Heinrich von Kleist, „Der zerbrochene Krug“ - Der Richter als Angeklagter


Seminararbeit, 2006

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der Richter als Angeklagter
1.1. Die Handlungsstruktur im Drama
1.2. Der Wahrheitsbegriff Kleists im Vergleich zu dem Nietzsches
1. 3. Die Willkür Adams und Hobbes‘ – ein philosophischer Vergleich

2. Die Sprachgestaltung
2.1. Ein Vergleich mit „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“
2.2. Die Art der Sprache im „Zerbrochenen Krug“, im Besonderen die Adams
2.3. Eine Anknüpfung an Nietzsches Sprachkritik

3. Fazit

4. Literaturverzeichnis

Einleitung

In meiner Hausarbeit beschäftige ich mich mit dem Drama „Der zerbrochene Krug“ von Heinrich von Kleist. Dabei gehe ich im Besonderen auf die Figur des Dorfrichters Adam ein. Nach einer kurzen Darlegung der Adam-Handlung werde ich mich im ersten Teil meiner Arbeit mit den philosophischen Problemen, die Adams Persönlichkeit aufwirft, auseinandersetzen. Darunter fällt ein Vergleich von Kleists Wahrheitsbegriff mit dem Nietzsches. Der Anlass dieses Vergleichs mag zunächst unklar erscheinen, da beide weder Zeitgenossen sind noch Nietzsche als ein besonderer Rezipient Kleists gilt, wird in meinen Ausführungen aber genauer erläutert. Weiterhin philosophisch orientiert werde ich mich mit dem Begriff der Willkür in Hinblick auf Adams Handeln beschäftigen und diesen dem Vergleich mit Hobbes‘ Philosophie unterziehen.

Im zweiten Teil meiner Arbeit beschäftige ich mich mit der Sprachgestaltung des Dramas, mit einem besonderen Hinblick auf die Äußerungen Adams. Nahe liegend erscheint mir da zunächst der Vergleich mit Kleists 1805 entstandenen Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, da er in sehr vielen Punkten mit Adams Verhalten übereinstimmt. Des Weiteren setze ich mich im allgemeinen mit der Art der Sprache im Drama auseinander, um dann im Speziellen auf den Dorfrichter einzugehen, zu dessen Besonderheiten unter anderem seine schroffe Emotionalität und seine Selbstgespräche zählen. Abschließend vergleiche ich die Philosophie Nietzsches mit den Äußerungen Adams, dieses Mal aber hinsichtlich der Spachkritik und stelle Gemeinsamkeiten heraus.

1. Der Richter als Angeklagter

1.1. Die Handlungsstruktur im Drama

In Heinrich von Kleists Lustspiel „Der zerbrochene Krug“ geht es um einen Rechtsfall: ein Krug wurde zerbrochen. Nun soll der von der Krugbesitzerin Marthe Rull beschuldigte Ruprecht Tümpel, der des Nachts in die Kammer ihrer Tochter und seiner Verlobten Eve geschlichen sei und beim überstürzten Aufbruch den Krug herunter geworden haben soll, seine gerechte Strafe erhalten. Die Konstellation der Parteien scheint einfach: eine Klägerin, ein Beschuldigter, die Zeugen der beiden, ein Richter, ein Gerichtsschreiber, eine höhere Instanz – ein Gerichtsrat – und die omnipräsente Frage: „Ei, wer zerbrach den Krug?“[1]

Doch so einfach, wie der Fall auf den ersten Blick scheint, ist er nicht: Richter Adam ist selbst in den Rechtsstreit verwickelt und ist gezwungen, gegen sich zu Gericht zu sitzen. In Kleists Drama herrschen von Beginn an vertauschte Rollen: der gesuchte Krugzerbrecher ist der ermittelnde Dorfrichter selbst, der Angeklagte wird zu Unrecht beschuldigt und der Gerichtsrat Walter tritt als höhere Instanz an Adams Stelle. Adam wird sich dieses Tatbestandes bald bewusst und versucht nun Hals über Kopf sich ‚aus der Schlinge zu reden‘. Im folgenden Handlungsverlauf des Prozesses, sogar schon im ersten Auftritt, bemüht sich der Richter nicht etwa darum den Tathergang und die Wahrheit zu ermitteln, sondern ein Vergehen durch plausible Erklärungen zu vertuschen und später taktisch die Ermittlung in eine andere Richtung zu wenden (vgl. V. 944ff.). Auf diese Weise rückt der Prozess ins Absurde und man beginnt sich zu fragen, worin der Sinn dieses Verfahrens liegt.

