Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung - Eine neue Form von Journalismus?
2. Über die beteiligten „Akteure“
2.1 Der Amoklauf von Winnenden und die Medien
2.2 Der Internetdienst Twitter
3. „Amok twittern“ - Wie sich der Diskurs parallel zum Geschehen im Internet schrieb
3.1 Die vermeintlichen Augenzeugen zwitschern in Echtzeit
3.2 „@amok“ - Wenn Journalisten Grenzen des guten Geschmacks überschreiten
3.3 Wenn Vögel Enten vermelden - Falschmeldungen in 140 Zeichen
4. Zusammenfassung und Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung - Eine neue Form von Journalismus?
‚tontaube’: „ACHTUNG: In der Realschule Winnenden gab es heute einen Amoklauf, Täter angeblich flüchtig - besser nicht in die Stadt kommen!!!!“ (Quelle: Twitter, URL: http://twitter.com/tontaube/status/1309864040,Stand: 01.12.2010)
Diese Nachricht, gesendet am 11. März 2009 um 10:37 Uhr über den Internet- Kurznachrichtendienst Twitter, gilt als eine der ersten öffentlichen Mitteilungen zu einem der tragischsten Ereignisse des Jahres 2009 in Deutschland: An diesem Tag betrat gegen 9:30 Uhr, also nur wenige Minuten bevor obige Nachricht bereits im weltweiten Datennetz erschien, der 17-jährige Tim K. die Albertville-Realschule im kleinen Ort Winnenden in der Nähe von Stuttgart und eröffnete das Feuer. Anschließend setzte er seinen Amoklauf in Richtung Innenstadt fort und entführte ein Auto, mit dem er ins benachbarte Wendlingen floh, wo er sich wiederum einen Schusswechsel mit der Polizei lieferte. Die traurige Bilanz dieses Tages: 15 Menschen starben, zwei Polizisten erlitten schwere Verletzungen. Der Amoktäter tötete sich am Ende durch einen gezielten Schuss selbst (vgl. Polizeidirektion Waiblingen 2009, o.S.)1.
Nun verwundert sicher nicht, dass dieses Ereignis wegen der besonderen Schwere der Tat eine große Welle der medialen Berichterstattung nach sich zog. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Amoklauf schon von einer solchen regelrecht begleitet wurde. Denn die Schnelligkeit, mit der Nutzerin ‚tontaube’ ihre wenn auch kurze und recht informationsarme Nachricht absetzte, lässt bereits erahnen, wie rasant sich an diesem Morgen die Augen - und damit auch Fotoobjektive und Kameralinsen - auf Winnenden richteten. Der kleine Ort wurde innerhalb kürzester Zeit „zum größten Live-Tatort Deutschlands“ (Brüggemann 2009, o.S.), wobei insbesondere der zu diesem Zeitpunkt in Deutschland noch vergleichsweise wenig genutzte und daher nur bedingt bekannte Online-Dienst Twitter eine zentrale Rolle gespielt hat. Er soll deshalb im Rahmen dieser Arbeit den zentralen Untersuchungsgegenstand und Bezugsrahmen bilden. Am 11. März 2009 wurden die Twitter-Server so auch fast sekündlich mit neuen Kurznachrichten zum parallel stattfindenden Amoklauf überschwemmt, wobei auffällig ist, dass sich dabei nicht etwa nur Privatleute an dem Diskurs im Netz beteiligten, sondern auch zahlreiche Journalisten und Vertreter „klassischer“ Medien, wie zum Beispiel bekannte Marken deutscher Verlagshäuser (darunter die Stuttgarter Zeitung, Stern, Bild etc.) oder deren Online-Redaktionen mit von der Partie waren. Unter letzteren waren es die Internet-Redakteure von Focus Online, die etwa just an diesem Morgen erst ein Konto bei Twitter einrichteten, um dabei zu sein - doch dazu später mehr.
