Die Welt rauscht und niemand weiß, wer zuhört.
Rheinbruck scheint zur Ruhe gekommen, doch das System schläft nie.
Ein neuer Knoten erwacht, Signale überschneiden sich, und plötzlich reagieren die Städte wie Organismen.
Leon Berg und sein Team stehen vor der größten Prüfung: Nicht das Netz kontrollieren, sondern es verstehen.
Lisa Brandt wagt den Schritt durch die Schnittstelle, Don Thomas zieht im Schatten seine Linien, und irgendwo zwischen Salzburg und dem Nordatlantik sendet ein Echo namens Roland_S.
Als Realität und Resonanz verschmelzen, bleibt nur eine Frage: Wie viel Mensch verträgt das System und wie viel System der Mensch?
„Resonanz“, der dritte Band der Schattenlinie-Reihe: Ein Thriller über Daten, Verantwortung und das leise Rauschen zwischen zwei Herzschlägen.
Kapitel 6 – Zwischen den Frequenzen
Kapitel 7 – Schnittstelle
Kapitel 8 – Rücksignal
Kapitel 9 – Spiegelnetz
Kapitel 10 – Rheinbruck Echo
Kapitel 11 – Offene Kanäle
Kapitel 12 – Resonanzphase
Kapitel 13 – Brückensignal
Kapitel 14 Zwischen zwei Lichtern
Kapitel 15 Finale Resonanz
Epilog – Nachklang
Personenverzeichnis
Resonanz
Schattenlinie (Teil 3)
Ein Thriller von Matz Mattern
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Impressum:
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Ein Imprint der GRIN Publishing GmbH, München, Germany
Druck und Bindung: Libri Plureos GmbH, Friedensallee 273, 22763 Hamburg
Text: © 2025 Copyright by Matz Mattern
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Manche Echos sind keine Antwort.
Sie sind ein Aufruf.
Danksagung
Auch dieser Band wäre ohne viele Menschen und einen sympathischen Vierbeiner nicht entstanden.
Danke an meine Familie, meine Freunde und alle, die mir mit Humor, Ehrlichkeit und manchmal einfach mit Ruhe begegnen, wenn die Schattenlinie wieder ein Eigenleben entwickelt.
Ein besonderer Dank gilt Duke für unzählige Spaziergänge, bei denen die besten Ideen plötzlich auftauchen, während er so tut, als hätte er damit gar nichts zu tun.
Und an alle, die glauben, sich im Buch wiederzuerkennen, das liegt ganz an eurer lebendigen Fantasie.
An die Leserinnen und Leser, danke fürs Mitgehen, Mitdenken, Mitfiebern.
Ich schreibe diese Geschichte zu Ende weil Geschichten selten aufhören, nur weil jemand das Buch zuklappt.
Über den Autor – Matz Mattern
Bücherwurm, Leseratte, Krimifan und irgendwann war klar:
jetzt wird nicht mehr nur gelesen, jetzt wird geschrieben.
Schon als Kind war da dieser Traum vom eigenen Buch. Dann kam das Leben
dazwischen Beruf, Familie, Alltag, Termine kurz: das echte Abenteuer.
Ein Fachbuch gab’s zwar schon, aber der Puls schlägt anders, wenn es knistert, rätselt und zwischen den Zeilen Gefahr lauert.
Matz Mattern arbeitet als Geschäftsführer im sozialen
Bereich er managt Strukturen, lenkt Menschen und erlebt dabei oft mehr Spannung
als in manchem Roman.
Privat ist er sportbegeistert, liebt gute Musik und findet die besten Ideen bei
langen Spaziergängen in Begleitung eines Vierbeiners, der Geschichten besser
versteht, als er zugibt.
Und es war sicher klar Handball und Fußball begeistert Ihn, speziell die Elf vom Niederrhein.
Nach Schattenlinie und Projekt Erbe setzt er mit Resonanz seine Thriller-Reihe fort dort, wo Realität und digitale Fiktion ineinanderfließen und die Wahrheit immer ein Update voraus ist.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 5.5 – Bericht Intern / EUSN Prag
Kapitel 6 – Zwischen den Frequenzen
Kapitel 8.5 – Bericht Intern (EUSN): Anomalien Europa
Kapitel 10. 5 – Technischer Bericht: NODE Transfer
Kapitel 11. 5 Bericht: Verbindungsstatus Europa Nord
Kapitel 12.5 Bericht: Kollektivphase / NODE 4
Kapitel 13.5 Bericht: Brüssel / Korridoranalyse
Kapitel 14 Zwischen zwei Lichtern
Prolog – Sommer in Rheinbruck
Brüssel, Europaviertel.
02:47 Uhr.
Der Regen hatte die Straßen leer gewaschen. Die
Glasscheiben der Ministerien spiegelten das Licht der Ampeln, ein kaltes,
steriles Grün.
In der Ferne summten Generatoren. Nur dort, wo die großen Gebäude sich
berührten, glomm noch Leben, rote Punkte auf schwarzen Monitoren, wartend wie
Atemzüge.
Im Keller des Data Hub West, tief unter der Rue de la Loi, saß ein Techniker vor einem Terminal, das er nicht verstand. Er war hier, um eine Routineprüfung zu machen. Stromausfall laut Protokoll. Nur, der Strom war da. Was fehlte, war der Sinn.
Die Monitore zuckten kurz. Dann wurde alles schwarz.
Ein einzelner Cursor blinkte.
ERINNERT EUCH
Der Techniker lehnte sich vor.
„Wer was soll das? “
Keine Antwort.
Dann erschien eine neue Zeile.
NODE 3: ONLINE
SYNCHRONISATION INITIIERT
Er tippte nervös auf die Tastatur. Nichts reagierte. Nur
das leise Knacken der Relais füllte den Raum.
Draußen, über ihm, flackerte die Straßenbeleuchtung. Eine Lampe nach der
anderen erlosch, erst rund um das Parlament, dann bis hin zum Königspalast.
Die Stadt wurde für Sekunden blind.
Rheinbruck, gleichzeitig.
Lisa Brandt saß in ihrem Büro.
Die Uhr zeigte 02:47.
Das Geräusch des Servers war ihr lullaby, das monotone Summen, das mehr
beruhigte als Musik.
Milo lag zusammengerollt unter dem Schreibtisch und träumte leise.
Sie tippte noch eine letzte Zeile in den Bericht, bevor
sie den Stick aus dem Laufwerk ziehen wollte.
Dann fror der Cursor.
Ein Schatten zog über den Bildschirm, kein Fehlerfenster, sondern etwas, das
sich bewegte.
„Nein“, murmelte sie. „Nicht schon wieder. “
Der Code änderte sich von selbst.
NODE 3 ZÜRICH / AKTIV
DATENKANAL OFFEN
RESONANZ STABIL
Sie starrte auf die Zeilen. Sie sah keine Zahlen, sie
hörte sie. Der Rhythmus war regelmäßig, fast musikalisch. Achtundachtzig
Schläge pro Minute, wie ein Herz. Dann ein zweiter Ton, tiefer, synchron.
Lisa nahm die Kopfhörer ab. Das Geräusch blieb.
Sie griff nach dem Telefon, wollte Leon anrufen, aber das
Display blieb dunkel. Kein Empfang, kein Netz.
Nur der Hund hob den Kopf, leise knurrend.
Im gleichen Moment vibrierte der Raum. Nicht stark, eher
wie eine Welle, die man nicht sieht, aber spürt. Die Lampe über ihr flackerte,
exakt im gleichen Takt wie der Code.
Das war kein Zufall. Das war Kommunikation.
Brüssel, 02:49 Uhr.
Der Techniker stand auf. Sein Bildschirm zeigte jetzt ein
Raster aus Linien.
Europa.
Die Punkte leuchteten auf: Hamburg, Salzburg, Rheinbruck, Zürich, Bogotá.
Und dann, nach einem stillen Atemzug, Brüssel.
Er griff nach dem Notfalltelefon. Kein Ton.
Dann hörte er es. Kein Geräusch, sondern etwas, das sich im Ohr anfühlte wie
eine Erinnerung an Klang.
Rheinbruck, 02:50 Uhr.
Lisa ging zum Fenster. Draußen war die Stadt still. Kein
Auto, kein Wind.
Dann, plötzlich, das Rattern eines alten Zuges. Güterverkehr über die Brücke,
sonst nichts.
Aber der Takt passte. Die Räder schlugen im gleichen Rhythmus wie der Code.
