Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund unter der besonderen Berücksichtigung der Erstsprache

Eine qualitative Untersuchung


Magisterarbeit, 2010

119 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Zur Situation von Kindern mit Migrationshintergrund in Deutschland
1.1. Sprachgebrauch und Spracherhalt
1.2. Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem
1.3. Zur Rolle und Situation der vorschulischen Bildungsinstitutionen

2. Mehrsprachigkeit als Forschungsgegenstand
2.1. Zur Rolle der Erstsprache
2.2. Mehrsprachigkeit: Hurde oder erstrebenswertes Ziel?
2.3. Mehrsprachigkeit und damit zusammenhangende Begriffe
2.3.1. Versuch einer Definition des Begriffs Mehrsprachigkeit
2.3.2. Anthropogene Einflussfaktoren
2.3.3. Soziogene Einflussfaktoren
2.3.4. Semilingualismus
2.3.5. Sprachmischungen: Code-Mixingund Code-Switching
2.4. Exkurs: Entwicklung der Sichtweise aufMehrsprachigkeit den letzten Jahrzehnten
2.5. Aktuelle Diskussionen: Streitfall Mehrsprachigkeit

3. Sprachforderung unter besonderer Berucksichtigung der Erstsprache und der Elternbildung- Das Rucksack-Projekt
3.1. Sprachliche Situation bei Eintritt in den Kindergarten
3.2. Das Rucksack-Projekt
3.2.1. Ursprung
3.2.2. Konzept
3.2.3. Zielsetzung
3.3. Vergleich zweier Ansatze: Rucksack-Projekt und Denkendorfer-Modell
3.4. Das Stadtteilmutter-Projekt in Augsburg
3.4.1. Ausgangslag e
3.4.2. Entstehung und Entwicklung
3.5. Ausblick auf das Forschungsvorhaben

4. Empirischer Teil: Qualitative Untersuchung
4.1. Forschungsfragen
4.2. Forschungsmethodik
4.2.1. Vorstudie mit Fragebogen
4.2.1.1. Fragebogen-Studie unter Erzieherinnen
4.2.1.2. Fragebogen-Studie unter Stadtteilmutter
4.2.2. Haupterhebung mit Leitfaden-Interviews
4.2.2.1. Das episodische Interview
4.2.2.2. Interviewpartner
4.2.2.3. Durchfuhrung
4.2.2.4. Transkription
4.2.2.5. Auswertung
4.3. Darstellung der Ergebnisse
4.3.1. Ergebnisse der Vorstudien
4.3.1.1. Stadtteilmutter
4.3.1.2. Erzieherinnen
4.3.2. Ergebnisse der Interviews
4.3.2.1. Erzieherinnen
4.4.2.2. Stadtteilmutter
4.4.2.3. Mutter
4.4. Analyse und Diskussion der Ergebnisse

5. Ausblick

6. Literatur.

Einleitung

Mehr als jeder funfte Heranwachsende in Deutschland stammt aus einer Familie mit Migrationshintergrund. Neueinwanderungen kommen stetig hinzu. Diese demografischen Entwicklungen haben zur Folge, dass immer mehr Kinder in einem realen mehrsprachigen Kontext aufwachsen (vgl.Winter-Heider 2009:13). Die Situation von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem deutet jedoch auf alarmierende Verhaltnisse hin. Die hohe Quote der Uberweisungen an die Sonderschule, der enorme Anteil der Kinder an Hauptschulen sowie die Tatsache, dass viele Jugendliche ihre Schullaufbahn ohne jeglichen qualifizierenden Abschluss beenden, belegen, dass die erhoffte Angleichung der schulischen Bildung fur viele, meist sogar bereits hier geborenen Migrantenkinder, sich nicht vollzogen hat. Erklarungen fur das Scheitern dieser Kinder werden insbesondere auf ihre defizitaren Sprachkenntnisse in der deutschen Sprache zuruckgefuhrt, die in starker Konkurrenz zur Erstsprache der Kinder steht (vgl.Jampert 2002:9). Daraus resultiert, dass die vermeintlich sonst wertvolle und erwunschte Mehrsprachigkeit als Defizit und Bedrohung fur ihre gesamte Entwicklung angesehen wird, obwohl mittlerweile in der Fachwelt als allgemein akzeptiert gilt, dass Mehrsprachigkeit keine negativen Konsequenzen fur ihren Besitzer hat, sondern ihm bezuglich seiner kognitiven Entwicklung sogar Vorteile einbringen kann (vgl.Winter-Heider 2009:15). Der Umgang mit dieser Angelegenheit stellt sichjedoch immer noch als Brennpunktthema sowohl fur die Wissenschaft, die Bildungspolitik wie auch fur die padagogische Praxis dar. Noch vor zwanzig Jahren wurde angenommen, die effektivste Moglichkeit den Spracherwerb der Kinder zu fordern sei, sie einem moglichst fruhen Sprachbad auszusetzen, so dass sie die deutsche Sprache unter Submersionsbedingungen erlernten. Ihre Erstsprachen wurden dabei weitest moglich ignoriert. Eine Anderung des Blickpunkts wurde vor allem mit den Forschungsergebnissen des kanadischen Sprachforschers Jim Cummins eingeleitet, der die Erstsprache zur Wegbereiterin der Zweitsprache erklarte. Dies hatte zur Folge, dass die Ausgrenzung der Erstsprachen der Kinder nicht nur unter spracherwerbstheoretischen, sondern auch unter psychologischen und intellektuellen Gesichtspunkten gepruft wurde und man letztlich konstatierte, dass die Erstsprache in allen Bereichen von aufierst relevanter Bedeutung fur die allgemeine kindliche Entwicklung war. Trotz der bestehenden Erkenntnislage wurden bisher aber nur wenige, dieser Richtung entsprechende Leitideen in die Praxis umgesetzt (vgl.Jampert 2002:10). Vielmehr gestaltet sich die Landschaft der Sprachforderprogramme in Deutschland im Elementarbereich als unuberschaubar und uneinheitlich. Es mangelt an Konzepten, die den Fachkraften einen Umgang mit mehrsprachigen Kindern vermitteln, in dem eine Forderung ihrer deutschsprachigen Fahigkeiten ermoglicht wird, die aber zugleich nicht ihre Multikulturalitat ignorieren ( vgl. Jampert 2007:11). Zu diesem Zweck mochte ich in meiner Arbeit das Konzept eines Sprachforderprojekts vorstellen, das sich seit einigen Jahren erfolgreich in vielen Stadten Deutschlands etabliert hat und einen Ansatz verfolgt, der versucht den oben beschriebenen Anspruchen gerecht zu werden: Das Stadtteilmutter-Projekt der Stadt Augsburg. Die Besonderheit des Konzepts liegt bei der Berucksichtigung der Erstsprachen, die als Fundament des Zweitspracherwerbs angesehen und in koordinierter Form parallel zum Deutschen gefordert werden sowie in einer starken Einbindung der Familien in die Lernprozesse. Die Zielstellung dieser Arbeit liegt daher bei der Erforschung der sprachlichen und sozialen Auswirkungen des Projektansatzes bei den Aktanten, insbesondere vor dem Hintergrund der bedeutsamen Rolle, die der Erstsprache in diesem Ansatz eingeraumt wird. Um allerdings die hier interessierenden Prozesse ergrunden zu konnen, muss eine Auseinandersetzung mit weiteren Einflussfaktoren erfolgen, die in einem Beziehungsgeflecht mit den Auswirkungen des Projektkonzepts stehen: Welche Motive zur Teilnahme stehen bei den Beteiligten im Vordergrund? Welche Bedeutung messen die am Projekt beteiligten Mutter der Erstsprache bei? Wie wird das Projekt in der Praxis umgesetzt und welche forderlichen und hinderlichen Faktoren bezuglich der Zusammenarbeit erkennen die einzelnen Aktanten? Unter Aktanten werden jedoch nicht nur die am Projekt teilnehmenden Mutter verstanden, sondern ebenso die Erzieherinnen, welche das Programm in der Erziehungsstatte mit den Kindern umsetzen sowie die Stadtteilmutter, die sich als Bindeglied zwischen Eltern und Familie positionieren.

Zur Untersuchung dieser Angelegenheiten wurden qualitative Interviews als Erhebungsmethode angewandt, da auf deren Basis die subjektive Meinung der Beteiligten in ihrer Komplexitat am besten erfasst werden kann. Es handelt sich dementsprechend nicht um eine representative Untersuchung, deren Ergebnisse einen allgemeingultigen Charakter haben sollen, sondern um individuelle Ansichten und Standpunkte der teilhabenden Personen, mit Hilfe derer ein besseres Verstandnis der sozialen Wirklichkeit ermoglicht werden kann. Im Folgenden soll kurz das gesamte Konzept der Arbeit vorgestellt werden:

Der breit angelegte theoretische Teil soll im Sinne einer Hinfuhrung an die Thematik zunachst naher auf die problematische Situation von Migrantenkinder in deutschen Bildungsinstitutionen eingehen und potentielle Erklarungsmodelle fur das Scheitern der Kinder im Bildungssystem vorlegen sowie die Bedeutung von Sprachforderprogammen im Allgemeinen darstellen. Anschliefiend wird das Gebiet der Mehrsprachigkeitsforschung betreten, in dem - nach einer kurzen Einfuhrung in die grundlegende Terminologie- die Entwicklung der Sichtweise in der Forschung uber die letzten Jahrzehnte skizziert wird. Um den Prozess wieder in der Gegenwart zu verankern, sollen darauf folgend die divergierenden Standpunkte bezuglich der Angelegenheit Mehrsprachigkeit dargestellt werden, die einen Einblick in die aktuellen Diskussionen des Fachgebiets erlauben. Im dritten Teil der Theorie werden die konzeptuellen Grundlagen des Stadtteilmutter-Projekts vorgestellt und die Besonderheiten des Ansatzes auch im Vergleich mit einem anderen Sprachforderprogramm herausgearbeitet.

Zu Beginn des anschliefienden empirischen Teils der Arbeit soll das Untersuchungsvorhaben eingehend dargestellt werden, indem die Forschungsfrage praziser formuliert und in kleinere Unterkategorien gegliedert wird. Ferner wird die Auswahl der Forschungsmethodik begrundet und der Forschungsprozess dokumentiert. Bei der darauf folgenden Darstellung der Ergebnisse wird zunachst auf eine Vorstudie eingegangen, die im Vorfeld mit Fragebogen durchgefuhrt wurde, um erste Eindrucke in die Strukturen des Projekts in der Praxis zu erhalten. Anschliefiend erfolgt die Presentation der Interviews, welche in drei Schwerpunktbereiche gegliedert ist, die sich nach den unterschiedlichen Personengruppen richten. Die Befunde werden zunachst getrennt voneinander in Kategoriensystemen dargestellt, um in der abschliefienden Analyse vor dem Hintergrund der Forschungsfragen miteinander in Beziehung gesetzt und diskutiert zu werden. Dabei sollen in Anbetracht der Studienbefunde Moglichkeiten wie auch Grenzen des Konzepts reflektiert und zum Ausklang der Arbeit Bilanz gezogen werden, welches Potential in einem derartigen Ansatzes steckt.

