Systemisches Coaching - Identifizierung charakteristischer Kriterien


Diploma Thesis, 2001

98 Pages, Grade: gut (2)


Excerpt


INHALTSVERZEICHNIS

1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Aufbau der Arbeit

2 Coaching
2.1 Abgrenzung zu anderen Beratungsformen
2.1.1 Systemische Psychotherapie
2.1.2 Supervision
2.1.3 Mentoring
2.2 Herkunft und Entwicklung
2.3 Definitionsversuch
2.4 Der Forschungsstand

3 Systemisches Coaching
3.1 Historische Wurzeln
3.2 Menschenbilder
3.2.1 Psychoanalytische Ansätze
3.2.2 Verhaltenstherapeutische Ansätze
3.2.3 Humanistische Ansätze
3.2.4 Systemischer Ansatz
3.3 Grundbegriffe des Systemischen Coachings
3.3.1 Definition von Systemen
3.3.2 Unterscheidung zwischen trivialen und komplexen Systemen
3.3.2.1 Triviale Systeme
3.3.2.2 Komplexe Systeme
3.3.3 Problemverständnis
3.3.3.1 Was ist ein Problem?
3.3.3.2 Wie entsteht ein Problem?
3.3.4 Interventionsverständnis
3.4 Theoretische Grundpositionen
3.4.1 Berücksichtigung der Autonomie von Systemen
3.4.2 Berücksichtigung der Eigendynamik von Systemen
3.4.3 Berücksichtigung der System-Umwelt
3.4.4 Die Veränderung innerer Konstrukte und Wirklichkeitskonstruktionen
3.4.5 Wechselseitiger Bezug (strukturelle Koppelung) zwischen individuellen Problemen und interpersoneller Kommunikation
3.5 Kontext- und Prozessgestaltung
3.5.1 Rahmenbedingungen für die Durchführung eines Systemischen Coachings
3.5.1.1 Formaler Vertrag
3.5.1.2 Psychologischer Vertrag
3.5.1.3 Technische und räumliche Rahmenbedingungen
3.5.1.4 Zeitliche Gestaltung
3.5.1.5 Arbeit mit dem Team
3.5.1.6 Supervision
3.5.1.7 Dokumentation
3.5.1.8 Ausbildung
3.5.2 Prozessgestaltung und grundlegende Vorgehensweisen
3.6 Interventionsmethoden
3.6.1 Beziehungsarbeit
3.6.2 Muster erkennen – Hypothesen bilden
3.6.3 Systemisches Fragen
3.6.4 Das reflektierende Team
3.6.5 Das Familienbrett
3.6.6 Reframing
3.6.7 Positive Konnotation

4 Zusammenfassung der charakteristischen Kriterien

1 Einleitung

1.1 Problemstellung

„Ich kann niemanden etwas lehren, ich kann ihm nur helfen, es in sich zu entwickeln“ (Galileo Galilei).

Das obige Zitat von Galileo Galilei spiegelt in groben Zügen jenes Grundverständnis des Systemischen Coachings wieder, welches den Kern der vorliegenden Arbeit darstellt. Im Gegensatz zur traditionellen Form der Beratung, welche oft mit einem chirurgischen Eingriff in der Medizin verglichen wird, spricht man beim systemischen Ansatz von einer homöopatischen Methode. (vgl. Exner & Königswieser, 1998). Es ist eine sogenannte „sanfte“ Methode, die versucht, die inneren Strukturen des Klienten zu berücksichtigen und ihm Mittel und Wege zur Selbsthilfe aufzuzeigen.

Coaching ist zurzeit in aller Munde und hat sich innerhalb des letzten Jahrzehnts immer mehr zu einem Modewort entwickelt. Der negative Nebeneffekt einer solchen Entwicklung ließ nicht lange auf sich warten; es entstand eine Vielfalt an Interpretationen von Coaching, die jedenfalls für einen potentiellen Nachfrager einer solchen Dienstleistung verwirrend wirkt. Böning (1994) z.B. bezeichnete Coaching als einen „Container-Begriff“, in den jeder hineininterpretiert, was er gerade braucht, um das eigene Dienstleistungsangebot möglichst attraktiv erscheinen zu lassen.

Bei Recherchen auf den Homepages einiger Coaching-Anbieter sowie in Fachzeitschriften zum Thema „Coaching“ stellte sich heraus, dass unter dem Begriff „Systemisches Coaching“ vielerlei verkauft bzw. verstanden wird. Das systemische Verständnis mancher Coaching-Anbieter reduzierte sich hier meist auf die eine oder andere angebotene systemische Interventionstechnik. Die Leitbilder bzw. Ideen dieser „systemischen“ Anbieter hatten eklektischen Charakter; Methodenvielfalt beherrschte das Feld, ohne dass darin die aus der Systemtheorie stammenden Grundprinzipien erkannt werden konnten (vgl. Gross, 2001; Impuls & Wirkung Herbstrith Management Consulting GmbH, 2001; Prozesswerkstatt. Thomas Böhm KEG, 2001; Vision Development Unternehmensberatungs GmbH, 2001; Walker, 2001).

Ziel dieser Arbeit sollte es deshalb sein, erstens eine Basis-Definition von Coaching zu erarbeiten, worauf die unterschiedlichen Ansätze von Coaching aufsetzen können sowie zweitens, jene Kriterien zu identifizieren, die Systemisches Coaching charakterisieren und erkennbar machen.

Das Ergebnis der Arbeit soll eine Übersicht über diese charakteristischen Kriterien sein, welche die Basistheorie sowie das zugrundeliegende Menschenbild mit den daraus ableitbaren Grundpositionen und Interventions­techniken beinhaltet. Die Prozessgestaltung, die sich in bestimmten atmos­phärischen Bedingungen für systemische Coaching-Sitzungen manifestiert, ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteil dieser Darstellung.