Sie nahm einen Stift, begann zu zählen.
Eins, zwei, drei, vier.
Pause.
Eins, zwei, drei, vier.
„Ein Takt“, flüsterte sie.
„Oder ein Gruß. “
Sie griff wieder zum Telefon, diesmal über die
Direktleitung. Leons Nummer. Kein Freizeichen, nur Stille.
Dann, nach einer Sekunde, eine fremde Stimme.
Klar, ruhig.
„Guten Morgen, Lisa. “
Sie erstarrte. „Wer ist da? “
„Ein Freund. Wir haben uns schon gehört. “
„Ich kenne Ihre Stimme nicht. “
„Noch nicht. Aber Sie kennen meine Arbeit. “
Ein Knistern, dann:
ZURÜCK ZUM URSPRUNG
Das Gespräch brach ab.
Der Bildschirm flammte erneut auf, diesmal nur eine Zeile.
WELCOME BACK NODE 0
Lisa starrte auf die Worte. Milo stand auf, legte sich an
ihre Seite, den Blick auf denselben Punkt gerichtet.
Sie griff nach der Tastatur, wollte reagieren, doch in dem Moment erlosch das
Licht. Die Dunkelheit war total und still.
Brüssel, 02:53 Uhr.
Im Data Hub ging der Strom wieder an.
Die Systeme fuhren hoch, der Cursor blinkte wieder.
Der Techniker wollte aufatmen, bis er den Ausdruck sah, der automatisch aus dem
Drucker lief.
Eine Überschrift, fett und klar:
INTERNER LAGEBERICHT – NODE 3 / RESONANZPHASE AKTIV
AUTORISATION: R. S.
Er las die Initialen zweimal. Dann klappte er den Laptop
zu, als würde das Helfen.
„R. S. “
Roland_S.
Rheinbruck, 02:55 Uhr.
Die Stadt leuchtete kurz auf. Dann fiel alles zurück in
Normalität, als wäre nichts geschehen.
Die Uhren liefen wieder, der Kaffeeautomat summte, Milo legte sich hin.
Lisa saß im Dunkeln, der Laptop tot, aber auf dem Display glomm noch ein
Nachbild.
Nur ein Wort. Schwach, aber lesbar.
RESONANZ
Zürich, 03:00 Uhr.
Ein Mann stand auf der Terrasse eines Hauses oberhalb des
Sees.
Er trug einen dunklen Mantel, hielt ein Glas Wasser in der Hand, kein Alkohol.
Im Fenster spiegelte sich das Licht eines Monitors, auf dem eine Zeile
erschien:
NODE 3 – STABIL
SYNC MIT RHEINBRUCK: AKTIV
Er lächelte leise.
„Also gut“, sagte er in die Nacht. „Dann hören wir wieder zu. “
Er stellte das Glas ab, drehte sich um und verschwand im
Inneren des Hauses.
Der Monitor zeigte noch einen letzten Satz:
AUTOR R. S. PHASE III: RESONANZ BEGINNT
Kapitel 1 Taktwechsel
Der Abend roch nach Bier, Rauch und Sommerluft.
Die kleine Bühne im „Rheinblick“ war so hell beleuchtet, dass der Rest der
Kneipe fast unsichtbar wurde. Nur Janas Stimme füllte alles aus – kräftig, rau,
eine Mischung aus Blues und Rock, die irgendwo zwischen Amy Winehouse und
eigener Seele lag.
Leon saß am Rand des Tresens, ein Glas in der Hand, den
Blick auf die Bühne. Neben ihm Ulf, entspannt, ein Bier vor sich, die Jacke
über der Stuhllehne. Die Musik vibrierte im Holz des Bodens, in den Gläsern, in
den Gedanken.
„Die singt sich heute wieder frei“, sagte Ulf.
Leon nickte. „Sie war schon immer am besten, wenn sie was loswerden musste. “
„Dann müsste sie ja unendlich gut sein“, grinste Ulf.
Auf der Bühne wechselte Jana das Tempo. Ihre Band stieg
ein, Schlagzeug, Bass, ein kurzes Solo an der Gitarre. Der Raum wurde zu einem
Herzschlag.
Lisa kam aus der hinteren Ecke, winkte kurz, stellte zwei Gläser ab.
„Ihr seid auch wieder die letzten? “, fragte sie.
„Tradition“, sagte Leon. „Man geht erst, wenn die Musik aufhört. “
„Dann geht ihr nie“, sagte sie und grinste.
Der letzte Song klang aus. Applaus, Rufe, ein Pfiff aus
der Ecke. Jana lachte, verbeugte sich, verschwand kurz hinter dem Vorhang und
kam dann direkt zum Tresen.
„Ihr hättet tanzen können“, sagte sie und wischte sich eine Strähne aus dem
Gesicht.
„Wir sind Männer mittleren Alters“, sagte Ulf. „Unser Tanzen besteht aus
Kopfnicken und Bierheben. “
„Dann habt ihr beides perfekt gemacht. “
Sie lachten, bestellten noch eine Runde. Der Abend war
laut und leicht.
Dann schob Ulf eine kleine Tüte über den Tresen.
„Bevor ich’s vergesse“, sagte er. „Ich habe was für dich. “
Leon zog das Papier auseinander. Das Licht fiel auf grün, weiß, schwarz.
Ein Borussia-Trikot. Sonderedition, Jubiläum.
Hinten stand in weißer Schrift: Berg 7.
Leon sah hoch. „Das ist doch nicht dein Ernst. “
„Doch“, sagte Ulf. „Ich fliege nächste Woche. Ärzte ohne Grenzen, Mali-Einsatz.
Sechs, vielleicht acht Monate. Ich wollte, dass du was hast, was dich an zuhause
erinnert, wenn’s hier wieder rundgeht. “
Leon drehte das Trikot in den Händen. Das Stoffetikett raschelte leise.
„Verdammt, Ulf“, sagte er. „Das ist zu viel. “
„Nein“, sagte Ulf. „Das ist genau richtig. “
Lisa hob ihr Glas. „Auf Ulf. Und auf Gladbach, die es
auch ohne ihn wieder nicht in die Champions League schaffen. “
Ulf grinste. „Realismus, mein zweiter Vorname. “
Jana stieß mit an. „Du bist ein guter Mann, Doc. Pass auf
dich auf da draußen. “
„Mach ich. Und ihr? Passt hier auf, dass keiner anfängt, die Stadt zu
vernetzen, bevor ihr’s merkt. “
Ein kurzer Moment Stille. Dann lachten sie wieder.
Draußen fiel leichter Regen. Drinnen vibrierte die Luft noch vom letzten
Akkord.
Gegen Mitternacht leerte sich die Kneipe. Jana half beim
Verstauen der Instrumente, Lisa checkte noch eine Mail auf dem Handy, Leon
stand mit Ulf vor der Tür.
„Melde dich, wenn du drüben bist“, sagte Leon.
„Mach ich. Und sag Milo, er soll weiter auf dich aufpassen. “
„Er nimmt seinen Job ernst. “
„Gut so“, sagte Ulf, zog den Kragen hoch und ging los in die Nacht.
Leon blieb einen Moment stehen. Der Regen tippte leise
gegen die Schirme der Laternen.
Drinnen begann jemand, den Boden zu wischen, die Musik war nur noch Erinnerung.
Er sah durch die Scheibe hinein, wo Jana kurz zu ihm rüber
sah. Ein stummer Gruß.
Dann vibrierte Lisas Handy. Nur ein kurzer Impuls, ein Push-Ton, den sie nicht
kannte.
Sie sah aufs Display. Keine Nachricht. Nur ein Symbol, das kurz aufleuchtete
und wieder verschwand ein Kreis, darin drei Punkte.
„Alles gut? “, fragte Jana.
Lisa nickte. „Wahrscheinlich nur ein Bug. “
Draußen lief Leon die Straße entlang, das Trikot über der
Schulter.
Am Himmel zuckte kurz ein Licht, kein Blitz, kein Flugzeug, nur ein einziger,
klarer Punkt, der kurz aufleuchtete und wieder verschwand.
Ein neuer Takt, kaum hörbar.
Aber er hatte begonnen.
Kapitel 2 Rückkopplung
06:40 Uhr Leons Wohnung
Die Nacht war kurz, aber sie blieb hängen Der Morgen
jetzt war so still, dass selbst der Kühlschrank zu atmen schien.
