Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Theorie
2. Forschungsstand
3. Aufbau der Studie
4. Europäisierung trotz nationaler Filterprozesse
4.1 Sichtbarkeit
4.2 Interaktionsstrukturen
4.3 Disputkonstellationen
5. Fazit und Kritik
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
Gegen 24 Staaten der Europäischen Union laufen Defizitverfahren, weil das Minus in ihren Staatshaushältern dieses Jahr drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts überschreitet. Zur Erinnerung: die EU besteht aus 27 Staaten. Als eines der wenigen Vorbilder fungiert derzeit Estland. Der Balkanstaat soll schon bald der europäischen Währungsgemeinschaft beitreten.
Dass ein Staat wie Estland überhaupt Mitglied in der EU ist, war Anfang dieses Jahrtausends alles andere als selbstverständlich. Ohnehin ist dieses gemeinsame Europa - mit seinen vielen Institutionen, Richtlinien und Kompetenzen - ein schwer greifbares Novum für viele Bürger. Dass aber nicht nur die Politik und die Wirtschaft zunehmend von der Union vereinnahmt werden, wird immer klarer. Und so macht die Europäisierung - wie sich dieser Prozess nennt - freilich auch keinen Halt vor den Medien. Doch wie genau vollzieht sich dies? Was geschieht mit der Tageszeitung, welche Themen werden gesetzt und welche Akteure finden darin Platz? Und vor allem, wie wird die Europäische Union dargestellt? Bleibt überhaupt Raum für Diskussionen, wird alles nur zerredet oder gar alles schön gefärbt?
Auf diese und weitere Fragen gibt Silke Adam in ihrer Dissertationsschrift „Symbolische Netzwerke in Europa: der Einfluss der nationalen Ebene auf europäische Öffentlichkeit“ eine Antwort, indem sie die Debatten um eine europäische Verfassung und die mögliche Osterweiterung in Deutschland und Frankreich vergleicht.
Durch die Ergebnisse von anderen Studien ist bereits bekannt, dass Europäisierung enorm vom nationalen Kontext abhängt. Umso mehr untersucht die vorliegende Arbeit deshalb, wie die nationalstaatliche Ebene Einfluss auf die Konstitution einer europäischen Öffentlichkeit ausübt. Sie setzt sich daher dezidiert mit dem Aspekt „Europäisierung trotz nationaler Filterprozesse“ der Studie auseinandersetzen und gibt dazu einen Einblick in den derzeitigen Stand der Forschung. Anschließend wird der Aufbau der Studie von Adam beschrieben und deren Ergebnisse ausgewertet, um dann mit einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen und dem gesamten Konzept abzuschließen. Im folgenden Kapitel möchte ich zu Beginn aber erst einmal die theoretischen Grundlagen legen.
1. Theorie
Die Studie von Silke Adam bewegt sich im breiten Forschungsfeld der Europäischen Öffentlichkeit. Trotzdem verzichtet Adam auf eine Definition des bloßen Öffentlichkeitsbegriffs. Lingenberg definiert, unter Zurückgreifen auf Definitionsversuche von Habermas, Westerbarkey und Andere, Öffentlichkeit als „einen kommunikativen Raum beziehungsweise eine Vermittlungsinstanz für die Zirkulation von Ideen und Argumenten sowie für die Aushandlung von Interessen zwischen politischen Entscheidungsträgern und Zivilgesellschaft“ (Lingenberg 2010: 29).
Eine europäische Öffentlichkeit kann - allein schon wegen der riesigen Fläche Europas - nicht in Form einer Präsenzöffentlichkeit stattfinden, sondern wird in erster Linie massenmedial vermittelt.
In diesem Rahmen haben sich zwei Theorien ergeben, die den Weg zu einer europäischen Öffentlichkeit skizzieren. Die Idee der länderübergreifenden (supranationalen) europäischen Öffentlichkeit lehnt Adam, zumindest mittelfristig, wegen der Sprachbarrieren des Publikums und der (politischen) Sprecher, aber auch wegen eines rudimentär ausgebildeten pan-europäischen Mediensystems sowie der Tatsache, dass sich Politiker im Prinzip nur national legitimieren müssen, ab (vgl. Adam 2007: 25ff.).
