahrbaren Gestellen, auf denen sie dann die Laptops positioniert hatten, durch die Gänge und an die Betten fuhren. Er meinte auch schon beobachtet zu haben, dass sie ca. zwei Drittel der Zeit, die sie an einem Bett, will sagen bei einem Patienten verbrachten, auf den Bildschirm schauten und nur noch zu einem Drittel dem Patienten in die Augen schauten. Was man davon zu halten habe, war ihm nicht so ganz klar. Er dachte, dass die Ärzte früher eben gerade durch diesen Augenkontakt vieles mitbekamen, was sie heute gar nicht mehr zu registrieren in der Lage sind. Dafür können sie dann das, was sie notiert haben, an den nächsten Arzt, die nächste Ärztin weitergeben und der Patient, die Patientin muss nicht immer bei Adam und Eva anfangen, wenn wieder eine andere Ärztin an ihr Bett tritt. Ärzte haben ja doch auch ab und an mal Feierabend oder Ferien oder gehen einfach weg, in ein anderes Spital oder wechseln vielleicht auch den Beruf. Man weiss es nicht. Es nennt sich evidenzbasierte Medizin. Das Augenmerk des Arztes erscheint nicht mehr diese Bedeutung zu haben, wie es für frühere Ärzte notwendig war. Zwischen Arzt und Patient stand nun die Datenbank, die, vermittelt durch eine Maschine, dem Arzt Informationen zur Verfügung stellte, nach denen er sich richten konnte, je nach Chefarzt, zu richten hatte. Er fand, dass dies eine folgerichtige Entwicklung war, will sagen, es konnte gar nicht anders kommen, seit der Mensch die Technik entdeckt hatte, und er hatte sie bereits mit seiner evolutionären Entstehung entdeckt. Ein Mensch ohne jegliche Technik ist nicht denkbar und damit auch kein Mensch. Technik und Mensch sind untrennbar miteinander verquickt. Das eine geht nicht ohne das andere. Ohne den Menschen gäbe es auch keine Technik. Pflanzen und Tiere haben sich nicht und nie um die Entwicklung von Technik gekümmert. Sie werden gezeugt, leben und sterben. Aber der Mensch in seiner Art ist dazu geboren, sich immer weiterzuentwickeln und da bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sich der Technik zuzuwenden und diese immer weiter zu entwickeln. Aus diesem Zwang kommt er gar nicht heraus. Er ist verdammt dazu, sich immer wieder Gedanken darüber zu machen, wie er dieses oder jenes in Technik verwandeln kann. Wenn er dies nicht mehr tun möchte, wäre er gezwungen sein Gehirn bei der Garderobe des Lebens abzugeben. Wird er aber nicht tun, kann er gar nicht tun, weil er in diesen Kreislauf der ewigen Weiterentwicklung hineingeboren worden ist. Ob dies ewig so weitergehen kann, wird, steht dann auf einem anderen Blatt. Das kann man nicht wissen, auch KI nicht. Also, deshalb fahren die heutigen Ärzte eben mit dem Computer auf der Lafette in den Spitälern herum. Und deshalb ist auch der Blick in die Augen des Gegenübers nicht mehr von der gleichen Bedeutung wie noch vor 50 oder 500 Jahren. Genug gedacht, dachte er dann.
Nietzsche war ja auch krank. Sein Leben lang. Der arme Tropf, dachte der alte Mann. Interessant fand er, dass dieser in seinem Buch ‘Ecce Homo’ der Gesundheit, der guten Luft und der Erholung eine grosse Bedeutung zumass. War Nietzsche ein Grüner? Eine interessante Frage, wie sie seines Wissens noch kaum thematisiert worden war. Wegen seinem Gesundheitszustand zog Nietzsche auch immer wieder um. Er war pausenlos am Umziehen und wechselte die Städte, die Landschaften wie seine Hemden oder Unterhosen.
Zu seiner dritten Tochter, Josette, deren Mutter war Johanna, hatte er ein sehr gutes, inniges Verhältnis, obwohl sie nicht sein Fleisch und Blut war. Zu dieser Formulierung hatte er allerdings ein getrübtes Verhältnis. Er fand sie, einfach formuliert, blöd. Fleisch und Blut, das hörte sich so nach einer Metzgerei an, nach einem Schlachthof, blökende, schreiende, quietschende Tiere. War nicht der Austausch zwischen den Menschen von entscheidender Bedeutung, also das, was sich auf einer psychischen und vor allem auch auf einer emotionalen Ebene abspielte? Was hatte das mit dem Fleisch und dem Blut zu tun? Es erinnerte ihn eher an eine nationalsozialistisch geprägte Theorie, die im Grunde gar keine war, sondern ein Konvolut absurder gedanklicher Irrgänge. Unsinn, einfach nur Unsinn. Er war bei allen drei Töchtern, soviel liess sich festhalten, es war für ihn in Stein gemeisselt, auch wieder so eine unsägliche Umschreibung, dachte er, an der Aufzucht, eine ebenso blöde Umschreibung, also an der Sozialisation und Enkulturation beteiligt. Er musste schmunzeln und ging zur Kaffeemaschine und dachte, alle diese Begriffe und keiner trifft es im Grunde genau. Das war eben Sprache. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, hatte ja bereits Wittgenstein im tractatus logico-philosophicus gemeint. Aber dieses Buch hatte er nie so ganz begriffen. Aber Wittgenstein hatte ja nicht gemeint, dass man sogenannte peinliche Sachen nie ansprechen sollte. Eher im Gegenteil. Der Kaffee war fertig und er setzte sich in seinen Lieblingssessel. Er war erschöpft. Sein Knie tat ihm weh und er dachte, dass er sich die Knie-Bandage überziehen musste. Zum Friseur sollte er auch mal wieder. Und der Müll war auch wieder so weit, dass er zur Tonne gebracht werden musste. Das Gras in seinem Vorgarten musste auch zum Friseur und das war wohl er selber. Verdammt, dachte er, was man da alles noch zu erledigen hat und was er wohl alles wieder hat liegen lassen, nur weil er sich mit seinen Frauen und den Töchtern – ideell – eingelassen hatte. Sie frassen ihm eben doch noch immer sehr viel von seiner Zeit weg. Auch gut.
Und damit schlummerte er ein, nachdem es ihm gerade noch gelungen war, die halbvolle Tasse aufs Tischchen zu bugsieren. Er war oft müde.
3. Camilla
Seine erste Frau hiess Camilla. Er war gerade 20 Jahre alt geworden und er lernte sie beim Sport kennen. Es handelte sich um Kampfsport. Sie war ein bisschen kleiner als er, stämmig gebaut. Sie hatte breite Schultern, hellbraunes Haar und blaue Augen. Das herausragende Merkmal aus physischer Sicht war bei ihr, dass sie sehr muskulös war. Wenn sie den Bizeps anspannte, sah das aus wie bei einem Mann. Ihre Muskulatur zeichnete sich genauso ab. Nach einiger Zeit bekam er mit, dass sie nicht unbedingt zu den Trainingsfleissigsten gehörte und er meinte zu ihr: «Da werde ich total eifersüchtig. Für meinen Muskelaufbau muss ich hart trainieren und du bekommst ihn so.» Könnte schon sein, dass ihr die Natur da stark entgegengekommen war. Nicht, dass sie nicht trainierte, aber wenn er fünf bis sieben Mal in der Woche trainierte, tat sie dies zwei bis drei Mal. Das reichte ihr wohl. Sie war allseits beliebt und im Grunde zu jedermann freundlich. Sie war auch nicht launenhaft oder dergleichen. Sie vermittelte einem immer einen zufriedenen, freundlichen Eindruck. Sie freundeten sich schnell an und oft besuchte sie ihn in seinem Zimmer, im vierten Stock, unter dem Dach. Sie wohnte noch bei ihren Eltern. Sie war ein Jahr jünger als er.
