Monstren im Mittelalter: die Dämonologie in Strickers Roman 'Daniel von dem Blühenden Tal'


Dossier / Travail de Séminaire, 2010

78 Pages, Note: 1,5


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Monstren im Mittelalter
1.1 Begriffsklärung Dämonologie
1.2 Die Funktionen von Monstren und Ungeheuern
1.3 "Wo man nichts genaues wissen kann, erzählt man Geschichten" - ein kleiner Exkurs zum Mythos
1.4 Fakt und Fiktion mythischer Geschöpfe im Mittelalter
1.5 Ursprünge und Quellen von Monstern und Fabelwesen
1.5.1 Die Wunder des Morgenlandes
1.5.2 Der Physiologus
1.6 Zusammenfassung

2 Die Dämonologie in Strickers Roman Daniel von dem blühenden Tal
2.1 Die arthurische Dämonologie
2.2 Der Daniel von dem blühenden Tal des Stricker
2.2.1 Der Autor Stricker
2.2.1.1 Zur Person
2.2.1.2 Zu seinem Werk
2.2.2 Allgemeines zum Daniel -Text
2.2.3 Inhalt vom Daniel
2.2.4 Forschungsgegenstände zum Daniel -Roman
2.3 Die fantastischen Geschöpfe und Gegenstände im Daniel
2.3.1 Die Riesen im Daniel
2.3.1.1 Auftreten des Botenriesen
2.3.1.2 Auftreten des Wächterriesen
2.3.1.3 Auftreten des Riesenvaters
2.3.1.4 Zur Motivgeschichte und Eigenart der Riesen
2.3.1.4.1 Biblische Erwähnungen
2.3.1.4.2 Erwähnungen in mittelalterlicher Literatur
2.3.1.4.3 Erscheinungsform und Wesen
2.3.2 Der Zwerg Juran
2.3.2.1 Das Auftreten Jurans
2.3.2.2 Zur Motivgeschichte und Eigenart der Zwerge
2.3.3 Das rote Ungeheuer
2.3.3.1 Auftreten des roten Mannes
2.3.3.2 Zu den möglichen motivischen Anleihen des roten Ungeheuers
2.3.3.2.1 Blut im Mittelalter
2.3.3.2.2 Zur Silvesterlegende und zum Amicus- und Amelius-Stoffkreis
2.3.4 Das bauchlose Ungeheuer
2.3.4.1 Auftreten des Bauchlosen im Daniel
2.3.4.2 Zu Motivgeschichtlichen Aspekten
2.3.5 Die Tierstatue im Daniel
2.3.5.1 Auftreten der Tierstatue im Daniel
2.3.5.2 Zu den motivgeschichtlichen Aspekten

Fazit

Literaturverzeichnis

Selbständigkeitserklärung

Anhang
Abbildung 1: Maschinen-Ungeheuer bei „Terminator“
Abbildung 2: Dreiköpfiger Hund bei „Harry Potter“
Abbildung 3: Computer-Monster
Abbildung 4: „Cloverfield“-Monster
Abbildung 5: Skiapode
Abbildung 6: Hundsköpfige
Abbildung 7: Einäugige aus Alexander-Handschrift
Abbildung 8: Hrabanus-Maurus-Handschrift
Abbildung 9: Solinus-Handschrift
Abbildung 10: Antipode
Abbildung 11: Illustrationen zum Alexander-Roman
Abbildung 12: Monstren aus dem Buch der Natur
Abbildung 13: Martikhora
Abbildung 14: Sirene
Abbildung 15: Elefant
Abbildung 15: Einhorn
Abbildung 16: Kopffüßler
Abbildung 17: Gryllen an den Rändern eines Stundenbuches
Abbildung 18: Kriegsautomat
Abbildung 19: Tönender Vogelautomat

Einleitung

Gegenstand dieser Arbeit sind die Monstren und Ungeheuer des Mittelalters im Allgemeinen und ihr Vorkommen im nachklassischen Artusroman Daniel von dem Blühenden Tal des Stricker im Speziellen. Bei dieser Vorgehensweise vom Generellen hin zum Besonderen bilden sich eine Reihe von assoziativen Anknüpfungspunkten heraus, die auch eine nähere Betrachtung finden, sodass hier keine bestimmte (erkenntnisleitende) Fokussierung auf lediglich einen konkreten Aspekt dieses Themenspektrums zu verzeichnen ist – mit allen Vor- und Nachteilen dieser Methode. Es wird zunächst erklärt, was für eine Etymologie hinter den Begriffen „Monster“,

„Dämonen“ oder „Ungeheuer“ steckt, wie diese zu definieren sind und welche (quasi anthropologischen) Funktionen jene Kreaturen eigentlich haben (ganz gleich ob in der Gegenwart oder im Mittelalter) – wobei ebenfalls ihre Verwandtschaft zum Mythos eine kurze Erläuterung findet. Dieser Teil zeigt und beschreibt dann auch typische Vertreter dieser Fantasiegebilde, wie sie fester (Glaubens-)Bestandteil des Mittelalters sind, indes sich ein zusätzlicher Abschnitt auch etwas ihrer Überlieferungsgeschichte widmet. So soll ein Kontext zum mittelalterlichen Stricker-Roman hergestellt werden, dessen Ungeheuerdarstellungen den zweiten großen Punkt dieser Arbeit ausmachen: Werk und Autor werden zunächst vorgestellt und die besonderen Eigenheiten der „arthurischen Dämonologie“1 referiert. Bei der Betrachtung der Unwesen zielt die Betrachtung dann auf die relevanten Textstellen im Roman ab und analysiert die Monstren anschließend hinsichtlich ihrer allgemeineren, motivgeschichtlichen Vorbilder, die im Mittelalter (und auch in der Antike) kursierten.

