Gegensatzspannung zwischen staatsoffizieller und gegenkultureller Kunstprogrammatik in der Moderne

Zwei Dresdner Kunstausstellungen im Jahr 1982


Diplomarbeit, 2009

136 Seiten, Note: 2,4


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung
1. Einleitende Worte und Zielstellung der Arbeit
2. Argumentationsaufbau

Teil I: Theoretische Überlegungen und Rahmenbedingungen
1. Zum derzeitigen Stand der Forschung und vorhandene Literatur
2. Totalitärer Herrschaftsanspruch der DDR - ihr Regime als eine Form der
politischen Religion
3. Die bildende Kunst unter der SED-Herrschaft
3.1 Die Kunst als Instrument der SED
3.2 Der sozialistische Realismus: Kunst muss nicht künstlerisch sein, auf den
Inhalt komme es an, Staatskunst bis 1969
3.3 Der offizielle Ausstellungsbetrieb: die Dresdner Kunstausstellungen
3.4 Wie Kunst nicht sein sollte: Feindbild und Zensur in der bildenden Kunst
3.4.1 Das Feindbild in der bildenden Kunst: der Formalismus
3.4.2 Zensur in der bildenden Kunst
4. Zur Situation der Kunst in den 70er Jahren: Die Honecker-Ära
4.1 „Weite und Vielfalt“ in den 70er Jahren: der Anfang vom Ende
4.2 Verschärfte Kontrollmaßnahmen

Teil II: Die Umsetzung der offiziellen Kunstpolitik der 80er Jahre am Beispiel der IX. Kunstausstellung der DDR vom 2.10. 1982 bis zum 3.4.1983
1. Besucheransturm und der Wandel der Kunstwahrnehmung
2. Kunst im Spannungsfeld zwischen Kunstpolitik und Künstler
3. Vorgeschichte und Konzeption der IX. Kunstausstellung
4. Organisation der Ausstellung
4.1 Juryarbeit
4.2 Maßnahmen zur Durchsetzung der parteilichen Vorstellungen
5. Auf der IX. Kunstausstellung gezeigte Kunst: wenig Sozialismus, viel Realität ...
5.1 Das Arbeiterbild der 80er Jahre
5.2 Eine andere Welt hinter dem Schleier des „sozialistischen Realismus“

5.3 Chaos, Pessimismus und Rückzug ins Unverbindliche
6. Rezeption durch die Besucher

Teil III: Die alternative Künstlerszene und der Mythos „Frühstück im Freien“ 1982 im Leonhardi-Museum
1. Gegenstand und Erkenntnisinteresse der Untersuchung
2. Untersuchungsmethode
2.1 Methode der Datenerhebung: das Leitfadeninterview
2.2 Stichprobe
2.3 Fragenkatalog
3. Datenaufbereitung und -auswertung
3.1 Aufbereitung des Materials, Datenerfassung
3.2 Auswertungsverfahren
4. Ergebnisse der Untersuchung
4.1 Charakteristik der etwas anderen Künstlerszene
4.1.1 Selbstverständnis der Künstler
4.1.2 Reglementierungen und Widerstände
4.1.3 Welchen Weg fanden die Künstler, ihre Kunst auszuüben?
4.1.4 Integration der Künstler in die Strukturen der DDR
4.1.5 Veränderungen nach der Wende beziehungsweise nach der Ausreise
4.2 „Frühstück im Freien“ im Leonhardi-Museum
4.2.1 Organisation der Ausstellung und Erinnerungen
4.2.2 Umsetzung des Themas „Frühstück im Freien“
4.2.3 Brisanz der Ausstellung und des Leonhardi-Museums
4.3 Zitate: Was ist Kunst?

Schlussbetrachtung und Diskussion der Teile II und III

Bibliographie

Abbildungen

Einleitung

1. Einleitende Worte und Zielstellung der Arbeit

Kunst hat viele Gesichter. Sie begegnet uns akustisch oder visuell, bunt oder mono- chrom, laut oder leise, schnell oder langsam. Und Kunst ist auch nicht immer direkt präsent, „manchmal ist Kunst auch abwesend“ (Schroeder & Offner 2000: 15), wie es Bärbel Bohley mit weißer Schrift auf schwarzem Grund ausdrückte. Eine eindeutige Definition für die Kunst zu finden und ihr Wesen zu bestimmen, stellt sich schon allein deswegen als schwierig heraus, weil Kunst von jedem Men- schen anders wahrgenommen wird. Sie besitzt außerdem, nach Luhmann, ihre eige- nen Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht beeinflussen oder von außen zwangsweise umgestalten lassen. Wenn Kunst entsteht, so entsteht sie aus sich heraus, spätestens seit der Renaissance kann die Kunst ihren Autonomieanspruch behaupten. Und oft entwickelt sich Kunst aus dem Moment heraus und entzieht sich schon allein dadurch einer Bestimmung oder Vorgabe. Kunst muss dem System Kunst selbst überlassen werden (vgl. Luhmann 1995).