Die Erarbeitung der „systemischen“ Kriterien basiert ausschließlich auf dem Studium derzeit vorhandener wissenschaftlicher Literatur zu den Themenbereichen Coaching, Systemische Therapie sowie Systemtheorie. Da es den Versuch einer Idealtypologie darstellt, erhebt diese Arbeit keinen Anspruch auf empirische Überprüfbarkeit des jeweiligen Nutzens bestimmter Methoden oder Grundhaltungen für den Erfolg von Coaching. Das bedeutet, diese Arbeit soll weder als Indikator der Marktbefindlichkeit auf diesem Gebiet verstanden werden, noch als normative Vorgabe für erfolgreiches Coaching, sondern versucht die systemische Sichtweise der Welt auf die Coaching-Dienstleistung in idealtypischer und auf theoretischen Ansätzen begründeter Weise zu übertragen. Ob Systemisches Coaching in seiner „reinsten“ Form oder nur in Zusammenwirkung unterschiedlicher Methoden am Markt auftritt, soll und wird in dieser Arbeit nicht behandelt.

Bei dem Versuch, eine Aufstellung von Kriterien für Systemisches Coaching zu entwickeln, stellte sich heraus, dass seine Wurzeln eine starke Affinität zur Familientherapie aufweisen, die sich schon relativ früh mit dem systemischen Ansatz im therapeutischen Umfeld befasst hat. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit des öfteren auf systemisch-familientherapeutische Ansätze einzugehen sein.

1.2 Aufbau der Arbeit

Diese Arbeit gliedert sich in drei Teilbereiche. Nach einem Einleitungskapitel, in dem die Problemstellung erläutert wird, widmet sich das zweite Kapitel der Beratungsform Coaching nach dem klassischen Verständnis. Ziel dieses Kapitel ist es, eine Definition von dem Begriff „Coaching“ zu erhalten. Die Durchführung einer Abgrenzung zu anderen Beratungsformen wie Systemische Psychotherapie, Supervision und Mentoring kennzeichnet bereits einen ersten Schritt in diese Richtung. Weiters erfolgt eine detaillierte Darstellung der historischen Entwicklung von Coaching bzw. der Beeinflussung durch das unterschiedliche Verständnis von Coaching während der letzten 30 Jahre. Skizziert wird in diesem Kapitel auch eine Darstellung des aktuellen Forschungsstandes auf diesem Gebiet.

Das dritte Kapitel „Systemisches Coaching“ befasst sich zu Beginn mit den unterschiedlichen Menschenbildern, die verschiedenen psychothera­eutischen Ansätzen zugrunde liegen. Diese werden jeweils nach den Kriterien „Problemgenese“, „Interventionsverständnis“ sowie „Kontext- und Prozessgestaltung“ unterschieden. Dies erscheint notwendig, da erst durch den Vergleich zu psychoanalytischen, verhaltenstherapeutischen sowie humanistischen Ansätzen die spezifischen Besonderheiten systemischen Arbeitens deutlich werden.

Die Grundbegriffe des Systemischen Coachings sind Thema des nächsten Unterkapitels. Von der Definition von Systemen bzw. der Unterscheidung zwischen trivialen und komplexen Systemen über die Erläuterung des systemischen Problem- und Interventionsverständnisses beinhaltet dieser Teil der Arbeit wesentliche konstituierende Bestandteile der systemischen Sichtweise.

Die theoretischen Grundpositionen, welche die „Säulen“ des Systemischen Coachings bilden, werden im nächsten Abschnitt ausführlich diskutiert.

Es folgt ein Überblick über die Kontext- und Prozessgestaltung im Systemischen Coaching, die einerseits die organisatorischen und vertraglichen Rahmen­bedingungen für die Durchführung von Coaching bilden. Andererseits gibt dieses Kapitel die größtenteils „atmosphärischen“ Bedingungen beim Aufbau bzw. Aufrechterhaltung einer Coach-Klient-Beziehung wieder.

Auf Basis der im Kapitel Grundpositionen beschriebenen charakteristischen Merkmale komplexer Systeme, gibt es nur eine beschränkte Auswahl an adäquaten Interventionstechniken und –strategien, die im folgenden Kapitel vorgestellt werden.

2 Coaching

2.1 Abgrenzung zu anderen Beratungsformen

Die im folgenden Absatz dargestellten Verfahren weisen zwar starke Affinitäten zur Coaching-Dienstleistung auf, können jedoch trotzdem von dieser aufgrund unterschiedlichster Merkmale abgegrenzt werden. Die anschließende Abgrenzung des Coaching-Begriffes von anderen Formen der Beratung an dieser Stelle der Arbeit ist wichtig, da sich hierdurch eine konkretere Vorstellung von Coaching ergibt. Weiters wird dadurch eine Reduktion der vorhandenen Komplexität dieses Themenbereiches angestrebt.

2.1.1 Systemische Psychotherapie

Zuweilen wird Coaching als „verkappte“ Psychotherapie für Manager bezeichnet (vgl. Sievers, 1991). Hierbei bedarf es jedoch einer genauen Differenzierung: Coaching bedient sich durchaus psychotherapeutischer Techniken (z.B. Gesprächstechniken, kognitive Verfahren, Rollenspiele usw.) und nimmt auch des öfteren methodologische Anleihe bei der Psychotherapie. Die wesentlichste Unterscheidung jedoch kann bei der angesprochenen Zielgruppe getroffen werden. Stehen bei der Psychotherapie Menschen mit psychischen Leiden bzw. Krankheitssymptomen im Zentrum der Behandlung, so befasst sich der Coach ausschließlich mit psychisch gesunden Personen, deren Problemstellungen im Zusammenhang mit ihrer Berufsrolle stehen.