Leon saß am Küchentisch, die Kaffeetasse in der Hand, Milo zu seinen Füßen. Der
Hund schnarchte leise, als wollte er beweisen, dass wenigstens einer in diesem
Haushalt wirklich schlafen konnte. Milo war gerne Gast.
Auf dem Stuhl gegenüber lag das Trikot, sauber gefaltet, die Nummer 7 deutlich
zu sehen.
Er nahm das Handy, öffnete die Nachrichten. Keine von
Ulf.
Natürlich nicht der Flieger ging um 4:30 Uhr.
Trotzdem tippte er kurz:
„Guten Flug. Versuch, nicht alle zu retten. “
Dann schickte er es ab.
Katrin kam aus dem Schlafzimmer, barfuß, mit einem dieser
Blicke, die mehr Fragen als Worte.
„Du hast schon wieder gearbeitet? “
„Nein. Getrunken und gedacht. “
„Das ist fast dasselbe. “
Sie goss sich Kaffee ein.
„War schön gestern, oder? “
„Ja. Jana war gut. “
„Und Ulf? “
„War er auch. “
Sie setzte sich ihm gegenüber.
„Du weißt, dass er länger bleibt als sechs Monate. “
„Wahrscheinlich. “
„Und du weißt auch, dass du nicht aufhören kannst, dich in Dinge reinzuziehen,
die dich auffressen. “
„Ich nenne das Dienst am System. “
„Ich nenne dass Flucht. “
Sie stand auf, küsste ihn auf die Stirn. „Ich fahr nachher in die Praxis.
Versuch heute mal, keine Server zu verhaften. “
„Ich gebe mir Mühe. “
Als sie ging, blieb der Satz in der Luft wie Rauch.
Leon streichelte Milo über den Kopf. „Sie meint’s gut, Kleiner. “
Der Hund blinzelte nur – als hätte er verstanden, dass Menschen Worte oft
benutzen, um Dinge nicht zu sagen.
08:10 Uhr – Direktion Rheinbruck
Lisa war schon da.
Der Rechner surrte, der Kaffee war kalt geworden, und auf dem Bildschirm
tanzten Linien, die nur sie verstand. Sie hatte die halbe Nacht an einem alten
Analyse-Tool gearbeitet, das sie selbst geschrieben hatte. Ein Programm, das
hörte, bevor etwas sprach.
Sie trank einen Schluck kaltes Koffein, streckte sich und massierte den Nacken. In der Ecke summte die Klimaanlage. Es roch nach Kabeln, Staub und Anfängen.
Sie öffnete die Netzprotokolle des Vortags. Alles sauber.
Zu sauber.
Ihre Finger flogen über die Tasten. Kein externes Log, kein Angriff, keine
Spur.
Nur eine winzige Lücke zwischen zwei Zeilen, nicht einmal ein Byte groß.
Sie zoomte hinein.
In der Leerstelle flackerte ein Symbol. Ein Kreis, unterbrochen von einer
feinen Linie fast wie ein Pulsschlag.
„Na, wer hat dich hier reingeschmuggelt? “ murmelte sie.
Das Symbol verschwand, als hätte es sie gehört.
Leon kam herein, Jacke halb offen, Regen auf den
Schultern.
„Guten Morgen, IT-Orakel. “
„Nicht so laut, ich hör noch die Nacht. “
Er stellte seinen Becher ab. „Ulf ist unterwegs. Hat sich gemeldet, kurz vor
Abflug. “
„Dann hat wenigstens einer einen Plan. “
Sie zeigte auf den Bildschirm.
„Ich habe was gefunden. Eine Art Datenreflex. Winzig, aber rhythmisch. Kein
Angriff, eher eine Wiederholung. Zwei identische Netzpulse, exakt im Abstand
von zwei Minuten. “
„Fehler? “
„Wenn’s einer wäre, würde er nicht so perfekt sein. “
Leon setzte sich neben sie. „Du meinst, das Netz hat sich selbst kopiert? “
„Eher: Es hat sich selbst gehört. “
Er schwieg, sah auf die Linien, die sich über den Monitor
bewegten.
„Das ist kein Angriff. Das ist ein Spiegel. “
„Oder ein Echo. “
„Oder beides. “
09:30 Uhr – Zwischenspiel
Jana kam in die Kaffeeküche, Gitarre auf dem Rücken,
Ohrhörer im Ohr.
„Ihr seht aus wie zwei Menschen, die kurz davor sind, eine Religion zu gründen.
“
„Nur eine Theorie“, sagte Lisa. „Das Netz träumt. “
„Dann gute Nacht. “
Sie goss sich Tee ein und setzte sich auf die
Arbeitsplatte.
„Ich muss später noch zur Probe. Wir haben am Samstag das Sommer-Open-Air.
Wollt ihr kommen? “
Leon nickte. „Wenn ich nicht wieder in einer Leitung hänge. “
„Bring Milo mit. Der hat mehr Rhythmus als du. “
Lisa grinste. „Sie hat recht. “
Der Moment war kurz, leicht, fast normal.
Dann vibrierte Lisas Handy. Eine Systemmeldung. Kein Text, nur ein Signalton,
der zweimal pulsierte und verstummte.
Sie sah aufs Display. Kein Absender. Nur eine Uhrzeit: 00:12.
„Leon? “
„Ja? “
„Das war die Zeit letzte Nacht, oder? “
„Ja. “
„Dann haben wir ein Problem. “
11:50 Uhr – Technikraum C-21
Leon, Lisa und Jana standen vor dem Serverschrank. Das
Rauschen war konstant, beruhigend, fast hypnotisch.
Lisa hatte die Abdeckung geöffnet.
„Alles sieht normal aus. Und genau das ist das Problem. “
Leon sah über ihre Schulter. „Kannst du den Vorgang simulieren? “
„Kann ich. Aber ich weiß nicht, ob ich’s will. “
„Warum? “
„Weil ich nicht weiß, ob das Netz darauf antwortet. “
Sie tippte den Befehl ein.
Ein Summen, dann ein leises Knacken.
Auf dem Monitor tauchte eine Welle auf – gleichmäßig, klar, fast schön.
„Da“, sagte sie. „Das ist die Kopie. “
Leon sah genauer hin. Zwischen den Linien tauchte ein zweiter Verlauf auf,
schwächer, versetzt.
„Das ist die Antwort. “
„Von wem? “
„Vom System selbst. “
Jana verschränkte die Arme. „Könnt ihr mir das in normal
erklären? “
„Stell dir vor, du rufst deinen eigenen Namen in einen Tunnel“, sagte Leon.
„Und das Echo ruft zurück – aber es fragt dich, wer du bist“, ergänzte Lisa.
13:00 Uhr – Stadtkern Rheinbruck
Mittagspause. Leon brauchte Luft.
Er ging durch die Altstadt, vorbei an Cafés und Touristen, bis zur kleinen
Rheinpromenade.
Die Sonne war herausgekommen, Kinder spielten mit Steinen am Ufer.
Ein Stück weiter stand ein Eiswagen. Der Verkäufer summte vor sich hin,
irgendeine Melodie aus den Achtzigern.
Leon blieb stehen, sah aufs Wasser.
Im Schaufenster eines benachbarten Musikladens hing ein Plakat: „HSG Rheinbruck
– Heimspiel Samstag, 19:00 Uhr“.
Er lächelte. Handball, Normalität, Lärm – fast vergessen, wie sich das
anfühlte.
Dann vibrierte sein Handy.
Eine neue Nachricht. Kein Absender. Kein Betreff.
Nur ein Satz:
„Verbindung bestätigt Echo folgt. “
Er runzelte die Stirn.
„Nicht schon wieder. “
Er öffnete die Metadaten. Keine. Der Absender existierte nicht.
Er wählte Lisa.
„Ich habe wieder was. “
„Ich auch“, sagte sie am anderen Ende. „Und du wirst es nicht mögen. “
13:10 Uhr Direktion
Als er zurückkam, stand Lisa vor der Tafel, hatte mehrere
Ausdrucke an die Wand gepinnt: Frequenzkurven, Zeitstempel, Orte.
„Das sind die Punkte der letzten Nacht“, sagte sie.
„Und? “
„Alle deckungsgleich mit den Vitaldaten aus dem Klinikum. Ich habe Ulf’s letzte
Berichte noch. Vier Patienten, exakt dieselbe Pulsfolge. Und jetzt dass hier. “
Sie zeigte auf einen roten Punkt mitten im Diagramm.
„Was ist das? “
„Ein Testlauf. Das System sendet nicht mehr nur. Es misst. Und wir sind die
Sensoren. “
Leon trat näher.