Das DDR-Regime versuchte jedoch, die Kunst in bestimmte Bahnen zu lenken und somit zu kontrollieren, manchmal auch, Kunstwerke „ideologieecht“ umzudeuten. Es akzeptierte und förderte nur diejenige Kunst, die in sein Weltbild passte. Kunst wur- de als Erscheinung des gesellschaftlichen Überbaus verstanden, sie „trägt in der Klassengesellschaft Klassencharakter und dient als ideologische Waffe im Klassen- kampf“ (Universallexikon 1989: 243). Als Richtlinie galt der sozialistische Realis- mus. Kunst sollte figurativ, ja narrativ und vor allem optimistisch sein, so dass sie zu didaktischen Zwecken instrumentalisierbar sei. Der bildenden Kunst wurde also eine deutliche Funktion in der Selbstdarstellung der sozialistischen Gesellschaft zugewie- sen. Der Künstler, der sich dem nicht unterordnete oder sogar widersprach, hatte kaum eine Chance, künstlerisch zu überleben, denn ein freier Kunstmarkt existierte nicht, der Staat war der größte Mäzen und hatte daher Macht über die Künstler. Sol- che, die sich antisozialistischen Themen widmeten oder sich kritisch gegenüber dem System äußerten, wurden nicht geduldet und erhielten keine Aufträge mehr. Aber oft war es nicht einmal dies, was Künstler in eine Außenseiterposition katapultierte; abs- trakte Malerei stand auf der gleichen Stufe wie Kunst, die sich gegen das System stellte. Abstrakte Kunst stand nämlich stellvertretend für alle verhassten Ausformun- gen der Moderne, die ihre Wurzeln im Kapitalismus haben, und konnte deshalb dem Zweck der Selbstdarstellung und Erziehung nicht dienen (ähnlich war dies im Nationalsozialismus).

Sicherlich ist es gerade für die Jüngeren unter uns schwer, einen so bedeutenden Be- reich wie den der Kunst in einem totalitär regierten Staat zu verstehen. Man wurde in dieses Land allenfalls hineingeboren, hat seine Geschichte jedoch nicht selbst be- wusst miterlebt, weil man zu jung war. Das Verstehen ist doppelt schwer, wenn man bedenkt, wie lange die DDR trotz ihrer vielfältigen Widersprüche existieren konnte: 44 Jahre. Das sind viele Jahre, in denen mehrere Generationen aufgewachsen sind, in denen mehrere Generationen gearbeitet haben und zur Schule gegangen sind, in denen sie Kinder waren und selbst Kinder bekommen haben, vielleicht sogar selbst Großeltern geworden sind. Und, wie mir viele Künstler, deren Kunst nicht akzeptiert wurde, weil sie einem alternativen Lebensentwurf folgten, erzählten: Nicht alles war schlecht, immerhin haben sie da ihre Jugend verbracht und hatten eine „tolle Zeit“, man dachte eben nicht immer politisch.

Besonders schwer ist es, dieses Land und seine Macht über die Kunst zu verstehen, weil man nicht richtig begreifen kann, wie das DDR-Regime in alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens eindringen konnte. Das Thema Überwachungsstaat ist auch heute wieder sehr aktuell, denn immer mehr Informationen werden über den Einzelnen gesammelt, gespeichert und miteinander verknüpft. Die moderne Technik macht es möglich.

Angesichts all dieser Umstände ist es fast unmöglich, dieses Land und die dem Re- gime zuteil gewordene Macht über die Kunst und Kultur zu verstehen. Aber die ge- samte DDR zu verstehen, das kann und soll auch nicht mein Vorhaben sein. Um die DDR zu verstehen, muss man vielmehr im Detail anfangen. Einige Details fügen sich dann zu einem Bild zusammen, andere müssen getrennt nebeneinander stehen blei- ben.

In meiner Arbeit will ich daher analysieren, wie sich die bildende Kunst in den 80er Jahren in Dresden unter den Vorgaben der Kunstpolitik, die ja immer in Abhängig- keit vom Herrschaftssystem der SED stand, entwickelt hat. Wie konnte sich Kunst entfalten, die eigentlich in ihrer Entwicklung gehemmt wurde? Wie war die Kunst, die sich gerade dadurch herausbildete, welche Freiräume gab es und wie wurden sie genutzt? Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Analyse sind die Spannungen, die sich zwischen den von der Regierung vorgegebenen Ordnungen und den möglichen Handlungsfreiräumen ergaben.

In den Köpfen vieler Kulturbeauftragter und Funktionäre der DDR gab es zwei gegensätzliche Ausrichtungen in der Kunst, die sich nicht miteinander vereinbaren ließen. Auf der einen Seite war da die offizielle Kunst, die sowohl unterstützt als auch gefordert wurde. Diese durfte sich beispielsweise auf den großen Kunstausstellungen der DDR oder den Bezirkskunstausstellungen zeigen. Auf der anderen Seite gab es den verhassten Formalismus und kritische Kunst beziehungsweise Kunst, die nicht den offiziellen Vorgaben des sozialistischen Realismus entsprach.

Der „Formalismus“ und andere avantgardistische Tendenzen lassen sich unter dem Begriff der Moderne zusammenfassen, wogegen sich die DDR besonders in den bei- den Anfangsjahrzehnten au]ssprach. Die Kunst der Moderne umfasst den Expressio- nismus, den Kubismus, den Surrealismus und die verschiedenen Stilrichtungen der abstrakten Kunst. Aber schon der Impressionismus weist durch Farbgebung und Malweise auf die Kunst der Moderne. Den Anfang der Moderne siedelt man im be- ginnenden 20. Jahrhunderts an. Gemeinsam ist den Strömungen der Moderne, dass die Künstler nach neuen Formen suchten, nach einer neuen Ausdrucksweise, die es zulässt, die Welt nicht so darzustellen, wie sie wirklich und objektiv ist, sondern so, wie die Künstler sie empfinden. Das erreichten sie durch „intensive Ausdruckskraft, Klarheit der Formgebung und Schlichtheit der Technik“ (Gombrich 1996: 562/63). Die jahrhundertealte Praxis, Form durch Licht, Schatten und Perspektive zu schaffen, wich einfachen Formen, Farben und Harmonien, oft unter Vernachlässigung des In- halts. Die Kunst der Moderne bedeutete für die Künstler also eine Befreiung von allem Traditionellen.