Als weiteres Unterscheidungsmerkmal können die zeitlichen und räumlichen Arrangements von Coaching und Psychotherapie angeführt werden. Coaching geschieht an unterschiedlichen Orten; das Arbeitszimmer des Beraters kommt dafür ebenso in Betracht wie das Büro des Klienten, ein Besprechungszimmer im Hotel oder die freie Natur bei einem gemeinsamen Spaziergang. Die Beratungstermine richten sich nach den zeitlichen Gegebenheiten der beiden Beteiligten. Psychotherapie findet demgegenüber praktisch ausnahmslos und notwendigerweise am immer gleichen Ort, nämlich in der Praxis des Therapeuten statt. Sie folgt einem viel stringenteren zeitlichen Raster mit Sitzungsterminen zur immer gleichen Zeit an den immer gleichen Tagen. Diese Regelmäßigkeit ist für Psychotherapieklienten ausgesprochen wichtig, stellt sie doch eine zusätzliche Sicherheit dar (vgl. Looss, 1997, S140ff.).

Der thematische Inhalt psychotherapeutischer Arbeit unterscheidet sich von dem eines Coaching ebenfalls ganz erheblich. In der Psychotherapie stehen die psychischen Probleme bzw. Krankheit des Klienten im Mittelpunkt der Sitzungen, wogegen sich der Coach mit Lernwünschen, Fragestellungen und Problemsituationen des Klienten befasst, die ihm aus der Handhabung seiner Berufsrolle erwachsen (vgl. Looss, 1997, S140ff.).

In der Gesamtansicht stellen sich Coaching und Psychotherapie zwar als ähnliche, oft konzeptionell benachbarte, aber durch eine wahrnehmbare und herstellbare Grenze deutlich getrennte Arbeitsformen dar. Die Grenze bildet sich durch die Zielgruppe, die Thematik sowie durch das örtliche und zeitliche Arrangement der Sitzungen (vgl. Looss, 1997, S.142).

2.1.2 Supervision

Die Wurzeln von Supervision und Coaching sind zwar verschieden, denn Supervision als emotions- und beziehungsorientierte Beratungsform wurde im Non-Profit-Bereich entwickelt und hatte traditionellerweise als Zielgruppe Therapeuten sowie Beziehungsarbeiter, während Coaching im Leistungs- und Profitbereich entwickelt und auch hauptsächlich dort angewendet wurde (vgl. Looss, 1991, S.42; Rauen, 1999, S.66). Betrachtet man jedoch gemäß Looss (1997, S.42) die Vorgehensweise im Coaching, läge es näher, dabei von Management-Supervision zu sprechen, weil Supervision als Handlungskonzept in den helfenden Berufen praktisch alles abdeckt, was auch im Coaching betrieben wird. Doch stößt man hier an sprachkulturelle Grenzen: Der Begriff Supervision ist im Kontext von Management und Unternehmung noch nicht anschlussfähig. Das berufliche Handeln derer, auf die er sich originär bezieht, ist einstweilen zu weit entfernt von der Welt des Managements.

Eine konträre Meinung wird von Wolf (1995, S.26) vertreten, der für die weitere Entwicklung der Supervision sogar die Möglichkeit sieht, dass sich Supervision in der Wirtschaft weiter als prozessorientierte Beratungsform etabliert. Coaching hingegen soll gemäß Wolf wieder seine ursprüngliche Bedeutung als Führungsform des Vorgesetzen (eine Darstellung der Historie sowie Entwicklung von Coaching ist im Kapitel „Herkunft und Entwicklung“ angeführt) annehmen.

Grundsätzlich kann jedoch gesagt werden, dass aus der Historie bedingte Unterschiede zwischen Supervision und Coaching in der letzten Zeit immer mehr aufgeweicht wurden und eine seriöse Abgrenzung daher nur mehr in einem sehr begrenztem Ausmaß möglich ist.

2.1.3 Mentoring

Mentoring[1] etablierte sich etwa Mitte der 80er Jahre als eine Art „Patenschaft“ zwischen jungen oder neu in eine Organisation eingetretenen Mitarbeitern und einer erfahrenen, älteren Führungskraft, dem Mentor (vgl. Whitmore, 1994, S.17). Dabei lassen sich informelle Mentoren, die vom Mitarbeiter organisationsintern (aus)gesucht werden, und formelle Mentoren, denen man direkt zugeordnet wird, unterscheiden (vgl. Rauen, 1999, S. 69).

Mit diesem Konzept sollte die oftmals problematische Integration von Mitarbeitern in die für sie neue Organisationskultur verbessert werden. Mentor und Mitarbeiter bauen eine Beziehung zueinander auf, innerhalb derer dem „Schützling“ von seinem „väterlichen Freund“ die Unternehmenskultur sowie die damit verbundenen Normen vermittelt werden (vgl. Looss, 1991, S.153).

Darüber hinaus kommt dem Mentor im Rahmen dieser unterstützenden Beziehung zu seinem Schützling die Aufgabe zu, diesen auch in seiner langfristigen Lebens- und Karriereplanung zu unterstützen. Das Mentoring ist dabei mehr an der (Entwicklung der) Persönlichkeit des Mitarbeiters ausgerichtet als an konkreten Aufgaben; es kann über die ganze Laufbahn des Mitarbeiters hinweg andauern (vgl. Sattelberger, 1990, S.364f).

Einen wichtigen Teilaspekt innerhalb der Mentorenaufgaben stellt das „entwicklungsberatende Gespräch“ dar. Gegenstand dieses Gesprächs sind die Potentiale des Mitarbeiters, die Möglichkeiten, diese im Unternehmen zu verwirklichen, und wie der Mitarbeiter durch Fördermaßnahmen unterstützt werden kann. Dieses Gespräch bildet also nicht einfach ein Interview darüber, welche Vorlieben und Zukunftsvorstellungen der Mitarbeiter hat, sondern es geht auch um die Bereitschaft des Mitarbeiters, Unternehmensstrategien mitzutragen (vgl. Teuchert, S.95).