Wie bereits erwähnt, zeigt sich diese Wahrheitverschleierung schon früh im ersten Auftritt, am Morgen nach dem Vorfall, in der Gerichtsstube. Adam weist deutliche Verletzungen auf, auf die Gerichtsschreiber Licht ihn anspricht. Bereits im dritten Vers des Lustspiels ist Adam gezwungen, sich eine spontane, doch glaubwürdige Geschichte auszudenken, die allerdings, besonders in Anbetracht Lichts rhetorischer Gewandtheit, so haarsträubend erscheint wie sie tatsächlich ist. Die spöttische Anspielung Lichts auf Adams ‚Ältervater‘ und dessen Sündenfall als auch auf den linken Klumpfuß, der für gewöhnlich mit dem Teufel in Verbindung gebracht wird, stellen Adams Glaubwürdigkeit in Frage und zeigen gleichzeitig Lichts sprachliche Überlegenheit auf. Es ist ein regelrechtes rhetorisches Duell, das sich beide liefern, und Adam geht dabei aufs Glatteis (bes. V1 bis V30).

Die Reden des Richters erscheinen von Anfang an zweifelhaft, während der Leser im weiteren Verlauf dieses analytischen Dramas den Fall zeitgleich mit den Figuren im Stück herleitet. Das Drama an sich besteht aus nur einem einzigen Akt, der in dreizehn Auftritte gegliedert ist. Dieses Dichte des 1803 bis 1807 entstandenen Lustspiels spiegelt den Fluss des Prozesses wieder. Haben die ersten fünf Auftritte noch eher expositorischen und retardierenden Charakter, stetzt die Prozesshandlung im siebten Auftritt mit Marthe Rull völlig ein. Immer wieder versucht Adam, die Vernehmung zu verzögern und zu umgehen. Er bemüht sich sogar, Licht den Vorsitz zu überlassen (V. 513), Eve zu beeinflussen (V. 508) und später ihre Aussage durch die Berufung auf ein bestimmtes Gesetz zu verhindern (V. 1055), was der Gerichtsrat jedoch als unpassend zurückweist. Doch Adam gibt nicht auf und versucht, dem durch das merkwürdige Verhalten des Richters irritierten Walter einen Vergleich vorzuschlagen (V. 1073), was misslingt. Schließlich schüchtert er Eve ein, indem er sie zur vermeintlichen Wahrheit ermahnt und ihr regelrecht droht, sollte sie einen anderen als Ruprecht oder Leberecht nennen (V. 1110). Mit tragischer Ironie begrüßt der Richter die Vernehmung einer weiteren Zeugin, Frau Brigitte (V. 1346), in der Hoffnung, sie könne ihn entlasten. Allerdings ist Frau Brigitte genau die, die durch ihre Aussage den Richter schwer belastet. Im weiteren Verlauf greift Adam gerne die Überlegung auf, der Teufel könnte es gewesen sein (V. 1742). Dass er damit nicht weit kommt und den Gerichtsrat nur zusehends verärgert und letztendlich auf seine eigene Spur führt, ist unausweichlich. Nachdem Adam sich in Widersprüche verstrickt hat – das Beweisstück der Perücke gehört zunächst ihm und später im Ernstfall doch wieder nicht (V. 1635 und V. 1861) – ist sowohl Licht als auch Walter klar, dass der Richter der wahre Angeklagte und letztlich auch der Schuldige ist. Mit Eves später Aussage wird seine Schuld besiegelt.[2]

1.2. Der Wahrheitsbegriff Kleists im Vergleich zu dem Nietzsches

Adam.