„Du meinst, das Netz nutzt uns? “
„Nein“, sagte Lisa. „Es ahmt uns nach. “
Jana kam herein, Schweiß auf der Stirn.
„Ich war kurz draußen. Ich habe am Fluss ein paar Fotos gemacht. Guckt euch das
an. “
Sie legte die Kamera auf den Tisch.
Auf dem Display: Wasser, Himmel, Brückengeländer und ein Muster im Lichtreflex.
Ein Kreis, durchbrochen von einer Linie.
Das Symbol, das Lisa am Morgen gefunden hatte.
„Das ist doch nicht möglich“, flüsterte Lisa.
„Dann sag mir, dass ich’s mir einbilde. “
Leon nahm die Kamera. „Wie viele hast du gemacht? “
„Dreißig. “
„Und das Zeichen ist auf allen? “
„Auf allen. “
Sie sahen sich an.
Lisa tippte schnell etwas in den Rechner, ließ die Aufnahmen durch ein
Filterprogramm laufen.
„Das ist keine optische Täuschung. Das Muster liegt in der Lichtstruktur.
Jemand hat’s hineinkodiert. “
„Wie? “
„Photoneninterferenz. Das ist kein Grafikertrick. Das ist Physik. “
Leon atmete tief ein. „Dann haben wir’s wieder geweckt.“
17:30 Uhr Am Rhein
Die Sonne neigte sich, das Licht wurde golden.
Jana packte ihre Gitarre aus, setzte sich ans Ufer und spielte. Kein Publikum,
nur Wasser, Wind und Milo, der daneben lag.
Leon kam dazu, blieb einen Moment stehen, hörte zu.
„Du klingst anders“, sagte er.
„Ich hör auch anders. Seit gestern, irgendwie. “
„Wie meinst du das? “
„Ich kann’s nicht erklären. Als würde was mitschwingen, wenn ich spiele. “
„Vielleicht ist dass Musik. “
„Vielleicht ist es das Netz. “
Lisa kam von hinten. „Oder beides. Ich habe die Daten mit
dem Geräuschpegel der Stadt verglichen. Es gibt eine minimale Frequenz, die nur
nachts auftaucht unterhalb der Hörgrenze. “
„Und? “
„Sie läuft synchron mit dem städtischen Stromnetz. Das
heißt, das ganze Netz schwingt. “
„Im Takt von was? “ fragte Jana.
„Von uns. “
Sie sahen zum Fluss, der träge vorbeizog.
Irgendwo in der Ferne fuhr ein Zug.
Leon dachte an Ulf, an die weite Entfernung, an das Trikot auf dem Stuhl.
Er fragte sich, ob man Freundschaft über Frequenzen halten konnte.
Dann vibrierte wieder Lisas Handy. Sie sah auf das
Display, runzelte die Stirn.
„Jetzt kommt’s aus der Klinik. Gleiche Zeit, gleiche Signatur. “
„Patienten? “
„Noch keine Berichte. Nur ein Ping im Netzwerk. “
„Dann ruf sie an. “
„Schon dabei. “
Sie wählte.
Die Leitung knackte, dann Ulfs Stimme fern, aber klar.
„Brenner. “
„Lisa hier. Alles gut bei euch? “
„So weit. Ein paar Verbindungsprobleme mit den Systemen, aber nichts
Dramatisches. “
„Kein ungewöhnlicher Fall? “
„Nein. Warum? “
„Weil das Netz hier wieder atmet. “
Kurze Pause.
„Dann ist der Patient global“, sagte Ulf ruhig. „Und ihr seid das Herz. “
Die Verbindung brach ab.
22:00 Uhr Leons Wohnung
Die Stadt draußen schlief.
Leon saß auf dem Sofa, Laptop auf dem Couchtisch, Milo neben ihm.
Lisa hatte ihm eine Datei geschickt: „Echo_1. raw“.
Er klickte sie an.
Zuerst nur Stille.
Dann ein Ton, tief, gleichmäßig, wie ein Herzschlag.
Er öffnete das Analysefenster.
Die Welle bewegte sich im Bildschirm präzise, rhythmisch, mit winzigen Spitzen.
Er zog die Linie auseinander.
Zwischen den Ausschlägen erschienen Buchstaben.
Nicht sofort lesbar, aber deutlich genug, um eine Struktur zu erkennen.
Ein Wort formte sich, langsam, hartnäckig:
BERG.
Leon lehnte sich zurück.
Das Licht des Monitors spiegelte sich in seinen Augen.
Milo hob den Kopf, als hätte er etwas gehört, das nur Tiere hören konnten.
Der Ton lief weiter.
Langsam, ruhig, geduldig.
Wie ein System, das gerade anfing, wieder zu träumen.
Kapitel 3 – Knotenpunkt II
Der Regen hatte in der Nacht aufgehört, aber die Straßen
glänzten noch, als hätte die Stadt beschlossen, ein wenig zu reflektieren.
Rheinbruck war an diesem Samstagmorgen stiller als sonst. Nur die Kirchenglocke
über der Altstadt versuchte, dem Tag eine Ordnung zu geben.
Leon zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Vor der Halle liefen schon Kinder mit Bällen über den Platz. Milo blieb heute bei Lisa sonst hätte er wohl wieder alle Blicke auf sich gezogen. Im Rucksack klapperten zwei Wasserflaschen und die kleine Fahne der HSG Rheinbruck.
Heute war Heimspiel gegen Gummersbach II.
Kein Fall, kein Einsatz. Nur Wochenende.
Am Parkplatz der Sporthalle standen schon die ersten
Wagen. Eltern, die Kinder abschnallten, Rucksäcke, Bälle, Stimmen, Pfeifen.
Leon nickte kurz einem Trainer zu, den er von früher kannte, und trat ein.
Der Geruch von Harz, PVC und Schweiß war immer derselbe vertraut, ehrlich,
ungekünstelt.
Oben auf der Tribüne saßen Katrin und zwei andere Mütter.
Sie winkten, als Leon sich zu ihnen setzte.
„Pünktlich wie immer“, sagte Katrin und lächelte.
„Nur Zuschauer heute“, antwortete er.
„Versuch das Spiel einfach mal zu genießen“, sagte sie.
Die Lautsprecher knackten.
„HSG Rheinbruck gegen Gummersbach 2, dröhnte es durch die Halle.
Leon lächelte. Gummersbach. Früher war das für ihn mehr als ein Name es war
Handball, Herzschlag, Kindheit.
Unten wärmten sich die jungen Spieler auf. Der Ball
klatschte, das Netz spannte sich, Harzgeruch lag in der Luft.
Leon lehnte sich zurück, hörte den Rhythmus und dachte an Ulf und das sensationelle
Borussen Trikot, ein wirklich tolle Geschenk.
Natürlich lag es jetzt zu Hause im Schrank. Jubiläumsausgabe von
Borussia, signiert vom Kapitän. Ulf hatte es ihm in der Kneipe überreicht,
zwischen Gitarrensolo, Applaus und dieser Art von Lachen, die man nur hört,
wenn jemand eigentlich schon im Abschied steckt
„Damit du was hast, wenn’s mal still wird“, hatte Ulf
gesagt. „Und wenn’s zu laut wird anziehen. Borussia heilt mehr als Aspirin. “
Leon grinste bei der Erinnerung.
Ein Pfiff, ein Jubel, die Halle tobte kurz.
Dann sah er ihn: einen Mann, Mitte vierzig, dunkel gekleidet, das Handy in der
Hand. Kein Vater, kein Trainer.
Er filmte nicht das Spiel, sondern die elektronische Anzeigenwand.
Sekundenlang, konzentriert, dann steckte er das Gerät ein und ging.
Leon folgte ihm mit den Augen, bis die Tür hinter ihm
zufiel.
Ein kurzer Stich im Bauch, instinktiv, wie ein Rest aus alten Tagen.
Er schrieb sich das Nummernschild auf, ohne zu wissen, warum. Er ahnte nicht,
dass er dieses Kennzeichen Wochen später in einem Datenprotokoll wiedersehen
würde mit einer Frequenzmarke aus Salzburg.
„Alles gut? “, fragte Katrin.
„Ja. Nur Routine. “
„Du arbeitest gar nicht. “
„Ich übe. “
„Was denn? “
„Loslassen. “
Die Schlusssirene riss ihn aus dem Gedanken. Rheinbruck
hatte knapp gewonnen.