Das Mentorentum basiert im Unterschied zum Coaching auf einer hierarchischen Beziehung zwischen Schützling und Mentor, wogegen der Coach und sein Klient eine gleichrangige Beziehung etablieren. Ein weiteres wichtiges Unterscheidungskriterium ist die Freiwilligkeit, eine solche Hilfestellung in Anspruch zu nehmen. Diese ist beim Coaching eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen; beim Mentoring ist sie jedoch nicht immer gewährleistet.

Eine weitere Abgrenzung zum verwandten Coaching ist auch hinsichtlich der verfolgten Ziele möglich. Die beabsichtigte Intention beim Mentoring, den Mitarbeiter langfristig an die Organisation zu binden, steht der Problemlösung bzw. Hilfe zur Selbsthilfe beim Coaching gegenüber (vgl. Rauen, 1999, S.70). Auch beschränken sich die im Mentoring thematisierten personenbezogenen Orientierungsprobleme auf solche, die direkt mit der Organisation zusammenhängen (vgl. Looss, 1991, S.169). Die behandelten Problemstellungen im Coaching ergeben sich zwar auch im Zusammenhang mit der Berufsrolle des Klienten; die sich dadurch eventuell im privaten Bereich ergebenden Konsequenzen sind jedoch ein Thema der Coaching-Sitzungen.

Ein weiteres Abgrenzungskriterium ist der zeitliche Horizont, in welchem die beiden Beratungsformen durchgeführt werden. Coaching ist i.d.R. ein mittelfristiger und zeitlich begrenzter Prozess, der sich mit konkreten Problemstellungen beschäftigt; der Mentor – wie bereits oben angeführt – betreut seinen Schützling jedoch oft langfristig.

2.2 Herkunft und Entwicklung

Seit Mitte der 80er Jahre ist Coaching in der Wirtschaftswelt zum Schlagwort geworden. Immer, wenn eine Methode sich neu etabliert, muss sie gegen den Verdacht ankämpfen, nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen zu sein.

Führungspersonen haben immer schon Ratgeber und Strategen gehabt. Mit Einschränkungen könnte man z.B. Richelieu als einen historischen Coach bezeichnen. Aber er hatte eine Eigenschaft, die den Coach von heute von ihm unterscheidet: Er war nicht uneigennützig, er hat eigene Ziele und Interessen verfolgt. Genau das darf ein Coach nicht, er muss sich völlig in den Dienst des Gecoachten stellen.

Ursprünglich bezeichnete das Wort „Coach“ eine Kutsche, später dann auch den Kutscher als Person, „die die Pferde lenkt“ (vgl. Bayer, 1995, S.94, Birkenbihl, 1992, S.7). Im Sinne dieser Tätigkeit wurde der Begriff „Coach“ bzw. „Coaching“ in andere Bereiche übertragen (vgl. Böning, 1994, S.173).

So wurde bereits im 19. Jahrhundert die Bezeichnung „Coach“ an Universitäten im angloamerikanischen Raum umgangssprachlich für Personen verwendet, die andere auf Prüfungen, spezielle Aufgaben und sportliche Wettbewerbe vorbereitet haben. Die Aufgaben des Coaches waren also bereits damals nicht nur auf den Sportbereich beschränkt.

Der Begriff „Coaching“ gelangte aber erst durch seine immer größere Bedeutung im Sport zu einer gewissen Popularität, die bis heute ungebrochen ist. Dort wird der Begriff schon seit längerem verwendet und beschreibt die Beratung, Betreuung und Motivierung von Leistungssportlern vor, während und nach dem Wettkampf. Viele Leistungssportler und ihre Trainer sehen in der ganzheitlichen und insbesondere mentalen Vorbereitung und Betreuung neben dem körperlichen Training die wichtigste Komponente des Erfolgs (vgl. Eberspächer, 1983, S.297). In dieser ursprünglichen Form des Coaching im Bereich des Sports basiert das Grundverständnis der sogenannten Beratungsleistung auf einer hierarchischen Trainer-Sportler-Beziehung, in der der Trainer aufgrund seiner jahrelangen (oftmals auch aktiven) Erfahrung in einer speziellen Sportart als Experte dem Coachee Anweisungen erteilt, die dieser beinahe unreflektiert übernimmt.

Neben dem Sportbereich haben bestimmte Inhalte (besonders die verwendeten Techniken) des Coachings ihre Ursprünge in psychotherapeutischen Disziplinen und Sozialbereichen - besonders hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang die Supervision -, die Methoden und das Verständnis des Coachings stark beeinflusst haben (siehe Abbildung 1) (vgl. Looss, 1991, S.42). Da auch das klassische (Unternehmens-) Beratungsgeschäft zunehmend Coaching-Maßnahmen anbietet, ist es hier zu einer gegenseitigen Beeinflussung gekommen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Die Wurzeln des heutigen Coaching-Verständnisses ( Quelle: Rauen, 1999, S.21)

Betrachtet man den weiteren Verlauf der Entwicklung des Coachings im Management- bzw. Personalentwicklungsbereich (siehe Abbildung 2), so lassen sich nach Böning (1994, S.172) fünf verschiedene Phasen ausmachen, wenn die Vorphase – die Entwicklung des Coaching von seinen Anfängen bis zum Managementbereich – nicht dazugezählt wird. Im folgenden sollen diese fünf Phasen dargestellt werden.

1. Phase: Traditionelles Verständnis von Coaching als entwicklungs­orientiertes Führen

In der ersten Phase findet im anglo-amerikanischen Raum ein Transfer aus dem Sportbereich statt. Positiv besetzte Begriffe wie „Wettbewerb“, „Motivation“ und „Spitzenleistung“ stellen die Verbindung zum Managementbereich her (vgl. Huck, 1989, S.413; König, 1993, S.423). Unter dem Begriff „Coaching“ wird zunächst nur ein „entwicklungsorientiertes Führen“ der Mitarbeiter durch ihre Vorgesetzten verstanden. Dabei steht hauptsächlich – entsprechend der Funktion des Coaches im Sport – die Verbesserung der fachlichen Kompetenz, der Motivation und natürlich die Leistung des Mitarbeiters im Vordergrund.