Viele Künstler in der DDR ließen sich aber weder in die Schublade der Staatskunst noch in die des „Formalismus“ beziehungsweise der kritischen Kunst stecken, ihre Kunst erweist sich, wie so oft, als vielschichtiger. Der Übergang zwischen Schwarz und Weiß ist fließend und es gibt viele Zwischentöne. Die vorletzte große Kunstausstellung der DDR soll hier Beispiele liefern.

Trotz der strengen Reglementierungen, und das dürfte so manchen in Staunen verset- zen, fand die alternative Künstlerszene, vor allem in den 70er und 80er Jahren, ihren Platz im Kunstbetrieb der DDR, auch wenn dieser vielleicht vergleichsweise klein war. Gerade das Leonhardimuseum, der wohl legendärste Ausstellungsort für zeitge- nössische Kunst in Dresden, gab seit 1963 vielen Künstlern die Chance, ihre Kunst zu zeigen, Kunst, die an anderen Ausstellungsorten und in Museen nur selten eine

Chance gehabt hätte. Die Künstler der alternativen Szene passten sich also nicht ein- fach an, sondern sie suchten immer irgendeinen Platz, an dem sie Kunst nach ihrem Verständnis, ohne Beschränkungen und politische Bevormundung, zu realisieren versuchten. Natürlich gelang das nicht immer, dennoch ist es erstaunlich, wie sich Künstler Freiräume schufen, wie sie diese permanent zu erweitern suchten und Netzwerke schufen, die sie stärker machten, und wie sie sich nicht zuletzt dadurch ihre eigene „Gegenwelt“ aufbauten. Diese Künstler verstanden sich trotzdem nicht als Aussteiger oder Vertreter einer Untergrundszene, vielmehr waren sie bis zuletzt in die Strukturen der DDR eingebunden, waren Mitglied im Verband der Bildenden Künstler (VBK) oder hatten eine feste „außerkünstlerische“ Arbeitsstelle; sie hatten eine Art Zwischenposition inne und gingen so einen Kompromiss ein, ohne den sie nie hätten künstlerisch überleben können.

Die Frage ist also: Wie hat sich die bildende Kunst in den 80er Jahren in Dresden unter den gegebenen Umständen entwickelt und wie konnte das so möglich sein? Wie wurde die Kunst vom System geformt beziehungsweise wie formte sie sich selbst als Reaktion auf dieses? Welchen Kompromiss sind die Künstler mit dem so- zialistischen Realismus auf der IX. Kunstausstellung der DDR eingegangen, welche Kunst wurde hier gezeigt? Und wie schufen sich die Künstler ihre Freiräume, wie haben sich Künstler mit alternativen Lebensentwürfen mit dem System arrangiert, ohne ihre Ideen zu verleugnen und sich in ihrem künstlerischen Schaffensprozess umformen zu lassen?

Anhaltspunkte für eine Erklärung, wie dies genau geschah, wie die Künstler in diesem Gesellschaftssystem versuchten, sich selbst treu zu bleiben, liefern nur Aussagen von Zeitzeugen. Daher sollen Interviews mit Künstlern der alternativen Szene einen Ausgangspunkt der Analyse bilden. Hierfür wurden Künstler ausgewählt, die an der Ausstellung „Frühstück im Freien“ beteiligt waren, weil diese Ausstellung praktisch einen Gegenentwurf zu der im gleichen Jahr stattfindenden IX. Kunstausstellung darstellte. Auf der anderen Seite gibt uns natürlich auch die Kunst selbst Aufschluss, die ihre eigene, nicht immer offensichtliche Sprache hat.

2. Argumentationsaufbau

Meine Arbeit ist in drei große Hauptabschnitte gegliedert:

Teil I widmet sich mehr theoretischen Aspekten der DDR-Kunst, er soll den Rahmen für die Teile II und III schaffen. In Teil I werden verschiedene Aspekte der Kunst betrachtet, so dass ich im Teil II und III auch theoretische Bezüge herstellen kann, die in diesen Teilen nicht unbedingt im Vordergrund stehen sollen. (Im Vordergrund steht die nähere Betrachtung der Kunst der beiden Ausstellungen, die 1982 in Dres- den stattfanden, sowie die Auswertung meiner Interviews.) Grundlage der Kunstbe- trachtung in einem totalitären System ist meiner Meinung nach die Rolle, die Kunst in einem solchen System spielt. Daher werde ich die Kunst anfangs in den gesamtge- sellschaftlichen Zusammenhang einbetten und die DDR strukturell betrachten, als ein totalitäres Herrschaftssystem, welches religiöse Züge annahm und dessen Ideologie deshalb als politische Religion bezeichnet werden kann. Damit eng verknüpft ist auch die Funktion, die die Kunst in einem solchen System auszuüben hat. Damit wiederum werden Lenkungs-, Manipulations-, Eingrenzungs- und Ausgrenzungsme- chanismen erklärbar, worauf im theoretischen Teil detailliert eingegangen werden soll.

Im Teil II soll die 1982 in Dresden auf der IX . Kunstausstellung der DDR ausge- stellte Kunst betrachtet werden. Die starke Selektion der Kunstwerke, die hauptsäch- lich den Vorgaben des sozialistischen Realismus entsprechen sollten, soll unter ande- rem anhand von Akten führender Funktionäre und Entscheidungsträger belegt und nachvollzogen werden. Dabei wird auch eine Rolle spielen, dass es Künstler gab, die sich zwar dem Gebot des sozialistischen Realismus anpassten, aber dennoch kritisch waren, was die Betrachter auch zu deuten wussten. Künstler (die nicht den großen Staatskünstlern entsprachen) fanden ihre Nische eben auch unter dem Realismusge- bot und wussten mit diesem schöpferisch umzugehen (dies wird exemplarisch darge- stellt). Außerdem sollen spätere Tendenzen des sozialistischen Realismus aufgezeigt werden. Ein Interview mit der Kunstkritikerin der Tageszeitung „Union“, Ingrid Wenzkat, soll an dieser Stelle mit einbezogen werden.