Gemeinsam ist allen Beteiligten, dass sie bei dem Nachrichtenstrom im Internet ein von zahlreichen Widersprüchen durchzogenes Bild von der mal näher, mal deutlich weiter entfernt stattfindenden Tat zeichneten. Dabei unterliefen den selbsternannten wie auch den beruflichen Informationsverbreitern jedoch etliche Fehler, die so nicht hätten passieren dürfen. Nachdem einem Polizeisprecher bei einem Fernsehinterview versehentlich der volle Name des Amoktäters herausgerutscht war, trug die Netzwelt etwa durch spontane Recherchen im Internet vermeintlich private Daten zu Tim K. zusammen und veröffentlichte beispielsweise Schulabschlussfotos oder Wunschlisten beim Internetversandhaus Amazon - die sich später wegen einer banalen Namensgleichheit als schlichtweg falsch zugeordnet herausstellten und in Wahrheit anderen, unbeteiligten Menschen gehörten (vgl. ebd.).
Überhaupt stellt man sich angesichts des zunehmenden Einflusses internetbasierter Formen der Kommunikation und der damit oftmals für den Journalismus ausgerufenen, „durch die Interaktivität […] engere, gleichberechtigtere Beziehung zu seinem Publikum“ (Neuberger 2005, 118) die Frage, ob wir es mit einer neuen Form desselben zu tun haben. Zwar darf angenommen werden, dass für viele „traditionelle“ Medien der Berichterstattung mit den ersten Schritten ins Internet anfangs lediglich das Ziel des Besetzens neuer, potenzieller Märkte mit der eigenen, schon bekannten Marke verbunden war (vgl. Quick 2010, 153). Gerade bei aktuellen Ereignissen von hoher Tragweite, die auf ein großes Interesse stoßen bzw. ein gesteigertes Informationsbedürfnis auslösen, haben Analysen jedoch gezeigt, dass in diesen Fällen journalistische Onlineangebote sprunghaft verstärkt in Anspruch genommen werden. Schließlich kann kein anderes Medium so schnell aktualisiert werden und zugleich Inhalte in derart differenzierter Form, d.h. multimedial als Text, Audio oder (Bewegt-)Bild aufbereitet, darstellen.
Das Potenzial des Internets für den Journalismus zeigt sich aber auch in dessen Möglichkeiten zur Interaktion mit den Nutzern: In Deutschland setzte die Online- Redaktion der ‚Zeit’ als erstes Massenmedium die sog. ‚Weblogs’ - ursprünglich als eine Art „Internet-Tagebuch“ gedacht - für journalistische Zwecke sein. Die Rheinische Post erlaubt es ihren Lesern, im Portal ‚Opinio’ eigene Artikel zu verfassen, von denen ausgewählten Berichte regelmäßig auch in der gedruckten Ausgabe der Zeitung erscheinen. Den Begriff des „Leser-Reporters“ machte nicht zuletzt auch die ‚Bild’ populär, die bis zu 500 Euro für eingereichte und veröffentlichte Fotos von Lesern des Blatts auslobte. Kommentarfunktionen unter den auf den Internetpräsenzen der Redaktionen erschienen Beiträge gehören inzwischen zum Standard - wobei unter dem Motto „Online first“ die Texte mittlerweile zudem in der Regel noch vor Erscheinen der Printausgabe im Internet freigeschaltet werden (vgl. ebd., 157f.).
Twitter fügt dem Ganzen nun noch eine weitere - beschleunigte - Dimension hinzu. Schätzungen gehen von über 100 Millionen aktiven Nutzern weltweit aus, die monatlich weit über 1,5 Milliarden Kurznachrichten über den Dienst verschicken (vgl. Langer 2010, 8). Hinzu kommt, dass kaum noch eine Redaktion, sei es nun ein großes, überregionales Nachrichtenmagazin wie ‚Der Spiegel’ oder die Lokalzeitung von nebenan, noch nicht auf Twitter vertreten ist. - Dieser Medienwandel, dem wie bereits angedeutet ein großes Wachstumspotenzial zugeschrieben wird, birgt neben all den genannten Vorteilen, jedoch auch Risiken. So wie im Fall des Amoklaufs von Winnenden - wie im Folgenden zu zeigen sein wird - auf mitunter erschreckende Weise eindrucksvoll geschehen. Auf jeweils einen absichtlich kurz gehaltenen Überblick über die „Hauptakteure“ in dieser Arbeit, den betrachteten Amoklauf selbst, die Rolle der Medien sowie die grundlegende Funktionsweise von Twitter, folgt eine nähere Auseinandersetzung mit den verschiedenen, an jenem Tag geschehenen „Fehltritten“, die - nachdem die erste Welle der Berichterstattung über die eigentliche Tat erst einmal abgeklungen war - ein fast ebenso lautes Echo über die erfolgte Berichterstattung selbst nach sich zog. Vor allem die „twitternden“ Journalisten sahen sich in diesem Zusammenhang heftiger Kritik ausgesetzt. Der Vorwurf: Es scheine, als hätten viele von ihnen beim Versuch, das neue Medium für sich zu erobern, die grundlegendsten und einfachsten ethischen Regeln und moralischen Standards in der Berichterstattung schlicht vergessen.