Viel eher findet eine Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten statt. Diese baut grundsätzlich auf den nationalen Medienarenen auf. Das Zitat „patch-work of Europeanized national spheres“ (de Beus/Mak 2001: 354, zit. nach Lingenberg 2010: 105) bezeichnet das Modell recht anschaulich: nationale Debatten werden als europäisiert angesehen, wenn sie ihre kommunikativen Räume für Themen und Akteure aus der EU und deren Mitgliedsstaaten öffnen (Pfetsch et al. 2008: 467).
Das Modell wurde allerdings stark kritisiert, weil beispielsweise kein sinnvoller Maßstab geliefert werden kann, nach dem ein Europäisierungsgrad bewertet werden könnte. Ab welchem Niveau kann man also von einer europäisierten Debatte sprechen? Ferner wurde bezweifelt, ob eine völlig Loslösung der nationalen Debatten von nationalen Akteuren überhaupt notwendig ist, wenn ein Problem doch erst dann zu einem europäischen Thema wird, weil z.B. die Spanier anders darüber denken als die Franzosen (vgl. Kantner 2004: 18; zit. nach Lingenberg 2010: 108). Außerdem bliebe so ungeklärt, ob und wie die Debatten über die Ländergrenzen hinweg synchron verlaufen. Synchronität würde den Rezipienten ermöglichen, sich in ihrem eigenen Sprach- und Kulturkreis mit europäischen Debatten auseinandersetzen können, um so zum europäischen Diskurs beizutragen.
Letzteres wird aber im Ansatz der Netzwerk themen- und ereigniszentrierten Teilöffentlichkeiten aufgegriffen. Dieser ist bereits ein Produkt der empirischen Forschung (siehe Forschungsstand), durch die ersichtlich wurde, dass die Vernetzung in der Berichterstattung von Themen und Ereignissen abhängt. Synchrone Debatten finden vor allem während Konflikten oder großen Ereignissen - so genannten Medienevents - statt. „Man kann von einer ,kommunikativen Kurzzeitverdichtungʻ sprechen, die blitzlichtartig die ansonsten auf niedrigerem Niveau bestehende europäische Öffentlichkeit zusätzlich stimuliert“ (Brüggemann et al. 2009: 405). Ferner werden Themen, die klare Kompetenzen der EU beinhalten, deutlich stärker in einem europäischen Kontext beachtet, als Bereiche, in denen die nationale Politik deutlich bestimmend ist (Koopmans/Erbe 2003). Adam kennzeichnet zwei zentrale Dimensionen (vgl. Meyer 2002; Tobler 2002; van de Steeg 2002; zit. nach Adam 2007: 28) der Netzwerk themen- und ereigniszentrierten Teilöffentlichkeiten: die Synchronität und die kommunikative Vernetzung. Transnationale Synchronität ist gegeben, wenn dieselben Debatten zur gleichen Zeit unter vergleichbaren bzw. ähnlichen Gesichtspunkten in den nationalen Öffentlichkeiten debattiert werden. Kommunikative Vernetzung beschreibt den Bezug auf Akteure aus der Europäischen Union, deren Organisationen und Mitgliedsstaaten, sowie die Themen-Agenda, um festzustellen ob die „Kommunikationskreisläufe der nationalen Arenen füreinander geöffnet werden“ (Habermas 2001: 120; zit. nach Adam 2007: 28). Adam möchte die kommunikative Vernetzung als dreidimensionales Gebilde verstanden wissen (2007: 29ff.). Eingeteilt zuerst in das bloße Sichtbar sein (später auch Sichtbar keit genannt) europäischer und mitgliedsstaalicher Themen und Akteure. Zweitens in deren Interaktionen, die - nach dem systematischen Ansatz von Koopmans und Erbe (2004; zit. nach Pfetsch et al. 2008: 468) - supranational (wenn europäische Akteure miteinander interagieren), vertikal (europäische Akteure sind mit nationalstaatlichen oder mitgliedsstaatlichen Akteuren grenzüberschreitend vernetzt) oder horizontal (nur innerhalb der Mitgliedsstaaten) - verlaufen. Von Europäisierung lässt sich aber erst dann sprechen, wenn tatsächlich grenzüberschreitende Interaktionen zustande kommen (vgl. Koopmans/ Erbe 2003).
[...]