2. Phase: Coaching als Mentorentätigkeit für Nachwuchsführungskräfte

Die zweite Phase lässt sich nicht eindeutig von der ersten trennen, sondern verläuft nach einem etwas späteren Start teilweise zeitgleich mit der ersten, erreicht ihren Höhepunkt aber erst in den 80er Jahren. Durch die zunehmende Bedeutung interner Personalentwicklung kommt es im Rahmen längerfristiger Personalförderungsmaßnahmen zu Mentorenschaften zwischen Führungskräften und neu hinzukommenden Organisations­mitgliedern. So soll gewährleistet werden, dass die neuen Mitarbeiter problemloser in die Organisation integriert werden und mit den Werten, Normen und Ritualen vertraut gemacht werden können. Zudem erhofft man sich – besonders vor dem Hintergrund zunehmender Personalfluktuation – durch diese u.ä. Maßnahmen eine festere Bindung des Mitarbeiters an die Organisation (vgl. Böning, 1994, S.171-185).

3. Phase: Coaching als Einzelberatung von Top-Managern durch externe Berater

Etwa in der Mitte der 80er Jahre kommt es zur dritten Phase: Das bisherige Coaching-Konzept erfährt eine deutliche Erweiterung. Die Ursache dafür sieht Böning (1994) darin, dass die Unternehmen vor dem Hintergrund einer allgemeinen „Psychologisierung“ der Gesellschaft die psychologischen Aspekte von Entwicklung, Motivation, Management usw. nutzen wollen.

Coaching entwickelt sich in Deutschland zu einer Beratungsdienstleistung durch einen organisationsexternen „Coach“ für einzelne Manager in Spitzenpositionen (vgl. Looss, 1986, S.136-140). Im Vordergrund dieser nun mehr psychologisch orientierten Einzelberatung stehen nicht nur berufliche, sondern auch private Aspekte. Dabei wird die Inanspruchnahme von Coaching oftmals nicht von der Organisation bezahlt, sondern – schon aus Gründen der Diskretion – privat von den Führungskräften selbst getragen (vgl. Behn, 1989, S.33-37).

Infolge dieser Entwicklung kommt es zu einer steigenden Verbreitung des Begriffs „Coaching“, nicht zuletzt bedingt durch eine entsprechend zunehmende Anzahl von Veröffentlichungen (vgl. Lemmer, 1988, S.64-66). Interessanterweise profitiert durch diesen „Boom“ des externen Einzel-Coaching für Top-Führungskräfte aber auch das organisationsinterne Coaching (Mentoring), welches nun methodisch weiterentwickelt wird.

4. Phase: Coaching als Systemberatung bzw. als interne Beratung von Führungskräften durch interne Personalentwickler

In der vierten Phase, etwa am Ende der 80er Jahre kommt es zu einem steilen Anstieg des Bekanntheitsgrades von Coaching. Angeregt durch die Verbreitung und Etablierung des externen Einzel-Coachings versuchen zunächst einzelne Personalentwickler eine entsprechende Beratungsleistung auch organisationsintern zu implementieren; es entsteht das interne Einzel-Coaching durch einen fest angestellten, der Personalabteilung angehörigen Coach.

5. Phase: Coaching als „Modeartikel“

Zu Beginn der fünften Phase wird Anfang der 90er Jahre im deutschsprachigen Raum aus dem Coaching ein regelrechter „Modeartikel“. Jede Art von Instruktion, Training, Gespräch, Unterricht, Anleitung usw. wird als „Coaching“ bezeichnet; fast jede Unternehmensberatung hat diesen Service mit im Angebot. Die Anzahl von Artikeln, Büchern und (populär)-wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die sich mit dem Coaching beschäftigen, nimmt weiter zu. Gleiches gilt für selbsternannte Spezialisten, die behaupten, Coaching schon seit Jahren zu praktizieren, allerdings unter einer anderen Bezeichnung (Böning, 1994, S.177).

Die Unübersichtlichkeit im deutschsprachigen Raum hat bis zum heutigen Tag nicht nur angehalten, sondern sich sogar noch verstärkt. Im angloamerikanischen Sprachraum wird hingegen weiterhin unter Coaching hauptsächlich ein entwicklungsorientiertes Führen von Mitarbeitern durch ihren (direkten) Vorgesetzten verstanden. Die (Weiter-)Entwicklung von Coaching hat also hauptsächlich ihre Impulse aus dem deutschen Sprachraum erhalten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Entwicklungsphasen des Coaching (Quelle: Böning, 1994, S.172)

1. Phase: Traditionelles Verständnis vom Coaching als entwicklungsorientiertes Führen
2. Phase: Coaching als Mentorentätigkeit für Nachwuchsführungskräfte
3. Phase: Coaching als Einzel-Beratung durch externe Berater
4. Phase: Erste Differenzierungsphase
5. Phase: Zweite Differenzierungsphase

Augrund der beschriebenen Begriffsvielfalt ergibt sich die Notwendigkeit, den Begriff „Coaching“ zu klären. Ziel dieser Arbeit ist es, eine sogenannte „Minimaldefinition“ von Coaching zu entwickeln, worauf der systemische Ansatz aufgebaut werden kann.

2.3 Definitionsversuch

Im deutschsprachigen Raum verstehen Anbieter und Klienten unter dem Oberbegriff „Coaching“ viele unterschiedliche Verfahren.

Wahrscheinlich ist es durch die Entwicklung des Coaching-Begriffes selbst begründet (siehe Kapitel „Herkunft und Entwicklung“), dass sich unter der Bezeichnung „Coaching“ hauptsächlich im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von unterschiedlichen Definitionen, Methoden und Vorgehens­weisen verbergen (vgl. Rauen, 1999, S.39).