1. Zur Situation von Kindern mit Migrationshintergrund in Deutschland

1.1. Sprachgebrauch und Spracherhalt

Die Struktur der jungen Generation in Deutschland ist ebenso stark durch den Begriff der Migration und deren Auswirkungen gepragt, wie das Erscheinungsbild unserer gesamten Bevolkerung. Bestatigt wird dies auch vom Bundesamt fur Bildung und Forschung, welches in seinem nationalen Bildungsbericht 2008 mitteilt:

Junge Menschen mit Migrationshintergrund machen in einigen Regionen mehr als die Halfte ihrer Altersgruppe aus. In Westdeutschland haben rund 21% einen Migrationshintergrund, in Ostdeutschland 8%. Eine besondere Herausforderung fur das Bildungssystem besteht in der Tatsache, dass bei den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in einigen Regionen im Westen Deutschlands und in Berlin bis zu 50% undmehrbetragt. (Autorengruppe Bildungsberichterstattung2008: 11)

Den grofiten Teil der Personen mit Migrationshintergrund machen dabei in Deutschland die ehemaligen Gastarbeiter sowie deren Familiennachzugler aus. Hierbei handelt es sich mehrheitlich um Einwanderer aus der Turkei, die mit 25 Prozent die starkste Migrantengruppe in Deutschland reprasentieren, aber auch aus Italien, Griechenland, Spanien und dem ehemaligen Jugoslawien (vgl.Hans 2010:25ff). Mittlerweile ist jedoch das Zeitalter der Gastarbeiter und des vermeintlichen Dauerprovisoriums (Hoffmann-Nowotny 1996:121) vorbei. Insgesamt lasst sich von mittlerweile drei Generationen sprechen, die seit den 70er Jahren in Deutschland leben und bei denen auch nicht davon auszugehen ist, dass sie in ihre Ursprungskultur zuruckkehren. Diese Personengruppe stellt auch den grofiten Teil der Migranten dar, auf welcher in dieser Arbeit Bezug genommen wird.

Ein Modell der Sprachsoziologie zum Sprachgebrauch unter Migrationsbedingungen besagt, dass nur in der ersten eingewanderten Generation die Herkunftssprache gegenuber der neuen Sprache dominant ist, - bei allen nachfolgenden Generationen wurde sich die Landessprache immer starker durchsetzen, so dass spatestens in der vierten Generation die Herkunftssprache auch als Medium der Alltagskommunikation innerhalb des familiaren Umfeldes ganzlich verloren ginge (vgl.Appel/ Muysken 1987:38ff). Die anhaltenden Neueinwanderungen, die sozialraumliche Konzentration von Sprechergruppen, Organisationen wie Migranten- Communities sowie technisch erweitere Kommunikationsmoglichkeiten scheinen gegenwartig jedoch dazu beizutragen, dass der Kontakt zum Herkunftsland aufrecht erhalten wird und das traditionelle Modell seine Gultigkeit zunehmend verliert. Die Pflege der Herkunftskultur und das damit einhergehende neue Selbstbewusstsein der Migranten haben einen spracherhaltenden Effekt (vgl.Reich/Roth 2002:7ff). Untersuchungen von Reich zum familiaren Sprachgebrauch und Sprachstand bei Schulbeginn von turkischen Kindern zeichneten ein Bild, welches die Tendenz zur Sprachloyalitat bestatigt: Die Zahl der Schuler mit guten bis befriedigenden Ergebnissen im Turkischen war deutlich hoher als die Zahl der Kindern mit vergleichbarem Sprachstand im Deutschen -hier variierten die Resultate von sehr guten bis zu kaum vorhandenen Kenntnissen der deutschen Sprache. Reich erklart dies dadurch, dass die turkische Lebenswelt der Kinder als relativ homogen angesehen werden kann, wahrend ihre deutsche Lebenswelt sich eher zufallig zusammensetzt und daher unterschiedlichen Einfluss auf die Sprachentwicklung der Kinder hat (vgl.Reich 2006:227). Die offiziellen Statistiken der Bundesrepublik Deutschland sind nicht in der Lage konkrete Aussagen uber die innerhalb des Landes verwendeten Sprachen zu machen, dementsprechend kann der tatsachliche Gebrauch von Herkunftssprachen nur geschatzt werden: So deuten die Ergebnisse einer Reprasentativuntersuchung des Bundesministeriums fur Arbeit und Sozialordnung daraufhin, dass uber 90 Prozent der Auslander und Aussiedler ihre Herkunftssprache weiterhin gebrauchen (vgl.Mehrlander 1996:39ff). Die Studie liefert keinen Aufschluss daruber, in welchem Mafi die Sprachen verwendet werden, viele international Forschungsergebnisse bestatigten diesbezuglich aber, dass dieses Mafi bei unterschiedlichen Ethnien stark variiert. In Deutschland fehlen auch zu dieser Thematik aussagekraftige Untersuchungen, wie sie zum Beispiel in Schweden durchgefuhrt wurden. Diese dokumentierten, dass in griechischen und turkischen Familien der Wille zum Spracherhalt deutlich starker ausfallt, als es beispielsweise in norwegischen oder deutschen Familien der Fall ist, welche ihre Herkunftssprache relativ schnell aufgeben (vgl. Reich/Roth 2002:8). Zwar liegen keine konkreten Untersuchungen zu diesem Thema vor, so wie sich die gegenwartige Lage in Deutschland aber darstellt, kann vermutet werden, dass ahnliche Sprachverhaltensmuster auch hierzulande zu erwarten sind. Die Lebenswelt der meist hier geborenen Kinder -die im direkten Sinne keine eigene Migrationserfahrung mehr haben- ist nach wie vor von einer starken Multikulturalitat gepragt. Generationsubergreifend werden die Herkunftssprachen der Familie auch im Aufnahmeland weitervererbt, so dass die Mehrsprachigkeit der Kinder sich dementsprechend auch nicht durch eine verstarkte Forderung der deutschen Sprache auswachsen wird, sondern als dauerhafte Bildungsvoraussetzung erhalten bleibt.

1.2. Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem

Fakt ist, dass das Schulsystem in Deutschland sich in seiner gegenwartigen Form stark selektiv darstellt. Aufmerksam geworden ist man auf die vermeintlichen Defizite des deutschen Schulsystems, worunter -wie auch angemerkt werden muss- nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund zu leiden haben, insbesondere seit der ersten PISA-Studie im Jahr 2000, die dem bestehenden System zum Teil verheerende Ergebnisse attestierte. Neben der Erkenntnis, dass in kaum einem anderen europaischen Land die soziale Herkunft so eng mit dem Bildungserfolg verknupft ist und der Tatsache, dass das deutsche Bildungssystem im Vergleich mit Landern, die einen vergleichbaren Entwicklungsstand haben, nur mangelhaft abschnitt, wurde ersichtlich, wie problematisch sich neben der Schichtzugehorigkeit bei Migrantenkinder deren sprachliche Sozialisation erweist (vgl.Deutsches PISA-Konsortium 2001:351ff). Augenscheinlich ist unser Bildungssystem aber immer noch nicht in der Lage, der spezifischen Ausgangssituation von fast einem Viertel seiner Schuler gerecht zu werden und seine Struktur dem gesellschaftlichen Erscheinungsbild anzupassen, worin sich auch das schlechte Zusammenwirken von Bildungspolitik, Wissenschaft und Schulpraxis zeigt. Dies hat zur Folge, dass Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien aufgrund der starken Abhangigkeit von Sozialschicht und Schulerfolg besonders unter der ungleichen Verteilung der Bildungschancen zu leiden haben.

So zeigt sich seit Jahren, dass Schuler mit Migrationshintergrund, die zwei- oder mehrsprachig aufwachsen, statistisch gesehen weniger erfolgreich im Bildungssystem abschneiden als Schuler, deren Eltern beide deutscher Herkunft sind. Der geringere Bildungserfolg, von dem in diesem Zusammenhang oft die Rede ist, dokumentiert sich in Entwicklungen, die von mafigeblicher Konsequenz fur die ganze Schullaufbahn sind: Die Schuler werden zuruckgestellt, mussen Klassen wiederholen, werden uberdurchschnittlich haufig an Sonderschulen geschickt. Zudem reprasentieren Kinder und Jugendliche mit

Migrationshintergrund einen hohen Anteil der Besucher der Hauptschule, welche auf weniger qualifizierte Berufe ausgerichtet ist. Nicht selten kommt es allerdings auch vor, dass Schuler die Bildungsstatte ganzlich ohne Abschluss verlassen, was die Aussichten auf einen Ausbildungsplatz erheblich verringert. Ein Drittel der Migranten der zweiten und dritten Generation sind von diesen Entwicklungen betroffen (vgl. Diefenbach 2008:75, Esser 2001:48ff). An hoheren Schulen, wie vor allem dem Gymnasium, bricht die Anzahl der Lernenden mit Migrationshintergrund dagegen im Vergleich zu der Quote der Hauptschule ein. Im Jahr 2006 machten nur 9,6 Prozent der Schuler aus Einwandererfamilien Abitur, im Gegensatz zu 23,9 Prozent der Schuler aus deutschen Familien (vgl.Diefenbach 2008:76). Trotz der alarmierenden Situation und der offensichtlichen Tatsache, dass bisherige Mafinahmen kaum gefruchtet haben, wird auf die Mehrsprachigkeit der Kinder in deutschen Bildungseinrichtungen bisher keine angemessene Rucksicht genommen. Allemann-Ghionda weist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache hin, dass die Integrationsdebatte der letzten Jahre zu einer eindimensionalen Sichtweise gefuhrt hat, welche auch die Praxis in Bildungsinstitutionen beeinflusst: Finanzielle und strategische Mafinahmen seien grofitenteils zum Wohle der deutschen Sprache gedacht mit der Folge, dass die Herkunftssprache ganzlich auf der Strecke bleibt. Gerechtfertigt wird dieser Umstand durch Argumente, dass entweder keine Notwendigkeit dafur ersichtlich ware oder, dass es fur die kindliche Sprachentwicklung generell kontraproduktiv ware. Dahinter steckt oft die Annahme, dass ein Kind gar nicht in der Lage sei, zwei Sprachen zu erlernen, da dies seine geistigen Kapazitaten uberfordern wurde (vgl. Allemann Ghionda 2008:25). Ergebnisse der aktuellen Mehrsprachigkeitsforschung belegen diese Ansicht jedoch nicht. Auf diese Thematik wird allerdings im nachsten Kapitel der Arbeit naher eingegangen, weshalb dieser Aspekt hier nicht ausfuhrlicher dargestellt wird.