Sie verliebten sich und bereits nach kurzer Zeit war der Umwelt klar, dass sie ein Paar waren. Sie trafen sich nahezu täglich. Wenn sie gemeinsam trainierten, gingen sie nachher noch in sein Zimmer und schliefen miteinander, wenn kein Training war, machten sie es direkt. Nachträglich war ihm klar, dass der Sex als ein konstituierendes Merkmal ihrer Beziehung angesehen werden musste. Es war wohl, wie er sich rückblickend eingestand, vor allem die Sexualität, die das Fundament ihrer Beziehung darstellte. Aber muss oder darf das negativ beurteilt werden, fragte er sich. Sie war 19, er war 20, was hätten sie sonst tun sollen? Und es passte, es passte ausserordentlich gut. Beide waren noch nicht sehr erfahren, will sagen, sie hatten bereits etwas an Sex geschnuppert, aber richtig ausgelebt hatten sie ihn noch nicht. Da kam der eine für den anderen, wie gerufen. Und so taten sie es denn auch. Hatte er sie geliebt, damals? Er vermochte es nicht zu sagen. Fühlte er sich zu ihr hingezogen? Ja, das schon. Aber wo verläuft die Grenze zwischen Sex und Liebe, oder gibt es das in diesem Alter überhaupt oder gar nicht? Diese Frage hatte damals für ihn keine Bedeutung. Sie spielten miteinander und probierten alles Mögliche miteinander aus. Und, da war er sich rückblickend sicher, sie waren sich in dieser Findungsphase treu. Es war eine schöne Zeit. Schön meint auch: gut. Er erzählte ihr einiges aus seinem früheren Leben. Aber viel war das nicht, denn es hatte im Grunde ja eben erst begonnen. Natürlich war es bei ihr genauso. Sie stellte ihn dann auch nach einigen Monaten ihren Eltern vor. Er wurde wohlwollend aufgenommen. Es waren einfache Menschen, die am Stadtrand eine Wohnung in einem Arbeiterquartier bewohnten. Ihre Mutter kochte jedes Mal eine deftige Mahlzeit, die er gerne ass. Er erinnerte sich noch an eine heftige Diskussion mit ihrem Vater. Sie hatten sich um ein Dafür oder Dagegen in Bezug auf die Todesstrafe unterhalten. Wie sie darauf gekommen waren, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Ihr Vater war dafür, er war dagegen. Der Vater meinte dann, wenn du oder ihr, eine Tochter hättet und die würde dann vergewaltigt und danach umgebracht, wäre da die Todesstrafe nicht angebracht. Er hatte dem damals nicht allzu viel entgegenzusetzen. Aber das Gespräch verlief friedlich, weil die Mutter zum Essen rief. Der Vater arbeitete in einer grossen Fabrik, er konnte sich nicht mehr genau erinnern, was er da tat. Er war im Osten aufgewachsen, wie seine Frau, also ihre Mutter, auch. Sie stammten ursprünglich aus zwei benachbarten Dörfern und hatten sich nach dem Krieg, so genau wusste er das nicht mehr, in den Westen begeben oder wurden vertrieben. In der neuen, grossen Stadt waren sie sich dann begegnet, haben sich aneinander erinnert und geheiratet. Beide waren an ihren früheren Orten in anderen Beziehungen gewesen, aber die jeweiligen Partner hatten den Krieg nicht überlebt und so waren sie in der neuen Stadt allein und taten sich zusammen und kriegten dann auch eine Tochter, Camilla eben.
Circa ein Jahr später wurde bei Camillas Vater Darmkrebs festgestellt. Dieser musste wohl schon eine Weile gewuchert haben, denn nach einer Untersuchung war bei den Ärzten erkennbar, dass da nichts mehr zu machen wäre. Ein paar Wochen später war er tot. Zu ihrer Mutter hatte er ein gutes Verhältnis. Er liess sich von ihr aus ihrem früheren Leben aus dem Osten erzählen. Sie hatte viel durchmachen müssen und war trotzdem eine friedliche und offenherzige Frau geblieben. Alle Achtung, hatte er damals gedacht.
Er erinnerte sich gerne an diese Zeit. Das Leben schien unkompliziert zu sein. Er bildete sich zum Sportlehrer an der Sporthochschule aus und sie arbeitete als Arzthelferin, wie das damals noch hiess. Sie mochte ihren Job. Ihrer beider Leben schien im Lot und so war es auch, wie er sich über vierzig Jahre später auch eingestand. Was stimmte nicht? Es stimmte alles. In Deutschland wütete die Rote-Armee-Fraktion, die ersten Pornokinos wurden eröffnet und bald mussten sich die US-Amerikaner aus Vietnam zurückziehen. Es war eine aufregende, interessante Zeit. Er dachte, dass er sehr viel Glück eingeheimst hatte, zum einen mit dieser jungen Frau und zum anderen mit seinen Lebensumständen. Es passte alles. Ab und zu gingen sie auch auswärts essen, zum Beispiel zu einem Chinesen, das war damals der neueste Schrei. Ab und zu gingen sie in ein Balkan-Restaurant, Jugoslawien existierte damals noch. Da bestellte er immer Satarash. Wenn das Geld knapp war, reichte es nur für einen Besuch im Wimpy, da gab es dann Würstchen mit Pommes, garniert mit einem Spiegelei. Die chinesischen Lokale gibt es immer noch, aber Wimpy wurde wohl durch McDonalds abgelöst und das Balkan-Restaurant ging wohl in türkische Hände, an türkische Köche über. Er dachte, auch das gehört wohl zum Altwerden, wie sich Restaurants verändern. Ach ja, fiel ihm dann noch ein, es gab damals auch noch den Wienerwald, mit den Hähnchen. Da gingen sie aber kaum hin, das war ihnen dann doch zu einfach, oder zu bürgerlich. Er vermochte es nicht zu sagen.
Das war ja nun auch egal. So ging er zum Kühlschrank und holte sich ein Früchte-Joghurt und griff nach dem Haiku-Buch.

(Ryota, S. 67)
Bei uns haben weisse Chrysanthemen auch die Bedeutung der Vergänglichkeit und dienen dem Gedenken an Verstorbene. Aber Ryota war Japaner und deshalb bedeuteten wohl für ihn diese Blumen Glück, Gesundheit, Ehrlichkeit und Freundschaft. Aber passt die heute gefundene Chrysantheme nicht zur Freundschaft und dem Glück, das er damals mit Camilla gefunden hatte? Er hatte daran geglaubt und hatte es auch, als die Beziehung in die Brüche ging und es zur Scheidung kam, nie als etwas anderes verstanden. Er dachte gerne an diese Zeit zurück und sie hatte doch auch einige Jahre angedauert. Dass dann etwas zu Ende gehen kann, und man sich entschliesst, es nicht mehr weiterführen zu wollen; was war daran falsch? So war das Leben, nicht mehr, aber keinesfalls weniger. So war seine Erinnerung.
Camilla und er beschlossen, nach ca. zwei Jahren zusammenzuziehen. Er war mit seiner Wohnsituation in diesem Zimmer mit Dachschräge in der vierten Etage nicht mehr zufrieden und sie wollte zum einen von zu Hause ausziehen und zum anderen nicht mehr am Stadtrand wohnen. So suchten sie sich eine Drei-Zimmer-Wohnung und fanden sie auch. Die Beschäftigung mit dem Körper des jeweilig Anderen ging unvermindert weiter. Es gab Tage, da trieben sie es mehrere Male am Tag. Ihr Appetit war unstillbar. Na ja, dachte er, war es etwa bei ihm anders. Sie entdeckten Dinge, die man da tun konnte, von denen sie einige Wochen vorher noch nicht wussten, dass es sie überhaupt gab. So war Camilla eine Meisterin im Lecken und Lutschen und wurde nicht müde, Aufgestelltes, sowie Körperöffnungen jeglicher Art ausgiebig zu beschnuppern und dann mit der Zunge zu erforschen. Ihrer beider Erfahrungshintergrund war ja, gelinde gesagt, dünn. Camilla war von einem älteren Mann bei einem Vierer entjungfert worden. Den beabsichtigten Partnertausch hätte sie dann allerdings nicht mitgemacht. Sein erstes Mal war auch noch nicht so lange her und war ebenfalls eine ältere Frau gewesen, die kurz vorher ihre Scheidung hinter sich gebracht hatte.
Mit Camilla lernte er auch den Gebrauch des Wortes ‘ficken’. Dieses war ihm früher, auch in Kontakt mit Sport-Kollegen, die dieses Wort bereits inflationär benutzten, nie über die Lippen gekommen. Erst mit ihr begann er es zu verwenden. Irgendwie stimulierte dieses Wort ihrer beider Geilheit. Und so sagte er denn auch ab und an mal zu ihr: «He, ich will dich ficken.» Sie sagte dann: «Nur zu», und liess ihre Hose runter oder schob ihren Rock hoch und präsentierte ihm ihren Hintern. In Null-Komma-Nichts war sein Penis erigiert und er schob ihn ihr rein. Manchmal hatte sie schnell einen Orgasmus oder auch nicht. Aber das spielte keine Rolle. Einen Orgasmus hatte sie immer und ziemlich schnell, wenn sie ihn ritt. Sie bekam dann rote Flecken auf der Oberseite ihrer Brust, bis hinauf zum Hals. Das fand er besonders erotisch oder geil, oder wie man es nennen soll. In dieser Art und Weise spielte sich ihr Sexualleben ab. Es dominierte ihren Alltag. Er dachte sich nicht viel dabei, fand es einfach nur gut, toll, geil etc. Sie fickten täglich, auch wenn sie unterwegs waren oder auch bei einem Spaziergang im Wald. Einmal wurden sie auch von einem Spanner beobachtet. Das steigerte ihre Lust aber kaum oder gar nicht. Sie waren ausschliesslich auf sich selbst, auf ihre Zweierbeziehung orientiert.