Erschwerend beim Versuch einer Definition kommt noch hinzu, dass der Begriff z.T. sehr undifferenziert verwendet wird und eine Reihe von anderen, ebenfalls ungenau verwendeten Begriffen wie zum Beispiel „Mentoring“ oder „Management-Supervision“ gleichbedeutend zum Coaching benutzt werden. Daher kommt König (1993) zu dem Urteil: „Das Konzept und die Methode des Coaching ist noch nicht vorhanden. Es gibt so viele Konzepte, wie es Personen gibt“ (Böning, 1994, S.42). Heute verwendet fast jeder als Coach tätige Berater seinen eigenen Begriffsinhalt (vgl. Looss, 1991, S.40).

Die größte Einigkeit herrscht noch darüber, Coaching als einen „Prozess“ zu bezeichnen. In diesem Sinne ist Coaching als ein Hergang zu verstehen, der einen Stein ins Rollen bringt, das Rollen beobachtet, kommentiert und/oder lenkt und der an einem vorher definierten Zielpunkt beendet wird. Coaching hat hier weniger den übenden oder trainierenden Charakter, sondern ist eher mit der Veränderung kognitiver Prozesse assoziiert (vgl. Roth, 1997, S.215).

Ein prinzipiell anderes – eher engeres – Verständnis vom Coaching hat man in den USA und Großbritannien, wo darunter bis heute ausschließlich eine entwicklungsorientierte Führungstätigkeit verstanden wird, die der Vorgesetzte seinen Mitarbeitern gegenüber ausübt.

Die Begriffsverwirrung im deutschsprachigen Raum ist bis heute durch ungenügende Definitionen des Coaching unterstützt worden. Es gibt bisher keine einheitliche, allgemein akzeptierte und verbindliche Festlegung bezüglich Inhalt und Form des Coachings. Die bisherigen Publikationen zum Thema sind größtenteils unspezifisch und lassen Raum für die unterschiedlichsten Assoziationen (siehe Abbildung 3). Die Mehrheit der Befragten (83%) erachtete Coaching als Beratung und Begleitung bei täglichen Problem im Beruf; 48% wiederum setzten Coaching einem Mentoring, d.h. der innerhalb eines Unternehmens durch einen erfahrenen Mitarbeiter gewährten Unterstützung bei der Einführung eines jungen Mitarbeiters, gleich. Ein eher geringer Teil der befragten Unternehmen (9%) verstand unter Coaching ein Mittel zur Potentialerkennung und –förderung von Mitarbeitern; 22% jedoch sahen in Coaching ein adäquates Mittel, um die persönliche Entwicklung zu unterstützen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Assoziationen zum Coaching (Quelle: Böning, 1989. Es wurden 107 Unternehmen aus 8 Branchen befragt)

Aufgrund dieser Unklarheiten sowie vielfältigen Begriffsinterpretationen liegt die Versuchung nahe, das Coaching und die Rolle des Coaches nicht mehr von anderen Begriffen und Rollen trennen zu können bzw. zu wollen. So kommt Doppler (1992) zu dem Fazit: „Es gibt keine auch nur halbwegs objektiven Merkmale, die die Rolle des Coaches von ähnlichen Beratungs- und Trainerrollen von vornherein klar unterscheiden. Es ist vielmehr entscheidend, wie man die jeweilige Berater- oder Trainerrolle ausgestaltet. Das heißt, Coaching kann nicht dem, der sich Coach nennt, vorbehalten werden, sondern ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Trainer- und Beraterfunktion, grundsätzlich auch Aufgabe jedes Vorgesetzten.“

Rauen (1999, S.2) ist der Ansicht von Doppler, Coaching nicht definieren zu können jedoch nicht gefolgt. Er erkennt bei der Betrachtung der verschiedenen Varianten des Coachings zahlreiche grundsätzlich übereinstimmende Merkmale, die genügende „Trennschärfe“ zu anderen Verfahren aufweisen (vgl. Rauen, 1999, S.41).

Als Ergebnis der herausgearbeiteten Abgrenzungen zu anderen verwandten Beratungsformen sowie der im vorigen Kapitel dargestellten unterschiedlichen Ursprünge bzw. Entwicklungen von Coaching ergibt sich folgende Definition:

Coaching ist

- Ein personenzentrierter Beratungs- und Betreuungsprozess, der größtenteils berufliche Inhalte umfasst und zeitlich begrenzt ist;
- der durch gegenseitige Akzeptanz, Freiwilligkeit sowie Vertrauen gekenn­zeichnet ist, sowie
- für eine oder mehrere Person bestimmt;
- durch einen (oder mehrere) Berater mit psychologischen und betriebswirtschaftlichen Kenntnissen sowie praktischer Erfahrung bezüglich der thematisierten Problemfelder durchgeführt wird;
- mit dem Ziel, gemeinsam mit dem Klienten Alternativszenarien für eine Problemlösung zu erarbeiten bzw. einen kognitiven Reflexionsprozess beim Klienten auszulösen.

2.4 Der Forschungsstand

Eine Forschungstradition zum Thema Coaching hat sich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht etabliert: In den Fachzeitschriften der Psychologie, Soziologie oder Betriebswirtschaftslehre sind bislang keine Forschungsergebnisse zu Coaching veröffentlicht worden. Für den Gegenstand Coaching ist auch keine sozialwissenschaftliche Theorie vorhanden (vgl. Mingers, 1996, S.24f).

Auch Studien zum Thema sind Mangelware: So ergibt eine Recherche in den Hochschulbibliotheken, dass der Begriff „Coaching“ bis 1993 bei keiner einzigen wissenschaftlichen Veröffentlichung im Titel auftaucht weder in Büchern noch in Zeitschriften“ (Bayer, 1995, S.11). Es gibt somit auch keine Kenntnisse über die Wirksamkeit dieses Instrumentes: „Evaluative Studien zu dieser Art des Coachings liegen zur Zeit nicht vor“ (Sonntag & Schaper, 1992, S.203). Es sind einige Arbeiten von Nachwuchsforschern angefertigt worden, wie die empirischen Diplomarbeiten von Rückerl (1988)[2], Brünning (1994), Marlinghaus (1995), Böswetter (1996), Michel (1996), Richter (1997) oder Westerbarkey (1997) sowie theoretische Diplomarbeiten, wie die von Rauen (1996). Außerdem gibt es Studien, die einen nicht-wissenschaftlichen Anspruch haben, beispielsweise zwei Telefonumfragen durch den Berater Böning (1989, 1994).