Im Teil III werden nun meine mit unterschiedlichen Künstlern der alternativen Szene durchgeführten Interviews vorgestellt und ausgewertet. Vorangestellt wird eine kurze Beschreibung der Befragungsmethode. Dabei sollen die Fragen, wie denn die Künst- ler in diesem System ihren eigenen Weg fanden, ihre Kunst auszuüben, wie sie sich Netzwerke und Freiräume schufen, leitend sein. Außerdem soll die Kunst von „ Fr ü hst ü ck im Freien “, eine Ausstellung, die zeitgleich zu der großen Dresdner Kunstausstellung als Gegenausstellung im Leonhardi-Museum veranstaltet wurde, vorgestellt und in die Auswertung der Interviews exemplarisch mit einbezogen werden. Die Interviews und die Beschreibung der ausgestellten Kunst zielen darauf ab, einen Zugang zur alternativen Kunst zu ermöglichen.

Im der Schlussbetrachtung werden beide Ausstellungen vergleichend betrachtet und es wird ein Fazit gezogen.

Teil I: Theoretische Überlegungen und Rahmenbedingungen

1. Zum derzeitigen Stand der Forschung und vorhandene Lite- ratur

Wenn man die Fülle an Literatur betrachtet, die sich dem Thema Kunst und Kultur in der DDR schon aus verschiedenen Perspektiven genähert hat, so erhält man den Ein- druck, dass bereits eine ganze Menge gesagt worden ist. Die Zahl der Veröffentli- chungen zur Erforschung der DDR-Kunst ist seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kontinuierlich gestiegen, vor allem, seitdem die kulturpolitischen Do- kumente durch das Öffnen der DDR-Archive nun der Öffentlichkeit zugänglich ge- worden sind. Es scheinen sich immer mehr Horizonte aufzutun, gerade weil der zeit- liche Abstand größer wird. Aber auch die Zahl der mal mehr, mal weniger, umstrit- tenen Kunstausstellungen, die sich mit dem Thema beschäftigten, ist beachtlich. Vie- le sowohl Ost- als auch Westdeutsche wollen einen Beitrag leisten und sich mit der unmittelbaren Geschichte auseinandersetzen oder zumindest auf Kunstausstellungen reagieren. Zu nennen wären unter anderem: „Ausgebürgert. Künstler aus der DDR und aus dem Sowjetischen Sektor Berlins 1949-1989“, 1990 in Dresden; „Bilder aus Deutschland“, 1990 in Köln; „Ausgebürgert“, 1990 in Dresden; „Kunst in der DDR: eine Retrospektive der Nationalgalerie“, 2004/2005 in Berlin oder „Auftrag Kunst: 1949-1990“, 1995 ebenfalls in Berlin. Die Ausstellung „Aufstieg und Fall der Mo- derne“ 1999 in Weimar sorgte bereits unmittelbar nach der Eröffnung für Empörung und führte zum so genannten „Bilderstreit“1. Wenn versucht wird, Kunst in einem totalitären System zu beurteilen (und schon die Art der Hängung kann ein Urteil sein), so führt dies schnell zu Kontroversen.

Die Literatur nun, die ich für meine Recherchen als wichtig erachte, ist die folgende: Einen interessanten Überblick bietet der 1996 veröffentlichte Band „Kunstdokumen- tation SBZ/DDR 1945-1990“, herausgegeben von Günter Feist, Eckhard Gillen und Beatrice Vierneisel. Mit zahlreichen Einzelberichten sowohl Ost- als auch West- deutscher, die sich auch auf unterschiedliche Städte, Orte und Zeiten beziehen, soll dem Begriff der einen Staatskunst, welcher der DDR-Kunst oft klischeehaft aufge- drückt wird, entgegengewirkt werden. Die Berichte stehen nebeneinander, ohne den Anspruch zu erheben, sich zu einem Bild zusammenzufügen. Denn trotz staatlicher Zentralisierungsvorstellungen hat sich eine Kunst entwickelt, die alles andere als homogen ist; dem wird in diesem Buch Rechnung getragen. Es war auch für die vor- liegende Arbeit von Bedeutung, zumal es nur wenige Beiträge über die 80er Jahre gibt.

Im gleichen Jahr erschien „Verstellter, offener Blick; eine Rezeptionsgeschichte bil- dender Kunst im Osten Deutschlands 1945 - 1995“ von Berndt Lindner. Der Autor bezieht das Wichtigste überhaupt, wenn es um das Schaffen von Kunst geht, mit ein, nämlich den Betrachter. Er stellt die Frage, welche Rolle der Betrachter gegenüber dem Kunstwerk einnimmt und wie sich seine Betrachtungsweise im Laufe der DDR- Zeit verändert. Er schreibt, es vollziehe sich eine Abkehr von den Versuchen der SED, das Kunstpublikum für politische Zwecke zu instrumentalisieren, hin zur teil- weise erfolgten Ablösung von dieser Bevormundung. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Wechselwirkungen zwischen Kunstpolitik, Kunstproduktion und Kunst- wahrnehmung von den Anfängen der DDR bis zur Wende und noch einige Jahre danach. Besonders interessant für diese Arbeit war der Abschnitt „Im Dialog mit dem Publikum“, in dem das Publikum der 80er Jahre beschrieben wird. Bei der Be- trachtung der IX. Kunstausstellung wird dies ein besonders wichtiger Punkt sein, da zu zeigen sein wird, dass der Betrachter durchaus selbst in der Lage war, die Kunst zu verstehen und in Bildern zu lesen. Außerdem erörtert Lindner sehr ausführlich den sozialen Gebrauch von Kunst, wovon auch hier die Rede sein wird.