Jubel, Umarmungen, Cola, Fotos. Normalität, so echt, dass sie beinahe
verdächtig wirkte.
Sie gingen gemeinsam hinaus. Der Himmel war aufgerissen,
der Asphalt dampfte leicht. Katrin blieb kurz stehen, legte ihm die Hand auf
den Arm.
„Du warst wieder weit weg“, sagte sie.
„Nur kurz“, antwortete Leon. „Manchmal zieht mich das alte Muster zurück. “
„Dann komm einfach wieder an“, sagte sie und lächelte.
Nach Wochen mit mehr Gewohnheit als echter Nähe ein sehr ehrlicher, stiller
Moment. Dann gingen sie weiter.
Später kehrte Leon ins Büro zurück.
Milo rollte sich neben dem Schreibtisch zusammen; Lisa hatte ihn auf dem Weg
ins Labor kurz bei Leon abgegeben.
Während Leon den Rechner einschaltete, blinkte nur eine Nachricht auf dem
Monitor. Bin im Labor. Datencheck. Ich melde mich später- L.
Er öffnete die Datei. Netzprotokolle. Eine Zeile war rot markiert.
Rheinbruck. local – Fremdsignal – Frequenz 0. 89 / Ursprung unbestimmt.
Er zoomte hinein. Die Signatur war vertraut. Zu vertraut.
Salzburg hatte denselben Abdruck hinterlassen, Monate zuvor.
Doch diesmal lag der Ursprung hier, direkt unter der Stadt.
Er lehnte sich zurück.
„Du machst wohl wieder Musik“, sagte er leise.
Milo hob den Kopf.
Zur selben Zeit bei Lisa im Labor
Die Laborräume waren still. Nur das Brummen der Server
war zu hören, ein gleichmäßiger Bass, der jede Sekunde mit dem Herzschlag
verschmolz.
Lisa saß im Halbdunkel, Kopfhörer auf, Snipe auf dem zweiten Monitor. Der Chat
lief in kurzen Zeilen.
SNIPE: Ich hab’s auch gesehen.
LISA: Du meinst die 0. 89?
SNIPE: Ja. Kam aus dem öffentlichen Netz. Kein Upload, kein Ping, kein
Ursprung. Einfach da.
LISA: Wie eine Frequenz ohne Sender.
SNIPE: Oder ein Ruf ohne Stimme.
LISA: Denkst du, es ist wieder NODE?
SNIPE: Zu fragmentiert. Vielleicht ein Echo.
Sie tippte weiter, das Licht des Monitors spiegelte sich in ihren Augen.
LISA: Leon hat’s auch.
SNIPE: Dann sind wir schon drei. Ich, du, er – und wer immer zuhört.
LISA: Ich logg dich auf meinen Proxy.
SNIPE: Riskant.
LISA: Ich nenne es Vertrauen.
SNIPE: Ich nenne es Wahnsinn.
Ein kurzes Flackern auf dem Bildschirm. Dann eine neue Zeile, die keiner von beiden geschrieben hatte.
ECHO BESTÄTIGT
Lisa hielt den Atem an.
LISA: Das warst du?
SNIPE: Nein. Und du?
LISA: Nein.
Sie öffnete die Systemansicht. Kein externer Zugriff, kein offener Port. Trotzdem war die Zeile da, fest verankert, als wäre sie aus dem Inneren des Systems gewachsen.
„Verdammt“, flüsterte sie.
Dann kam ein zweites Wort.
BERG.
Der Monitor wurde schwarz.
Zur selben Zeit stand Leon, nach einer kleinen Runde mit Milo, an der alten Brücke von Rheinbruck. Der Fluss trug das Licht davon, die Stadt wirkte friedlich. In seiner Jackentasche vibrierte das Handy. Ein anonymer Anruf. Er nahm ab.
„Leon“, sagte eine Stimme, verzerrt, kaum menschlich.
„Wer ist da? “
„Du weißt, dass sie wieder zählt. “
„Was zählt? “
„Die Sekunden zwischen Herzschlägen. “
Dann Stille.
Er sah auf das Display. Kein Anruf mehr. Kein Eintrag.
Milo bellte leise, als hätte er es gehört.
Lisa riss die Kopfhörer vom Kopf. Der Bildschirm war schwarz. Kein Cursor. Keine Statuszeile. Nur ihr eigenes Spiegelbild im Glas. Sie drückte die Einschalttaste. Nichts. Sie zog den Netzstecker und steckte ihn wieder ein. Ein kurzes Klicken, dann sprang der Monitor auf. Das Betriebssystem prüfte sich selbst und meldete keine Auffälligkeiten.
Der Chat mit Snipe war weg. Die Logdatei ebenfalls. Nur ein einziger Eintrag stand in einem separaten Systemfenster. Eine Uhrzeit. Eine sekundengenaue Markierung. Daneben ein Wort.
Berg.
Sie atmete langsam aus und rief Leon an. Gleich beim zweiten Freizeichen nahm er ab.
„Ich stehe an der Brücke. Sag es. “
„Das System hat sich kurz abgeschaltet. Ein Eintrag ist geblieben. Dein Name. Nichts weiter. “
„Zeitpunkt? “
„Jetzt vor drei Minuten. Und vor zwölf Minuten ein anonymer Satz. Echo bestätigt. Danach ging alles aus. “
„Ich komme. “
Er legte auf. Der Wind griff in seinen Kragen, der Fluss schob sich mit stiller Kraft unter der Brücke hindurch. Milo blickte nach links, dann nach rechts, als hätte er eine Richtung gerochen. Leon strich ihm kurz über den Kopf und ging los.
Im Labor wartete Lisa mit gefalteten Händen. Sie hatte zwei Monitore gebootet, den dritten absichtlich dunkel gelassen. Ein weißes Tuch lag über der Tastatur, als wäre es eine Erinnerung an einen Fehler, den man nicht wiederholen wollte. Als Leon die Tür öffnete, hob sie nur kurz den Blick. Er nickte und blieb vor dem Tisch stehen.
„Zeig mir die Uhrzeit. “
Sie klickte die Logkonsole auf. Die Markierung leuchtete. Drei Minuten nach vierzehn Uhr. Darunter stand ein Synchronisiervermerk, als hätte ein Dienst im Hintergrund die Zeit mit einer entfernten Quelle abgeglichen.
„Ich habe den Rechner vom Netz genommen. Du kannst gleichsehen, was lokal geblieben ist. Aber vorher etwas anderes. “
„Was noch? “
„Ich hatte Snipe auf dem zweiten Monitor. Er hat die Frequenz ebenfalls gesehen. Er schrieb, es sei ein Echo ohne Sender. Dann kam die Zeile Echo bestätigt. Danach fiel hier das Licht im Monitor. Bei ihm nicht. “
Leon sah auf die dunkle Scheibe des dritten Bildschirms. Sein Spiegelbild stand still. Dann räusperte er sich und trat einen Schritt zurück.
„Wir nehmen das als Wink. Keine direkten Zugriffe mehr, solange wir nicht wissen, wer den Takt gibt. “
„Einverstanden. “
„Hast du einen Kanal zu Snipe, der nicht rückverfolgbar ist? “
„Einen. Aber nur für kurze Texte. Alles andere wäre vermessen. “
„Schick ihm drei Worte. Kein Name. Keine Metadaten. Nur das. Alles bleibt lokal. “
Sie tippte. Der Text verschwand im Proxy, sprang zwei Knoten weiter und löste sich auf. Zumindest sah es so aus. Kurz darauf blinzelte die Empfangsanzeige. Eine Antwort kam zurück. Ein einziges Wort.
Verstanden.
„Gut, “ sagte Leon und setzte sich. „Er soll von außen beobachten. Kein tiefer Zugriff. Wenn es dich nennt, nennt es uns beide. “
„Oder es kennt nur dich, “ antwortete Lisa ruhig. „Du weißt, was in Band eins passiert ist. Administrator zugewiesen. Das hat sich im Netz eingeprägt. “
„Vielleicht. “ Er schwieg einen Moment. „Vielleicht aber hat es sich nur angewöhnt, dass ich nicht weggehe. “
Sie lächelte flüchtig. „Daran kann man sich gewöhnen. “
Die Meldung aus der Leitstelle kam als kurze Nachricht. Verkehrssteuerung Innenstadt meldet kurze Fehlfunktion. Ampeln in zwei Kreuzungsbereichen schalten nicht nach Plan. Kein Unfall. Ursache unklar.