1 Monstren im Mittelalter

1.1 Begriffsklärung Dämonologie

Das griech. Wort „daimon“ (δαιμον) bezeichnet einen Zuteiler des Schicksals.2 Wörtlich übersetzt heißt es "böser Geist". Der Begriff taucht in dieser Form im 15. Jh. auf, als Zitat eines lateinischen Wortes schon im 11. Jh. Seine Wurzel stammt vom lateinischen daemōn und das wiederum aus dem griech. daímōn. In frühester Zeit wurde damit jedes Wirken eines Gottes bezeichnet, der nicht genannt werden kann oder soll. Dann wurden damit alle Formen des Göttlichen bezeichnet, wobei immer weniger olympische Götter gemeint waren und der Singulär des Wortes oft eine negative Bedeutung aufwies. Im Christentum überwiegt diese negative Komponente, da der Begriff in Richtung "Teufel" abgewandelt wurde.3 Thales von Milet (6. Jh. v. Chr.)

bezeichnete damit die Tatsache, dass die Welt von Geistern erfüllt sei (ähnlich animistischer Vorstellungen, die von der Beseeltheit der Welt ausgehen), Sokrates versteht darunter das Gewissen. Im Christentum erfährt der Begriff eine weitgehend negative Bedeutung, mit dem heidnische, vor allen Dingen germanische Gottheiten verteufelt wurden im Zuge der Christianisierung. Zur negativen Bedeutung trugen auch die Übersetzungen des griechischen Wortes "daimon" von Ulfilas und Notker Teutonicus in "unhultho" bzw. "holdo" bei; neuhochdeutsch also ein "Unhold", der einem feindlich gesonnen ist. Auch wenn sich "Dämon" semantisch mit "Monster", "Fabelwesen", "Ungeheuer" etc. schneidet4, so macht die wörtliche Übersetzung "böser Geist" auf das Besondere aufmerksam, was viele Dämonen als Eigenschaft haben können: geister-, gespensterhaft und damit körperlos, also nicht materialisiert bzw. unsichtbar sein.5

Der Begriff "Monstrum" im Sinne von "Ungeheuer" taucht im 16. Jh. auf. Entlehnt ist er aus dem lat. mōnstrum, dessen eigentliche Bedeutung heißt: "mahnendes Zeichen der Götter durch eine widernatürliche Erscheinung" bzw. dem lat. Verb monēre, was wörtlich "erinnern, mahnen" heißt (auch das deutsche Verb "monieren" ist davon abgeleitet). Auf den gleichen lateinischen Ursprung gehen das französische Lehnwort "monströs" und die englische Entlehnung "Monster" zurück.6

Das besondere an diesem Begriff ist, dass er (in Abgrenzung zu den anderen Wörtern "Dämonen", "Ungeheuern" etc.) in der Antike missgebildete Menschen und Tiere meinte.7 Monstren haben also; auch wenn sie meist in exotischen Ländern angesiedelt werden, weswegen man ihre wirkliche Existenz kaum nachprüfen konnte; eine reale Grundlage. In Antike und Mittelalter machte man für die Entstehung von Missgeburten verschiedene Gründe ausfindig: Schläge auf den schwangeren Mutterleib, Träume und Halluzinationen von Schwangeren oder Verzehr von giftigen Kräutern. Hildegard von Bingen war sogar der Ansicht, dass Sodomie oder Geschlechtsverkehr mit dem Teufel bzw. Dämonen ursächlich für die Entstehung von Monstren waren.8

"Widernatürliche, normabweichende Variationen, Anomalien und Deformationen"9 sind dabei die originären Eigenschaften eines Monsters. Ein derartiges Differieren zu vertrauten menschlichen Formen, macht ein Monstrum eben fremdartig, grässlich, widerwärtig und damit meist unheimlich und schrecklich, kurz: es ist einem nicht geheuer.

Das Wort "Ungeheuer" stellt eine substantivierte Verneinung des Adjektivs "geheuer" dar. Letzteres geht zurück auf das mhd. gehiure. Zugrunde liegt das germanische Wort hiurja (und die wahrscheinlich ältere Form heiw-ra) "lieb" sowie das altnordische hýrr, das altenglische hīere, das altsächsische unhiuri und das ahd. unhiuri mit der Bedeutung "unheimlich".10

Der Begriff „Fabelwesen“ leitet sich dagegen ab von "fabula", womit in Antike und Mittelalter eine erfundene Geschichte bezeichnet wurde.11 Davon leitet sich auch das heute noch gebräuchliche Verb "fabulieren" ab, was so viel bedeutet wie "fantasieren" bzw. "sich etwas ausdenken". Nach mittelalterlicher Vorstellung spielte aber naturwissenschaftliche Wirklichkeit ob der Existenz solcher Wesen keine große Rolle, "weil sich Wahrheit allein durch eine Entsprechung zum Heilsgeschehen erweist".12 Auch wenn es keine soliden Merkmale von Fabelwesen gibt, so ist der Begriff stark an die Wunder des Ostens13 geknüpft.

Der eingangs genannte Begriff "Dämon" wurde thematisiert in Hinsicht auf seine heutige wörtliche Übersetzung, seine Bedeutung in der antiken griech. Welt und seine Verwendung im christlichen, mittelalterlichen Kontext. Abgesehen von den vielen Bedeutungsnuancen, die in "Dämon" mitschwingen, wird der Begriff in dieser Arbeit wie auch im Titel derselben in einer Art und Weise verwendet, wie sie sich an der Arbeitsdefinition in Bräuers Aufsatz "Die arthurische Dämonologie"14 orientiert:

"Definitorisch schließen wir in die Welt des Dämonischen alles Metaphysische ein, das nicht in die Sphäre des autonomen religiösen Dogmas (in unserem Falle der mehr oder weniger offiziellen christlichen Dogmatik) gehört, also neben den mit dem Begriff des Dämonischen vorwiegend negativ assoziierten metaphysisch-phantastischen Gestalten und Phänomenen unterschiedlichster Art und Provenienz wie Ungeheuer, Gespenster, Monstren, Bestien, verzauberte und verderbenbringende Orte und Gegenstände etc. auch ihre positiven Pendants wie (heidnische bzw. christliche) Göttinnen, gute Feen, freundliche Zwerge oder die zahlreichen positiv verzauberten, Rettung bringenden Gegenstände, Waffen und Reliquien [...]."15

Egal ob "Ungeheuer", "Dämonen", "Monster" oder "Fabelwesen", es gibt zwischen den Begriffen Überschneidungen und diffuse Übergänge; eine strikte Einteilung von Kreaturen in diese Gruppen ist weder möglich noch sehr sinnvoll.16 In dieser Arbeit werden die genannten Begriffe daher ggf. meist synonym werden, denn ihnen allen ist gemein, dass sie (aus neuzeitlicher Sicht) imaginäre Geschöpfe meinen und eben jene phantastischen Wesen (die es banal gesagt im Unterschied zu den wirklichen Arten in der Natur nicht gibt) sollen hier Untersuchungsgegenstand sein.