1999 erschien der Band „Enge und Vielfalt: Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR“, herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg und Paul Kaiser. Darin werden durch verschiedene Beiträge die komplexen Mechanismen der Kunstförderung und deren Entwicklung in der DDR umfassend beleuchtet und illustriert. Eines der wich- tigsten Ergebnisse ist die Erkenntnis eines Strukturwandels im Auftragswesen, der sich vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten der DDR vollzogen hat: „In diesem Prozess lösten dezentrale staatliche Institutionen die bislang vorherrschenden und vorrangig politisch motivierten `Besteller` wie Parteien, Massenorganisationen und Großbetriebe als bestimmende Akteure ab.“ (Rehberg & Kaiser 1999: 7). Inhaltliche, stilistische oder weltanschauliche Vorgaben wurden immer mehr gelockert und stell- ten ab den 80er Jahren schon „kein handlungsleitendes Normgefüge mehr bereit“ (Rehberg & Kaiser 1999: 7). Dieser Wandel sei vor allem dem stetigen Engagement der Künstler selbst zu verdanken, die selbstständig und permanent versuchten, ihre Handlungsfreiräume zu erweitern. Der Beitrag von Paul Kaiser zu „Künstlerstrate- gien und individuelle Handlungsspielräume im staatlichen Auftragswesen der DDR“ ist im Zusammenhang mit meiner Fragestellung besonders interessant.

Die Herausgeber des Bandes „Eingegrenzt, Ausgegrenzt, Bildende Kunst und Partei- herrschaft in der DDR 1961-1989“ (2000 erschienen), Hannelore Offner und Klaus Schröder, widmen sich, zusammen mit sechs anderen Autoren aus Ost und West, dem Aspekt der Macht der SED, der Ausgrenzung von Künstlern und den Kollabora- teuren, die es selbst in Kreisen autonomer kritischer Künstler gab. Das Ausmaß der Verstrickung von Künstlern in das System steht in diesem Buch im Vordergrund. Nicht von der Hand zu weisen ist der Beitrag von Joachim Ackermann, der einen differenzierten Überblick über die Herrschafts- und Observations-, aber auch die Ausgrenzungsmechanismen des SED-Parteiapparates gibt. Insgesamt werden Aus- grenzungsprozesse und Eingrenzungsversuche anhand zahlreicher Akten belegt.

Martin Damus beschreibt in „Malerei der DDR - Funktionen der Bildenden Kunst im Realen Sozialismus“ (1991) die unterschiedlichen Entwicklungsetappen des sozi- alistischen Realismus auf mit den damit verbundenen sich wandelnden Funktionen der Kunst. Dabei zeigt der Autor, wie sich die staatlich gelenkte Kunst immer in Ab- hängigkeit von dem sich wandelnden politischen Herrschaftssystem der DDR entwi- ckelt hat. Die zunehmende Vielfalt und der zunehmende Gestaltungsreichtum der Kunst waren das Produkt verschiedener Erwartungen, Zwänge, Vorgaben, Aufgaben, Anforderungen und Gestaltungswünschen der Künstler, die im Laufe der Zeit immer mehr Spielraum zuließen, den die Kunst für sich nutzen konnte. Damus konstatiert, dass die Kunst jedoch bis zum Ende der DDR nicht aus ihrem Dienstverhältnis zum Staat entlassen wurde, vielmehr änderte sich die Form des Dienstverhältnisses. Selbst bei der teilweisen Freigabe im künstlerischen Bereich in der Honecker-Ära ging es immer um die Machterhaltung des Regimes.

Zuletzt sei noch das Buch „Abstraktion im Staatssozialismus, Feindsetzungen und Freiräume im Kunstsystem der DDR“ genannt, herausgegeben 2003 von Karl- Siegbert Rehberg und Paul Kaiser. Die Autoren widmen sich dem Feindbild des so- zialistischen Realismus, der abstrakten Kunst, die als „westlich“, „dekadent“ oder „formalistisch“ von der SED-Politik abgetan wurde. Die Autoren befassen sich mit den Rahmenbedingungen dieser Kunstrichtung in der DDR und den anderen sozialistischen Staaten. Sie nehmen verschiedene Künstlerpositionen auf und fragen nach Freiräumen für den Künstler.

Es liegt uns eine umfangreiche Auswahl von Literatur vor, die die DDR-Kunst aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Sicher ist die Forschung auf diesem Gebiet auch noch nicht abgeschlossen. Denn jeder Zeitbericht eröffnet neue Einsichten und jedes Mal stellt sich heraus, dass noch längst nicht alles gesagt ist. Zeitzeugen erwei- sen sich als die wichtigsten Informationsquellen, die genutzt werden müssen, so lan- ge das noch möglich ist. Viele Künstler, mit denen ich gesprochen habe, sehen es als eine Art Verpflichtung an, sich den jüngeren Generationen mitzuteilen. Denn die Künstler selbst haben Geschichte geschrieben und können zu einem umfassenden Bild der DDR-Kunst beitragen.

2. Totalitärer Herrschaftsanspruch der DDR - ihr Regime als eine Form der politischen Religion

Wenn man Religionen strukturell betrachtet, kann man auch einige Parallelen zu politisch-totalitären Herrschaftssystemen erkennen. Diese strukturellen Gemeinsam- keiten sollen nun besser verstehen helfen, warum das DDR-Regime auch in den Be- reich der Kunst, neben allen anderen Bereichen des gesellschaftlichen und privaten Lebens, in einem Maße eingreifen konnte, dass sogar eine neue Stilrichtung bestim- mend sein konnte, während andere verbannt wurden. Diese kleine Vorbetrachtung soll weiterhin verstehen helfen, warum sich eine politische Macht unter dem Deck- mantel des „Antifaschismus“ legitimiert sah, alle Bereiche, bis in den Alltag hinein, zu lenken und dabei nichtkonforme Künstler als „Ketzer“ auszugrenzen.