Mogliche Ursachen fur das Versagen der Kinder im Schulsystem Mittlerweile sind einige Hypothesen daruber aufgestellt worden, weshalb die Bildungskarriere bei Kindern mit Migrationshintergrund sich als so problembeladener Weg fur viele Beteiligte darstellt und aus welchen Grunden sich teilweise Unterschiede bei ethnischen Gruppen abzeichnen (vgl. Esser 2001:55ff). Darunter fallen Faktoren wie die Umstande der Migration sowie die geographische Distanz zum Heimatort, aber auch die Auspragung der Ruckkehrbereitschaft und der Wille zur Integration. Eine weitere entscheidende Rolle spielt die individuelle Ausgangslage der Eltern. Dabei ist zunachst ihr eigenes Bildungsniveau und deren Kompetenz in Familien- und Zweitsprache ausschlaggebend, ebenso wie ihre Vorstellungen bezuglich des Bildungsweges ihres Nachwuchses. Ins Gewicht fallt auch, ob und wie der Aufnahmestaat und seine Bildungspolitik Burgern mit Migrationshintergrund gegenuber steht und wie das Bildungssystem auf die Anforderungen reagiert. Ferner ist als weiterer Einflussfaktor der Kontakt zwischen Eltern und Lehrern fur den Bildungserfolg der Schuler zu nennen. Unterschiedliche Erwartungshaltungen, interkulturelle Divergenzen und sprachliche Barrieren fordern Schwierigkeiten zwischen den zwei Fraktionen, deren Zusammenarbeit fur einen gelungenen Bildungsweg nahezu unumganglich ist (vgl. Allemann- Ghionda 2008: 31ff, Esser 2001:60ff). Die Situation stellt sich als doppelt belastet dar: Die Eltern sind aufgrund des eigenen Bildungsniveaus und Sprachstandes mit den Anspruchen der Bildungsstatten uberfordert, aber ebenso wenig scheint die Schule selbst auf diese Herausforderungen vorbereitet zu sein, obwohl die Lage schon seit langerem beunruhigend ist und sich gezeigt hat, dass bisherige Mafinahmen nur verhaltene Erfolge verbuchen konnten. Kritik an der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen an deutschen Bildungsinstitutionen wird auch stark von der Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin geubt. Sie verweist zunachst auf die Tatsache, dass gerade das deutsche Schulsystem im Vergleich zu anderen Landern es generell verpasst hat spezifische, sprachliche Kompetenzen zu vermitteln, die fur den Bildungserfolg unerlasslich sind. Im Fokus stehen hierbei aber nicht alltagsubliche Konversationsfahigkeiten, sondern das Beherrschen des Deutschen als Bildungssprache (vgl.Gogolin 2009a:263), einem Medium, das sich in seinen Eigenheiten von gewohnlicher Kommunikation absetzt und den Beteiligten ein weit aus versierteres Niveau der Sprachbeherrschung abverlangt. Gogolin spricht in diesem Kontext sogar schon von Parallelen zu Fach- und Wissenschaftssprachen, deren Gesetzmafiigkeiten und Wortschatz erst erlernt werden mussen, um am Geschehen uberhaupt teilnehmen zu konnen. Die Sprache der Schule ist von alltaglicher Unterhaltung weit entfernt und hat mehr mit den Regeln der schriftsprachlichen Kommunikation gemeinsam. Schuler, die aus bildungsnaheren Schichten stammen, erlernen meist im Zuge ihrer Lesesozialisation den Anforderungen des Systems gerecht zu werden, doch Kindern, deren Eltern uber ein eher niedriges Bildungsniveau verfugen und die zudem noch einen Migrationshintergrund besitzen, bleibt dies oft verwehrt. So belegen Analysen naturlicher Mutter-Kind-Interaktionen, dass bei Eltern mit hoherem Bildungsstand Gesprachspraktiken anzutreffen sind, die auf dieses spezielle Register mit sprachlicher Varianz und offener Kommunikation bereits vorbereiten. Familien aus weniger bildungsorientiertem Milieu jedoch ist diese Moglichkeit aufgrund der eigenen sprachlichen Unzulanglichkeit meist nicht gegeben, so dass sich die Kinder in dieser Kommunikation nur wenig versuchen konnen (vgl.Gogolin 2009a:272). Es ware demnach vor allem die Aufgabe der Bildungsinstitutionen, Kinder auf die spezifischen Anforderungen vorzubereiten - tatsachlich wird diesem Umstand aber nur wenig Rechnung getragen. Gogolin erklart diese Situation folgendermafien:

Diese Unterrichtpraxis und ihr Versagen ist nicht primar der einzelnen Lehrkraft oder der Einzelschule als Schuld zuzurechnen. Sie erklaren sich viel mehr aus den historischen Traditionen heraus, in der herausragenderweise das deutsche aber auch andere zentraleuropaische Schulsysteme stehen. Infolge dieser Traditionen wird namlich im schulischen Bildungsprozess prinzipiell davon ausgegangen, dass die Beherrschung der jeweiligen Nationalsprache in ihrer Standardvariante quasi Mitgift ist, die alle Kinder selbstverstandlich in den Bildungsgang einbringen. Daher werden die sprachlichen Mittel, die benotigt werden, um einen Gegenstand zu durchdringen, im Prinzip als weitgehend vorhanden vorausgesetzt; jedenfalls werden sie nicht systematisch vermittelt, sondern (...) eher eklektisch und zufallig angesprochen. (Gogolin 2009b: 41)

Gogolin verweist in diesem Zusammenhang auf den Begriff des Monolingualen Habitus, der an Schulen vertreten ist und die starke Dominanz von nur einer Sprache begunstigt. Andere Formen von Sprachbesitz werden trotz des multilingualen Kontexts der schulischen Realitat von den Institutionen nur wenig berucksichtigt. Es scheint so, als wurde hier der Annahme gefolgt werden, dass sich die verlangten Fertigkeiten im Deutschen schon „irgendwie“ von alleine im deutschen Sprachbad entwickeln wurden. Dabei ware es gerade in diesem Bereich ein notwendiges Anliegen, die sprachlichen Fahigkeiten systematisch und kontinuierlich zu fordern, um zu erreichen, dass Bildungserfolg moglichst unabhangig von der Herkunft verlaufen kann (Gogolin 1994:14ff).

Interessant ist im Zusammenhang mit der Verknupfung von Migration und Schulerfolg auch eine Studie der Arbeitsstelle fur interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration (AKI) vom Wissenschaftszentrum Berlin fur Sozialforschung, welche einen sozialpsychologischen Ansatz verfolgt und es sich zur Aufgabe gemacht hat, Komponenten fur Bildungserfolg oder Versagen zu analysieren. Die Autorin Janet Ward-Schofield untermauert in ihrer Forschungsbilanz zunachst die Aussage, dass angemessene sprachliche Fahigkeiten in der Landessprache unumganglich fur eine gelungene Schulkarriere sind. Doch aufgrund der Tatsache, dass schulische Probleme auch bei Kindern mit Migrationshintergrund auffallend oft auftreten, die das Deutsche wie Muttersprachler beherrschen, scheint es neben der Sprache noch andere ausschlaggebende Faktoren zu geben, welche zur defizitaren Situation vieler Migrantenkinder beitragen. Nach Auswertung der sozialpsychologischen Forschungsergebnisse kommt Ward-Schofield zu folgendem Schluss: Qualitative Studien wie die von Weber (2003) oder Edelmann (2007) zum Verhalten von Lehrpersonal gegenuber Migrantenkindern scheinen darauf hinzudeuten, dass Lehrer oftmals Vorurteile gegenuber dieser Personengruppe haben. Die Ergebnisse von Weber deuteten beispielsweise daraufhin, dass Lehrer selbst turkischen Madchen, welche die Schule mit Erfolg meisterten, keine Gymnasialbildung zutrauten. Die Autorin fuhrt an dieser Stelle den Begriff stereotype threat (Bedrohung durch Stereotype) ein, welcher impliziert, dass Schuler aus Migrantenfamilien, die nicht als dem Bildungsburgertum angehorig gesehen werden, bereits vorab beurteilt und fur weniger leistungsfahig gehalten werden. Dies kann sich auf die intellektuelle Leistung der Schuler auswirken, so dass eine Ruckkopplung im Verhalten der Betroffenen entsteht. Mit dem Begriff Erwartungseffekt bezeichnet Ward-Schofield, wie eine voreingenommene Haltung des Lehrpersonals Schuler entsprechend negativ beeinflussen kann. Der Umstand, dass Lehrer Schuler aus eingewanderten Familien von Beginn an fur leistungsschwacher halten, hat zur Folge, dass eben diese Schuler mit ihren Leistungen noch weiter absacken. Anderer Auffassung bezuglich dieses Sachverhalts ist der Soziologe M. Esser (2001), der keine unmittelbare Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund erkennen kann und die Schule schlichtweg als moderne, nach dem meritokratischen Prinzip vorgehende Institution ansieht: Erbringen Kinder schlechte Leistungen, erhalten sie von Lehrern dementsprechend auch weniger Empfehlungen fur hohere Schulen. ,,Einen besonderen „Malus“ als Angehorige bestimmter ethnischer Gruppen bekommen sie nicht“ (Esser 2001:63). Es ist jedoch fraglich, ob der Sachverhalt derart reduktionistisch abgehandelt werden darf. Aufierungen des Soziologen Esser werden jedenfalls in dieser Arbeit in ahnlichen Zusammenhangen noch ofters erwahnt.

Zusammenfassend lasst sich festhalten, dass im deutschen Schulsystem starke Defizite vorhanden sind, welche die oftmals ungunstigen Voraussetzungen bei Kindern aus Einwandererfamilien verstarken und sich zusatzlich negativ auf die Bildungskarriere auswirken. Neben sozio-kulturellen Faktoren spielt auch die Struktur des Bildungssystems und die Einstellung des Lehrpersonals eine entscheidende Rolle. Daruber hinaus hat sich gezeigt, dass weniger die alltagssprachlichen Kompetenzen der Kinder fur ihren schulischen Erfolg ausschlaggebend zu sein scheinen -die auch durchaus ein gutes Niveau haben konnen-, sondern der Erwerb der im Unterricht verwendeten Standard- und Schriftsprache. All diese Faktoren machen ersichtlich, wie bedeutend effektive Konzepte der Sprachforderung bereits an vorschulischen Institutionen sind, da hier die Grundsteine der kindlichen Sprachentwicklung gelegt werden. Versaumnisse, die hier gemacht werden, wirken sich auf die gesamte, spatere Schullaufbahn der Kinder aus.