1.2 Die Funktionen von Monstren und Ungeheuern

Ungeheuer, Monstren und Fabelwesen begegnen uns im modernen, populären Unterhaltungssegment nachwievor beinahe täglich: in Kinofilmen gibt es außerirdische Wesen, Maschinenmenschen17, Zombies, Vampire (sie haben zur Zeit im Kino mehr denn je Hochkonjunktur, ersichtlich an den „Twilight“-Filmen); in Science-Fiction- bzw. Fantasybüchern und -filmen gibt es Wesen jeglicher nur vorstellbarer Art – Harry Potter ist da mit seinen Magiern, Basilisken, dreiköpfigem Hund (siehe Abb. 2), Hexen, Phönixen, Kentauren, sprechenden Spinnen und Schlangen uvm. fast noch ein altbekannter Klassiker, was die Besetzung mit Monstren angeht. Immerhin sind viele der eben aufgezählten, im Buch und Film zu findenden Wesen direkte Anleihen aus der griech. oder römischen Mythologie. Die modernen Unterhaltungstechniken verschaffen den zahllosen Ungeheuern eine nie dagewesene Lebendigkeit. In vielen Computer- Rollenspielen kämpft man meist mittels aufgerüsteter, oftmals mittelalterlich anmutender Helden gegen Monstren verschiedenster Couleur und muss sie besiegen, um "Erfahrungspunkte" zu sammeln und seine Spielfigur noch stärker, intelligenter, schneller etc. werden zu lassen. Oder man lenkt in einem solchen Spiel gleich selbst ein solches Monster, das man je nach Gusto im Aussehen und Ausrüstung gestalten kann, und kämpft mit oder gegen tausende andere Monstren im Internet – alle gesteuert von realen Menschen (siehe Abb. 3).

Unwesen und Dämonen gab und gibt es immer und überall. Die Attraktionskraft von Monstren auf den Menschen "ist zweifellos nicht an einen bestimmten historischen Augenblick gebunden"18 bzw. „Furchteinflößendes, Nicht zu Denkendes, Schreckliches, Mysteriöses ist Gegenstand beinahe jeder Kultur und Epoche“.19 Man könnte sagen, es liegt in der menschlichen Natur: "Das Monströse scheint dem elementaren Bedürfnis nach einer Wunschwelt des Geheimnisvollen und der Lust am Dunklen zu entspringen."20 Ungeheuer sind aber in diesen Tagen nicht nur Entertainment, sondern auch (psychologische) Bewältigungsstrategie. Es braucht als Betroffener wirklich unglaubliche Stärke, einem Vergewaltiger oder Gewaltverbrecher Verständnis oder humane Werte zuzugestehen. Grausame Taten sind durch das von ihnen ausgelöste Leid, für viele Menschen oft unfassbar – so wie die Täter. Und so reicht es manchem nicht, schlicht von „Täter“ oder „Schuldigen“ zu sprechen, sondern man spricht ihnen den Menschenstatus ab, bezeichnet sie als „Monster“ oder z.B. als „Kannibalen von Rotenburg“21.

Natürlich gibt es auch gute Fantasiegeschöpfe – gewissermaßen als „positive Bewältigungsstrategie“. Wie kann man sich erklären, dass jemand spontan und ohne erkennbaren Grund von einer unheilbaren Krankheit urplötzlich genesen ist oder als einziger einen Flugzeugabsturz überlebt hat (so wie das 14-jährige Mädchen im Jahr 2009, welches nach dem Unglück lebend aus dem Indischen Ozean gerettet wurde22 )? So etwas kann natürlich nur ein „Wunder“ gewesen sein bzw. musste eine solche Person zweifellos einen „Glücksengel“ gehabt haben. Auch in einem anderen Gebiet braucht man unendliches Glück: hat man sechs Richtige angekreuzt plus passender Superzahl, macht einen die „Lotto-Fee“ reich. Ist man außerordentlich kreativ, wurde man bestimmt „von der Muse geküsst“, verliebt man sich, wurde man wahrscheinlich „von Amors Pfeil getroffen“ und hat man es momentan im Leben allgemein ziemlich gut erwischt, so ist der oberste Schutzpatron, „ist Gott mit dir“. Solche Beispiele zeigen auch, wie sehr Metaphysisches respektive Zauberhaft-Dämonisches bereits in unserem normalen Sprachgebrauch eingedrungen sind.

Auch folgendes Beispiel soll zum Verständnis einmal näher veranschaulicht werden: in dem Kinofilm "Cloverfield“ aus dem Jahr 2008 legen wolkenkratzergroße Monster New York in Schutt und Asche (siehe Abb. 4). Man könnte diesen Film für sich stehend unterhaltend sehen, man könnte ihn aber auch als eine Allegorie auf den 11. September 2001 deuten. Denn die Monster darin erscheinen ohne erkennbare Ursache ganz plötzlich in New York; sie sind einfach da wie „aus heiterem Himmel“, so wie die von Terroristen gekaperten Passagierflugzeuge am 11. September, welche ins World Trade Center rasen. Auch die Art und Weise, wie die Hochhäuser der Weltmetropole im Film durch die Ungeheuer zerstört werden (sie fallen dabei zusammen, verschütten Menschen, wirbeln Staub auf), erinnert stark an die einstürzenden Gebäude am besagten, realen Unglückstag. Der Film „Cloverfield“ ist so gestaltet, dass der Zuschauer die ganze Geschichte durch die Handkamera von einer der fiktiven Filmfiguren wahrnimmt – inklusive unscharfer, verwackelter Bilder wie sie bei Hobbykameras vorkommen mögen. Diese „Amateuraufnahmen-Inszenierung“ soll ein Authentizitäts- und Mitten-drin-Gefühl erzeugen: der Zuschauer sieht die Zerstörung New Yorks von der Perspektive des Mannes auf der Straße, ist dem Treiben ausgeliefert wie der New Yorker anno 2001. Man sieht in dem Film mindestens eine Szene, die 1:1 von einer realen Kameraaufzeichnung des Unglückstages vom 11. September nachgespielt wurde: eine Person rettet sich vor den Schuttmassen eines zusammenkrachenden Wolkenkratzers in ein Geschäft am Rande der Straße und filmt von innen die Fensterscheiben, die vom herunterfallenden Staub verdunkelt werden. Die Monster in dem Film könnte man als Metapher für den Schrecken vom 11. September interpretieren. So wie der Terror sprichwörtlich seine Klauen nach dem World Trade Center ausfährt, reißt das überdimensional große Monstrum im Film mit seiner bloßen Hand ein ganzes Hochhaus nieder. Terrorismus ist ein globales und hochkomplexes Phänomen; zu verstehen, wie es funktioniert und wer die Bösen sind, ist nicht ganz leicht bzw. unmöglich. Die Monster im Film helfen bei der Verarbeitung eines kollektiven Traumas, indem sie den Terrorismus durch ihre Bildhaftigkeit metaphorisieren, vergegenständlichen, simplifizieren und konkretisieren, und zugleich ihn dämonisieren – es sind ja hässliche Ungeheuer. Wie das Beispiel verdeutlichen sollte, sind diese mythischen Gestalten bzw. Dämonen im Kino einerseits kurzweilig, in der heutigen Zeit bilden sie aber auch andererseits unsere Schrecken und Ängste ab.