Es ist kennzeichnend für Religionen, dass sie einen Absolutheitsanspruch besitzen, denn sie wirken bestimmend in alle Bereiche des gesellschaftlichen und privaten Lebens hinein und sind für diese bestimmend. Religionen strukturieren außerdem das Leben und machen es dem Gläubigen leichter, denn sie erklären dem Gläubigen „die Welt“. Sie finden eine Erklärung für die Dinge, die wir nicht greifen oder verstehen können und bieten eine „gültige“ Sicht auf die Dinge und folglich auch auf das Leben der Menschen. Ihr Weltbild ist Leitbild und zugleich Erklärung für alles. Dass sich dann andere Erklärungen und Weltbilder als nichtig erweisen, ist selbstverständlich, es kann nun mal nur eine Wahrheit geben.

Religion bedeutet eine Vermeidung der Widersprüchlichkeit, wie sie modernen Ge- sellschaften nun einmal innewohnt. Man muss Dinge nicht verstehen, solange sie mit Gottes Willen oder übernatürlichen Kräften, auch mit utopischen Ideen, begründet werden können. Gleichzeitig hilft die Religion, gesellschaftliche Ordnungen zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Die zehn Gebote der Bibel beispielsweise predigen eine Moral, die sich als sinnvoll erwiesen hat im Zusammenleben, jedoch nicht lo- gisch erklärt werden kann, sie gelten als die Offenbarung Gottes. Sie ermöglichen ein friedvolles und effektives Miteinander im kollektiven Leben und gelten selbst in un- serer abendländischen (teilweise nicht christlichen) Gesellschaft als richtungweisend. Somit fundiert die Religion die Regeln und Gesetze, die für ein gesellschaftliches Miteinander unerlässlich sind. Des Weiteren, und das sah schon Durkheim als kenn- zeichnend für eine Religion an, besitzt sie bestimmte heilige und profane Bereiche (vgl. Durkheim 1981: 67). Ihre Trennung wird durch Riten realisiert, es gibt jedoch auch heilige Orte, heilige Personen, heilige Zeiten oder heilige Schriften und Gebete sowie heilige Gegenstände. Werden gewisse heilige Vorschriften missachtet (wie zum Beispiel die zehn Gebote), so bleibt der Gläubige nicht ungestraft, er ist zur Bu- ße verpflichtet. Riten bringen die Menschen näher zusammen. Durch die regelmäßi- ge Ausübung des Ritus werden das Gemeinschaftsgefühl und der Zusammenhalt der Gruppe gestärkt. Dadurch fühlt sich der Einzelne einer Gruppe zugehörig und kann sich somit leichter mit dieser identifizieren, gleichzeitig grenzt er sich von anderen Gruppen ab. Erst durch symbolische Handlungen, ist es möglich oder wenigstens leichter, gemeinsame Ideen und Gefühle zu entwickeln. Spätestens seit dem 20. Jahrhundert gilt dies auch in ähnlicher Weise für politisch- diktatorische Herrschaftssysteme. Denn zu dieser Zeit kam eine Form des diktatori- schen Herrschens auf, die es so vorher noch nicht gegeben hatte: der Totalitarismus. Vorherige (autokratische) Diktaturen, wie der Absolutismus oder der Despotismus, unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht von totalitären Regimen: Zum einen konnten die Menschen in relativer Unabhängigkeit leben, solange sie sich von der Politik fernhielten oder nicht aufbegehrten, und zum anderen regierte in den älteren Auto- kratien ein Monarch oder ein Aristokrat. Im Totalitarismus dagegen regiert eine poli- tische Partei oder ein politischer Führer. In einem totalitär regierten Staat wie der DDR darf sich der Mensch auch nicht völlig aus der Politik heraushalten, er muss sich gemäß einer bestimmten Ideologie, der des Staatssozialismus, verhalten, die in alle Bereiche der Gesellschaft hineinwirkt, bis hinein in die Köpfe der Menschen. Das DDR-Regime verlangte den Mitgliedern der Gesellschaft eine uneingeschränkte Unterstützung ab. Es beanspruchte den ganzen Menschen und reklamierte für sich eine umfassende Autorität; es kontrollierte, manipulierte und überwachte alles mit Hilfe des allmächtigen SED- Parteiapparates, dessen Generalsekretär an der Spitze die letzte Entscheidungsgewalt über alle Fragen besaß, auch über diejenigen im Kul- tur- und Kunstbereich. Diesem Parteiapparat waren alle politischen Institutionen un- terstellt2, aber auch die staatlichen und kulturellen Einrichtungen unterlagen mehrfa- cher Parteikotrolle (vgl. Schroeder 2000: 71). An fast allen wichtigen Stellen waren möglichst viele Parteimitglieder platziert. Parteilose und Parteimitglieder wurden gleichermaßen durch Schulungen auf die Parteilinie getrimmt (vgl. Schroeder 2000: 71), nichts wurde dem Zufall überlassen. Der einzelne Künstler wurde schon von Anfang an kontrolliert, und so kamen manche Ideen niemals zur Ausführung oder nur unter Geheimhaltung. Rechtfertigen dafür musste sich das Regime nicht, solange es dies im Namen des Antifaschismus oder des Sozialismus tat. Ähnlich wie Religio- nen braucht ein solches Regime also keine logischen Begründungen.