1.3. Zur Rolle und Situation der vorschulischen Bildungsinstitutionen

Sowohl die Neurowissenschaft wie auch die Kleinkindforschung bestatigen, dass der Mensch in keinem anderen Alter so schnell und einfach lernt wie in der Kleinkindphase. In seinen ersten 30 Monaten erlernt das Kind von seinem Umfeld -allen voran von den Eltern- langsam Grammatik und Aussprache seiner Familiensprache(n). In diesem Prozess wird die Basis der Sprache konstruiert (vgl. Dittmann 2006:9). In der darauf folgenden Elementarerziehung im Kindergarten sollten diese Fertigkeiten weiter ausgebaut und zur Grundlage fur Lernfahigkeit und der Entfaltung von sprachlicher Kreativitat werden.

Fur Kinder mit Migrationshintergrund ist der Kindergarten oftmals der erste Ort, an dem sie mit ihrer Zweitsprache konfrontiert werden. Kindergarten haben daher eine tragende Bedeutung fur die Heranwachsenden, denn wie bereits erwahnt, konnen eingewanderte Eltern aufgrund ihres eigenen Bildungs- und Sprachstandes den Kindern oftmals nicht helfen, ihre Sprachkenntnisse auf das erforderliche Level der schulischen Anforderungen zu bringen. Es steht aufier Frage, dass der Kindergartenbesuch positive Auswirkungen auf Kinder mit Migrationshintergrund hinsichtlich ihrer allgemeinen Entwicklung hat. Studien wie die von Becker/Treml (2006:410ff) belegen, dass Migrantenkinder, die einen Kindergarten besuchten, wesentlich besser auf die Leistungsanspruche der Schule vorbereitet wurden als Kinder, die zu Hause bei den Eltern blieben. Sie hatten erfolgreichere schulische Ergebnisse und gingen ofters auf das Gymnasium.

Einen entscheidenden Schlusselfaktor stellt hierbei die Sprachforderung in vorschulischen Institutionen dar. Zwar hat man diese im Elementarbereich schon lange zum Bildungsziel von immenser Wichtigkeit erklart und entsprechend reagiert, indem man zusatzlich in Forderprogramme investiert und auf diese Weise ein grofies Angebot hervorgebracht hat. Anhand der Tatsache, dass viele Kinder den erforderten Sprachstand fur die Schule dennoch nicht erreichen, zeigt sich jedoch, dass die Effekte bislang eher bescheiden ausfallen. Es fehlen einheitliche Konzepte und Leitlinien. Zwar existiert mittlerweile eine bunte Palette an Sprachforderprogrammen, doch nur wenige sind wissenschaftlich evaluiert und in ihrer Wirksamkeit bestatigt worden. Als problematisch erweist sich der Umstand, dass den verschiedenen Konzepten und Ansatzen teils divergierende Grundannahmen zum (Zweit)Spracherwerb zugrunde liegen, so dass sich eine Ubersicht und Orientierung in dem komplexen Feld als immer muhsamer erweist. Es kommen noch weitere Erschwernisse hinzu, wie die immer noch im internationalen Vergleich tendenziell eher defizitare Ausbildung von Erzieherinnen, welche dem Problemkomplex Sprache inhaltlich nicht gerecht werden kann, sowie der oft stressige Kindergartenalltag, der eine aufwendige Organisation im Bezug auf Sprachforderung nur schwer zulasst. Man kann sich vorstellen, dass es unter solchen Voraussetzung fur Kindergarten und Trager keine leichte Aufgabe ist, ein geeignetes Projekt fur seine Institution zu finden -viel mehr sieht man den Wald vor lauter Baumen nicht mehr (vgl.Jampert et al. 2007:11). Der Kindheitsforscher Rudolf Leu betont in diesem Sinne auch unter Berucksichtigung der fruheren Bildungsdebatten in Deutschland die Relevanz einer Revision der Konzepte von Sprachforderprogrammen, um insbesondere der Praxis eine bessere Orientierung zur Handlungsmoglichkeit in diesem Bereich bieten zu konnen (vgl. Leu 2007:21ff). Dies ist vor allem deshalb erforderlich, weil effiziente Sprachforderkonzepte an vorschulischen Institutionen einen der entscheidenden Schlusselfaktoren zur Verbesserung der alarmierenden Situation im Bildungssystem darstellen konnen, wenn die Probleme fruhest moglich aufgegriffen und die betroffenen Familien eingebunden und unterstutzt werden.

2. Mehrsprachigkeit als Forschungsgegenstand

2.1. Zur Rolle der Erstsprache

Im Zusammenhang mit der Situation des mehrsprachigen Aufwachsens tauchen Begriffe auf, die in ihrer Verwendung nicht immer prazise sind, teilweise sogar irrefuhrend benutzt werden: Die Muttersprache beispielsweise. Der Sprachwissenschaftler Porsche (1983:42ff) beispielsweise beschrieb den Terminus als schwierig, da er suggeriert, dass fur jeden Menschen nur eine Sprache existiert, welche bestimmte Kennzeichen aufweist, z.B. als Sprache der Mutter, Kindheit oder Heimat. Der Sachverhalt stellt sich in der Realitat jedoch um einiges komplexer dar als das, was der Begriff vorgibt. So wachsen viele Kinder nicht nur mit einer, sondern mit zwei, drei oder vier Sprachen auf. Wie kann in solchen Fallen klar zwischen Mutter- und Zweitsprache(n) unterschieden werden? Zum einen wird als Merkmal fur die Muttersprache die Herkunft aufgefuhrt. Dabei geht man davon aus, dass das Kind die erste Sprache auf naturliche Weise von seiner Mutter erwirbt. Allerdings kann es sich hierbei auch um andere Personen handeln, so dass einige Forscher aus Grunden der Pragnanz den Begriff Erstsprache an dieser Stelle bevorzugen (vgl.Triarchi-Herrmann 2003:31ff). Winter- Heider (vgl. 2009:160) weist in ihrer Forschungsarbeit uber die Koharenz von Sprache und Identitat explizit daraufhin, dass die beiden Begriffe zwar gerne synonym verwendet werden, jedoch in ihrer Bedeutung leichte Differenzen aufweisen. Die Muttersprache sieht sie immer als die Sprache der Mutter an. Bei der Erstsprache hingegen handelt es sich um die Sprache, die das Kind als erstes erlernt hat und die nicht zwangslaufig mit der Sprache der Mutter identisch sein muss. Ferner kann die Muttersprache auch nach dem Merkmal der personlichen Identifikation festgelegt werden. Es kann sich hierbei um die Sprache handeln, mit der sich der Mehrsprachige am meisten identifiziert und das Norm- und Wertesystem der zugehorigen Gesellschaft angenommen hat (vgl.Winter-Heider 2009: 168ff).

Eine endgultige Definition des Terminus ist der Sachlage entsprechend offensichtlich nur schwer moglich -grob festhalten lasst sich allenfalls, dass es sich bei der Muttersprache um eine Sprache handelt, die mit einem grofiem emotionalen Gewicht fur den Mehrsprachigen verbunden ist und sich dahingehend von allen anderen Sprachen unterscheidet. In dieser Arbeit wird vorrangig der Begriff Erstsprache verwendet. Begrunden lasst sich dies, zum einen durch das bei Triarchi-Hermann bereits genannte Motiv der verbesserten Genauigkeit im Vergleich zum Begriff der Muttersprache, und zum anderen, weil sich der Terminus als weniger ideologisch behaftet darstellt als sein Pendant (vgl.Triarchi-Hermann 2003:30ff).

Als Zweitsprache bezeichnet Triarchi-Hermann (vgl.2003:33) die Sprachen, die von den Sprechern nach ihrem dritten Lebensjahr erworben werden. Winter-Heider (vgl.2009:16) fugt dem hinzu, dass es sich hierbei um die Sprache des Alltags handelt und dies nicht die Herkunftssprache der Eltern ist. Zur Beschreibung der sprachlichen Muster im familiaren Kontext sind noch die Termini Familiensprache -die Kommunikationssprache in der Familie- und die Umgebungssprache zu nennen, die aufierhalb des familiaren Umfeldes verwendet wird. Die Situation kann sich hierbei allerdings sehr unterschiedlich darstellen, beispielsweise von Wechseln gepragt sein. Ferner konnen Familiensprache und Umgebungssprache auch identisch sein (vgl.Triarchi-Herrmann 2003:32ff).

Im Gegensatz zur Annahme, der Erstspracherwerb ware ein Kinderspiel und vollziehe sich quasi von selbst, muss das Kind bereits in der Erstsprache jeden Etappensieg muhevoll erringen. Schon seit langem befasst sich die Forschung mit der Entwicklung des kindlichen Erstspracherwerbs und der zentralen Frage, wie das Kind zur Sprache kommt. Der Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer kommt nach Untersuchung und Gegenuberstellung der vier wichtigsten Theorien zu diesem Thema zu folgendem Schluss:

Es empfiehlt sich nicht eine der vier Positionen vorbehaltlos zu umarmen. Eher sieht es so aus als hattejede irgendwo Recht: Der Interaktionismus, der Nativismus, der Kognitivismus und sogar an untergeordneter Stelle der Behaviorismus. (...) Jede macht sich aus einer anderen Richtung an der Wahrheit zu schaffen. (Zimmer 1986:70)

Tatsache ist, dass der Weg zur Sprache eine der komplexesten Herausforderungen ist, vor die das Kind in seiner Entwicklung gestellt wird. Und auch hier wird ein wesentlicher Faktor geltend: Zwar kommen alle Kinder mit der gleichen Disposition, eine Sprache erwerben zu konnen, zur Welt -vorausgesetzt sie entwickeln sich normal-, dennoch lassen sich bei den einzelnen Kinder grofie Unterschiede hinsichtlich ihrer sprachlichen Fahigkeiten feststellen. Neben den individuellen Veranlagungen spielt auch hier die Forderung und Unterstutzung durch das Umfeld bzw. durch die Eltern eine grofie Rolle und steht zweifelsohne in Zusammenhang mit den Sprachkompetenzen eines Kindes (vgl.Dittmann 2006:9ff). Der Spracherwerb vollzieht sich als Prozess der Wechselwirkung zwischen angeborenen Grundlagen und sozialen Einflussen, denn damit das Kind eine Sprache erlernen kann, muss es in intensive Kommunikation mit seinem Umfeld treten und entsprechende Reaktionen auf seine Sprachversuche erhalten. Gerade in den ersten Lebensjahren ist die Sprachentwicklung von einer starken Verknupfung zwischen Sprache und Emotion gepragt. Die Sprache stellt fur die Eltern eines der bedeutendsten Instrumente dar, ihren Kindern Gefuhle zu vermitteln.