Und diese zentralen Funktionen hatten die Fantasiegeschöpfe auch im Mittelalter. Sie spielten früher aufgrund ihrer geglaubten Realität23 eine viel intensivere Rolle als heute. Doch egal, ob nun ein Ungeheuer in seiner bildlichen Erscheinung für wahr gehalten oder als verbildlichte Emotion angesehen wird:

"Gerade wegen ihrer Existenz als Hirngespinste sind solche Geschöpfe durchaus Realität. Dann, wenn sie als Projektionen psychischer Zustände und seelischer Verfassung dienen; dann, wenn sie - gleichviel ob als triviale Stereotypen oder originelle Deutungsmodelle - zum Verständnis von Welt beitragen und menschliche Erfahrung, Angst oder Hoffnung ausdrücken und verstehbar machen wollen."24

Dennoch muss deutlich gesagt werden, dass dies eine äußerst moderne Sicht auf die Unwesen ist und dass sich die Funktionen, welche Monster haben, nicht auf ein gemeinsames "Grundmuster reduzieren lassen"25 – auch nicht die in dieser Arbeit untersuchten Monstren eines mittelalterlichen Werkes.

"Sie gehören der Vorstellungswelt einer Epoche an und übernehmen bestimmte orientierende, sinnstiftende, handlungsleitende Funktionen."26

Monstren und Fabelwesen werden im Mittelalter da zu unterschiedlichsten Zwecken verwendet:

"Um [beispielsweise] Laster und Tugenden begrifflich vorstellbar zu machen, kombiniert und konstruiert die Scholastik ganz rational Montagen aus Tieren und Menschen."27

Die einzelnen Teile verschiedener Tiere haben eine negative Symbolik und sollen in den verschiedensten Zusammensetzungen unterschiedlichste menschliche Laster anprangern. Es gibt beispielsweise Wesen, die Hörner auf dem Kopf tragen, entblößte Brüste zeigen, tierische Unterleiber haben und gleichzeitig Phallus und Vulva aufweisen. Solch eine Kreatur dämonisiert das teuflisch-sündenhafte Verhalten eines Menschen, stigmatisiert Schamlosigkeit und sexuelle Umtriebe.28 In mittelalterlicher Literatur können sich dann wiederum andere Bedeutungen und Qualitäten von (unheilvollen) Fantasiewesen ergeben: sie unterscheiden sich in ihrem Aussehen und Auftreten von den Protagonisten mittelhochdeutscher Werke; schaffen ein abzulehnendes Gegenbild vom Helden und weichen vom Erwünschten ab:

"Abweichungen zu ersinnen, meint [dabei] immer auch die Norm definieren. [...] Wie sich die Helden im Kampf gegen die Ungeheuer profilieren, so konturieren sich vielfach auf der Folie des Verzerrten höfische Norm- und Wertvorstellungen."29

Den Kampf gegen das Monster gibt es in vielen (wenn nicht gar allen) Kulturen. Und neben den unter gegebenen historischen Bedingungen spezifischen Interpretationen dieses ewigen Wettstreites gibt es auch "globale Deutungen":30 Erneuerung des Schöpfungsaktes, Sieg über das Böse, Herstellung individueller und kollektiver Identität, Akt der Erinnerung oder Bannung von traumatischen Ängsten. Hinter all dem steckt letzten Endes ein grundlegender, wenn auch sehr allgemeiner Sinn von Fantasiegebilden: sie suchen in der Welt nach Zusammenhängen, wollen sie erklären, Verständnis schaffen, sprich: die Welt einfach verstehen. Und genau "diese Funktion macht imaginäre Geschöpfe zu mythischen Kreaturen."31

1.3 "Wo man nichts genaues wissen kann, erzählt man Geschichten" - ein kleiner Exkurs zum Mythos

Der Begriff Mythos ist vieldeutig und nicht ganz leicht zu fassen.32 Im Alltagsgebrauch kann er verwendet werden, um beispielsweise die besondere Ausstrahlung oder Geschichte vom "Mythos New York", "Mythos Eigernordwand"

oder gar vom "Mythos Stalin" zu erklären. Andererseits wird er aber auch oft benutzt, um eine Unwahrheit herauszustellen: dass die Erde eine Scheibe ist und Spinat viel Eisen enthält sind „Mythen“. "Die Rente ist sicher!" - wirklich? Oder ist das auch nur ein „Mythos“? Denn wer diesen viel zitierten Spruch des ehemaligen Arbeitsministers Norbert Blüm noch glaubt, wird in den Augen vieler selig. Eine derartige Vorstellung vom Mythos als etwas Falsches/Unwahres gründet wahrscheinlich in der Gegenüberstellung mit dem Begriff vom Logos, was wohl nicht zuletzt auf das Zeitalter der Aufklärung zurückzuführen ist, wo aus Aberglaube Vernunft werden sollte.33 In der Bedeutung ähnlich zu diesem laienhaften Mythos-Verständnis ist auch der Ausspruch „Erzähl‘ mir doch keine Geschichten!“. „Geschichten“ haftet etwas Ausgedachtes, Fiktives, nicht unbedingt Wahres an und genau diese Assoziation führt uns zu dem grundlegenden Punkt hin, was alle Mythen im Kern eigentlich sind:

"Mythen sind Geschichten, zum Teil uralte, zum Teil auch ganz zeitgenössische, denen eine Art Modellcharakter zukommt. Die Geschichte mag dabei an einem bestimmten Ort, bei modernen Mythen sogar zu einem bestimmten Zeitpunkt ihren Ausgang genommen haben, immer kommt ihr eine zusätzliche, mitunter über die Zeit hinausgehende, manchmal sogar zeitlose Bedeutung zu. In diesem Sinn sind Mythen Bilder oder Geschichten, die dazu benutzt werden können (und konnten), um mit ihrer Hilfe andere Geschichten zu erzählen, Gedanken zu erläutern, Problemstellungen zu schildern und Erfahrungsgehalte zu vermitteln."34

Eine sehr wichtige Funktion von Mythen ist demnach, zu erklären (und mittels Geschichten zu verbildlichen), warum es die Welt und die Dinge in ihr gibt, letzten Endes also die fundamentalen Fragen der Menschheit an sich zu lösen. Gibt es denn in unserer aufgeklärten Welt eindeutige, rationale Erklärungen für die Herkunft der Welt, die Ursache des Bösen, den Grund für das Altern, das plötzlich-unerwartete Ausbrechen einer bösartigen Krankheit wie beispielsweise Krebs, die Entstehung von menschlichem Bewusstsein, die Frage, was nach dem Tod kommt etc.? Die Geistes- und Naturwissenschaften verhandeln diese grundlegenden Fragen der Menschheit seit Jahrhunderten und tun dies immer noch. Und obwohl sie schon vieles beantwortet haben, schlagen sie mit ihren Erkenntnissen nur immer neue unbekannte Kapitel auf und geraten auch an die Grenzen ihrer selbst definierten Erkenntnisfähigkeit. Fehlende Erklärungen aber liefert sich der Mensch mit dem Mythos, mit Geschichten selbst: "Wo man nichts genaues wissen kann, erzählt man Geschichten."35 Weil der Mythos in den Bereichen, wo die Rationalität noch nicht vorgedrungen ist, Vorstellungen schafft und kulturell in Kunst, Literatur, Religion, Philosophie usw. mit dem Konstruieren von Geschichten auch Wissen produziert, hat er als solches "nicht nur konstativen, sondern auch performativen Charakter"36 – er schafft Wirklichkeit.37 Die Konfessionsausübung ist im 21. Jh. in unserer Welt ungebrochen und die Mythen der Weltreligionen erklären den Menschen die (metaphysischen) Dinge, von denen die Wissenschaft sagt, dass es unwissenschaftliche wäre, Erklärungen darüber zu liefern.

Ein anderes Beispiel: wie sorgt man dafür, dass sich ein sechsjähriges Mädchen die Zähne regelmäßig putzt? Fängt man an, große Referate zu schwingen und sagt dem Kind, dass sich beim Nicht-Bürsten der Zähne Bakterien, mikroskopisch kleine einzellige Organismen, im Mundraum ansammeln, die sich von Glucose ernähren, die Stoffwechselprodukte ausscheiden, welche letztendlich den Zahnschmelz angreifen? Wahrscheinlich nicht. Stattdessen übersetzt man den Schrecken in ein für das Mädchen verständliches Bild von einem Monster: wenn es sich die Zähne nicht putzt, kommt ein böser Zahnteufel, der kleine schwarze Löcher bohrt und das tut dann weh. Der Mythos (vom Zahnteufel) dient eben auch dazu, einen komplizierten Sachverhalt zu vereinfachen, verständlich zu machen. Der Zugang zum Menschen erfolgt beim Mythos dabei narrativ, emotional und häufig in Form von Bildern; er entwickelt Gestalten, Monster, andere Welten und Wesen, kurz: Bilder; verknüpft diese zu Geschichten und will damit beim Menschen ganz bestimmte Gefühle auslösen. Mythen sind zeitlos, denn:

"Immer wieder erzählen sie doch auch unsere Geschichten, die Geschichte der Menschheit mit allen ihren Katastrophen und Entwicklungen, mit ihren Wünschen, Träumen und Ängsten."38

Und so ist selbst zweieinhalb Jahrhunderte nach der Epoche der Aufklärung unsere Welt immer noch weit davon entfernt, gänzlich aufgeklärt zu sein: es gibt neue Mythen mit neuen Welten und fantastischen Wesen, die in mancherlei Hinsicht aber immer irgendwie die alten bleiben.

1.4 Fakt und Fiktion mythischer Geschöpfe im Mittelalter

Mythische Wesen, Monstren, Fabelvölker etc. kommen im Mittelalter in Massen vor, egal ob an den Rändern illuminierter Handschriften, an oder in Kirchenmauern, auf Karten oder in der Literatur, ganz gleich also ob in Bild oder Schrift. Das ihnen eigene ist, dass man sie nicht für reine Fantasiegebilde gehalten hat:

"Mittelalterliches Bewusstsein wollte wundersame Phantasiegeschöpfe nicht von realen Naturgeschöpfen unterscheiden. Zum einen, weil die Bibel den Unterschied auch nicht macht; zum anderen, weil nach allgemeiner Anschauung vom Begriff auch auf das Wesen der Sache geschlossen wird: Worte sind der Dinge Zeichen. Deshalb bezeichnet 'Drache' unbezweifelbar einen existierenden Drachen oder 'Kynokephalos' eben einen wirklichen Hundsköpfigen."39

Das, was der heutige Mensch aufgrund seiner Welterfahrung mehr oder weniger problemlos unterscheiden kann zwischen einem Wesen, das es tatsächlich gibt und einem anderen, welches nur ein Hirngespinst darstellt, ging unseren Vorfahren noch abhanden, "[...] denn historische und poetische Wahrheit ist noch nicht dissoziiert [im hohen Mittelalter], und ein Fiktionsbewusstsein entsteht erst unter den Voraussetzungen der modernen Welt."40