Sie beschlossen dann, dass es doch gut wäre, also zu ihnen passen würde, wenn sie nun ein Kind bekämen. Beide waren sie, so erinnerte er sich noch gut, der Meinung, dass man ein Kind dann bekommen sollte, wenn man selber noch jung wäre. Man hätte dann mehr davon. Wenn man dann selber älter würde, stände einem auch der Prozess des Heranwachsens des Kindes näher, so meinten sie unisono. Sie wurde dann sehr schnell schwanger. War wohl auch kein Wunder. Als Camilla im 5. Monat war, stellten sich Blutungen ein und sie wurde ins Krankenhaus verlegt. Da sie nicht verheiratet waren und wir uns in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts befinden, gab man ihm keine Antwort, um was es sich denn bei Camilla handeln würde, von wegen dieser Blutungen. Die Sache stellte sich dann aber als völlig harmlos heraus. Aber vor allem ihn hatte diese Nicht-Beachtung, diese Informationsverweigerung gestört, geradezu gekränkt. So machte er dann den Vorschlag, dass sie heiraten sollten. Problemlos war Camilla damit einverstanden und: gesagt – getan. Also heirateten sie auf dem Standesamt der Stadt und Camilla nahm seinen Familiennamen an. Als es dann mit der Geburt soweit war, war man damit einverstanden, dass er, als Ehemann, bei der Geburt dabei sein konnte. Das war für die damalige Zeit neu. Im Krankenhaus sagte man ihm, dass die Geburt sicherlich erst in ca. vier bis sechs Stunden über die Bühne gehen würde. Er solle doch noch etwas an die frische Luft gehen, oder so. Camilla nickte und so ging er in eine in der Nähe liegende Kneipe und trank eine Cola. Aber nach ca. zwei Stunden zog es ihn wieder ins Krankenhaus und Tiffany war bereits da. Seine Tochter, seine Erstgeborene. Es war alles glatt gegangen und bei den Körperkräften seiner Frau, wie die Hebamme meinte, wäre das Pressen ja ein Kinderspiel gewesen. So etwas hätte sie noch kaum einmal erlebt. «Einfach beeindruckend», setzte sie noch hinzu. Nach ein paar Tagen waren sie in ihrer neuen Wohnung zu dritt. Ein neuer Lebensabschnitt begann, und zwar für alle drei.
Natürlich nahmen in der Folgezeit ihre Sexualkontakte ab. Es gab ja nun eine dritte Person namens Tiffany, die mit ihrem Leben aufs Engste verbunden war. Kaum merklich, aber doch feststellbar, schlichen sich nun bei ihnen ausserhäusliche Kontakte ein. Camilla schlief mal mit diesem oder jenem Mann und auch bei ihm ergaben sich Kontakte mit anderen Frauen, sei es über Bekanntschaften, im Sport oder an der Uni. Wie es sich bei ihr abspielte, vermochte er nicht zu sagen. Sie sprachen auch nicht darüber. Bei sich selber, das musste er sich eingestehen, waren diese Erlebnisse ausserhalb seiner Ehe nie so ekstatisch, prickelnd, wie mit Camilla. Trotzdem konnte er aber seine Finger nicht von anderen Brüsten oder einer anderen Möse lassen. Es war mehr der Reiz der Eroberung, ob er es jeweils schaffen würde, an das besagte Ziel zu gelangen. Manchmal wurde auch sein Penis nicht steif und er musste abbrechen. Will sagen, er war dann bemüht, die Szene so schnell wie möglich verlassen zu können, zu dürfen.
Die Frage, warum er fremdging, beschäftigte ihn immer mal wieder. Nötig hatte er es doch nicht. Es war wohl eher der Reiz, ob das, was mit Camilla klappte, auch anderswo funktionierte, auch wenn dann der Erfolg, was immer man auch darunter zu verstehen hatte, geringer ausfiel. Es war wohl mehr die Frage, ob es ihm jeweils gelingen würde, diese oder jene Frau dazu zu bringen, ihr Höschen abzustreifen. War dies der Fall und es war fast immer der Fall, war der eigentliche Reiz im Grunde bereits vorbei, nahezu vorbei. Aber dann musste man – natürlich – noch seine Pflicht tun und ihn reinstecken. Diese Konstellation, die er im Grunde verabscheute, beschäftigte ihn auch noch im hohen Alter. Seine Gedanken kreisten immer wieder um diese Sequenz und er fragte sich, ob er denn jeweils nicht hätte die Situation abbrechen können, einfach aufstehen und sagen: «Oh, sorry, ich vergass, ich habe noch einen wichtigen Termin.» Aber wäre das nicht unverschämt gewesen und hätte sogar als eine Form der Beleidigung angesehen werden können? Also fuhr man eben weiter fort in dem nahezu genormten Spiel. Die Regeln waren ja klar und deren methodische Umsetzung ebenso. Aber den Sex immer nur mit Camilla zu betreiben, dieser Gedanke behagte ihm auch nicht. Warum eigentlich nicht, fragte er sich heute. Er hätte es doch dabei belassen können. Aber eben, er konnte es nicht und musste immer wieder auf Eroberungstour gehen. Heute fragte er sich, wie blöd muss man als Mann gestrickt sein, dass man sich permanent in diesen Wettbewerbsschlamassel begab. Im Grunde eigentlich eine völlig sinnlose und auch menschenverachtende Verhaltensweise. Aber damals war er nicht in der Lage, dies zu durchschauen, sondern war geradezu erpicht darauf, dieses Spiel, im Konzert mit allen anderen Männern, mitzuspielen. Er wollte es. Dass darunter die Beziehung zu Camilla nachhaltigen Schaden nahm, durchschaute er damals nicht. Wie blöd kann man sein, wenn man jung ist, dachte er.
Aber bei Camilla verhielt es sich ja ähnlich. Auch sie traf sich mit anderen Männern. Manchmal wusste er es, manchmal auch nicht. Manchmal erzählten sie es sich auch. Dies hatte aber eher den Zweck, ihrer Sexualität wieder einen Kick zu versetzen. Das war natürlich ein sinnloses Unterfangen und völlig kontraproduktiv.
Diese Gedanken hatte er heute nicht zum ersten Mal und er fragte sich, auch dies nicht zum ersten Mal, warum er in jungen Jahren nicht in der Lage war, nicht fähig war, dies alles zu durchschauen, zu durchbrechen und zu denken, dass er doch ein ganzer Mann war, auch wenn er nicht fremdging. Woher kam dieser Zwang, immer wieder auf die Jagd gehen zu müssen, um zum Schuss zu kommen. Bescheuert, komplett crazy, dachte er. Was hätte Nietzsche dazu gesagt, wenn er ihn hätte fragen können. Dieser Gedanke erheiterte ihn. Wäre es ihm dann gelungen, den Wert des Jagens, des Eroberns umzuwerten, zu drehen. So im Sinne von: «Danke, nein, ich bin zufrieden mit dem, was ich habe, ich brauche mich nicht weiter zu beweisen, ich bin bei mir zu 100 Prozent und dabei auch noch glücklich und zufrieden.» Aber wie bereits x-mal wiederholt. Er war dazu nicht fähig. Er hatte sich, nach Nietzsche, schlecht verhalten, als böse könnte man es auch interpretieren. Obwohl sich Nietzsche dazu nicht explizit geäussert hatte. Ihm ging es um den edlen, den guten Menschen und der war er eben nicht und heute brauchte er es auch nicht mehr zu sein. Also hatte sich im Grunde nicht viel geändert.
Ein kleiner Spaziergang wäre nun eventuell angebracht, meinte er zu sich selber. «Einmal ums Karree, sehen was sich bei der Bücherzelle verändert hat, mehr aber auch nicht», murmelte er.
4. Barbara
Als der alte Mann, er war Anfang 30, noch mit Camilla zusammen war, lernte er Barbara kennen. Er verliebte sich grenzenlos in diese Frau. Daran erinnerte er sich noch gut. Noch nie vorher und auch in den höchsten Wonnen mit Camilla, hatte er solche Gefühle, solche Gefühlswallungen erlebt. Es riss ihn förmlich hinweg, oder: er verlor den Boden unter den Füssen, oder: er wusste gar nicht mehr, wo er war, und verlor vollständig die Orientierung. Schmetterlinge im Bauch waren ein Klacks dagegen. Nun fuhr er zweigleisig. Auf der einen Seite war er Familienvater und mit Camilla verheiratet und auf der anderen Seite war er unsterblich in Barbara verliebt. Was tun, sprach Zeus, die Götter sind besoffen. War er nun so ein Gott, der nicht mehr wusste, wo vorne und hinten, oben und unten war? Nietzsche hätte es als dionysischen Zustand bezeichnet, indem er sich befand. Hatte er nicht eine Familie, eine Verpflichtung dieser gegenüber. Wo blieb seine Vernunft, sein apollinischer Teil? Weg, einfach weg.
Es begann eine schlimme Zeit. Barbara war ihm auch sehr zugetan. Das war zwar schön, aber machte die Sache nicht einfacher, im Gegenteil. Es verschlimmbesserte alles nur noch mehr. Er wusste nicht mehr ein noch aus. Aber er fällte die Entscheidung und – nolens volens - verliess er Camilla und Tiffany und zog bei Barbara ein. Er fühlte sich sehr wohl als Verräter und hatte ein schlechtes Gewissen. Dies ist bekanntlich kein erspriessliches Ruhekissen. Heute fragte er sich, ob er mit diesem Wechsel der Frauen nicht auch aus der Sex-Falle, so wie er es damals mittlerweile empfand, herauskommen konnte, wollte. Natürlich war das eine falsche, untaugliche Lösung. Heute dachte er ab und zu mal, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er bei Camilla geblieben wäre. Das war natürlich ein müssiger, weil sinnloser Gedanke, aber er war nicht verboten. Die Gedanken sind ja bekanntlich frei und kostenlos. Rhea hätte es nicht gegeben, aber vielleicht jemanden anderen. Das stand fest. Aber wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er sich nicht von Camilla getrennt hätte, darüber war er nicht in der Lage, spekulative Bilder zu erzeugen. Dafür fehlte ihm schlicht und einfach die Phantasie. Sein Leben war so verlaufen, wie sein Leben verlaufen war. Ende der Durchsage, dachte er und griff zur Tasse, um diese unter seine Super-Maschine zu stellen und drückte auf die Taste ‘Kaffee’.