Der Saugling verbindet mit den Lauten und Wortern seiner Erstsprache Erfahrungen von Nahe, Zartlichkeiten, die Befriedigung seiner Grundbedurfnisse nach Nahrung und Schlaf, Pflege und lustvolle spielerische Aktivitat sowie akustische Erlebnisse der Selbstwahrnehmung. Nicht die Wortbedeutung ist das relevante und vorwartstreibende Moment des fruhkindlichen Spracherwerbs, sondem die bedeutungstragenden Farbungen, die Verbindung von Lauten mit Mimik und Gestik, die Einheit von Sprachlaut und Prasenz der Eltern, die Verbindung von Sprache mit Wohlbefinden im Dialog und Monolog. (Franceschini 2003:15)

In der Kommunikation mit den Eltern erlernt das Kleinkind, welche Aufierungen sich als effektiv und sinnvoll erweisen und baut daraufhin seine sprachlichen Fahigkeiten immer weiter aus. Mit ungefahr zwei Jahren deckt sich die Entfaltung von Sprache und Denken in der kindlichen Entwicklung. Dies bedeutet, dass sich die sprachlichen und kognitiven Fahigkeiten nun gegenseitig befruchten und in Abhangigkeit voneinander entwickeln. Dieser Fortschritt lasst sich beispielsweise an der Wortentwicklung beobachten: Kinder bilden zunachst ein so genanntes synkretisches Wortverstandnis aus. Kennzeichnend hierfur ist die uberdehnte Anwendung eines Wortes auf zahlreiche, von dem Kind als gleich empfundene Dinge, Personen und Begebenheiten. In dieser Phase orientiert sich der Spracherwerb an den subjektiven Verbindungen des Kindes zwischen einem Wort und dessen Darstellung (vgl. Jampert 2007: 49ff). Gopnik/ Kuhl/ Meltzoff stellten dieses Phanomen mit folgendem Beispiel dar:

Das Entzucken eines Vaters, wenn das Baby seinen Namen sagt, wird vermutlich etwas abflauen, wenn das Baby auch Papas besten Freund mit einem begeistertem „Dada“ begruBt. Und den Postboten. Und den Fernsehmechaniker. Ein kleiner Trost mag da sein, dass das Haustier der Familie das gleiche Schicksal erleidet: Jedes Tier, vom Ameisenbar bis zum Zebra ist ein ,,Wau, Wau“. (Gopnik/ Kuhl/Meltzoff2000:141)

Diese -aus Sicht der Eltern- seltsamen Irrtumer sind Teil eines sehr bedeutsamen intellektuellen Entwicklungsprozesses: Das Kind beginnt seine Umwelt zu kategorisieren und entwickelt geistige Konzepte und Vorstellungen. Dabei orientiert es sich an charakteristischen Merkmalen von Dingen. Das Kind wird ausschlieBlich von seiner Wahrnehmung geleitet, die mit zunehmendem Alter immer subtiler wird. Der Erstspracherwerb ist demnach alles andere als ein „Kinderspiel“. Es ist eine komplexe Leistung des kindlichen Gehirns. In seinemjungen Alter verfugt das Kindergartenkind -vorausgesetzt, die Eltern fordern es angemessen und bieten ihm ein stabiles, vertrauensvolles Umfeld- bereits uber ein groBes Sprach- und Handlungswissen, welches die Basis fur jegliche weitere Entwicklung darstellt (vgl.Jampert 2005:41 ff).

Die Tatsache, dass viele Eltern mit Migrationshintergrund als Erstsprache in der Kommunikation mit ihren Kindern ihre Herkunftssprache wahlen -selbst wenn diese in Deutschland geboren wurden -, ist dadurch erklarbar, dass sich diese Sprache als Herzens- und Gefuhlssprache identifizieren lasst. Die Eltern konnen sich so ohne Distanz und Uberlegung ihren Kindern gegenuber auBern. Selbst wenn die Heimatsprache von zugewanderten Familien nicht durchgangig in der familiaren Sprachpraxis dominant ist, greifen Eltern dennoch in bestimmten Situationen auf sie zuruck -sie ist meist die Sprache der Erziehung. Daruber hinaus tragt das Kind mit dem Erwerb der Erstsprache stetig zu seiner Identitatsentwicklung bei. Es kann seine Wunsche aufiern, mit Personen in Kontakt treten, Fragen stellen, sich erklaren, so dass sich seine Wissenswelt ununterbrochen erweitert. Es vollzieht sich nicht nur ein Zugewinn an rein sprachlichen Fahigkeiten, das Kind erlernt auch langsam das System sozialer und kultureller Rollen sowie Kontextwissen, welches es ihm auf diese Weise ermoglicht, sich seinen Herkunftstraditionen entsprechend zu verhalten und an der Gemeinschaft teilzuhaben. Kinder aus Migrationsfamilien sind demzufolge ohne jeden Zweifel in ihrem Spracherwerb durch die Herkunftssprache der Eltern stark beeinflusst -auch dann, wenn die Kinder hier geboren wurden. Mit zunehmender Unabhangigkeit von den Eltern, wie beispielsweise dem Eintritt in den Kindergarten, erleben die Kinder die Zweitsprache, das Deutsche, als zusatzlich beeinflussenden Faktor ihres Spracherwerbs. Selbst wenn innerhalb der Familie nur in der Herkunftssprache kommuniziert wird, dringt das Deutsche zu den Kindern durch Medien, soziale Kontakte oder den offentlichen Raum vor. Auf diese Weise entwickeln sich die verschiedenartigsten Formen von Mehrsprachigkeit, welche in ihrem Erscheinungsbild wiederum abhangig sind von Faktoren wie Sprachpraxis, sozialen Bindungen, Medienkonsum, Forderung etc. (vgl. Jampert 2002:78ff).

Jeder Spracherwerb, der sich nach der ersten Phase vollzieht, basiert jedoch auf den Erfahrungen der vorherigen Sprachaneignung und wird mafigeblich von ihr beeinflusst (vgl. Gogolin 2005:16ff).

Der Einfluss betrifft alle Bereiche: Jede neue linguistische Information durchlauft gleichsam den Filter des mit den ersten Spracherfahrungen angesammelten Bestands an Informationen. Auch die Aneignung von konventionellen Bedeutungen und die Teilhabe an Traditionen und am Alltagswissen ist in dieser Weise beeinflusst von den allerersten Spracherfahrungen. (Goglin 2005:18)

Es gibt Differenzen im Sprachbesitz von mono- und bilingualen Kindern, jedoch stellen diese keine Gefahrdung der grundsatzlichen Sprachfahigkeit der Kinder dar -vielmehr reprasentieren sie die individuelle Aneignungssituation der Kinder. Nicht das Phanomen der Mehrsprachigkeit selbst, sondern die Voraussetzungen, unter denen die Kinder die Sprachen erlernen, sind entscheidend fur ihren Erfolg. Oft bestimmen soziale Umst]ande wie Bildungsferne und meist dementsprechende Sprachferne den Prozess sowie die Qualitat der Mehrsprachigkeit, welche vor allem beim Eintritt in Bildungsinstitutionen deutlich in Erscheinung tritt. Wurde man diesen Umstanden mehr Bedeutung beimessen, musste das weitreichende Konsequenzen fur vorschulische Bildungsinstitutionen sowie die Schule selbst und deren Organisation haben.

2.2. Mehrsprachigkeit: Hurde oder erstrebenswertes Ziel?

Wie bereits mehrfach angedeutet, ist in Deutschland die Sichtweise auf Mehrsprachigkeit sowohl wissenschaftlich als auch politisch von einer deutlichen Diskrepanz gepragt. Auf der einen Seite gilt diese Fahigkeit als hoch angesehenes und erstrebenswertes Besitztum, welches mittlerweile fur eine berufliche Karriere in jeglicher Branche als unabkommlich vorausgesetzt wird. So hat die europaische Kommission beispielsweise fur ihre Sprachpolitik die Wunschvorstellung ,,Muttersprache plus zwei“ entworfen -die Burger Europas sollten also neben ihrer Erstsprache noch moglichst in zwei anderen Fremdsprachen Kenntnisse aufweisen konnen (vgl. Hesse/Gobel 2009:281). Das entspricht ganz dem Bild vom allseits gebildeten, polyglotten Menschen, dem aufgrund seiner vielseitigen Kompetenz Bewunderung und Erfolg widerfahrt. Vermeintlich bildungsorientierte Eltern reifien sich um Kindergartenplatze mit Fruhenglisch-Konzept, damit die Fahigkeiten und Chancen ihre Kinder so bald wie moglich optimiert werden konnen. Eine ganz andere Sichtweise scheint sich hingegen zu eroffnen, wenn es um Mehrsprachigkeit bei Migranten geht -vor allem turkischer Herkunft. Jampert bezeichnet diese Spaltung mit den Termini erfolgreiche Internationalisten und semikulturelle Arbeitsimmigranten (Jampert 2002:60), deren Mehrsprachigkeit als Hurde und nicht als Potential betrachtet wird -es hat sich schliefilich bereits in Studien wie PISA und IGLU gezeigt, wer die grofien Verlierer des deutschen Bildungssystems sind. Fur Fachkrafte im Erziehungswesen stellen Kinder mit Migrationshintergrund eine grofie Herausforderung dar, der sie teilweise aufgrund ihrer eigenen, oft fur diese Belange unzureichenden Ausbildung nicht gerecht werden konnen. Dementsprechend schnell fallt auch das Urteil uber die sprachlichen Fahigkeiten der Kinder (vgl. Jampert 2002: 53 ff). Hierfur belegend ist beispielsweise eine kurze Zusammenfassung der Erziehungswissenschaftlerin Michaela Ulich bezuglich ihrer Studie, welche die Sichtweise von Fachkraften auf Mehrsprachigkeit in Kindergartengruppen mit hohem Migrationsanteil untersucht hat:

Die Mehrheit in unserer Befragung sieht Zweisprachigkeit als Chance, sich in verschiedenen Kulturen zurechtzufinden, und 82 Prozent der interviewten Fachkrafte glauben, dass Kinder ohne weiteres zwei Sprachen lernen konnen, dass sie damit nicht uberfordert werden. Fragt man konkreter nach Moglichkeiten und Schwierigkeiten bei der Umsetzung von padagogischen Zielen in der eigenen Gruppe, bekommt man den Eindruck, dass die Zielvorstellung ,,bilingual- kultureller Erziehung“ fur die eigene Kindergruppe und die padagogische Arbeit kaum eine Rolle spielt. Die Blickrichtung von Fachkraften verandert sich, sobald es konkret um Migrantenkinder in der eigenen Gruppe geht. Im Alltag ist die Sorge um die geringen Deutschkenntnisse dieser Kinder so gegenwartig und zum Teil so bedruckend, dass deren Zweisprachigkeit als besondere Kompetenz und als Erziehungsziel wenig greifbar sind. Im Gegenteil: die verschiedenen Sprachen beim Kind erscheinen unvereinbar. (Ulich 1999: 83)

Die dargestellte Sichtweise weist darauf hin, was sich an vielen Stellen im Bildungssystem zeigt: Zwar wird Mehrsprachigkeit prinzipiell als wertvolles Potential betrachtet, die vorhandenen Ressourcen aber dementsprechend auszuschopfen, dazu fehlt in der Praxis scheinbar der Glaube an das Gelingen eines solchen Unterfangens. In den mehrsprachlichen Fahigkeiten von Migranten wird weniger eine ausbaubare Kompetenz als viel mehr eine Bedrohung fur die Zweitsprache gesehen. Dies resultiert im Zweifelsfall in einer Vernachlassigung oder vielmehr bewussten Ignoranz der Erstsprache der Kinder.