Damit sind die Monstren "geglaubte Fiktion, die nicht an der Faktizität gemessen werden muß, um glaubwürdig zu sein. Als imaginäre Gestalten sind die Ungeheuer den Menschen historische Wirklichkeit."41

Gottes Schöpfungen sind mannigfaltig und so hat man im Mittelalter in Gottes Werk nichts für unmöglich gehalten. Der große Kirchenvater Augustinus behauptet in seinem Werk Civitas Dei, dass alle Rassen – egal ob sagenhafte Völker, ob missgebildet oder nicht – von Adam abstammen, letzten Endes also Teil des göttlichen Plans sind.42

Eine spezielle Rolle kommt dabei sicherlich dem Buch zu:

"Das Buch ist im Mittelalter das Medium, durch das die Wirklichkeit und die Natur wahrgenommen und gewertet werden. Die empirische Umwelt war kaum der Maßstab für die Darstellung der Welt in den Büchern. Eher wurde umgekehrt die Welt nach den Büchern wahrgenommen und beurteilt."43

Aus diesem Grund wurde zwischen erdachten und natürlichen Wesen in der Welt kein großer Unterschied gemacht, beide wurden gleichermaßen für sehr real gehalten. Das geschriebene Wort hatte im Mittelalter eine ungleich größere Bedeutung als dieser Tage (man denke lediglich an den Wortlaut "Die Heilige Schrift") und genauso verhielt es sich auch mit Büchern. Sie waren nicht allein bloße Wissensspeicher, sondern bedingt durch ihre Seltenheit und aufwendige Herstellung ein äußerst kostbarer Schatz, sozusagen auch ein materielles Statussymbol. Die heilige Aura, die sie umgab, verlieh ihrem Inhalt, dem Geschriebenen Wort besondere Bedeutsamkeit. Bestimmt auch deshalb glaubte man so manches Mal den Büchern mehr als dem „Buch der Welt“, und seien es eben Fantasiegeschöpfe, um die es sich gehandelt hat. Sie gibt es in der Religionsauffassung des Mittelalters (wie man beispielsweise an den Hexenverfolgungen sehen kann), der Medizin (Krankheiten hatten etwas Dämonisches, Teuflisches), in der Astrologie (man denke an die Tierkreiszeichen), in der Kunst und Literatur – kurz: Phantasiewesen waren im mittelalterlichen Alltag ein allgegenwärtiger Bestandteil.44

1.5 Ursprünge und Quellen der Vorstellungen von Monstern und Fabelwesen

1.5.1 Die Wunder des Morgenlandes

Ein großer Teil der Überlieferungsgeschichte der Ungeheuer im Mittelalter liegt in der Faszination der Wunder des Orients begründet. "Die griechische Idee der ethnographischen Monster"45 bzw. der monströsen (Fabel)Völker (homines monstruosi) geht dabei zurück auf antike Autoren, welche die Wunder des Morgenlandes, genauer gesagt Indiens beschrieben, darunter der Seefahrer Skylax (6. Jh. v. Chr.) der Historiograph Ktesias von Knidos (ungefähr im 5. Jh. v. Chr.), Menander und Megasthenes.46 Insbesondere seit Ktesias Buch über Indien, in welchem er über sagenhafte Völker berichtet, gilt dieses Land seitdem in der westlichen Welt, als exotisch und wunderhaft.47 Ktesias berichtet über Diamanten, Gold, über das Wetter Indiens, über Pygmäen und Riesen, Völker mit lediglich einem einzigen, riesigen Fuß, den sie als Sonnenschirm benutzen (Skiapoden, siehe Abb. 5), hundsköpfige Menschen (Kynokephaloi, siehe Abb. 6), die anstatt sprechen zu können nur bellen; kopflosen Menschen, deren Konterfei zwischen den Schultern sitzt; er erzählt von Fabeltieren wie dem Einhorn, dem Greif und dem Martikhora (siehe Abb. 13) bzw. Manticor48, einem Mischwesen mit einem menschlichen Kopf, einem Löwenkörper und einem Skorpionsschwanz; unnatürlich großen Haustieren, die in Indien leben und einiges mehr.49 Diese frühen antiken Vorstellungen über fremdartige Völker speisen sich einerseits aus mythologischen Überlieferungen, andererseits aus Reise- und Seefahrerberichten aus der orientalischen bzw. indischen Tradierung.50 Zu einer solchen Reiseliteratur über Indien zählen auch die Berichte in Sindbâds Reisen und Tausendundeine Nacht sowie in der Kosmographie des Al-Qazwīnī, „der arabische Plinius des 13. Jh.“51 Fabelgeschichten hatten sich so manches Mal an indischen Epen als Quelle bedient; Megasthenes z.B. (siehe unten) sagt, sein Wissen um die Wunder stamme von indischen Brahmanen.52 Es ist durchaus möglich, dass griechische und indische Ideenbestandteile einen "gemeinsamen mythischen Ursprung in Zeiten jenseits unserer historischen Grenzen"53 gehabt haben könnten.