So betrog er Camilla. Aber es war nicht so wie bei den üblichen Seitensprüngen, die Camilla ja auch betrieb. Rückblickend, so vermutete er, hätte ihre Beziehung diese sogar überlebt. Aber das mit Barbara war eben kein One-Night-Stand, sondern Liebe. Eine Liebe, wie er sie bis anhin noch nie erlebt hatte. Er hatte so ein Gefühl nicht für menschenmöglich gehalten. Er wollte dieses Gefühl nicht verlieren, es sollte ewig bei ihm sein, ewig. Nietzsche hätte seine Freude daran gehabt. Die Gefühle, die er Barbara gegenüber hatte, waren überschäumend, glühend und machten ihn sowas von froh. Dies hatte mit Bett, Sex, Lutschen und Quietschen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Es war Glück pur. Da gab es kein Soda und keinen Verdünner. Konnte dieses Gefühl sich selber auf ewig erhalten? Darüber hatte er damals nicht nachgedacht. Warum auch. Augenblick: Du bist so schön, verweile auf ewig, so empfand er die Situation. Nur ab und an mal beschlich ihn auch ein schlechtes Gefühl, das aber kaum in der Lage war, seine Hochstimmung zu trüben, nämlich der Gedanke, dass er Camilla betrog und vielleicht sogar bereit war, Tiffany zu verlassen. Das waren dunkle Wolken, die sich zwar immer verzogen, aber immer wieder auch aufkreuzten. Heute, als alter Mann, war ihm klar, dass das nicht gut gehen konnte. Aber damals existierte dieser Gedanke nicht. Die Zweifel kamen erst später, Jahre später. Von daher, so dachte er, hat es im Grunde ganz schön lange hingehalten. Aber es war im Grunde bereits viel früher zu Ende, als dann das Ende auch real vollzogen wurde. In der Hauptsache von Barbara. Aber daran dachte er nur ungern zurück. Das war eine düstere Zeit und stand im Gegensatz zum reinen Glück der Anfangszeit. Aber das hatte vielleicht eine innere Logik. Wo das Nirwana ist, ist vielleicht die Hölle auch nicht weit. Dafür hatte er wohl büssen müssen und das nicht zu knapp. Eine leichte Übelkeit befiel ihn und er machte sich eine heisse Schokolade. Er brauchte wohl etwas Zucker, um von diesen schlechten Gedanken wieder auf Normaltemperatur zu gelangen. Danach ein kleiner Spaziergang zur Bücherzelle. Obwohl ihm bewusst war, dass da meistens nur Schrott lag. Na ja, dachte er, passt ja zu meinen momentanen Gedanken. Also sei’s drum.
Barbara war nun das Gegenteil von Camilla. Sie war um einiges grösser als er. Ist sie natürlich auch heute noch. Sie war extrem schlank und hatte nur einen winzig kleinen Busen. Sie war und ist sehr unsportlich und betreibt auch heute noch keine Sportart. Im Gegensatz zu Camilla trug sie die Haare lang. Ihre ganze Ausdrucksweise, ihre intellektuell fundierten Aussagen, beeindruckte und überzeugte ihn. Sie war eine sehr elegante Erscheinung und erregte sofort die Aufmerksamkeit der umherstehenden Männer, egal wo sie sich befand. Aber ihr Gemüt war doch, das stellte er nach relativ kurzer Zeit fest, unbeständig. Sie konnte sehr ausgelassen sein, dann aber auch wieder sehr schweigsam, zurückhaltend und liess jegliches Selbstvertrauen vermissen. Es gab Phasen, da rauchte sie stark, auch in der Wohnung, dann wieder erklärte sie, dass sie damit endgültig aufhören würde, begann dann aber nach Monaten, auch Jahren, wieder damit. Währenddem Camilla ihre Schwierigkeiten mit Alk hatte, das war offensichtlich, trank Barbara nur phasenweise in Abständen von längeren Zeitspannen. Dann aber gab sie sich die Kante, bis sie kaum noch stehen konnte. Er erinnerte sich höchst ungern an diese Episoden. Einmal wäre sie dabei fast eine Treppe heruntergestürzt. Es schien auch so, dass sie den Geschlechtsverkehr nur in alkoholisiertem Zustand ertrug. Das hatte ihn, als er dies realisierte, sehr traurig gemacht. Er war bemüht, mit ihr darüber zu sprechen, aber dies misslang jedes Mal.
Sie diskutierten stundenlang. Sexualität fand, wie erwähnt, nur in einem begrenzten Rahmen statt und war eine zu vernachlässigende Nebensache und meistens war sie auch nicht gut. Von ekstatischen Höhenflügen konnte da nun wirklich keine Rede sein. Er lebte damals sehr stark in diesen Vergleichen von Camilla und Barbara. Aber eigentlich wollte er das gar nicht. Im Grunde fand er dieses Vergleichen blöd und den beiden Frauen gegenüber unwürdig. Jede war eben so, wie sie eben war und damit hatte es sich doch. Aber er konnte sich davon nicht freimachen. Er hatte mal ein Buch gelesen über Kommensurabilität. Da hatte ein Autor versucht, darzustellen, dass wir ohne ein ständiges Vergleichen gar nicht überlebensfähig wären. Das beruhigte ihn heute, aber damals nicht. Aber damals hatte dieses Buch auch noch nicht existiert.
Tatsache war, dass ihn Barbara in ihrer doch manchmal auch spröden Art faszinierte. Camilla kannte er in- und auswendig. Da gab es keinen Neuigkeits-Reiz mehr, umso mehr dafür bei Barbara. Er wurde sich mehr und mehr bewusst, dass seine Zeit bei Camilla am Ablaufen oder bereits schon ganz vorbei war. Aber er war doch Familienvater und hatte eine Verantwortung. Dies war ihm sehr wohl bewusst. Er sass zwischen zwei Stühlen und hatte Angst davor, hart und schmerzhaft auf den Boden zu knallen. So balancierte er in einem luftleeren Raum, auf einem Hochseil, das aber gar nicht existent war. Er hatte Jahre gebraucht, sich diese Zeit bildhaft in seine Erinnerung zu rufen. Heute war dies, trotz aller Schmerzen und den Gefühlen des Selbsthasses möglich. Er wusste oder es war ihm nicht so bewusst, dass die Zeit mit Camilla sich dem Ende zuneigte oder vielleicht bereits schon Vergangenheit war. Alles in einem. Er wollte, er musste sich von dieser Frau, die er wirklich begehrt hatte, lösen. Er musste von ihr weg, fluchtartig. Er hatte das Gefühl, wenn er bliebe, würde er ersticken, beim Ficken keine Luft mehr bekommen, sterben. Lust war immer noch da, eine biologische Lust, hervorgerufen durch Reibung. Aber das war es nicht, das war es längst nicht mehr. Er fühlte sich durch ihre Existenz eingeengt, zerquetscht. Er musste weg. Aber das ging doch nicht, da war ja noch seine Tochter Tiffany, eine neue Existenz auf dem Erdball und er liebte diesen kleinen Menschen sehr. Den konnte er doch nicht verlassen, unmöglich, undenkbar.
Dann zog er aus und bei Barbara ein. Er fühlte sich erleichtert, erlöst, wie neu geboren. Aber es war schrecklich, wenn er an Tiffany dachte. Ganz schlimm, ganz schrecklich, ihm rannen immer wieder die Tränen übers Gesicht, heimlich. Die Trennung von seiner Tochter empfand er auch heute noch als Trauma, das er sich selber zugefügt hatte. Er war auch nicht der Meinung, dass er dies in seinem Leben je zu überwinden in der Lage sein würde. Dieser Schmerz war chronisch, unheilbar und er konnte nur hoffen, dass Tiffany ihn überwinden und ihm vielleicht, Jahrzehnte später, verzeihen konnte. So war er sein Leben lang stark daran interessiert und bemühte sich auch stets darum, dass der Kontakt zu ihr immer erhalten blieb. Dies hatte er wenigstens geschafft. Gott sei’s gelobt und getrommelt, dachte er. Seine heisse Schokolade hatte er mittlerweile ausgeschlürft und dachte, vielleicht durfte er sich mit einem Haiku etwas belohnen. Man gönnt sich ja sonst nix, schmunzelte er und griff zum Buch:

(Basho, S. 14)
Ja, so war es. Auch ihm sind letztlich nur die vier Ecken seines Tisches geblieben. An dem Tisch, an dem er las und seine Mahlzeiten einnahm. Wohldem, der einen solchen Tisch, eine Heimat hat. Aber für ihn ging wohl bald nicht mehr nur der Mond unter, sondern auch die Sonne. Waren das Gedanken einer Altersdepression, dachte er. Oder könnte man dieses Haiku auch anders verstehen? Ja, denn so ein Tisch verkörpert etwas Stabiles, eben ein Heim. Da ist man, da kann man sein, kann sich ausruhen, sich zurücklehnen. Ein Tisch ist demnach etwas Gutes, auch wenn er die meiste Zeit alleine an seinem Tisch sass. Aber damit kam er klar und seine Gedanken schweiften wieder ab.