Leon las sie zweimal. „Zwei Kreuzungen. Welche? “
„Am Theaterplatz und an der Zufahrt zur alten Brücke, “ sagte Lisa, die bereits die Karte offen hatte. „Lustig. “
„Gar nicht lustig, “ antwortete er. „Das sind genau die Wege, die ich vorhin gegangen bin. “
Er stand auf. „Wir schauen uns das an. Nur einen Blick von außen. Keine Tastatur. Keine Ports. Nur Augen. “
Der Theaterplatz lag im frühen Abendlicht. Ein paar Tauben hüpften neben der Straßenbahnlinie. Die Ampelschaltung hatte sich wieder normalisiert. Ein Schüler mit Kopfhörern lief bei Grün über die Straße, ohne nach links oder rechts zu sehen. Es roch nach gebrannten Mandeln von einem Stand, der seit Jahren keiner Genehmigung bedurfte, aber immer da war, wenn es nicht regnete.
Leon legte die Hand an den Schaltkasten der Ampel. Metall, kühl, neutral. Lisa stand daneben und hielt eine kleine Kamera in der Hand, die keine Verbindung nach draußen hatte. Sie filmte die LED-Anzeigen im Kasten durch eine kleine Öffnung, die ein Techniker in besseren Zeiten gelassen hatte. Die Werte blinkten in regelmäßigen Abständen. Kein Fehler. Kein Hinweis.
„Wenn es etwas war, dann war es schon wieder weg, “ sagte sie.
„Oder es war nie hier, “ murmelte Leon. „Nur an allem gleichzeitig vorbei. “
Sie gingen weiter zur Zufahrt der alten Brücke. Auch dort lief alles im Takt. Eine Mutter zog ihr Kind an der Hand, damit es nicht über die Bordsteinkante stolperte. Zwei Radfahrer sprachen miteinander, während sie nebeneinander fuhren und das taten, was Leben ausmacht. Sie kümmerten sich nicht um die unsichtbaren Dinge.
„Wir werden es nicht auf offener Straße finden, “ sagte Lisa und hielt die Kamera still. „Wir sehen nur die Schatten. Das Licht bleibt drinnen. “
„Dann gehen wir in Räume, die Licht sammeln, “ antwortete Leon. „Nicht heute. Nicht mit Hektik. Aber bald. “
Er steckte die Hände in die Taschen und sah über die Brücke. Auf der anderen Seite der Stadt glühte der Himmel. Für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als würde die Stadt atmen.
Am Abend spielte Jana im Keller einer alten Kneipe. Kein Plakat hatte die Veranstaltung angekündigt. Die Leute kamen trotzdem. Man erzählte es sich herum, wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Tresen stand. Sie trat mit der Band auf eine kleine Bühne, die mehr Holz war als Technik. Die Lampen waren warm. Der Tonmann war ein Freund. Das Publikum stand dicht und lehnte aneinander, ohne es zu merken.
Leon und Katrin standen hinten seitlich an der Wand. Milo lag im Schatten unter einem hohen Tisch. Wenn die Musik den Bass hob, hob der Hund den Kopf.
Jana sang, als hätte sie die Stimme an diesem Tag neu gefunden. Es war keine Perfektion. Es war etwas anderes. Sie hielt einen Ton nicht deshalb lange, weil sie es konnte, sondern weil der Raum es brauchte. In einer Pause nahm sie einen Schluck Wasser, lächelte in die Tiefe des Raums und blickte dann an Leon vorbei. Ein Mann stand dort, den Leon nur aus der Ferne kannte. Tobias. Er nickte Jana zu, nicht aufdringlich, sondern wie jemand, der sich an eine gute Erinnerung erinnert und zufrieden ist, dass sie blieb, wie sie ist.
Die Band setzte wieder ein. Ein neues Stück. Ein Gitarrenlauf wie ein Flusslauf. Ein Schlagzeug, das genau wusste, wann Ruhe ein Schlag ist. Jana sang über Städte, die Signale verschlucken, und über Menschen, die leuchten, wenn es keiner sieht. Ein Lied für eine Stadt, die gerade ihren Rhythmus suchte.
Katrin legte Leon die Hand kurz auf den Arm. „Guter Abend, “ sagte sie.
„Ja, “ antwortete er und meinte es.
Nach der Zugabe standen sie noch zusammen vor der Tür. Der Atem stand weiß in der kühlen Luft. Jana lachte, als jemand sie auf das Lied ansprach. Ein junger Mann bat um ein Foto. Sie nickte, stellte sich neben ihn, die Gitarre in der linken Hand.
„Noch eine Nummer in der nächsten Woche, “ sagte sie, als sie zu Leon kam. „Bisschen größer, nicht hier. Wenn du kannst, komm. “
„Ich komme, “ sagte er.
„Gut. Und jetzt geh schlafen, Kommissar. Morgen wird wieder gerechnet. “
„Von wem? “
„Von allen, “ sagte sie und schob die Gitarre in das Case.
Später saß Leon am Küchentisch. Milo schlief auf der Decke, die ihm inzwischen gehörte, auch wenn sie nie gekauft worden war. Der Kühlschrank summte. Der Rest der Wohnung schwieg. Leon legte das Jubiläumstrikot neben die Zeitung. Grün und weiß, sauber gefaltet. Er strich mit der Hand darüber, ohne es anzuziehen.
Das Handy vibrierte. Eine Nachtmeldung von Lisa. Kein Text. Nur ein Bild. Eine Grafik mit drei dünnen Linien. Eine davon war rot. Darunter stand eine Zahl. Drei Sekunden. Dann eine zweite Zahl. Sechs. Dann neun.
Er rief an. Sie nahm sofort ab.
„Drei. Sechs. Neun. Immer wieder, “ sagte sie leise. „In den Logwerten der städtischen Steuerung. Nicht lang. Nur ein Wimpernschlag. Ich habe es an drei Stellen gesehen. “
„Was ist drei sechs neun, “ fragte er.
„Eine Zählung, “ sagte sie. „Oder eine Tür. “
„Snipe? “
„Offline seit einer Stunde. Das ist ungewöhnlich. Er hat immer irgendeinen Geist online. “
„Dann frag ihn morgen. Heute nicht. “
Er legte auf und betrachtete noch einmal die Grafik. Eine Tür. Der Gedanke blieb.
Er stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus in die Stadt. Das Licht lag ruhig auf den Straßen. Kein Blaulicht. Kein Alarm. Nur die Nacht, die tat, was sie immer tut. Sie ließ die Dinge, die schwer sind, weniger schwer aussehen.
Er zog die Vorhänge zu und ging schlafen.
Am Morgen waren die Mülleimer im Viertel voll. Ein Lieferwagen blieb an der Ecke liegen, weil der Fahrer das Navi mehr liebte als seinen Blick. Ein Nachbar grüßte und sagte, die Heizung knackt. Leon antwortete, dass das an der Luft liege. Er wusste, dass es eine Ausrede war, aber sie half.
Im Büro lag eine kurze Notiz von Lisa auf dem Schreibtisch. Drei Zeilen. Ein Datum. Eine Uhrzeit. Ein Vermerk.
Drei sechs neun ist alt.
Er setzte sich, legte die Notiz in die linke obere Ecke und öffnete die Akte, die auf ihn wartete. Er hatte sie schon einmal gelesen, aber das machte sie nicht überflüssig. Es war ein Name aus alten Tagen. Ein Ermittler in einer anderen Stadt hatte um eine Einschätzung gebeten. Die Sache hatte nichts mit ihnen zu tun. So stand es im Betreff. Leon schrieb darunter zwei Sätze und wusste doch, dass alles mit allem zu tun hatte.
Lisa kam herein, ohne zu klopfen. Sie hielt ein kleines Metronom in der Hand. Ein mechanisches. Holz. Messing. Ein Fund aus einem Musikladen, der noch Töne verkaufte, die keiner brauchte und alle wollten.
„Was ist das, “ fragte Leon.
„Ein Versuch, “ sagte sie.
Sie zog den Stift hoch und ließ ihn gehen. Das Metronom begann zu schlagen. Ein Takt, den man hören konnte. Leon zählte mit. Eins. Zwei. Drei. Vier. Dann veränderte sie die Geschwindigkeit. Er hörte den Raum.
„Was willst du mir sagen, “ fragte er.
„Dass die Stadt einen Takt hat, “ sagte sie. „Und dass gerade jemand begonnen hat, mitzuzählen. Nicht laut. Nicht sichtbar. Aber regelmäßig. Drei. Sechs. Neun. “
„Und was ist bei zwölf, “ fragte er.