Außerdem forderte es jedem seiner Bürger ständig Glaubensbekenntnisse ab. Die sozialistischen Massenorganisationen, in die man schon so früh wie möglich einge- gliedert werden sollte, deckten ein breites Spektrum der Bevölkerung ab und wurden als Erziehungssystem parallel zur Schule verstanden. Der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ beispielsweise gehörten fast alle Schulkinder bis zum siebenten Schuljahr an; sie bildete die Vorstufe zur „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ). Die Organisation veranstaltete regelmäßig Treffen, in denen das Tragen des blauen Halstuchs bezie- hungsweise des FDJ-Hemds als Symbol der Identifikation Pflicht war. Auch hatte die Organisation einen eigenen Gruß („Für Frieden und Sozialismus: Seid bereit!“ - Die Antwort der Gruppe war daraufhin: „Immer bereit!“), eigene Presseerzeugnisse (FRÖSI, Bummi), eigene Lieder und im Ausweis der Jungpioniere standen die so genannten zehn „Gebote der Jungpioniere“. Durch verschiedene Rituale (Aufnahme- zeremonie am Gründungstag der Pioniere, Fahnenappell), Erkennungszeichen und Gelöbnisse wurden das Gemeinschaftsbewusstsein und das Gruppenzugehörigkeitsgefühl gestärkt. Es wurde die Abgrenzung zu anderen Gruppen hervorgehoben und gefestigt. Außerdem gab eine solche Zugehörigkeit den Mitgliedern Sicherheit, Identität und das Gefühl, gut aufgehoben zu sein in einer Gruppe, die ja bekanntlich immer stärker ist als der Einzelne.

Um in einem solchen System „überleben“ zu können, musste man daran glauben oder zumindest so tun, als glaubte man. Denn „Andersdenkende“, die sich den Struk- turen nicht unterwerfen wollten, wurden ausgegrenzt, ausgebürgert, benachteiligt oder erhielten keine Aufträge mehr (wie im Falle der Künstler). Die Ausgrenzung nichtparteikonformer Künstler, von denen im Teil III die Rede sein soll, war eine notwendige Folge dieses totalitären Politik- und Gesellschaftsverständnisses (vgl. Schroeder & Offner 2000: 9), da es nur eine Weltanschauung geben konnte. Alles, was anders war, war feindlich. Die DDR setzte auf ein Politikverständnis, „das zu- tiefst in einer Freund-Feind-Unterscheidung verankert war. […] Die Permanenz des Klassenkampfes machte Verdächtigung und Abgrenzung um der geschichtlichen Wahrheit Willen unausweichlich.“ (Rehberg 2003: 16).

Wenn das DDR-Regime auch keineswegs mit dem Nationalsozialismus zu verglei- chen ist, so handelt es sich in beiden Fällen doch um politisch-totalitäre Systeme, die Religionen strukturell ähneln; es sind politische Religionen. Denn sie nutzten menschliche Grundbedürfnisse - wie die nach Gemeinschaft, Sicherheit und Identi- fikation - für ihre Zwecke aus und akzeptierten keine anderen Weltanschauungen oder Standpunkte. „Durch die Ausblendung des nationalsozialistischen Alltags aus der antifaschistischen Erziehung wurde die strukturelle Verwandtschaft der beiden deutschen Diktaturen mit ihren totalitären Methoden der Überwachung, Verführung und Unterwerfung, mit denen die Bevölkerung zu einer ´Volksgemeinschaft´ bzw. ´sozialistischen Menschengemeinschaft´ formiert werden sollte, tabuisiert.“ (Gillen 1996: 12). Die beiden einander feindlich gegenüberstehenden Herrschaftssysteme bedienten sich gleicher Mittel.

Es ist festzuhalten, dass alle Teilbereiche der Gesellschaft dem Regime verpflichtet waren. Besonders wichtig waren natürlich Bereiche, die als Medium des Staatssozia- lismus fungieren konnten, die viele Menschen erreichen und auch beeinflussen konn- ten: die Kunst, die Wissenschaft, die Literatur, das Theater und die Musik. Kunst und Kultur waren deshalb ein wichtiges Pflaster für das Regime bei der Erziehung zum Sozialismus: „Der Kunst, genauso wie der Wissenschaft, der Literatur oder der Mu- sik kommt in einem totalitären System eine herausgehobene legitimatorische, aber auch identitätsstiftende Bedeutung zu“ (Schroeder & Offner 2000: 10). Die bildende Kunst kann die Menschen auf sehr vielfältige Weise beeinflussen: Sie kann mit Far- ben, Formen, Inhalten, Strukturen oder Anordnungen spielen und hat eine Eigen- schaft, die Menschen besonders leicht in ihren Bann zieht: Sie ist visuell wahrnehm- bar und sie kann vielschichtige Zusammenhänge auf kleinstem Raum anschaulich machen.

Diese Vorzüge machten die bildende Kunst nun zu einem Medium, das besonders wichtig für das Regime war und deshalb besonders stark unter die Lupe genommen wurde. Der herausragende Stellenwert, den die bildende Kunst besaß, schlug sich auch in den Aufgaben nieder, die sie erfüllen sollte. Dies soll im nächsten Abschnitt genauer betrachtet werden.

3. Die bildende Kunst unter der SED-Herrschaft

3.1 Die Kunst als Instrument der SED

Wenn hier nun von bildender Kunst und der Kunstpolitik der DDR die Rede sein soll, so darf man vor allem eines nicht ausklammern, was für die Kunstsoziologie von großer Bedeutung ist: nämlich die Funktion, die Kunst in einem bestimmten ge- sellschaftlichen Prozess auszuüben hat. Denn damit rechtfertigt der Staat seine Normvorgaben.