Aber er dachte gerne an diese Zeit mit Barbara zurück. Sie war spannend. Er lernte ein neues Leben kennen, ihres wie auch seines. Sie diskutierten viel über Tagespolitik, soziale Problemstellungen und dergleichen mehr, und er lernte ihre Familie kennen. Sie hatte noch fünf Geschwister und er fand zu allen Kontakt. Sie war Sozialarbeiterin und arbeitete in einem Heim der Nichtsesshaftenhilfe. Das ergab viele interessante Gespräche über soziologische Fragestellungen. Wieder wohnte er auf engstem Raum mit einer Frau zusammen. Nur finanziell ging es ihm schlechter denn je, denn er hatte ja Unterhalt zu bezahlen und war immer noch mit Camilla verheiratet. Diese hatte ihn nach seinem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, polizeilich abgemeldet, so dass er gezwungen war, sich am neuen Ort als Untermieter bei Barbara anzumelden. Dafür musste natürlich deren Vermieter informiert werden. Dies alles stiess ihm sauer auf und war ihm peinlich. Solche Unregelmässigkeiten mochte er schon als junger Mann nicht. Aber es liess sich nicht ändern. In seinem Hirn arbeitete es aber nicht mehr normal, er fand, dass sich in seinem Kopf ein Karussell befand. Es ging hin und her, endlos. War das richtig, was er da veranstaltete? Konnte er sowohl Camilla wie auch Tiffany derart ins Unglück stürzen? Zweifel kamen auf, die blieben. Er fühlte sich zwischen zwei Mühlrädern eingeklemmt, gefangen. Wohin führte sein Weg? Er kam sich vor wie Don Quichote, der sich zwischen Windrädern hin- und hergewirbelt sah. Und, um ganz ehrlich zu sein, er vermisste auch etwas den guten Sex mit Camilla. Immer mal wieder kamen auch Bilder in ihm hoch, die ihn daran erinnerten. Sexualität mit Barbara war immer irgendwie verkrampft. «Knorpelig» war ihr Ausdruck dafür. Es schien, als machte es ihr keinen Spass. Punkt und Aus. Sie tat es, weil man es eben tut, und er unterstellte ihr, wenn sie es tat, liess sie es über sich ergehen, weil die Männer es so wollten. Na denn, dann gebe ich mich dem eben hin, dauert ja nicht ewig und ist hoffentlich gleich wieder vorbei, so dachte sie wohl, vermutete er. Das unterstellte er ihr, denn ein klärendes, öffnendes Gespräch zu dieser Thematik war untypischerweise mit Barbara nicht möglich. Mit ihm, so schien es, war es ihr nicht möglich. Trotzdem liebte er sie total. Später, Jahre später, erklärte sie ihm einmal, dass sie von seiner Intelligenz, seiner Eloquenz beeindruckt gewesen war. Deshalb wollte sie auch ein Kind von ihm. Dann verliess er Barbara und kehrte zu Camilla zurück.
Sie nahm ihn sofort wieder auf. Von Barbara hatte er sich nicht verabschiedet. Er konnte nicht und fühlte sich doppelt schlecht. Er verliess sie nicht nur, sondern zeigte sich auch noch feige. Abscheulich; mehr war dazu nicht zu sagen. Auch heute noch fand er, dass er sich damals erbärmlich gezeigt hatte. Widerlich, einfach nur billig, dachte er. Bei Camilla ging es dann mit dem Sex in unverminderter Art und Weise weiter. Aber er konnte ihn nicht mehr geniessen, denn er fühlte sich darin gefangen, benutzt. Aber er hatte es wenigstens wieder, noch einmal, versucht. Das gab ihm jeweils für einige Momente ein Stückchen Selbstwertgefühl zurück und der tägliche und nächtliche Kontakt mit Tiffany war für ihn riesig. So sei es denn eben, dachte er damals. Aber diese künstliche Beruhigungstherapie hielt nur wenige Wochen an und dann war für ihn klar, wenn er bliebe, ginge er zugrunde. Er wäre dann überhaupt nicht mehr er selber. Er erinnert sich, er sass nur noch da und stierte in die Luft oder sah stundenlang aus dem Fenster, nur Tiffany vermochte ein Lächeln in sein Gesicht zaubern. Er wusste, er hatte es noch einmal probiert und die Situation war schlimmer als noch vor seinem Weggang. Er suchte wieder den Kontakt zu Barbara und legte seine Zukunft, sein Schicksal in ihre Hände. Wenn sie ihn nicht mehr aufnahm, dann wollte er bei Camilla bleiben bis an sein sel’ges Ende. wenn Barbara ihn wieder aufnahm, dann war es so und es mussten Regelungen wegen Tiffany gefunden werden. Er wäre ja nicht der erste und ‘broken families’ waren eine statistische Tatsache. Barbara nahm ihn wieder auf. Kurze Zeit später entschieden sie, in ein anderes Land zu ziehen. Dort verdiente er mehr und seine Zahlungen an Camilla und für Tiffany wurden damit erträglicher. Barbara war damit einverstanden und sie verliessen diese Stadt, die ihm wirklich sehr viel bedeutet hatte.
Aber Camilla kam über den Verlust nicht hinweg. Mehrmals in der Woche rief sie an, meistens war sie betrunken und lallte etwas in den Hörer, was nicht zu verstehen war. Möglich, dass er es auch nicht verstehen wollte. Nach einigen Monaten hörten diese Anrufe auf. Das Realitätsprinzip hatte sich durchgesetzt. Nach einiger Zeit wurde er durch einen gerichtlichen Bescheid davon entbunden, für Camilla Unterhalt zu zahlen. Aber bereits, als er noch mit Camilla zusammenlebte, hatte diese ihr Studium geschmissen. «Keine Lust mehr, weiss nicht, was das soll», hatte sie nur gemeint. Er hatte das gar nicht gut gefunden und noch Wochen danach versucht, sie zu bewegen, ihr Studium doch fortzusetzen, auch wenn sie eventuell dann nicht in dem Beruf als Lehrerin arbeiten wollen würde. Das könne man doch dann noch später entscheiden. «Ne», meinte Camilla, es war nichts zu machen. Nach der Trennung mit ihm nahm sie dann einen Aushilfsjob an.
Mit Barbara gestaltete sich der Alltag erst einmal harmonisch. Sie richteten sich in dem neuen Land gut ein. Ihm gefiel die neue Anstellung und ihr gefiel die neue Umgebung. Aber sie hatte keine Arbeitsstelle und war ja nun Ausländerin. Also beschlossen sie, aus diesem Grunde zu heiraten, weil sie dann, das war damals noch möglich, mit der Heirat direkt seine Staatsangehörigkeit erhielt und sich als quasi Einheimische eine Arbeit suchen konnte. Wieder einmal: gesagt – getan. Und so heirateten sie und fuhren nach der Hochzeit wieder in ihr Heimatland, wo dann von ihren Eltern ein grosses Fest veranstaltet wurden. Auch ihre zahlreichen Geschwister mit Anhang waren anwesend. Es war eine grosse Nummer und wie er fand, fast etwas zu gross, zu pompös, zu prätentiös, also zu angeberisch. Danach fuhren wieder nach Hause und Barbara fand noch in derselben Woche eine Anstellung in ihrem Beruf als Sozialarbeiterin beim Sozialdienst der in der Nachbarschaft liegenden grossen Stadt. Da sie nur über ein einziges Konto bei der Bank verfügten, also alle Einkünfte, egal wieviel und vom wem, gemeinsam verwalteten, ging es ihnen finanziell bald besser. Aber der Sex war und blieb harzig. Das passte irgendwie nicht zusammen. Es belastete ihn. Aber ein sinnvolles, konstruktives Gespräch darüber fand, so bedauerte er das heute, nie statt. Warum eigentlich nicht? Keine Ahnung.
Eines Tages dann meinte sie, dass sie nun ein Kind von ihm wolle. Er war ob dieses Wunsches nicht schlecht erstaunt. Damit hatte er nicht gerechnet. In der Zwischenzeit hatte sich auch die Besuchsregelung, Tiffany war ja mittlerweile in der Grundschule, eingespielt. Immer in den Schulferien kam sie zu ihnen. Und Barbara verstand sich mit dem kleinen Mädchen ausnehmend gut. Das freute ihn sehr. Eine Sorge weniger. Immer mal wieder plagte ihn das schlechte Gewissen Camilla gegenüber. Aber er freute sich immer riesig, wenn er Tiffany aus dem Zug aussteigen sah. Erstaunlicherweise schien sie kein Problem damit zu haben, in den Schulferien jeweils ihren Vater und seine neue Frau, die so neu ja nun auch nicht mehr war, zu besuchen. Sie integrierte dies in ihren Lebensalltag. Das funktionierte. Also, dachte der alte Mann, wie war das damals mit dem Kind. Aber das habe ich schon erwähnt, dass er eher kein Kind mehr haben wollte und dann diese Fairness-Gerechtigkeits-Diskussion ihr Thema wurde. Interessant in seiner Erinnerung war nun ihr Verhalten gegenüber dem Sexualakt. Sie lud ihn jeweils bereitwillig ein, sie zu befruchten. Sie legte sich auf den Rücken, spreizte die Beine und sagte: «Komm, nun komm endlich, mach es mir.» Dies war für ihn eine völlig neue Situation und ihr Verhalten kam ihm merkwürdig, untypisch und auch etwas bizarr vor. Aber heute, also als alter Mann, dem die Sexualität nur noch in der Erinnerung existent war, war es im Grunde ein natürlicher Vorgang. Die Sexualität zur Lusterzeugung bedeutete ihr nichts, aber die Sexualität zum Zwecke der Zeugung, das konnte sie problemlos akzeptieren. Sie führte somit die Sexualität auf ihren eigentlichen Zweck zurück. Dieser Gedanke kam ihm damals natürlich nicht. Um zu so einer Einsicht zu gelangen, muss man mindestens 65 Jahre alt sein, dachte er, heute, mindestens. So durfte er sich denn, durch ihre Einladung angefeuert, mehrere Wochen in sie ergiessen. Als sie dann schwanger war, hörten diese Einladungen von einem Tag auf den anderen auch wieder auf. Ende Feuer, hatte er damals gedacht und ihre gemeinsame Sexualität wurde ausschliesslich von ihr bestimmt, auf ein Mindestmass reduziert, zurechtgestutzt. Dies empfand er zunehmend als betrüblich.