2.3. Mehrsprachigkeit: Definition und damit zusammenhangende Begriffe

Obwohl der Terminus Mehrsprachigkeit im Laufe der bisherigen Arbeit nun schon oft genannt wurde, erscheint es sinnvoll, diesen diffizilen Begriff genauer unter die Lupe zu nehmen und seine Entwicklungsweise zu skizzieren. Da der Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung sehr umfangreich ist und der bloBe Umriss des Gebiets den Rahmen der Arbeit sprengen wurde, sollen hier nur die wichtigsten Begriffe angesprochen werden -vor allem diejenigen, welche den Bereich des kindlichen Mehrspracherwerbs unter Migrationsbedingungen betreffen.

Untersuchungen zum Thema Mehrsprachigkeit wurden Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zum Gegen- stand wissenschaftlicher Arbeiten. War es zunachst die Linguistik, welche diesen Bereich vorwiegend erforschte, hat sich das Gebiet mittlerweile zum interdisziplinaren Interessenfeld -z.B. in der Soziologie, Psychologie und Padagogik- entwickelt (vgl.Kinda- Berlakovich 2005 :17). Die Schwierigkeit einer genauen begrifflichen Festlegung beginnt bereits bei der Unterscheidung der Begriffe Bilingualismus und Mehrsprachigkeit. Laut Apeltauer (vgl.1997:6) wurde die Bezeichung Bilingualismus in den vergangenen Jahrzehnten als Oberbegriff fur Zwei- und Mehrsprachigkeit gebraucht. Viele Autoren verwenden den Begriff Mehrsprachigkeit mittlerweile aber kontrar, um darunter die Gruppe von bilingualen Sprechern und solchen, die mehr als zwei Sprachen sprechen, zusammenzufassen (z.B. vgl. Tracy 2009, Siebert-Ott 2009, Gogolin 2005). Diese Arbeit schlieBt sich dem an und benutzt vorwiegend den Begriff der Mehrsprachigkeit, da auf diese Weise die Lebensrealitat der Sprecher in Deutschland besser berucksichtigt werden kann.

2.3.1. Versuch einer Definition des Begriffs Mehrsprachigkeit

Der Terminus Mehrsprachigkeit ist vielschichtig und es gelingt nicht, ihn durch eine einfache Definition zu klaren. Kennzeichnend fur die Schwierigkeiten der Wissenschaft diese Erscheinung, die bei List (vgl.2009:249) sogar als Phantom bezeichnet wird, genau zu charakterisieren, ist ein Zitat von Appeltauer:

Man hat vorgeschlagen, jemanden dann als zweisprachig zu bezeichnen, wenn er eine fremde Sprache so perfekt beherrscht wie eine Muttersprachler...Eine solche Definition wurde die Menge zweisprachiger Individuen stark einschranken. (...) Eine Gegenposition lautet: Bilinguale sind Individuen, die in einer fremden Sprache vollstandige und sinnvolle AuBerungen produzieren konnen... Aufgrund dieser Definition ware die Mehrheit der Weltbevolkerung zwei- oder mehrsprachig.(...) Eine solche minimalistische Definition durfte genauso unbefriedigend sein wie die oben angefuhrte maximalistische Position. Die typischen Falle, denen wir im Alltag immer wieder begegnen, scheinen irgendwo dazwischen zu liegen. (Apeltauer 1997:7)

Mehrsprachigkeit lasst sich demnach vage als eine Fahigkeit des Menschen beschreiben, die es ihm ermoglicht, mehrere Sprachen nebeneinander oder hintereinander zu gebrauchen -mit unterschiedlichem Grad an Kompetenz. Laut Tracy hat sich mittlerweile herausgestellt, dass es den allseits kompetenten bilingualen Sprecher nicht gibt, der flussig in jeder Sprache zu jedem Thema kommuniziert und beliebig hin und her wechselt (vgl.Tracy 2009:167). Auer fugt dem hinzu, dass es unsinnig sei, bilinguale Fahigkeiten daran zu bemessen, alle Sprachen in jeder Situation gleichermafien gut verwenden zu konnen -die Messlatte eines solchen Ideals ware unzutreffend gewahlt (vgl.Auer 2009: 94). Die Problematik einer eindeutigen Begriffsdefinition hat sich durch den Versuch einer Einteilung nach den Merkmalen Spracherwerbssituation und Sprachkompetenz noch erweitert, dementsprechend ,,bluht der Markt der Kategorienbildung“ (Jampert 2002:65). Allerdings verlaufen die Migrationsbiographien so unterschiedlich, dass sich derartige Klassifizierungen teils nur schwer durchfuhren lassen. Faktoren, die starken Einfluss auf die Auspragung des mehrsprachigen Aufwachsens haben, sollen im Folgenden dargestellt werden.

2.3.2. Anthropogene Einflussfaktoren

Sich in mehreren Sprachen verstandigen zu konnen, ist keineswegs nur eine Befahigung besonders begabter Menschen. Sogar eine verminderte Intelligenzleistung verhindert den Erwerb mehrerer Sprachen nicht, wenn dieser durch die Umgebung begunstigt wird, wie eine Studie zum Spracherwerb geistig behinderter Personen nachwies (vgl. Niederberger 2000). Generell lasst sich sagen, dass das Alter, in welchem der Zweitspracherwerb beginnt, eine bedeutende Rolle spielt. Zwar nimmt die Sprachlernfahigkeit mit steigendem Alter nicht prinzipiell ab, sie verandert sich jedoch, so dass die Lernbedingungen mit der jeweiligen Entwicklungsstufe alters- und situationsgerecht abgestimmt werden mussen (vgl.Reich/Roth 2002:11 ff). Die gunstigste Ausgangslage eine Sprache zu erlernen ist aber immer noch die fruhe Kindheit, da hier unbewusste, intuitive Erwerbsstrategien im Spiel sind und meist eine naturliche Lernmotivation vorliegt (vgl. Tracy 2009:186ff). Beim erstsprachlichen Erwerb kann es sich also auch um das gleichzeitige Aneignen mehrerer Sprachen handeln. In diesem Fall spricht man von simultanem Spracherwerb (primare Mehrsprachigkeit), der vom sukzessiven Spracherwerb (sekundare Mehrsprachigkeit) zu unterscheiden ist. Dieser kann auf zwei Arten in Erscheinung treten: Zum einen kann der Erwerb einer weiteren Sprache ungesteuert/naturlich verlaufen -so wie im Kleinkindalter ublich- oder er vollzieht sich auf gesteuerte Weise im formalen (Schul-)Unterricht. Einige Forscher fordern, dass der Spracherwerb sich von Anfang an simultan vollziehen muss, um von einem muttersprachlich bilingualen Sprecher reden zu durfen, andere erweitern das Zeitfenster bis ungefahr zum dritten Lebensjahr (vgl.Muller et al. 2007:15). Reich/Roth (vgl.2002:12) deuten aber dringlich darauf hin, dass dies keine Aussagen bezuglich der spater zu erreichenden Kompetenzen macht. Eines der am meist diskutierten Themen in der Mehrsprachigkeitsforschung betrifft die Frage, ob die Pubertat sich als vermindernde Schwelle der Sprachlernfahigkeit erweist. Diese Phase wurde in den 60er Jahren als kritische Periode beschrieben, bei deren Eintritt der damaligen Theorie zufolge zumindest die Aussprache einer neu erlernten Sprache nicht mehr akzentfrei moglich sei. Diese These wurde dann auch auf andere sprachliche Fertigkeiten erweitert. Heute geht man davon aus, dass diese Annahme nur die Aussprache zutrifft, und dies auch nur unter gewissen Einschrankungen. So konnen Erwachsene sich durchaus aneignen eine Fremdsprache akzentfrei zu beherrschen, allerdings ist dies eher selten und auch mit einem gewissen Aufwand verbunden. Ferner gilt als erwiesen, dass der sozio- okonomische Status ebenso viel Einfluss auf den Lernerfolg hat wie das Alter bei Lernbeginn (vgl.Reich/Roth 2002:11ff).

Kinder, bei denen sich der Erwerb einer Zweitsprache nicht simultan, sondern sukzessiv vollzieht, verfugen meist uber unterschiedliche Kompetenzen in beiden Sprachen: Sie haben eine dominante/starke Sprache, in welcher sie sich differenzierter ausdrucken konnen und die sie bevorzugt benutzen. Im Gegensatz dazu sind sie im Gebrauch der schwachen Sprache weniger geubt, so dass ihre Sprachfertigkeiten hier in geringerem MaBe automatisiert sind. Die Beherrschung von Sprachen ist jedoch nicht statisch -auBere Bedingungen konnen die Fertigkeiten in Erst- und Zweitsprache und deren Vernachlassigung und Erstarkung vehement beeinflussen. In extremen Fallen kann es sogar zu einem Sprachwechsel kommen, so dass die bisherige dominante Sprache (oft Erstsprache) von der schwachen Sprache (oft Zweitsprache) in ihren Funktionen abgelost wird. Derartige Entwicklungen werden oft bei Kindern von Migranten beobachtet -insbesondere dann, wenn die Erstsprache nicht weiter gefordert wird (vgl.Apeltauer 1997: 9ff).