„Vielleicht Stille, “ antwortete sie. „Oder eine neue Tonart. “
Er lächelte schmal. „Wir werden es hören. “
„Und bevor du fragst, “ setzte sie an, „ich habe Snipe eine Nachricht geschickt. Sehr kurz. Noch keine Antwort. “
„Dann lass ihn kommen, wenn er da ist. Wir brauchen ihn. Und er braucht uns. “
„Das glaube ich auch. “
Gegen Mittag erreichte sie eine Nachricht aus Brüssel. Nicht offiziell. Nicht von einer Behörde. Ein privater Kontakt, den Leon nicht in ein Formular schreiben würde. Ein Foto. Eine Bar. Holz. Schatten. Eine Jukebox. Und an der Wand eine alte Werbetafel mit einem Schriftzug, der zu freundlich war, um zu diesem Ort zu passen.
Onkel Toms Hütte.
Darunter ein Satz. Kein Gruß. Keine Einleitung.
Er will reden.
Leon zeigte das Bild Lisa. Sie sah es sich an, sagte nichts und sah es sich dann ein zweites Mal an.
„Heute nicht, “ sagte er. „Wir reagieren nicht sofort. “
„Du meinst, er soll spüren, dass wir unsere Zeit selbst zählen. “
„Genau das. “
Er legte das Telefon weg. Für einen Moment war der Raum hell. Die Sonne hatte zwischen den Wolken ein Fenster gefunden.
Heute Abend Handball,“ sagte Lisa. „Gummersbach spielt.
Du wolltest hin.“
„Ich will hin,“ antwortete er. „Ich gehe auch hin.“
Lisa grinste und zog ein gefaltetes Trikot aus der Tasche.
„Und das hier? Borussia? Das ist kein Handballtrikot,
Leon.“
Er lachte. „Nein. Aber es erinnert mich daran, dass es immer dritte Halbzeiten
gibt.“
„
Ulf würde das mögen.“
„Ulf ruft morgen an,“ sagte er und lächelte kurz. „Er fragt dann, ob sie
gewonnen haben. Und ich sage, dass das keine Frage ist.“
„Dann mach heute etwas, das kein Echo braucht,“ sagte
Lisa.
„Guter Satz,“ sagte er. „Schreib ihn dir auf.“
Die Klingen der Drehtür der Arena in Gummersbach glänzten. Es roch nach Bratwurst, Bier und den Erinnerungen von Tausenden. Leon stand mit zwei Freunden aus alten Tagen am Stehplatz. Sie sprachen über frühere Spiele und taten so, als hätten sie damals keine Sorgen gehabt. Die Mannschaft lief ein. Blau. Weiß. Ein Lied aus den Lautsprechern, das niemand besonders mochte, dass aber alle sangen.
Das Spiel wurde schnell. Die Pässe waren scharf, die Abwehr stand. Leon verlor für eine Stunde die Zeit. Keine Frequenzen, keine Knoten, keine Zahlen. Nur der Ball, der prallte, der Torwart, der die Hand hob, das Netz, das wackelte. Am Ende stand ein Sieg. Die Halle klatschte und stampfte. Es war Lautstärke ohne doppelten Boden.
Auf dem Rückweg vibrierte das Telefon in seiner Tasche. Eine Nachricht von Lisa. Nicht dringend. Nur eine Notiz.
Snipe ist wieder online. Morgen kurz sprechen.
Er steckte das Telefon zurück. Die Nacht war klar. Die Autobahn zog ruhig durch die Dunkelheit. Er fuhr nicht schnell. Er hörte ein Radiokonzert, das kein Mensch ansagte, und dachte an den Metronomschlag auf seinem Schreibtisch.
Drei. Sechs. Neun.
Als er in Rheinbruck ankam, schlief die Stadt. Er stieg aus, schloss den Wagen und blieb für einen Moment auf der Straße stehen. Kein Auto. Kein Rad. Nur der eigene Schritt auf dem Pflaster. Milo,wie so oft Gast im Hause Berg, begrüßte ihn an der Tür, schlug einmal kurz an und wedelte sofort.
„Morgen weiter, “ sagte Leon zu ihm. „Heute war Leben.“
Der Hund drehte sich im Kreis und legte sich hin.
Leon zog die Gardinen zu und setzte sich an den Tisch. Das Trikot lag noch immer dort. Er faltete es sorgfältig, legte es in den Schrank und schloss die Tür. Im Spiegel der Schranktür sah er sich an. Kein Held. Kein Opfer. Ein Mann, der zählt, ohne es zu wollen.
Er löschte das Licht.
In der Nacht lief in einem Schaltkasten am Theaterplatz ein kurzer Test. Zwei Sekunden lang blinkte eine interne Anzeige dreimal in schneller Folge. Drei. Sechs. Neun. Kein Mensch sah es. Die Stadt atmete ruhig weiter.
Und irgendwo tief im Netz bewegten sich zwei alte Namen durch neue Verzeichnisse, ohne eine Spur zu hinterlassen. Einer davon hatte den Blick nach Westen gerichtet. Der andere suchte die Alpen.
Am Morgen würde der Takt wieder beginnen. Leon wusste es, ohne die Uhr zu sehen.
In derselben Sekunde, in der Leon das Licht löschte,
öffnete sich in einem Serverraum zweihundert Kilometer entfernt ein Logfile.
Ein Cursor blinkte.
Eingang bestätigt Rheinbruck aktiv.
Der neue Tag hatte bereits begonnen, bevor jemand ihn bemerkte.
Kapitel 4 – Resonanzfeld
Der Morgen in Rheinbruck war klarer als die Tage zuvor.
Ein Licht, das nichts verhieß und doch alles deutlicher machte.
Die Stadt hatte diesen eigenartigen Rhythmus: Wenn man glaubte, sie würde
stillstehen, beschleunigte sie unmerklich, aber spürbar.
Leon saß am Schreibtisch, vor ihm der Laptop, die
Kaffeetasse halb voll. Lisa war früh gekommen, ungewöhnlich still.
Sie hatte die Nacht durchgearbeitet; die Spuren ihrer Wachheit klebten an den
Augen.
Auf dem Bildschirm pulsierte ein Diagramm drei Kurven, synchron, bis eine
plötzlich ausschlug.
„Da. Siehst du’s? “
Leon trat näher.
„Was ist das? “
„Das Signal von gestern. Ich habe die Datenspur aus dem Polizeinetz isoliert.
Es wiederholt sich alle neun Stunden. Millisekundengenau. “
„Was heißt das? “
„Dass es kein Zufall ist. “
Sie zoomte hinein, der Ausschlag wirkte wie ein Herzschlag.
„Ich nenne das Ding Resonanzpunkt. Es verhält sich wie ein Feedback-Loop aber
nicht auf einer Frequenz, sondern im Verhalten von Systemen. Kleine Impulse,
gleiche Reaktion, nur leicht verschoben. “
Leon legte die Hände an den Tisch. „Wie ein Echo. “
„Oder wie eine Erinnerung“, sagte Lisa. „Etwas, das sich selbst abspielt, ohne
dass jemand Play drückt. “
Er schwieg einen Moment.
In seinem Kopf klangen noch die letzten Takte des Abends nach Janas Stimme, die
Gitarre, der Moment, in dem Ulf das Trikot überreicht hatte.
Jetzt war die Bühne wieder leer.
„Ich hab’s an die Bundesstelle geschickt“, sagte Lisa.
„Ohne Details, nur das Muster. “
„Reaktion? “
„Automatische Eingangsbestätigung. Keine Nachfrage. Das ist meistens das
lauteste Schweigen. “
Leon lächelte kurz. „Dann wissen sie Bescheid. “
„Oder sie wissen, dass wir’s wissen. “
Sie öffnete ein weiteres Fenster. Eine Karte. Linien,
Punkte. Rheinbruck blinkte.
Ein zweiter Punkt, kaum sichtbar, bei Brüssel.
Ein dritter, neu: Prag.
„Das kam heute Nacht. NODE 3 aktiv, aber schwach. Und schau hier “
Sie markierte einen Abschnitt im Logfile.
„Eingang Rheinbruck Bestätigung Salzburg – Antwort Brüssel Abgleich Prag. “
„Das ist Kommunikation. “
„Oder Abstimmung“, sagte Lisa. „Wie ein Orchester, das noch stimmt. “
Leon nahm die Tasse, trank den letzten Schluck kalten
Kaffee und sah aus dem Fenster.