Dann war Geburt. Er war am Abend, beruflich bedingt, in einer Sitzung. Barbara bat ihn, nicht hinzugehen. Er tat es trotzdem, mit der Bemerkung, einer Erstgebärenden kann man nicht unbedingt trauen, dass diese den Geburtstermin, also die Stunde, voraussagen kann. Sein Termin war, er wusste es heute nicht mehr, worum es letztendlich gegangen war, aber damals war er ihm wichtig erschienen. Er verabschiedete sich von ihr. Tja, dachte er als alter Mann. Schade, dass es damals noch keine Handys gab. Er ging dann etwas früher wieder nach Hause, so um 21 Uhr erschien er in der Tür. Aber die Wohnung war leer. «Oh», dachte er damals, sie ist schon ins Krankenhaus gegangen, gefahren. Er flitzte dahin. Die Geburt war noch nicht in Gange. Sie schaute ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. Er ging sofort zu ihr hin. Auch eine Hebamme wuselte in dem Gebärzimmer herum. Die Geburt begann dann weit nach Mitternacht. Heute war er sehr wohl der Meinung, dass er nicht hätte in die Sitzung gehen müssen, dürfen, sollen. Er hätte ihr beistehen müssen. Der Spruch bzgl. der Erstgebärenden tat ihm heute noch leid. Was war er in dieser Situation doch für ein Arschloch gewesen. So durfte man sich doch nicht verhalten. Es tat ihm leid und er musste sich eingestehen, dass er sich da komplett falsch verhalten hatte. Aber er konnte es natürlich ca. fünfzig Jahre später nicht mehr korrigieren. Wieder ein Fehler mehr, den er in seinem Leben begangen hatte. War er beziehungsunfähig? Er steigerte sich immer mehr in eine sich selbst verurteilende Rolle hinein. Er sass an seinem Tisch und spürte plötzlich, erst hatte er es gar nicht gemerkt, dass er weinte. Das nützte natürlich Barbara auch nichts mehr und sie wusste auch gar nichts davon, sie hatten ja seit Jahren keinen Kontakt mehr.
Nach der Geburt, als sie wieder, zu dritt dann, zu Hause waren, hatte er sich entschuldigt, mehr oder weniger. Heute hätte er sich für sein damaliges Verhalten ohrfeigen können. Er zuckte mit den Schultern und beschloss es für heute genug sein zu lassen mit dieser unseligen Vergangenheitsbewältigung. Er schaltete den Fernseher ein, ärgerte sich postwendend über das Gesendete und schaltete ihn gleich wieder aus. Dann aber schaltete er ihn wieder ein und wählte einen Sportsender. Er schaute sich ein Tennisspiel an. Das unregelmässige ploppen des Balles beruhigte ihn etwas. Nun war auch eine Tasse Aufgebrühtes aus Süd-Amerika angebracht und er stellte die Kaffee-Maschine an. Er beruhigte sich und ging dann zu Bett. Aber der Gedankenstrom hielt sich hartnäckig am Leben und Rheas Geburt lief vor seinem geistigen Auge ab.
Die Hebamme forderte Barbara auf, feste zu pressen und Barbara meinte: «Was meinen Sie, was ich hier tue.» Aber irgendwie kam die Sache nicht ans Laufen. Die Hebamme versuchte Barbara immer weiter zu motivieren und er vermutete, dass dies nicht gut kommen würde. Nach einer Stunde oder auch deren zwei, so genau konnte er sich nach Jahrzehnten nicht mehr erinnern, gab Barbara auf. Sie und die Hebamme hatten nun angefangen zu streiten, bis Barbara meinte: «Ich mag nicht mehr, ich presse nicht mehr…». Die Hebamme: «Ich rufe jetzt Ihre Ärztin an.» Ich nickte intensiv. Barbara lag erschöpft in den Kissen, die ganze Prozedur war ins Stocken geraten. Ihre Frauenärztin kam dann in erstaunlich kurzer Zeit angerauscht, überblickte die Situation, kontrollierte die Herztöne des Fötus und meinte: «Höchste Eisenbahn.» Dann forderte sie ihn auf, sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Bauch seiner Frau zu legen. Er kam dieser Aufforderung zögerlich nach. Darauf raunzte ihn die Ärztin an und meinte: «Ihre Frau ist nicht aus Watte, nun legen sie sich mit ihrem ganzen Gewicht drauf, bitte!» Er tat, wie ihm geheissen. Irgendwie bewegte sich etwas, aber die Ärztin schien nicht zufrieden zu sein. Sie sagte dann nur noch: «Dammschnitt» und ging ans Werk. Was die Ärztin da an der Scheide seiner Frau hantierte, konnte er nicht sehen, weil er ja quer über seiner Frau lag. Dann schrie etwas, Barbara war total erschöpft, als wenn sie, untrainiert, wäre sie ohnehin gewesen, einen Marathonlauf absolviert hätte. Ein Mädchen hatte das Licht, also das Lampenlicht der Welt erblickt. Es war mittlerweile so gegen drei Uhr, nachts. Rhea war geboren und wohlauf. Wieviel Barbara davon mitbekam, vermochte er nicht zu sagen. Er war auf jeden Fall, und das würde er seiner Lebtage nie mehr vergessen, der erste Mensch auf dieser Welt, der Rhea in den Armen hielt. Dann kam eine Kinderkrankenschwester und der Neugeborenen-Prozess nahm seinen ordnungsgemässen Verlauf. So viel dazu, dachte er.
Später meinte er dann jeweils, dass es ja an ihm gelegen war, dem Kind zur Ankunft in die Welt verholfen zu haben. Er verstand dies jeweils spassig, wofür Barbara aber über keinerlei Musikgehör verfügte und ihm im Gegenzug jeweils, aber weniger spassig gemeint, vorhielt, dass er sie im Grunde wegen dieser Scheisssitzung im Stich gelassen hätte und es seine heilige Pflicht und Schuldigkeit gewesen wäre, mit ihr gemeinsam zum Krankenhaus zu fahren. Heute, Jahrzehnte später, dachte er, dass sie wohl recht gehabt hat. Es tat ihm nachträglich noch leid, aber ein Kontakt zu ihr bestand ja nicht mehr. Aber all dies hatte er heute Abend bereits in Gedanken durchgekaut. Nun konnte er einschlafen.
Die ersten Monate mit Rhea, dem Saturnmond, waren schwierig. Sie war ein Schreikind und hatte unablässig Bauchkoliken. Ein Arzt überwies sie sogar ins Krankenhaus. Aber da schickte man sie umgehend wieder nach Hause: «Das sind Dreimonatskoliken, gibt es häufig, machen sie sich da mal keine Sorgen. Reiben sie das Bäuchlein mit Kümmel-Öl ein. Das hilft garantiert.» Nun, ausser dass die Wohnung danach nach Kümmel stank, half es gar nichts und die Dreimonatskoliken waren mittlerweile im vierten Monat angekommen. Dann hörten sie, wie durch ein Wunder, von einem Tag auf den anderen, auf. Aber sie trank nicht an der Brust und auch nicht an der Flasche. Das nächste Problem. Barbara war nervlich wieder einmal nahezu am Ende. Er fing dann an, Rhea mit dem Löffel Möhrenbrei einzuflössen. Dieser Teil der Essecke sah dann jeweils aus wie in einem blutigen Western mit John Wayne, oder ähnlich wie bei dem, doch es schien zu funktionieren. Rhea gedieh mit dieser aufwendigen Methode prächtig.
Als sie drei Jahre alt war, kam Rhea jeweils vormittags in eine Spielgruppe und Barbara konnte wieder arbeiten gehen. Sie blühte sichtlich auf. Zur Unterstützung der Familie hatte er sein Pensum, wenn auch leicht, aber immerhin doch, reduziert. Das war damals gar nicht so einfach, denn als ein Chefbeamter erwartete man von ihm 100 Prozent oder mehr. Dass ein Mann wegen seiner Familie sein Arbeitspensum reduziert, löste eher Unverständnis und Kopfschütteln aus. 20 Prozent wurden ihm zugestanden. So lebten sie im Grunde recht zufrieden und mit sechs Jahren kam Rhea in die Grundschule und wurde eine gut-durchschnittliche Schülerin und machte im Grunde keinerlei Probleme.