Die vorliegende Arbeit soll eine Übersicht über die wichtigsten Beobachtungen zu den Geschehnissen in Winnenden in Zusammenhang mit Twitter liefern, die sich anschließende, öffentliche Empörung nachvollziehbar machen und kann überdies hoffentlich einen ersten Beitrag zu einem Verständnis dieser neuen diskursiven Strukturen im Netz leisten, wie sie uns in Zukunft sicher noch vielfach beschäftigen werden.
2. Über die beteiligten „Akteure“
2.1 Der Amoklauf von Winnenden und die Medien
Der stark zusammengefassten Wiedergabe des Tatgeschehens vom 11. März 2009 aus der Einleitung zu dieser Arbeit sollen an dieser Stelle nicht mehr allzu viele Details hinzugefügt werden - denn die Tat selbst steht nicht im Zentrum der hier verfolgten Fragestellung. Dennoch wäre jede Hinführung zu dem Thema unvollständig ohne zunächst zumindest einen Überblick über das Geschehen zu vermitteln.
Auf Grundlage der breiten Berichterstattung lässt sich der Amoklauf von Winnenden wie folgt in aller Kürze rekapitulieren: Der siebzehnjährige Tim K. stürmte an diesem Mittwochmorgen gegen 9:30 Uhr mit einem dunklen Tarnanzug bekleidet und einer Pistole in der Hand in die Albertville-Realschule des Ortes. Bei der Schusswaffe handelte es ich um eine Neun-Millimeter-Pistole, die der Junge zuvor vom Vater entwendet hatte und mit der in der Folge offenbar durch bewusst vorgenommene, gezielte Kopfschüsse insgesamt acht Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen tötete. Seine ersten fünf Opfer soll er dabei in einem Klassenraum im ersten Obergeschoss des Schulgebäudes gefunden haben; die letzten beiden Menschen, die der Täter hier erschoss, waren zwei Lehrerinnen, die er vermutlich schon auf der Flucht vor der sehr schnell alarmierten Polizei auf dem Flur antraf. Sieben weitere Schülerinnen wurden schwer verletzt, schwebten jedoch nicht in Lebensgefahr. Alle jungen Opfer besuchten die neunte oder zehnte Jahrgangsstufe und waren um die 15 bzw. 16 Jahre alt. Der blutige Amoklauf des Tim K. war mit dessen Flucht vom Schulgelände jedoch noch nicht beendet. Vor einer psychiatrischen Einrichtung erschoss er einen Passanten und zwang anschließend den Fahrer eines VW Sharan, ihn auf seiner Fahrt mitzunehmen. Auf Höhe der 30 Kilometer von Winnenden entfernten Ortschaft Wendlingen flüchtete er schließlich weiter zu Fuß. In einem nicht weit von der Autobahn entfernten Industriegebiet tötete der Amokschütze in einem Autohaus zuletzt einen Verkäufer sowie dessen Kunde, bevor er sich wiederum einen Schusswechsel mit der eintreffenden Polizei lieferte. Tim K. wurde dabei nach Angaben der Polizei im Bein getroffen und später tot aufgefunden. Augenzeugen gaben an, dass er sich durch einen letzten Schuss in den Kopf selbst getötet haben soll.
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1 Bei den aufgrund der Eigentümlichkeit des bearbeiteten Themas in dieser Arbeit häufig verwendeten Formen von „grauer Literatur“ ergibt sich die Schwierigkeit, dass oftmals kein Autor bzw. Verfasser auszumachen ist oder - etwa bei Handreichungen oder elektronischen Ressourcen der Fall - die Seiten häufig nicht nummeriert sind. In diesen Fällen ist als Urheber das jeweilige journalistische Organ bzw. die publizierende Institution genannt bzw. das Fehlen von Seitenzahlen mit „o.S.“ kenntlich gemacht.