„Und wenn einer den Takt vorgibt? “
„Dann spielen wir längst mit. “
10:45 Uhr Brüssel
Don Thomas saß in seinem Büro über der Bar. Der Raum roch
nach Zigarrenrauch und altem Holz. Auf dem Tisch lag ein Faxausdruck,
unscheinbar, nur Zahlen und Koordinaten.
Er strich mit dem Finger über die Zeilen, als wollte er fühlen, was zwischen
ihnen stand.
Ein Klingeln, leise, gedämpft.
„Ja? “
Die Stimme am anderen Ende war jung, zu kontrolliert, um nicht nervös zu sein.
„Das Signal, Sir. Es ist wieder da. Rheinbruck, Salzburg, Brüssel und jetzt
Prag. Alles synchron. “
„Und die Quelle? “
„Unbekannt. Es verhält sich wie ein Spiegel. Kein Ursprung, nur Rückwurf. “
Don Thomas lehnte sich zurück. „Dann ist es wieder wach. “
„Was sollen wir tun? “
„Beobachten. Und nichts anfassen, was uns ansieht. “
Er legte auf, stand auf, trat ans Fenster.
Draußen glitzerte die Stadt, geschäftig, harmlos.
Unter ihr wuchs ein Netz, das keine Grenzen kannte.
13:30 Uhr Rheinbruck
Jana war in der Musikschule. Ihre Schüler spielten den
Song vom letzten Abend, schief, laut, ehrlich.
Zwischen den Takten vibrierte ihr Handy. Eine Nachricht, anonym.
„Ihr hört das Echo nicht, aber es hört euch. “
Sie runzelte die Stirn, las es zweimal, löschte es – und fühlte trotzdem das
Nachhallen.
Am Nachmittag trafen sie sich wieder im Büro. Leon, Lisa,
Jana.
Die Karten, die Notizen, der Strom von Daten – alles lag wie ein Puzzle, das
sich selbst verändern konnte.
„Ich habe was aus Prag“, sagte Lisa. „Eine alte
Netzwerkstruktur, gespiegelt auf einem Uniserver. Keine offizielle Verbindung,
aber identische Signatur. “
„Wer betreibt den Server? “
„Offiziell? Niemand. Inoffiziell? Ein ehemaliger Systemberater namens Roland_S.
“
Leon hob den Kopf.
„Der Roland_S.?“
„Genau der. “
Jana zog die Stirn kraus. „Ich dachte, der ist verschwunden. “
„War er auch. Jetzt sendet er wieder oder jemand tut’s in seinem Namen. “
Leon stützte sich an der Tischkante ab.
„Das bedeutet, dass Sektor 7 nie wirklich beendet war. “
„Oder dass jemand die alten Strukturen nutzt. “
„Don Thomas? “
„Vielleicht“, sagte Lisa. „Aber Roland_S hatte die Schlüssel. Wenn er wieder
auftaucht, ist das kein Zufall. “
Milo kam aus dem Nebenraum, legte sich an Leons Füße. Der
Hund wirkte ruhig zu ruhig.
Leon sah kurz hinab. „Er reagiert nicht mal mehr auf Geräusche. “
„Vielleicht hört er was, was wir nicht hören“, murmelte Jana.
Draußen zog ein Gewitter auf.
Der Himmel über Rheinbruck färbte sich metallisch, und im Hintergrund flackerte
für den Bruchteil einer Sekunde das Licht.
Lisa blickte auf den Monitor.
„Verdammt – das war kein Stromausfall. Das war ein Ping. “
„Von wo? “
„Hier. Intern. Jemand oder etwas hat auf unser Netz zugegriffen. “
„Und? “
„Es hat eine Datei angelegt. “
„Name? “
Lisa drehte den Bildschirm zu ihnen.
Resonanzpunkt. log
16:10 Uhr – Technikraum Direktion
Sie schalteten die Verbindung zum internen Server ab,
isolierten das System.
Lisa öffnete die Datei. Nur eine Zeile stand dort:
„NODE 0 bestätigt. Menschliche Schnittstelle erkannt. “
Jana trat einen Schritt zurück. „Das ist kein Log. Das ist ein Gruß. “
„Oder ein Besitzanspruch“, sagte Leon.
Er dachte an Salzburg, an Brüssel, an die Linien, die
niemand mehr löschen konnte.
„Was immer das ist es kennt uns. Und es weiß, dass wir es lesen. “
Sie beschlossen, das System offline zu halten.
Lisa sicherte Kopien, Jana machte Notizen.
Leon stand schweigend am Fenster.
Der Regen hatte begonnen, still, stetig.
Ein Blitz über der Stadt für einen Moment war Rheinbruck hell.
„Ich will Ulf anrufen“, sagte Leon plötzlich. „Nur um zu
hören, ob im Krankenhaus was passiert. “
Er wählte.
Kein Empfang. Dann eine Verbindung.
„Brenner. “
„Leon hier. Alles ruhig? “
„Kommt drauf an, wie du ruhig definierst. Wir hatten heute Morgen zwei
Patienten mit identischem Puls – beide schwören, sie hätten das Gefühl gehabt,
jemand würde sie beobachten. “
„Medizinisch erklärbar? “
„Vielleicht, wenn man Gott in die Statistik aufnimmt. Ich schick dir die Werte.
“
„Mach das. Und, wie geht’s dir? “
„Heiß, laut, Afrika. Ich sag’s dir, Leon die Herzen hier schlagen anders.
Vielleicht gesünder. Vielleicht ehrlicher. “
„Dann bleib, wo du bist. “
„Werde ich. Und grüß die Stadt von mir. Und Borussia, wenn sie wieder
verlieren. “
Leon lachte leise. „Mach ich. “
Die Leitung brach ab.
Lisa sah ihn an. „Alles okay? “
„Ja. Nur alte Gewohnheit. Er hört das Rauschen nicht mehr. Vielleicht ist das
gut so. “
20:00 Uhr Janas Konzert
Der Club war voll. Rauch, Licht, Stimmen.
Jana stand auf der Bühne, das Mikro in der Hand, und sang, als würde sie die
Nacht in Schwingungen zwingen.
Leon stand hinten, halb im Schatten, halb Zuschauer.
Lisa war auch da, Laptop in der Tasche, den Blick immer wieder aufs Handy.
Einmal kurz vibrierte es.
Eine Nachricht, anonym:
„Resonanz stabil. Beobachtung fortsetzen. “
Sie sah zu Leon hinüber, aber er blickte nicht zurück.
Er sah auf die Bühne, wo Jana lachte, die Haare wirbelten, und alles für einen
Moment einfach nur Musik war.
Dann wieder dieses kaum wahrnehmbare Flackern.
Im Takt der Scheinwerfer, glaubte man.
Oder im Takt von etwas anderem.
Draußen auf der Straße stoppte ein Wagen.
Ein Mann stieg aus, zog den Mantel enger und sah zum Clubeingang.
Er wartete.
Don Thomas.
23:30 Uhr – Rheinbruck, Nacht
Der Regen hatte aufgehört.
Leon und Lisa gingen nebeneinanderher, still.
„Was, wenn das alles erst anfängt? “ fragte Lisa.
„Dann sind wir schon mittendrin. “
Sie blieben an der Brücke stehen, sahen auf den Fluss.
Das Wasser reflektierte das Licht, als wäre es selbst ein Bildschirm.
Ein schwaches Leuchten zog über die Oberfläche, fast unsichtbar.
„Siehst du das? “
„Ja. “
„Was ist das? “
„Ein Echo. “
„Von was? “
„Von uns vielleicht. “
Kapitel 5 – Prager Spiegel
Der Morgen kam still.
Kein Regen, keine Sirenen, nur das regelmäßige Knacken der Heizung im Flur der
Direktion. Die Stadt wirkte so ruhig, als hätte sie beschlossen, sich nicht
einmischen zu wollen. Rheinbruck konnte das, wenn sie wollte. Unsichtbar
werden, ohne zu verschwinden.
Leon war früh da. Er legte seine Jacke über die Stuhllehne, stellte die Tasse neben den Bildschirm und blieb einen Moment stehen. Der Raum roch nach Papier, kaltem Kaffee und einer Idee, die noch keinen Namen hatte. Auf der Fensterbank lag Milos Leine. Lisa hatte sie gestern vergessen. Oder absichtlich dagelassen.
- Citation du texte
- Matz Mattern (Auteur), 2025, Resonanz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1675545