Vielleicht durch die Erfahrung der Geburt verlor Barbara nie mehr ein Wort darüber, dass sie einmal den Wunsch nach einem zweiten Kind geäussert hatte. Er wäre ja ohnehin nicht mehr dazu in der Lage gewesen. Sie eröffnete ihm dann, für ihn doch unerwartet, dass sie den Beruf aufgeben wolle, um noch einmal zu studieren. Diese Idee hatte sie bereits früher schon einmal geäussert und es hätte das Studium der Psychologie sein sollen. Aber der Wunsch hatte sich verändert. Sie war an einer Karriere im sozialen Bereich nicht mehr so stark interessiert und deshalb meinte sie auch, dass sie nicht Psych., sondern Jura studieren wolle. Ihr Bestreben ging dahin, in der Verwaltung eines Sozialministeriums vielleicht Karriere machen zu können und da war die Jurisprudenz wesentlich erfolgversprechender als Psychologie. Sie hatte sich auch schon bei einer Uni informiert und könne da im kommenden Oktober einsteigen. Und so geschah es denn auch, will sagen, so zog sie es durch. Sie war zwar bereits etwas älter als ihre Kommilitoninnen, aber ihr Fleiss beeindruckte ihn und nach neun Semestern hatte sie ihren ‘Master of Law’. So war er zum Alleinverdiener und Lebensunterhalter der Kleinfamilie geworden. Das war kein Problem für ihn. Es freute ihn sogar. Warum, fragte er sich. Hatte er etwas gutzumachen?
Denn er betrog Barbara immer wieder mal. Er verstand auch nicht genau, warum es ihm immer wieder gelang, dass er Frauen relativ leicht dazu brachte, mit ihm ins Bett zu gehen. Und wenn sie es taten, wollten sie es alsbald sogleich wieder. Er galt wohl als zärtlich und ging auf die Wünsche der Damenwelt ein. Er nahm diese Gelegenheiten wahr. Es war ihm sehr wohl bewusst, dass er damit Barbara verletzen würde. Aber so musste er sich heute eingestehen, dass ihm dies irgendwo auch egal war. Er bezog damit einen männlichen Standpunkt, den er im Grunde für falsch hielt, dem er sich aber dennoch nicht entziehen konnte. Es gab immer wieder auch längere Phasen, wo er sich völlig treu verhielt und ganz plötzlich, so quasi über Nacht, ergab sich eine Gelegenheit und er trieb es mit einer Kollegin oder irgendeiner Frau. Die Frauen als Personen interessierten ihn kaum, es interessierte ihn ihr Geschlecht und dies im wahrsten Sinn dieses Wortes. Hatte er dieses vor sich, war ihm der Rest egal. Hinterher fühlte er sich jeweils nicht besonders gut, aber irgendwie teilte er diese Aktionen in seinem Kopf auf. Auf der einen Seite gab es seine Ehefrau, Barbara, und auf der anderen Seite gab es eben eine Frau, mit der er es trieb. Das eine hatte mit dem anderen nichts, aber auch gar nichts zu tun. So ergab sich als Quintessenz, dass er gar nicht das Gefühl hatte, Barbara zu betrügen. Er wusste, dass er es tat, aber emotional spaltete er es ab. Er fühlte sich immer als treusorgender Familienvater und war auch gar nicht bereit, die Beziehung zu Barbara aufgeben zu wollen. Warum auch? Das eine hatte ja mit dem anderen nichts zu tun. Davon war er überzeugt. Die Idee, dass er sich vielleicht neurotisch verhielt, oder dass da etwas bei ihm nicht stimmen konnte, kam ihm nie. Wo war das Problem? Könnte es sein, so dachte er manchmal, dass Barbara etwas von seinen ausserhäuslichen Eskapaden mitbekam. Sie sagte nie etwas oder gab auch nie, für ihn erkennbar, irgendwelche Signale, die auf sein Verhalten hätten schliessen lassen können. Also warum hätte er an seinen Abenteuern etwas ändern sollen? Es gab Frauen, mit denen er über mehrere Jahre immer Kontakt hatte und mit ihnen schlief, wie man so sagt. Es schien für ihn so, als ob er dies gebraucht hätte und er damit sein Ego, sein Selbstbewusstsein stabilisieren konnte. Er benötigte beide Teile. Ein Teil war der Familie gewidmet, die er auf keinen Fall aufgeben wollte und der andere Teil war, sich mit einer anderen Frau vergnügen zu können. Denn der Sex mit seiner eigenen Frau, die er über alles liebte, gab ihm diese Zufriedenheit nie. So war es eben und so versuchte er, beides unter einen Hut zu kriegen und praktizierte diese Zweigleisigkeit über nahezu zwanzig Jahre. Er dachte heute, in gesetzterem Alter, ob er sich dafür zu schämen hatte. War sein Verhalten krank, abnorm, pervers, auf jeden Fall zu verurteilen? Gut, ändern liess es sich nicht mehr. Er hatte es so gelebt und wenn er tief in seinem Inneren ehrlich war, so musste er sich eingestehen, dass er im Grunde diese Abenteuer, diese Amüsements nicht missen wollte. Nicht alle waren gut, aber die meisten doch und einige sogar ekstatisch. Die Erinnerungen daran taten ihm gut. Er fragte sich, warum es so nicht hatte weitergehen können. Trotzdem war es auch gut, dass es ein Ende fand.
Nach 20 Jahren reichte Barbara die Scheidung ein. Sie zog in eine andere Stadt und er und Rhea zogen zusammen in eine andere, billigere Wohnung. Ihr Zusammenleben gestaltete sich harmonisch. Er ging arbeiten und Rhea an die Uni. Erst studierte sie einige Semester Politologie, bis ihr klar wurde, dass damit ihre beruflichen Aussichten nicht günstig waren. Lehrerin wollte sie nicht werden und Journalistin auch nicht. Nach nur 2 Semestern brach sie dieses Studium ab und wählte den Weg ihrer Mutter und begann ein Jurastudium. Wiederum nach einigen Semestern erschien es ihr angezeigt, die Universität zu wechseln und so zog sie bei ihm aus, weil sie die Stadt wechselte. Aber der Grund war eher der, dass sie an der neuen Universität noch ein weiteres Diplom integriert erwerben konnte. Ihr Ehrgeiz war nach wie vor ungebremst.
So war er allein. Er begann dann, nebenberuflich, ein Studium in Philosophie. Das bereitete ihm grosse Freude. Die Zeit, sich mit irgendwelchen Frauen zu vergnügen, schien dem Ende entgegenzugehen. Irgendwie hatte er an Attraktivität verloren. Hing das vielleicht damit zusammen, dass er nicht mehr verheiratet war? Gab es so etwas wie eine Anziehungskraft für einige Frauen, mit einem verheirateten Mann sexuell aktiv sein zu wollen? Die meisten dieser an Abenteuern interessierten Damen waren ja auch selber verheiratet oder fest liiert. Gibt es vielleicht, so dachte er als alter Mann, so etwas wie einen Markt für Fremdgänger und Fremdgängerinnen. Anders konnte man es sich gar nicht vorstellen. Trotzdem war es verpönt und moralisch verwerflich. War das nicht auch heuchlerisch, unehrlich? Ja, war es, schloss er sein Fazit. Vielleicht wäre da etwas Lektüre bei Nietzsche angebracht, der ja ein Spezialist im Aufdecken von heuchlerischem Verhalten war. Hatte dieser nicht auch gemeint, «dass eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, samt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies frohgemutes Handeln in sich liesst.» (Genealogie der Moral) Ja, so dachte er, so könnte man es sehen, aber man darf es nicht so sehen. Er war müde, kraftlos und für heute ausgelaugt. Noch ein bisschen TV, dann ins Bett.
5. Johanna
Johanna lernte er bei seiner Arbeit kennen. Sie war die rechte Hand der Geschäftsführung. Er befand sich damals eine Stufe darunter, was bedeutete, dass er sehr viel Zeit mit ihr verbrachte. Es ging immer um irgendwelche beruflichen Probleme. An diese mochte er nicht gerne zurückdenken. Es waren aus seiner heutigen Sicht heraus oft langweilige Inhalte. Es hatte ihn schon damals immer mal wieder angeödet. Es ging um Geld, was denn sonst. Irgendwann hatte er sie gefragt, warum sie eigentlich hier gelandet wäre. «Ja, irgendetwas muss man doch machen, damit man sich durchs Leben schlagen kann.» «Musst du dich denn da durchschlagen?», hatte er sie zurückgefragt. «Du nicht?», hatte sie schlagfertig geantwortet. So kamen sie immer wieder zusammen und mussten einige Dinge gemeinsam organisieren oder besprechen, damit ihre Resultate dem leitenden Geschäftsführer, dem CEO, vorgelegt werden konnten.
Er fand sie sympathisch, aber mehr eigentlich nicht. Wie sie zu ihm stand, vermochte er zum damaligen Zeitpunkt nicht zu sagen. Manchmal ging es ihm durch den Kopf, aber ihre unverbindliche Freundlichkeit gab ihm keine Hinweise, mit denen er ein wenig spekulieren konnte. Später hatte er sie dann darauf angesprochen, aber da waren sie schon, wenn auch noch nicht öffentlich, ein Paar, da hatte sie nur geantwortet: «Bier ist Bier und Schnaps ist Schnaps.» Er hatte verständnislos geguckt. «Wir trinken doch beide so Sachen nicht.» «Oh Gott», hatte sie nur geantwortet, «so sagt ihr Männer doch. Auf der Arbeit bin ich zu jedermann immer und alleweil freundlich. Das kostet mich nichts, aber macht mich beliebt. Das weiss ich.» «Dein Selbstbewusstsein möchte ich haben», hatte er geantwortet. «Habe ich gar nicht», erwiderte sie, «ist einfach nur Taktik, ohne dass ich darüber nachdenken müsste. Ich habe ja auch nichts zu entscheiden, ich muss nur aufbereiten und weiterleiten und einige Sachen eben mit dir.» «Aha», meinte er.