Gib Gott, hörst du, Herzchen, gib, mein Seel,

Ihm und der Welt, gib ihm was von der Wahrheit. (V. 1099)

Für Friedrich Nietzsche gibt es in seinem Essay „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ keinen Begriff der absoluten Wahrheit. Wahrheit ist für ihn etwas rein Subjektives und Menschliches; etwas, das die Menschen für ein einfacheres Zusammenleben erfunden haben. Wahrheit sei mit der Entstehnung der Sprache festgelegt, und zwar als die Dinge ihre Namen bekamen. Wahrheit wäre damals dann vorhanden gewesen, wenn Ding und Bezeichnung zusammenpassten. War das nicht der Fall, log der Mensch. Doch das hieß nicht gleichzeitig, dass die Wahrheit immer unbedingt erwünscht war: hing sie mit etwas Unangenehmem und Zerstörerischen zusammen, scheuten die Menschen sie und waren ihr feindlich gestimmt.

Weiterhin ist Nietzsche der Meinung, dass die Sprache eigentlich nicht in der Lage ist, Wahrheit über die Welt zu vermitteln, da die Wahrheit von Menschen erschaffen worden sei. Alles, was sie wahrnehmen, seien subjektive Nervenreize, die sie mit Hilfe von Metaphern in Bilder und dann in Laute übertrügen. Die Sprache bezeichne nur die Welt in Relation zum Menschen. Wahrheit sei eine Summe von menschlichen Relationen, die übertragen und geschmückt würden und nach langem Gebrauch einem Volk fest, kaninisch und verbindlich erschienen. Wahrheit sei demnach eine Verpflichtung der Menschen, die sie erfüllen müssen, wenn sie in einer Gesellschaft existieren wollen. Doch dass es nicht die Wahrheit ‚an sich‘ ist, sondern eine von ihnen erschaffene, durch ihren Blick und ihre Individualität getrübte Abziehfolie, sei den Menschen nicht klar – sie lögen unbewusst. Die Menschen seien erpicht darauf, die Welt zu verstehen, doch täten sie das zwangsläufig nur durch sich selbst: sie ordneten die von ihnen erschaffenen Begriffe in ein System von „Kasten und Graden“[3] ein. Eigentlich wolle der Mensch die Welt dadurch nur als ein menschenartiges Ding verstehen und nicht als etwas, das ‚an sich‘ existiere, wirklich und allgemeingültig, ohne jegliche Relation zu ihm. Er trüge selbst Eigenschaften an die Natur heran – Zahlen und Begriffe – und versuche sie dort einzuordnen; so täte es zum Beispiel die Wissenschaft, die demnach ebenfalls keinen Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit habe. Außerdem habe auch jedes Individuum seine eigene Wahrheit, da jeder eine subjektive Wahrnehmung besäße, verschiedene Stimmungen, Reize und Affekte, die alle dort hineinwirkten. Gleichzeitig fragt Nietzsche sich aber, ob es überhaupt möglich sei, einen adäquaten Ausdruck des Objekts im Subjekt zu erreichen, gäbe es doch zwischen diesen zwei Sphären keine Kausalität oder Richtigkeit, sondern lediglich eine „nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache“[4].