Alexander d. Große fiel 326 v. Chr. in Indien ein und mit ihm reiste ein Heer von Wissenschaftlern, die seine Expedition begleiteten und die fremden Länder dokumentieren sollten (siehe Abb. 7).54 Vieles von diesen Aufzeichnungen ging verloren, jedoch erlangte die Abhandlung Megasthenes' über Indien (der 303 v. Chr. an den Hof des indischen Königs Sandrakottos gelangte), die nach Alexanders Feldzug verfasst wurde, große Berühmtheit und beeinflusste andere antike Autoren, die sich mit dem Thema beschäftigten, wie Arrian, Plinius, Strabon und weitere.55 Schon Megasthenes' Bericht enthielt wunder- bzw. sagenhafte Völker, Mischwesen und Tiere wie Skorpione von immenser Größe, nach Gold grabende Ameisen, Menschen die tausend Jahre lang leben (Hyperboreer), Menschen, die Hundeohren haben uvm.56 Die Berichte von Ktesias und Megasthenes blieben bis ins späte Mittelalter hinein wichtige Indienquellen und in ihrer Authentizität unangefochten. Das lag gewiss auch darin begründet, dass Indien aufgrund schwieriger politischer Verhältnisse im Osten über den Landweg nur äußerst mühselig zu erreichen war.57 Auch in Äthiopien, welches in der Antike und im Mittelalter oft mit Indien verwechselt wurde58 vermutete man Fabelvölker, ebenso wie in Libyen und Skythien.59 Gerade über solche fernen, exotischen Länder, welche für den mittelalterlichen Menschen der westlichen Hemisphäre nur schwer zu erreichen waren, gab es früher nur wenige gesicherte Erkenntnisse - so musste das fehlende Wissen eben durch die Einbildungskraft des Menschen substituiert werden. Es gab aber auch kritische Stimmen über die Wunder des Morgenlandes: Strabon, der sich für seine Geographica (1. Jh. v. Chr.) von Megasthenes beeinflussen ließ, tat die sagenhaften Völker als Lügnereien und Hokuspokus ab, ebenso wie der antike Autor Aulus Gellius, der die Wunder-Berichte als wertlose Schriften ohne jeglichem Nutzen für das Leben bezeichnete.60 Außerdem sorgten die präzisen geographischen Kenntnisse des Aristoteles, Ptolemäus, Eratosthenes und anderer Griechen (die sogar schon in der Antike bewiesen haben, dass die Erde eine Kugel ist) für eine kritischere Sicht über die Wunder Indiens (obwohl Indien auch hier geographisch unzureichend beschrieben war).61 Das geographische Wissen der Griechen geriet mit dem Beginn des frühen Mittelalters jedoch wieder in Vergessenheit und somit wohl auch ein Teil der Kritik an der Echtheit der Indienberichte.

Die alten antiken Aufzeichnungen über die Wunder Indiens beeinflussten auch wesentlich die Inhalte des Werkes von Plinius dem Älteren. Seine Historia naturalis wurde 77 n. Chr. beendet62 und war im Mittelalter einer der wichtigsten Quellen für Monstren. Darin wurde berichtet von kopflosen Menschen (Acephalen, siehe Abb. 9 und Abb. 12); Vierfüßlern mit fehlenden Ohren (Ambaren); Menschen mit nach hinten verdrehten Füßen (Antipoden, siehe Abb. 10); Menschen ohne Mund, die sich von Duft ernähren (Astomen); beharrte Menschen, die stets nur brüllen (Choromandaren);

Skiapoden; von dem skythischen Volk der Hippopoden (mit Pferdehufen als Beine); vom Volk der Panotier mit überlangen Ohren (siehe Abb. 8); Menschen, die auf allen Vieren laufen (Artabatiten), Menschen mit sechs Fingern pro Hand oder mit vier Augen; ohne Zunge oder ohne Nase; mit überdimensionierter Unterlippe; doppelten Pupillen u.v.m. – die Phantasie kannte kaum Grenzen.63 Von mindestens gleicher Bedeutung für die mittelalterliche Rezeption von Ungeheuern war die von Solinus im 3. Jh. n. Chr. verfasste Collectanea rerum memorabilium (siehe Abb. 9), welche viele Anleihen von Plinius enthielt sowie das Werk von Martianus Capella aus dem 5. Jh. n. Chr.64

[...]


1 Nach Bräuer 1999.

2 Vgl. im Folgenden dazu Wunderlich 1999, S. 18.

Im Übrigen werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit alle weiteren Quellenangaben nicht in Klammern, sondern über Fußnoten zitiert, um den Lesefluss nicht unnötig zu bremsen.

3 Vgl. im Folgenden den Begriff „Dämon“ bei Kluge/Seebold 2002, S. 179.

4 Vgl. Wunderlich 1999, S. 18.

6 Vgl. den Begriff „Monstrum“ bei Kluge/Seebold 2002, S. 630.

7 Vgl. Wunderlich 1999, S. 23.

8 Vgl. ebd., S. 25.

9 Ebd., S. 24.

10 Vgl. den Begriff „Ungeheuer“ bei Kluge/Seebold 2002, S. 339.

11 Vgl. Wunderlich 1999, S. 29.

12 Ebd.

13 Siehe hierzu Kapitel 1.5.1 in dieser Arbeit.

14 Vgl. Bräuer 1999 sowie Kapitel 2.1.

15 Ebd., S.80.

16 Vgl. Wunderlich 1999, S. 11.

17 Berühmt ist beispielsweise die „Terminator“-Filmreihe (siehe Abb. 1 im Anhang dieser Arbeit), welche menschenähnliche Cyborgs zeigt, die in der Zukunft alles menschliche Leben auszurotten versuchen. Vielleicht eine schöne Allegorie dafür, wie der postmoderne Mensch im Internetzeitalter durch die ganze Technik verunsichert ist, er sich zu Teilen von ihr entfremdet fühlt und manchmal sich die Frage stellt, wer eigentlich von wem abhängig ist oder wen kontrolliert: der Mensch die Technik oder umgekehrt? Der Film treibt diese Angst vor Robotern, Internet und Technik auf eine kinotaugliche, fiktionale Spitze: die „Terminatoren“ haben ein mechanisches Skelett; manche von ihnen tragen aber auch eine menschliche Haut darüber, sodass man sie äußerlich nicht als Androiden identifizieren kann. Die Maschinen

infiltrieren (metaphorisch gesehen) quasi unbemerkt die Zivilisation; sie gewinnen ein Eigenleben, ein eigenes Bewusstsein und verdrängen schließlich die Menschheit.

18 Giloy-Hirtz 1991, S. 187.

19 Ebd.

20 Ebd., S. 167

21 Damit ist Armin Meiwes gemeint, dessen Fall hohe Wellen schlug und der von den Medien diesen Titel erhielt. Er hatte mutmaßlich einen Menschen auf dessen Verlangen hin getötet und zu Teilen verzehrt.

spiegel.de: Lebenslang für Meiwes. Wie man einen Menschenfresser los wird. Artikel vom 09.05.2006. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,415361,00.html [zuletzt geprüft am 19.9.20109].

22 sueddeutsche.de: Mädchen überlebt Unglück. Artikel vom 30.06.2009. http://www.sueddeutsche.de/panorama/flugzeugabsturz-vor-den-komoren-maedchen-ueberlebt-unglueck- 1.96722 [zuletzt geprüft am 18.9.2010]

23 Siehe Kap. 1.4.

24 Wunderlich 1999, S. 13.

25 Giloy-Hirtz 1991, S. 169. Vgl. auch ebd., S. 187.

26 Ebd., S. 187.

27 Wunderlich 1999, S. 16–17.

28 Vgl. ebd., S. 17.

29 Giloy-Hirtz 1991, S. 167. Siehe zur Rolle des positiven Helden und der ihn umgebenden Norm- negativen Monstren Kap. 2.1.