Johanna: «Ja, was willst du denn, dass ich auf der Arbeit noch Purzelbäume schlage, oder was? Es ist mein Job und fertig. Das hat doch alles mit meinem Privatleben, mit meiner Person nichts zu tun. Du nimmst eben zu vieles zu persönlich.» Er nickte. «Da hast du wohl recht, wie meistens.» Sie lächelte ihn an. Dann küsste er sie und sie küsste ihn. So wurden sie ein Paar.
Er war damals doch schon etwas älter, also nicht mehr weit von seiner Frühpensionierung weg. Er hatte nämlich beschlossen, seinen Job an den Nagel zu hängen und sich selbständig zu machen. Sie kündigte direkt, weil sie nicht mehr im gleichen Betrieb wie er arbeiten wollte. Sie fand schnell wieder eine andere Stelle, bei der sie das Gleiche zu tun hatte. Er hatte genügend Aufträge, von denen er leben konnte. So besuchten sie sich häufig. Sie war ebenfalls geschieden, wenn auch nur einmal und lebte mit ihrer jugendlichen Tochter Josette zusammen.
Um sich zu treffen, mussten sie jeweils die Stadt diagonal durchqueren. Das war mühsam, viele Menschen, viele Staus, viele Verspätungen beim ÖV etc. So beschloss er auf die andere Seite der Stadt zu ziehen. Zusammenziehen wollten sie nicht, noch nicht, wie er damals schmunzelnd meinte. Er erinnerte sich gerne an diese Zeit. Ihr ging es nicht immer gut, weil Josette keine einfache Jugendliche war. In der Schule machte sie nur das Allernotwendigste und jedes Wochenende war sie weg. Wo sie war, wusste Johanna jeweils nicht. Aber sie kam regelmässig völlig verladen, entweder vom Alkohol oder vom Kiffen, nach Hause und schlief dann am Sonntag bis in den Nachmittag. Interessant war aber dennoch, dass sie am Sonntagabend jeweils nur bis ca. 21 Uhr auf der Piste war. Piste war ein Lieblingswort von Josette. Johanna hatte ihr auch die Pille organisiert und mit ihr darüber gesprochen, von wegen Geschlechtskrankheiten und HIV. Josette hatte ausnahmsweise konzentriert zugehört und am Ende ihre Mutter kurz, aber herzlich umarmt. Da schien doch Hopfen und Malz noch nicht ganz verloren zu sein.
Ihr Verhältnis schien sich zu festigen und mit Wehmut dachte der alte Mann an ihre alten Zeiten zurück. Bald hatte er sich mit Johanna darauf geeinigt, dass die Penetration nicht ihr Ding war. Er befriedigte sie des Öfteren oral oder mit der Hand. Das schien sie zu geniessen. Sexualität spielte allerdings in ihrem Leben keine besondere Rolle. Sie war nicht abgeneigt und ihr Zusammensein gestaltete sich zärtlich und liebevoll. Das war für ihn eine neue Erfahrung, obwohl er ja das fünfzigste Lebensjahr bereits hinter sich gelassen hatte. Immer wieder war er beeindruckt von ihr. Sei es im Berufsleben, dem sie sich nach wie vor mit einer gewissen Seriosität widmete, oder sei es zu Hause, insbesondere mit ihrer Tochter. Oder dann auch in der Beziehung mit ihm. Sie schien ihm vollkommen zu sein. Sie war so völlig anders als Camilla und Barbara. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er so etwas noch erleben durfte.
Johanna war sehr naturfreundlich, naturinteressiert. So hatte sie von einer Freundin einen Pflanzplatz zum Bestellen von Gemüse erhalten. Diese Freundin, Gabriele, besass einen grossen Garten und dieser war ihr im Laufe der Jahre zu viel geworden und so trat sie gerne ein Stückchen an Johanna ab und diese nahm dieses Angebot begeistert an. Er beteiligte sich nicht daran, besah sich die Sache aber mit grossem Wohlwollen. So gab es immer wieder mal Salat, Möhren und Tomaten aus eigener Zucht, wie er sagte. Johanna musste dann, im Sommer täglich, dahinfahren, um zu giessen. Den Weg bewältigte sie manchmal zu Fuss oder auch mit dem Auto. Das waren nur fünf Minuten Fahrt.
Bei einem Spaziergang, als sie an einer Pilzkontrollstelle vorbeikamen, meinte er, völlig zum Spass: «Du könntest doch auch noch Pilze sammeln gehen.» «Interessante Idee», meinte Johanna und meldete sich am nächsten Tag für einen Pilzerkennungskurs an. Er war platt, so hatte er es gar nicht gemeint, aber warum auch nicht. Sie besuchte den Kurs, schaffte sich Pilzbücher an und hatte in Null-Komma-Nix jede Menge verschiedener Pilze im Kopf. Es ging da um den Hexenröhrling, die Rotfüsse, natürlich um Pfifferlinge, um den Semmelstoppel, um die violetten Lacktrichterlinge, Steinpilze und auch um die Maronenröhrlinge usw. usf. Zu Anbeginn begleitete er sie auch ab und an mal, wenn sie in den Wald ging. Aber er suchte nicht mit. Er mochte es nicht, im Wald herumzustrolchen. Ihr bereitete es ein grosses Vergnügen. An manchen Tagen ging sie sogar zweimal in den Wald, weil sie meinte, dass da noch ein Gebiet wäre, das sie noch nicht durchgekämmt hätte. «Na dann», meinte er dazu nur. Es freute ihn, dass sie so ihrem Hobby nachgehen konnte. Es freute ihn sogar sehr. Denn vor ca. vier Jahren hatte sie eine starke Depression erwischt.
Er dachte nicht oft, aber doch immer wieder mal an diese Phasen in ihrem Leben, das auch ihn nicht unberührt liess, zurück. Mittlerweile waren sie ja bereits mehr als zehn Jahre zusammen. Alle Werte, die in ihrem Leben bis anhin eine tragende Rolle gespielt hatten, waren damals plötzlich weg, einfach wie vom Erdboden verschwunden. Quasi schleichend und doch für ihn wie über Nacht erst wahrnehmbar. Vor allem die Fahrten in der S-Bahn, sie hatte damals noch gearbeitet, setzten ihr massiv zu. Jede laute Stimme und deren gab es viele, weil viele Menschen ständig an ihren Handys hingen und Musik hörten, trotz Kopfhörer brummte es, oder ein Spiel spielten, so dass es ständig bimmelte, oder einfach nur telefonierten. Es machte sie halb wahnsinnig. Aber auch die Desorganisation am Arbeitsplatz machte sie fix und fertig. Es wurden eine Reihe von Neuerungen eingeführt, die sie a) sinnlos und b) ineffizient fand. Nicht selten hatte sie auch mit dieser Einschätzung recht, denn bereits nach kurzer Zeit wurden einige dieser Neuerungen wieder aufgehoben, ersetzt durch neue, geänderte Änderungen oder man kehrte wieder zum alten, bereits aufgehobenen System zurück. Dies alles erregte sie sehr und sie hatte keine Ressourcen mehr, dies alles einfach wegstecken zu können oder an sich abtropfen zu lassen. Sie versank in einer bodenlosen Depression. Er konnte sich noch gut an diese Zeit erinnern und wie er sich völlig hilflos und überfordert vorgekommen war. Eines Abends verkündete er dann, dass sie sich professionelle Hilfe holen müsste, sonst würde wohl auch ihre Beziehung in arge Gefahr geraten. Johanna sah ihn erstaunt an. Sie war glücklicherweise, wie er nachträglich meinte, doch noch in der Verfassung, den Ernst der Lage ihres gemeinsamen Lebens einschätzen zu können. Sie wandte sich am nächsten Tag an eine Beratungsstelle und erhielt von dort die Adresse einer Psychiaterin, bei der sie sich umgehend meldete. Sie begann eine Therapie und diese war erfolgreich. Für ihn war ihr Leiden kaum aushaltbar. Diese Erinnerung hatte sich bei ihm festgesetzt. Zum Glück, auch für ihn, wie er sich auch heute noch eingestehen musste, nahm sie jeden Termin wahr und es stellte sich eine Besserung ein. Allerdings nicht, ohne dass sie sich frühpensionieren liess. So war dann der Weg zur Gartenarbeit und dem Pilze sammeln offen. Von ihrem Singen in zwei Chören vermochte er jetzt nicht mehr zu denken. Das war ihr liebstes Hobby, ach Johanna, wo bist du jetzt?
Er war erstaunt, dass diese Rückbesinnungen ihn immer wieder derart anstrengten. Dabei sass er doch nur da und erging sich in Erinnerungen. Sich zu erinnern ist ja fast so anstrengend, dachte er, wie es selbst zu erleben. Komisch, sehr komisch. Vielleicht wäre jetzt ein Haiku zur Entspannung angesagt. Er griff zum Buch und las:
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- Riccardo Bonfranchi (Autor), 2025, Der alte Mann und seine Frauen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1674679