Der geringen Anzahl an Forschungsarbeiten steht eine große Anzahl populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen über das Thema gegenüber: Den Großteil der Veröffentlichungen bilden nur wenige Seiten umfassende Zeitschriftenartikel. Autoren dieser Artikel sind meist selbständig tätige Berater oder Fachjournalisten. Weiters gibt es Artikel in Sammelbänden, diese sind entweder konzeptionelle Beiträge zur Personalentwicklung oder Hinweise über „Anwendungs-Methoden“ für Trainer. Diese Veröff­ent­lichungen erfüllen nur in den seltensten Fällen wissenschaftliche Kriterien. Die Autoren beschreiben mehr oder weniger neue Sachverhalte, beziehen Position und die Berater unter ihnen platzieren sich im Beratungsmarkt (vgl. Geßner, 2000, S.14f.).

Der Forschungsstand zum Thema Coaching kann somit nur als dürftig bezeichnet werden. Deshalb ist es notwendig, zusätzlich auf Erkenntnisse zurückzugreifen, die in Verbindung mit dem Gegenstand gebracht werden können: Dies sind erstens Forschungsergebnisse über Organisationen, Management und Personalentwicklung und zweitens Ergebnisse aus der Forschung über Beratung sowie Familientherapie (vgl. Geßner, 2000, S.15).

Meiner Ansicht nach kommt es aufgrund der sehr unterschiedlichen Wurzeln von Coaching bzw. durch die Vielfältigkeit der Bedeutungs­interpretationen zu Problemen bei der wissenschaftlichen Aufbereitung dieser Thematik. Eine überzeugende Abgrenzung zu anderen affinen Beratungsformen stellt aufgrund der Auffassungs-Pluralität eine große Herausforderung für all jene dar, die auf diesem Territorium wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen wollen. Die oben genannten Schwierigkeiten mit einer klaren Begriffsdefinition von Coaching liefern meines Erachtens die Hauptargumente für den sehr spärlichen Output an wissenschaftlicher Literatur zu diesem Thema.

3 Systemisches Coaching

Eine genaue Bedeutungszuordnung von „Systemischem Coaching“ in der Beratungs-Realität kann aufgrund der vielen vordergründig als „systemisch“ angebotenen Beratungsleistungen, die jedoch oftmals keine einheitlichen Prozesse sowie Techniken beinhalten, sondern durch eine weitgehend eklektische Zusammensetzung gekennzeichnet sind, nicht unmittelbar und in ein paar Sätzen gegeben werden. Um sich dieser Beratungsleistung zu nähern, bedarf es einer Suche nach den Wurzeln und Grundlagen des Systemischen Coachings.

Im Kapitel „Definitionsversuch“ wurde bereits versucht, den Begriff „Coaching“ anhand verschiedener Kriterien und Merkmale bzw. anhand einer Darstellung der Unterschiede zu anderen Beratungsformen zu definieren. Auch die geschichtliche Entwicklung und die dabei durchlaufenen Phasen und Stadien sowie die damit einhergehenden Bedeutungsinhalte spielten eine bedeutende Rolle bei der Suche nach einer adäquaten Definition von Coaching.

Dennoch stellt diese Begriffsbestimmung bewusst eine Minimaldefinition von Coaching dar, die im Rahmen der weiteren Arbeit mit inhaltlichen Komponenten hinsichtlich des zugrundeliegenden Menschenbildes und des sich daraus ableitenden Beratungsansatzes gefüllt werden soll.

Bevor jedoch näher auf die Spezifika der unterschiedlichen Beratungsansätze im Rahmen der Coaching-Arbeit eingegangen werden kann, muss noch ein weiteres, die uneinheitliche Betrachtung von Coaching förderndes Missverständnis aufgeklärt werden.

Eine Verwechslung sowie Gleichstellung mit dem Anwendungsgebiet der Psychotherapie ist die häufigste Ursache für die Schwierigkeit einer eindeutigen Darstellung von Coaching. Diese Tatsache fußt hauptsächlich darauf, dass Coaching hinsichtlich seiner Methoden, Techniken und Grundhaltungen oftmals Anleihe bei psychotherapeutischen Ansätzen nimmt.

Die bereits im Kapitel „Systemische Psychotherapie“ diskutierte wesentlichste Unterscheidung zwischen Psychotherapie und Coaching ist die angesprochene Zielgruppe; Coaches arbeiten mit psychisch gesunden Menschen, deren Probleme im Zusammenhang mit ihrer Berufsrolle stehen, Psychotherapeuten behandeln jedoch Menschen mit psychischen Leiden oder Krankheitssymptomen.

Welchen Beratungsansatz der Coach dem Selbstverständnis seiner Arbeit zugrunde legt, d.h. ob er sich dabei von Elementen der Verhaltenstherapie, den humanistischen Ansätzen, der Psychoanalyse oder der systemischen Therapie beeinflussen lässt, hängt davon ab, welchem spezifischen Menschenbild er sich verpflichtet fühlt.