Laut Nietzsche hat der Mensch also keinen Zugang zur ‚Wahrheit an sich‘, sondern bloß sein persönliches Wahrheitsempfinden. Da der Rechtsbegriff aber intersubjektiv angewandt werden muss, bedarf der Mensch eines Richters, der über Recht und Unrecht entscheidet. Im konkreten Fall des Dorfes Huisum in Kleists Drama bedeutet dies, dass Richter dms Wort allein über Recht und Unrecht, also Wahrheit und Lüge entscheidet. Seine Macht missbraucht Adam für persönliche Belange, wie in diesem oben beschriebenen Rechtsstreit deutlich wird. So zeigt sich sein unehrlicher Charakter bereits in der Vorgeschichte, in der er Eve mit einer gezielten Lüge erpresst: Er fälscht einen Brief und behauptet, dass die Milizsoldaten in den Kriegsdienst nach Indien einberufen werden. Da er weiß, dass Ruprecht eingezogen werden soll, kann er mit Eves Angst um ihren Verlobten rechnen. Um seine sexuellen Absichten bei Eve durchzusetzen, schlägt er ihr vor, in seinem Namen ein Attest aufzusetzen, um Ruprecht vom Kriegsdienst zu befreien. So fädelt er es sein, dass er nachts im Geheimen in ihre Kammer kommen kann, unter dem Vorwand, Rup­rechts Namen in das Attest einzusetzen.

Weitere Beispiele seines Machtmissbrauches finden sich im Umgang mit seinen Mägden, die vor Licht seine Glaubwürdigkeit in Frage stellen (V. 231ff.). Außerdem setzt Adam im Laufe der gesamten Verhandlung seine Autorität willkürlich nach seinen Launen ein. Beispielsweise beschimpft er Ruprecht am laufenden Band (V. 783ff., 865ff., 917) und versucht ihm ein Geständnis abzuzwingen (V. 850), wofür Walter ihn immer wieder rügt. Im Gegensatz dazu ändert sich sein Ton gegenüber Ruprecht aber radikal, als dieser zu Adams Vorteil einen wei­teren Verdächtigen ins Spiel bringt: Der „Klugschwätzer“ wird plötzlich zu einem „Blitzjun­gen“ (V. 917, V. 969). Gleichermaßen spricht er Eve mit „Herzchen“ (V. 1098) an, als er sie zu überreden versucht, keinen weiteren Verdächtigen neben Ruprecht und Leberecht zu nennen. Ebenso heuchlerisch, wenn nicht sogar unterwürfig, verhält er sich dem Gerichtsrat Walter gegenüber (V. 286), der nun in diesem Prozess die sonst fehlende Kontrollinstanz darstellt. Er hebt die sonst unangefochtene Machtposition des Dorfrichters aus. Im Verlauf des Prozes­ses verliert Adam seine Doppelrolle als Richter/Angeklagter. Er wird vor Walter ein gewöhn­licher Angeklagter, auch wenn er versucht seine Richterrolle aufrecht zu erhalten. Als am Ende des Dramas Adams gesamter Machtvorteil zu Nichte ist, steht er mit den restlichen Dorfbewohnern auf gleicher Stufe. Daher kann sich Ruprecht trauen, Adam physisch zu be­drohen, worauf dieser sein Heil in der Flucht sucht. Nachdem Adams richterliche Machtposi­tion ausgehebelt wurde, steht er nur noch als der schlechte Mensch da, der er ist. Genoss er dank seiner Macht vorher noch Immunität und konnte seinen arglistigen Charakter nach Be­lieben ausleben, widerfährt ihm nun Gerechtigkeit.

[...]


[1] Kleist, Sämtliche Werke und Briefe. „Der Zerbrochene Krug“, (S. 195), V. 506 (alle folgenden Zitate Heinrich von Kleists sind in dieser Ausgabe zu finden).

[2] Vgl. Sowinski, Heinrich von Kleist – Oldenbourg Interpretationen, S. 9.

[3] Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, S. 17.

[4] Ebd., S. 20.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Heinrich von Kleist, „Der zerbrochene Krug“ - Der Richter als Angeklagter
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar "Heinrich von Kleist"
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
17
Katalognummer
V168428
ISBN (eBook)
9783640854264
ISBN (Buch)
9783640854325
Dateigröße
508 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
heinrich, kleist, krug“, richter, angeklagter, hobbes, nietzsche, philosophisch, philosophischer Vergleich, Wahrheit, philosophie
Arbeit zitieren
K. Rempel (Autor:in), 2006, Heinrich von Kleist, „Der zerbrochene Krug“ - Der Richter als Angeklagter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168428

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