2.3.3. Soziogene Einflussfaktoren

Mehrsprachigkeit hat unendlich viele Facetten und Auspragungen. Dies ist durch die Tatsache bedingt, dass die Spracherwerbssituation des mehrsprachig Aufwachsenden von einer ganzen Reihe unterschiedlicher Faktoren beeinflusst wird. So gilt die Wirkung des soziokulturellen Profils der Familien auf Spracherwerb und Schulerfolg als eine der wichtigsten Komponenten. Dieses Profil setzt sich aus unterschiedlichen Fragmenten zusammen, wie beispielsweise der Wertschatzung von Bildung, Einstellung zur Herkunfts- und Aufnahmekultur, Schatzung der Erst- und Zweitsprache, Ruckkehrorientierung etc. Eine umfangreiche Studie hierzu wurde von Wolfgang Preibusch durchgefuhrt, der 700 turkische Funftklassler anhand von Schrift- und Sprachtests in beiden Sprachen untersucht und sie anhand einer Clusteranalyse acht Typen familiarer Erziehungsweisen zugeordnet hat, welche sich durch verschiedenartige Wertvorstellungen voneinander abgrenzten. Dabei stellte sich unter anderem heraus, dass die Orientierung an der Herkunftskultur nur dann einen negativen Einfluss auf den Zweitspracherwerb zu haben schien, wenn der Ruckkehrwunsch extrem stark ausgepragt war(vgl. Preibusch 1992:217ff).

Vor allem in der fruhkindlichen Phase des Spracherwerbs uben die Muster des Sprachgebrauchs in der Familie starken Einfluss auf das Sprachvermogen des Kindes. Wie bereits erwahnt, spielen die Herkunftssprachen gerade bei turkischen Familien nach wie vor eine grofie Rolle wie auch die Hamburger Sprachstand-Erhebung von Reich (2000) bestatigte (siehe Kap. 1.1). Kinder ahmen ihre Eltern jedoch nicht einfach nach, sie suchen sich ihre eigenen Moglichkeiten die Sprachen je nach Kommunikationssituation zu gebrauchen. Mischungen von Erst- und Zweitsprache -mit unterschiedlich starken Anteilen meist zugunsten der Erstsprache- stellen das haufigste Muster innerhalb der familiaren Verstandigung dar (vgl.Reich/Roth 2002:12). Zudem wiesen Untersuchungen des Zentrums fur Turkeistudien daraufhin, dass die Mischungen am starksten ausgepragt sind, wenn beide Eltern schon in Deutschland geboren wurden und demnach am schwachsten, wenn sie noch im Herkunftsland aufgewachsen sind. Ferner tritt der ausschliefiliche Gebrauch des Turkischen uberwiegend bei Eltern mit niedrigem Bildungsniveau auf, wahrend Eltern mit hoherer Bildung sich ofter in beiden Sprache verstandigen (vgl.Zentrum fur Turkeistudien 2001:4ff). Mit steigendem Alter der Kinder verringert sich der Einfluss der Eltern mit gleichzeitigem Anwachsen der Bedeutung des sozialen Umfeldes -der Peergroup. Studien des DJI (vgl.2000:83ff) wiesen auf, dass die Mehrheit der befragten mehrsprachigen Kinder Deutsch als wichtigstes Medium zur Verstandigung mit ihren Freunden angaben. Die Tendenz geht auch mit steigendem Alter mehr zur Bevorzugung des Deutschen als Kommunikationsmittel, - selbst wenn genugend gleichsprachige Gesprachspartner vorhanden sind. Ein weiterer Faktor, der grofien Einfluss ausubt, ist der Besuch der Schule. Die Kinder kommen hier mit den sprachlichen Anforderungen der Gesellschaft in Beruhrung -zum einen im funktionalen Sinne der Sprache als Medium des Lernens, zum anderen als Instanz, welche das Sprachvermogen der Kinder direkt beurteilt. Daruber hinaus bietet die Schule -oder verlangt vielmehr- die Moglichkeit zur Kommunikation mit verschiedenen Gesprachspartnern. Der tatsachliche Ausbau der Mehrsprachigkeit in der Schule hangt von diversen Komponenten ab, wie beispielsweise der Herkunft, Klassenzusammensetzung und dem Lehrerverhalten (vgl.Reich/Roth 2002:14).

Es lassen sich noch weitere soziogene Faktoren benennen, die Forschungslage ist hierbei allerdings relativ durftig. So scheint es beispielsweise weitreichende Unterschiede zwischen verschiedenen Ethnien im Bezug auf Spracherhalt zu geben (vgl.Esser: 2006:39ff). Ferner scheint sich der Kindergartenbesuch bei Kindern mit Migrationshintergrund als bedeutender Faktor zu erweisen, der positiven Einfluss auf die Zweitsprachkenntnisse der Kinder ausubt (vgl.Reich/Roth 2002:15). Wird das Aufwachsen im mehrsprachigen Kontext als bedruckend erlebt, sind hierfur oftmals soziogene Voraussetzungen ausschlaggebend, welche die Ausgangssituation erschweren, wie z.B. Entmutigung durch die Schule, ziellose sprachliche Familienerziehung, geringer Sprachkontakt, negatives Sprachprestige etc. Fuhrt dies dazu, das die Erstsprache stark vernachlassigt oder gar vollkommen verdrangt wird, ist von subtraktivem Bilingualismus die Rede (Apeltauer 1997:20). Dem gegenuber steht eine gedeihliche Entwicklung der Mehrsprachigkeit, der additive Bilingualismus, bei welchem dem Kind die Pflege beider Sprachen ermoglicht wird. Oft geht dies mit emotional positiv besetztem Sprachkontakt, unterstutzenden Mafinahmen in Bildungsstatten und gesellschaftlicher Wertschatzung sowie familiarer Forderung einher (vgl.Reich/Roth 2002 : 16).

2.3.4. Semilingualismus

Ein Begriff, der im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit unter Migrationsbedingungen in Deutschland und gerade im Bezug auf Kinder und Jugendliche immer wieder auftaucht, ist der Semilingualismus, der den Aktanten sowohl starke Defizite im Deutschen wie auch in der Erstsprache zuschreibt und somit zu einer doppelten Halbsprachigkeit fuhrt. Triarchi- Herrmann definiert diese ,,extreme Form des subtraktiven Bilingualismus“ (Triarchi- Herrmann 2003:29) zum einen, uber eine defizitar ausgebildete Oberflachenstruktur der Sprachen, die sich in einem begrenztem Wortschatz oder gemischten Sprachsystemen konkretisiert. Zum anderen kann aber auch die Tiefenstruktur der Sprache betroffen sein, so dass die Betreffenden Probleme haben, abstrakte Termini zu verstehen oder Begriffe in semantische Felder einzuteilen. (vgl.Triarchi-Herrmann 2005:29) Die Erscheinung der Doppelten Halbsprachigkeit ist jedoch in der Forschung nicht unumstritten. So bezeichnet Jampert diesen Begriff als ,,irrefuhrend und disqualifizierend“ (Jampert 2002:67ff), da auf diese Weise Sprachkompetenz sozial unterschiedlich gewertet wird. Auch Luchtenberg bemangelt die Vorstellung von ,,halben Sprachen“ (Luchtenberg 1995:44) und merkt an, dass ein defizitares Niveau an Sprachfertigkeit durchaus auch bei einsprachigen Menschen vorkommen kann. Vielmehr wurden die Kinder einfache Register verwenden, die zwar zur Alltagskommunikation ausreichen, fur die Anforderungen der Schule jedoch weit unterentwickelt sind (Luchtenberg 1995:44). Der Terminus hinterlasst den Eindruck, als ob derartig mangelhafte Sprachkenntnisse nur ein Phanomen des Spracherwerbs unter Migrationsbedingungen waren, so dass die Spracherwerbsfahigkeit als begrenzte Kapazitat erscheint, die sich mehrere Sprachen teilen mussen. Der tatsachliche Spracherwerbsprozess und die damit verbundenen Schwierigkeiten werden dabei ausgeblendet (Jampert 2002: 67ff). In Deutschland hat der ursprunglich vom schwedischen Forscher Hansegard (1968) stammende Begriff gerade in der Lehrersprache Einzug erhalten, um die ,,eingeschrankte Beherrschung beider Sozialsprachen“ (Apeltauer 1997: 12) bei Kindern mit Migrationshintergrund zu charakterisieren. Apeltauer setzt dem entgegen, dass zweisprachig aufwachsende Kinder im Vergleich zu Monolingualen zwar tatsachlich uber einen kleineren Wortschatz verfugen und einfachere syntaktische Strukturen verwenden, wurde man jedoch alle Worter von Bilingualen zusammenzahlen, ubertreffen sie den Wortschatz Monolingualer weit. Ferner entstehe ein verzerrtes Bild, wenn Lehrer die Sprachkompetenz von Schuler beurteilen, ohne die erstsprachlichen Fahigkeiten uberhaupt zu kennen (vgl.Apeltauer 1997:11 ff). Letztendlich darf auch nicht ubersehen werden, dass Sprache kein statisches Konstrukt ist, sondern sich in einem stetigen Entwicklungsprozess befindet, der von diversen Faktoren beeinflusst wird. Die Vorstellung von halb ausgebildeten, dauerhaft festgelegten Sprachfertigkeiten erscheint insofern unangebracht.

2.3.5. Sprachmischungen: Code-Mixing und Code-Switching

Erscheinungen, die im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit auftreten und teilweise ahnlich negatives Ansehen genieBen wie der Semilingualismus, sind Sprachmischungen. Darunter werden allgemein Worter, Satze und kontextbezogene AuBerungen zusammengefasst, bei denen mehrsprachige Individuen ihre Sprachen gleichzeitig verwenden. In der Linguistik unterscheidet man dabei das Code-Switching, bei dem das mehrsprachige Individuum wahrend einer Unterhaltung oder innerhalb eines Satzes aus rhetorischen und stilistischen Motiven in eine andere Sprache wechselt. Meisel erwahnt bei seiner Erlauterung des Begriffs explizit, dass es dabei nicht um ein Defizit, sondern eine zusatzliche Kompetenz des Sprechers handelt:

Code-Switching is the ability to select the language according to the locutor, the situational context, the topic of conversation, and so forth, and to change languages withhin an interactional sequence in accordance with sociolinguistic rules and without violating specific grammatical constraints. (Meisel 1994:415)