Menschenbilder können allgemein als theoretische Modelle über das Wesen des Menschen bezeichnet werden, die das Verhalten von Menschen und Coaches beeinflussen können. Sie sind „Aussagen über das Wesen des Menschen“ (oder die wesentlichen Elemente menschlicher Existenz) (vgl. Scheerer, 1983, S.122) und umfassen Fragen wie: „Was ist dem Menschen körperlich/geistig/seelisch möglich zu leisten, was kann er unmöglich leisten, was hilft ihm sicher, und was taugt auf keinen Fall, was kann man ihm zumuten, ohne ihn im Kern anzugreifen?“ (vgl. Vogler, 1972, S.18). Daneben beinhalten sie Aussagen zu Verantwortlichkeit, Freiheit, Entscheidungsfähigkeit, Wille, also Wertaussagen. Die das Menschenbild konstituierenden Sätze, die nach Watts (1961) mit Axiomen vergleichbar sind, werden implizit oder explizit gewählt und festgelegt. „Sie bilden die Basis, auf der Theorien entwickelt werden und haben in diesem Sinne regulative Funktionen“ (Herzog, 1984, S.81). Sie beeinflussen die Sprache, in der ihre Anhänger über Psychisches sprechen und die Theorien, die Psychisches erforschen (vgl. Herzog, 1982, S.12). Darüber hinaus haben sie „wichtige Zielfunktionen“, sie beeinflussen die Wahl und Priorität bestimmter Problemsichten sowie das Ausmaß, in dem konkrete Theorien für Mensch und Gesellschaft relevant werden (vgl. Westmeyer, 1973, S.136). D.h., sie treten in der Regel „als Leitlinie für die Praxis auf“ und können vice versa, selbst wenn sie nicht explizit formuliert sind, auch aus bestimmten Merkmalen der Praxis erschlossen werden (vgl. Scheerer, 1983, S.123).

Die obige Darstellung lässt erkennen, dass Menschenbilder die Grundhaltung eines Coaches sowie Psychotherapeuten entscheidend mitbestimmen können. Das Menschenbild kann als Grundgerüst für das jeweilige Verständnis der Coaching-Arbeit bezeichnet werden, aus welchem sich dann die spezifischen Grundpositionen ableiten lassen.

Anhand welcher Elemente lässt sich nun der systemische Ansatz konkret erkennen?

Da davon ausgegangen werden kann, dass Coaching nur in Anspruch genommen wird, wenn ein Mensch einen bestimmten Leidensdruck verspürt, d.h. wenn er vor einer gewissen Problemstellung steht, die er alleine nicht bewältigen kann, ist die spezifische Sichtweise eines Coaches über die Genese eines Problems ein charakteristisches Merkmal für seine spezifische Haltung.

Nach der Problemerkennung bzw. –beschreibung folgt die Wahl einer adäquaten Interventionsmethode durch den Coach. Welche Art von Hilfestellung er dem Klienten anbietet bzw. in welchem Ausmaß er steuernd in die Lösung des Problems eingreift, wird beeinflusst durch das interventionstheoretische Verständnis des jeweiligen Coaches. Geht er von einer gezielten und bewussten Beeinflussbarkeit des Menschen aus, dessen Verhalten von außen, d.h. durch den Coach gesteuert werden kann, dann liegt dem Interventionsverständnis des Coaches eine kausale Relation zwischen Intervention und Verhalten zugrunde. Basiert sein Interventionsverständnis auf der Theorie der Nicht-Intervenierbarkeit in komplexe Systeme, welche kurz skizziert besagt, dass eine direkt intendierte Intervention von außen (durch den Coach) nur eine nicht-intendierte Implikation auf das Verhalten bzw. die Einstellung des Klienten zur Folge haben kann; dann impliziert diese Grundhaltung, dass der Coach durch eine Intervention aufgrund der Struktur des Klientensystems keine im vorhinein bestimmbare Verhaltensänderung oder Einstellungsänderung beim Klienten bewirken kann. Coaching wird als Angebot zur Selbsthilfe verstanden; der Klient reagiert darauf so, wie es seine Struktur vorsieht. Die innere Struktur des Klienten stellt für den Coach eine sogenannte „black box“ dar; durch passende Methoden kann er versuchen, einige verdeckte Aspekte der Struktur sichtbar zu machen, er kann sie jedoch niemals komplett erforschen. Daraus ist ersichtlich, dass das zugrundeliegende Interventionsverständnis ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den Beratungsansätzen darstellt.

Als eine dritte, den jeweiligen spezifischen Beratungsansatz charakterisierende, Komponente kann noch die Kontext- und Prozessgestaltung der Coaching-Sitzungen angeführt werden. Diese beinhaltet einerseits kontextuelle Rahmenbedingungen, die die interpersonellen Voraussetzungen (z.B. Entscheidungsfreiräume, Empathie etc.) für eine Coach-Klient-Beziehung beschreiben. Andererseits umfasst sie die organisatorischen Rahmenbedingungen für die Durchführung einer Sitzung (räumliche und technische Bedingungen, zeitliche Gestaltung, Entscheidung über Einbeziehung eines Teams, Supervision und Ausbildung).

[...]


[1] Einige Experten sehen im Mentoring einen Spezialfall des Coaching, nämlich des Coaching durch den Vorgesetzten, i.d.R. im Rahmen einer internen Personalentwicklungsmaßnahme (vgl. Böning, 1990, S.22; Schmidt, 1995, S.205). Diese Definition von Mentoring entspricht in etwa der angloamerikanischen Auffassung des Coaching.

[2] Bermerkenswert ist dabei der frühe Entstehungszeitpunkt dieser Arbeit: Zu diesem Zeitpunkt war noch kein Buch zum Thema Coaching veröffentlicht.

Excerpt out of 98 pages

Details

Title
Systemisches Coaching - Identifizierung charakteristischer Kriterien
College
Vienna University of Economics and Business  (Verhaltensorientiertes Management)
Grade
gut (2)
Author
Year
2001
Pages
98
Catalog Number
V16747
ISBN (eBook)
9783638214971
ISBN (Book)
9783656201748
File size
892 KB
Language
German
Keywords
Systemisches, Coaching, Identifizierung, Kriterien
Quote paper
Simone Jiszda (Author), 2001, Systemisches Coaching - Identifizierung charakteristischer Kriterien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16747

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