30 Vgl. ebd., S. 187f.

31 Wunderlich 1999, S. 13.

32 Vgl. Emrich et al. 2009, S. 5f.

33 Vgl. ebd.

34 Vgl. ebd., S. 6.

35 Wunderlich 1999, S. 13.

36 Ebd., S. 13.

37 Der Mythos als Vorläufer oder Ersatz dafür, wo Wissenschaft fehlt. Umgekehrt gibt es Vertreter, welche in den Wissenschaften, in der Art und Weise wie sie funktionieren und den Menschen Erklärungen liefern, Funktionen finden, die dem Mythos gleichen. Der Schriftsteller und Philosoph Hans Magnus Enzensberger vertritt diese These und meint, dass sich beispielsweise die Teilchenphysik aufgrund ihrer gewonnen Erkenntnisse von einer deterministischen Beschreibung der Welt losgesagt hat und zudem ihre Entdeckungen mit Bildern kommuniziert bzw. verständlich macht – ganz so wie die Mythen. Genau genommen hat er mit der „Bilder-These“ recht, denn was ist letzten Endes ein Bohrsches Atommodell schon oder „Schrödingers Katze“ (ein Gedankenexperiment, welches eine bestimmte paradoxe Eigenschaft der Quantenmechanik verdeutlichen soll), der Aufbau des Sonnensystem, ein Stammbaum der Menschenaffen oder die Darstellung einer Zelle? Ein Modell, ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit (manchmal noch nicht mal das, sondern bloße Spekulation), ein Bild, dass uns helfen soll (bzw. glauben machen soll), die Wirklichkeit zu verstehen. Wo man sich in der Antike das Wirken am Sternenhimmel mit Figuren wie Zeus, Perseus usw. erklärt hat, gebrauchen wir heute nicht weniger bilderreiche Begriffe wie „roter Riese“, „schwarzes Loch“, „Supernovaexplosion“, nicken gutgläubig, aber verstehen letztlich doch nicht z.B. die unendlich komplexen physikalischen Vorgänge im Weltraum. Vgl. „ Wissenschaft als Mythos “. Alexander Kluge im Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger. Themenreihe bei dctp.tv: „ Wie poetisch ist die Wissenschaft? “. http://www.dctp.tv/#/wie-poetisch-ist-die- wissenschaft/enzensberger_wissenschaft-als-mythos [zuletzt geprüft am 17.9.2010].

38 Emrich et al. 2009, S. 5.

39 Wunderlich 1999, S. 16.

40 Giloy-Hirtz 1991, S. 168. Diese Position ist zwar bei Mediävisten nicht unumstritten, wird aber für große Teile mittelalterlicher Bewusstseinsgeschichte wahrscheinlich ihre Geltung haben.

41 Ebd.

42 Vgl. Wittkower 1996, S. 96.

43 Wunderlich 1999, S. 17.

44 Ebd., S.17f.

45 Giloy-hirtz 1991, S. 194.

46 Vgl. ebd.; Mode 1983, S. 212 und Wunderlich 1999, S. 31f.

47 Vgl. Wittkower 1996, S. 89.

48 Vgl. Wunderlich 1999, S. 32.

49 Vgl. Wittkower 1996, S. 89.

50 Vgl. Giloy-Hirtz 1991, S. 194f.

51 Wittkower 1996, S. 106 und vgl. Mode 1983, S. 212.

52 Vgl. Wittkower 1996, S. 92.

53 Ebd., S. 91.

54 Die Bedeutung des Alexanderromans, der ursprünglich in griech. Sprache verfasst wurde, für das Mittelalter war enorm. Er wurde vielfach übersetzt, im 10. Jh. von Leo von Neapel und diese als Historia de proeliis bekannte Fassung war in der Folge bis zum 14. Jh. Grundlage für die meisten anderen Übersetzungen. Die Handschriften erzählen nicht nur von den Abenteuern Alexander des Großen, sondern sind auch mit den verschiedensten Kreaturen verziert; die Illustratoren ließen allzu oft ihrer Fantasie freien Lauf (vgl. ebd., S. 115). Die Alexanderberichte sind aber, um es auch hier zu erwähnen, trotz ihrer bemerkenswerten Fiktionalität im Mittelalter wahre, geglaubte Historie.

55 Vgl. ebd., S. 90.

56 Vgl. Ebd.

57 Vgl. ebd., S. 91.

58 Vgl. ebd., S. 90.

59 Vgl. Wunderlich 1999, S. 21.

60 Vgl. Wittkower 1996, S. 93.

61 Vgl. ebd.

62 Vgl. ebd., S. 95.

63 Vgl. Wunderlich 1999, S. 29.

64 Vgl. Wittkower 1996, S. 95.

Fin de l'extrait de 78 pages

Résumé des informations

Titre
Monstren im Mittelalter: die Dämonologie in Strickers Roman 'Daniel von dem Blühenden Tal'
Université
Ernst Moritz Arndt University of Greifswald  (Institut für Deutsche Philologie)
Cours
Der Stricker: Daniel von dem Blühenden Tal
Note
1,5
Auteur
Année
2010
Pages
78
N° de catalogue
V168625
ISBN (ebook)
9783640862788
ISBN (Livre)
9783640863105
Taille d'un fichier
2595 KB
Langue
allemand
Annotations
Die Arbeit weist einige Schwächen auf. Hauptkritikpunkt der Dozentin war, dass das Erkenntnisziel nicht eindeutig genug definiert wurde, so mal dieser, mal jener Punkt aufgegriffen wurde und Abschweifungen entstanden - eine intensivere Konzentration auf weniger wäre mehr gewesen, deshalb nur die Note 1,5. Ich hoffe, die Arbeit kann euch trotzdem helfen.
Mots clés
monstren, mittelalter, dämonologie, strickers, roman, daniel, blühenden
Citation du texte
Michael Thormann (Auteur), 2010, Monstren im Mittelalter: die Dämonologie in Strickers Roman 'Daniel von dem Blühenden Tal', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168625

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