Das Code-Mixing hingegen, welches aufgrund des Sprachwechsels Veranderungen von grammatikalischen Regeln und Strukturen implizieren kann, wird eher negativ betrachtet und dient oft als Nachweis sprachlicher Mangel. So gut wie alle Studien zur kindlichen Mehrsprachigkeit belegen, dass Kinder ihre Sprachen mischen. Gerade zu Beginn des Spracherwerbs kann die Mischrate sehr hoch ausfallen, da die Kinder sich in der richtigen Wahl der erforderlichen Sprache erst noch erproben mussen. Auch sind die Sprachmischungen durch Vorbilder beeinflussbar -beispielsweise, ob und wie viel die Eltern mischen (vgl. Muller et al. 2007:197). Ein besonderes Interesse der Forschung dieses Teilbereichs galt der Frage, ob Sprachmischungen zustande kommen, weil Kinder die Sprachen nicht trennen konnen und diese in einem gemeinsamen Lexikon abspeichern. Zu Beginn der Mehrsprachigkeitsforschung war die Annahme stark verbreitet, dass Kinder anfangs nur uber ein System fur beide Sprachen verfugen, wodurch man sich auch das Auftreten von Sprachmischungen erklarte (vgl. Drei-Stufen-Modell bei Volterra/Taeschner 1978). Diese These scheint mittlerweile widerlegt, da sich in vielen Studien gezeigt hat, dass Kinder sich schon sehr fruh daruber im Klaren sind, dass in ihrem Umfeld unterschiedliche Sprachen existieren (vgl. z.B. de Houver 1990, Tracy 1996, Koppe 1996). Grundlegend fur den Ansatz von Volterra/Taeschner war unter anderem die Annahme, dass im fruhen Spracherwerb kaum Ubersetzungsaquivalente -Worter, die in beiden Sprachen die selbe Bedeutung haben- verwendet werden. Dies wurde als Indiz fur die Existenz eines einzigen Lexikons gesehen und somit als Motiv fur Sprachmischungen, da man vermutete, die Kinder wurden den selben Wortern verschiedener Sprachen andere Bedeutungen zuweisen. Sprachdaten der Untersuchungen von Deuchar & Quay (1998) wiesenjedoch nach, dass sogar 11 Monate alte Kinder uber Ubersetzungsaquivalente verfugen. In der Mehrsprachigkeitsforschung spielen Wortaquivalente daher eine wichtige Rolle, da sie mitunter als Beleg fur die Sprachentrennung des mehrsprachigen Kindes gelten. Lasst sich nachweisen, dass Kinder uber Aquivalente in anderen Sprachen verfugen, so lasst sich ausschliefien, dass Sprachmischung nur stattfindet, um lexikalische Lucken zu schliefien (vgl.Muller et al. 2007:197ff).

Die genauen Ursachen fur Sprachmischungen sind in der Forschung jedoch immer noch umstritten und bedurfen weiterer Untersuchungen. So sehen Muller/Cantone (vgl.2005:205) die Grande in einem noch nicht routinierten Umgang mit den verschiedenen Sprachen und vermuten vor allem in fruhen Erwerbsphasen ein Vergreifen in der falschen Sprache. Andere Studien kamen zur Feststellung, dass Sprachmischungen eher als eine kreative Strategie des mehrsprachiges Kindes anzusehen sind, um sich die besser entwickelte Sprache zunutze zu machen (vgl. Gawlitzek-Maiwald/Tracy 1996:190ff). Auer beurteilt Code-Mixing und Code­Switching sogar als ,,sprachstrukturelle Zusatzleistung“ (Auer 2009:93), denn es konne keineswegs alles gemischt werden. Die Sprachmischungen seien demnach nicht blosse Luckenfuller, sondern vielmehr ,,(meta)grammtische und (meta)diskursive Kompetenzen“ (Auer 2009:93).

2.4. Exkurs:Entwicklung der Sichtweise in der Mehrsprachigkeitsforschung

Kontroversen um die Vor- und Nachteile von Mehrsprachigkeit haben eine lange Tradition im interdisziplinaren Austausch. Berechtigterweise, denn es handelt sich hierbei um ein aufierst vielschichtiges Gebiet, das nach einer entsprechenden Untersuchung verlangt und sich nicht auf simple Gegensatze begrenzen lasst. Noch bis in die sechziger Jahre war die Forschung aber der uberwiegenden Ansicht, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder weit hinter ihren monolingualen Altersgenossen zuruckblieben -die Schulleistungen betreffend, war sogar von bis zu drei Jahren Ruckstand die Rede. Dies wurde durch die Annahme erklart, dass zwei Sprachen das kindliche Gehirn uberfordern, was sich vor allem in der sprachlichen Entwicklung negativ konkretisierte. Die Forscher zogen ihre Schlusse aus Studien mit amerikanischen Einwanderungskindern, deren Intelligenzquotient anhand von Tests gemessen und mit dem einsprachiger Kinder verglichen wurde. Dabei kamen immer die selben Ergebnisse hervor, welche darauf hindeuteten, dass die Kinder entweder generell weniger intelligent waren oder dass es sich hier um die Auswirkungen des Bilingualismus handeln musste, was die Offentlichkeit dann als bestatigten Fakt zur Kenntnis nahm. Dies hatte zur Folge, dass sogar Linguisten einen groBen Bogen um mehrsprachige Erziehung machten, um womoglich nicht die kognitiven Kompetenzen ihrer Kinder zu gefahrden (vgl. Zimmer 1999:215). Der entscheidende Wendepunkt kam 1962 mit einer Studie aus Kanada an franzosisch-englisch aufwachsenden Kindern. Hierbei stellten die zwei Linguisten Peal und Lambert fest, dass ihre getesteten zweisprachigen Kinder den monolingualen Testkandidaten im Bezug auf ihren IQ zumindest gleich, teilweise sogar uberlegen waren. Nun stellte sich naturlich die Frage, wie eine solche Diskrepanz zwischen den Forschungsergebnissen der Studien entstehen konnte. Peal und Lambert analysierten die vorherigen Studien und kamen zu dem Schluss, dass die untersuchten Kinder teilweise nur sehr schlechte Englisch- Kenntnisse hatten und so gar nicht in der Lage waren, die Fragen und Aufgaben des IQ-Tests effektiv zu bearbeiten. Den fruheren Untersuchungen lag nur ein unscharf skizzierter Begriff von Bilingualismus zugrunde -eigentlich gemeint waren aber Kinder aus der Unterschicht mit defizitaren Englischkenntnissen. Der Grad einer tatsachlichen Mehrsprachigkeit war bei ihnen vorher nie festgestellt worden. Bei Peal und Lambert hingegen wurde dieser Aspekt genauso beachtet, wie eine ahnliche soziale Herkunft als Vergleichskriterium, so dass die Ausgangslage aller Kinder relativ identisch war. Die Frage, ob Mehrsprachigkeit tatsachlich dazu beitrug, Intelligenz zu erhohen, konnte in diesem Rahmen zwar nicht beantwortet werden, allerdings war die Sicht auf Mehrsprachigkeit von nun an eine andere: Mehrsprachiges Aufwachsen wurde nicht langer als schadlich angesehen und konnte sich gegebenenfalls sogar positiv auswirken. Es folgten zahlreiche Untersuchungen, worin genau sich Bilinguale von Einsprachigen unterschieden. War es ihre geistige Flexibilitat oder ihr metalinguistisches Bewusstsein? Dies beispielsweise sah Werner Leopold, einer der Pioniere der Mehrsprachigkeitsforschung, als ausschlaggebenden Faktor: Die Kinder schienen eher zu erkennen, dass Worter auswechselbare Symbole sind (vgl.Triarchi Herrmann 2003:93ff, Zimmer 1997:217ff). Neuere Forschungsergebnisse scheinen die Richtigkeit dieser Annahme immer noch zu bestatigen (z.B. Davidson et al.1997, Pearson et al. 1995).

Zusammenfassend lasst sich sagen, dass sich seit den sechziger Jahren ein Gesinnungswandel im Hinblick auf zwei Standpunkte vollzogen hat: Zum einen begann man Mehrsprachigkeit als allgegenwartige Erscheinung anzusehen, die in allen Gesellschaften, Klassen und Altersgruppen auftrat. Zum anderen ging man davon aus, dass mehrsprachiges Aufwachsen sich nicht negativ auf Intelligenz und kognitive Fahigkeiten auswirkte und unter Umstanden sogar Vorteile fur ihren Besitzer haben konnte. Die bisherige negative Betrachtungsweise von Mehrsprachigkeit schien demnach viele Kindern mit niedrigem sozio-okonomischen Status noch weiter zu benachteiligen. Dies hatte zur Folge, dass viele Lander ihre Sprachpolitik umstellten und der Fokus nun auch auf die Erstsprachen gerichtet wurde (vgl.Zimmer 1997:218). Zu Beginn der Gastarbeiter-Zeit in Deutschland wurde der Muttersprache des zugewanderten Nachwuchses kaum Aufmerksamkeit geschenkt -von Bedeutung war alleine die deutsche Sprache und deren Erlernen. Es herrschte die zuversichtliche Annahme vor, die Kinder wurden sich durch ein permanentes Eintauchen (Submersion) im deutschen Sprachbad schnell die notigen sprachlichen Fertigkeiten aneignen. Nachdem jedoch die Zahl der zugewanderten Kinder an Kindergarten wie auch an Schulen stetig anwuchs und klar wurde, dass die bisherigen Methoden nicht effizient genug waren, begann die Forschung sich verstarkt mit den Erstsprachen auseinander zu setzen. Dabei waren es vor allem die Untersuchungen des kanadischen Sprachforschers Cummins und der finnischen Soziolinguisten Skuttnabb-Kangas/Toukomaa, die den Grundstein fur eine neue Sichtweise legten, in welcher der Erstsprache eine neue Rolle fur den Spracherwerb zugeteilt wurde (vgl.Jampert 2002:80). Cummins verglich in seinen Forschungsarbeiten zunachst kanadische Immersion- und Submersion-Programme, welche sich bei den beteiligten Schulern unterschiedlich auszuwirken schienen. Kinder, die nach dem Immersion-Prinzip unterrichtet wurden, deren Unterricht in einer der offiziellen Sprachen stattfand, aber die in bestimmten Fachern auch in ihrer Erstsprache von einer zweisprachigen Lehrperson unterrichtet wurden, schienen einen Bilingualismus mit guten Kompetenzen in beiden Sprachen aufzubauen und wiesen durchschnittlich bessere Leistungen auf als Kinder, die eine Schule mit Submersion- Programm besuchten und dementsprechend nur in der Mehrheitssprache unterrichtet wurden, wobei ihre Erstsprache aufier Acht gelassen wurde. Sie verfugten meist sowohl uber Defizite in Erst- und Zweitsprache und hatten zudem schlechte Schulleistungen. Neben soziokulturellen Aspekten verwies Cummins hierbei auf die Bedeutung der linguistischen Komponenten und erklarte in seiner Schwellenniveau-Hypothese die Auswirkung der Kompetenzen in Erst- und Zweitsprache auf die kognitiven Fahigkeiten eines Menschen.

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Ende der Leseprobe aus 119 Seiten

Details

Titel
Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund unter der besonderen Berücksichtigung der Erstsprache
Untertitel
Eine qualitative Untersuchung
Hochschule
Universität Augsburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
119
Katalognummer
V168506
ISBN (eBook)
9783640857395
ISBN (Buch)
9783640858606
Dateigröße
1034 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
sprachförderung, kinder, migrationshintergrund, elementarbereich, berücksichtigung, erstsprache, beispiel, augsburger, stadtteilmütter-, projekts, eine, untersuchung
Arbeit zitieren
Isabella Wlossek (Autor:in), 2010, Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund unter der besonderen Berücksichtigung der Erstsprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168506

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