„Funktion“ im Zusammenhang mit Kunst ist an sich noch kein Begriff, der negativ besetzt ist oder als ungewöhnlich oder kennzeichnend für die DDR-Staatskunst ange- sehen werden muss. Kunst hatte lange Zeit unterschiedliche Funktionen: sei es, eine religiöse Funktion im Mittelalter oder die Demonstration von Macht und Ansehen bei den Herrschern in der frühen Neuzeit; sei es die Vorgabe einer Handlungsmaxi- me für den Betrachter3 oder einfach der Zweck, der Nachwelt etwas zu überliefern, als es die Fotografie noch nicht gab. Auftragskunst gab es dabei schon immer und es gibt sie auch heute noch. Allerdings wurden den Künstlern seit der Renaissance, je nach Ansehen der Künstler und dem Kunstverständnis der Auftraggeber, auch gewis- se Freiheiten zugestanden. Es ging um die eigene Handschrift des Künstlers, die ge- radezu gefordert wurde. Und spätestens seit der Romantik machte der Künstler Indi- vidualisierung, Freiheit und Unabhängigkeit, die Ideale der französischen Revoluti- on, zur Grundlage seines Schaffens. Die Kunst grenzte sich von dieser Zeit an außer- dem von der Moral ab, von ihr ging nun ein kritischer Impuls aus (vgl. Luhmann 1995: 442).

Was jedoch als kennzeichnend für den Staatssozialismus angesehen werden kann, ist die Tatsache, dass Kunst nicht nur eine Funktion hatte, sondern dass sie zu einem bestimmten Zweck instrumentalisiert und ausgenutzt wurde. Der Staat schmückte sich mit den Federn der Kunst, Künstler waren dabei nur seine Handlanger, sein In- strument. Rehberg teilt die Funktion der Kunst in drei Phasen ein: Zuerst ging es darum, das Gesellschaftsprojekt des Sozialismus mit Hilfe kultureller Leistungen zu verwirklichen, Kunst galt als „Medium der Erzeugung normativer Bilder des Zukünf- tigen“ und hatte eine utopisch-motivierende Aufgabe (Rehberg 2004: 141); anschlie- ßend wurde Kunst dazu benutzt, die Ideologie zu repräsentieren und zu stabilisieren; in einer dritten Phase wurde die Kunst „zunehmend zu einem Integrationsmittel einer gesellschaftlich-politischen Ordnung (a.a.O.: 141). Aus ihrem Dienstverhältnis ent- lassen wurde die Kunst bis zum Ende der DDR nicht. Wohl hat sich aber im Laufe der 45-jährigen Geschichte der DDR eine beachtliche Vielfalt von Themen sowie Ausdrucks- und Gestaltungsweisen herausgebildet, die mit dem sich stetig verän- dernden Herrschaftssystem zusammenhängen (vgl. Damus: 1991: 11).

Anlässlich des zweiten Kongresses des Verbandes bildender Künstler im Juni 1952 verkündigte Otto Grotewohl, damaliger Ministerpräsident der DDR, erstmals in der Zeitschrift „Bildende Kunst“: „Wenn es gerade die Aufgabe der Kunst ist, das Opti- mistische, Begeisternde, Emporwachsende und Neue, das Sozialistische im Men- schen lebendig zu machen und aus diesem lebendigen Empfinden heraus in große Taten umzusetzen, dann ist es gerade in der DDR nötig, diese Fragen der Kunst und der Kultur auf das Genaueste und auf das Gepflegteste zu behandeln und zu entwi- ckeln. Denn die ganze Politik in der DDR besteht gerade in der Aufgabe, den Men- schen eine neue Heimat zu schaffen […], ein besseres Leben zu geben […]. Ich sage, gerade die Aufgabenstellung in unserer Republik verpflichtet uns, alles, was nach oben strebt, zu unterstützen, und Kunst und Kultur sind die schönsten und höchsten Ausdrucksformen des menschlichen Lebens, die diese Gefühle zu entwickeln und zu stärken vermögen.“ (Grotewohl 1953: 5). Die Menschen sollten mittels der Kunst zu „höheren“ Leistungen für den Sozialismus motiviert werden. Im Mittelpunkt standen die „Verwirklichung einer neuen Gesellschaft“ und die Umformung der in dieser Gesellschaft lebenden Menschen. Dies war nur durch direktes Eingreifen möglich, durch das Eingreifen eben mit Hilfe kultureller Leistungen, mit Hilfe der bildenden Kunst, die als gesellschaftliche Kraft den Weg in den Sozialismus ebnen sollte. Der Kunst fiel die Aufgabe zu, das gesellschaftliche Bewusstsein herauszubilden. Im gleichen Heft wurde dann auch erstmals das Programm dieser Zeitschrift vorgestellt, worin es heißt: Die Künstler „haben erkannt, dass die Kunst keine private Angele- genheit ist, dass sie - im Gegenteil - eine Beauftragung darstellt, welche die Nation denjenigen Deutschen übergibt, die die Fähigkeit haben, bildnerisch das Fühlen und Wollen unseres Volkes auszudrücken.“ Was das „Wollen des Volkes“ ist, bleibt auch nicht unerwähnt: „Getragen von dem begeisterten Willen, den Kampf um die Einheit unserer Nation und den Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik siegreich zu bestehen, entwickelt sich das Bewusstsein des werktätigen Volkes in stürmischem Tempo.“ (Gute 1953: 10). Dass da nicht viel Platz für den Eigensinn der Künstler blieb, war die Konsequenz. In dem Maße, wie die Kunst die Gesellschaft zu konstruieren und zu verteidigen hatte, verlor sie an Selbstbestim- mung. Der Auftrag der Künstler lag nun im Kollektiven, Subjektivität galt als egois- tisch, staatsfern und kontraproduktiv. Die Künstler wurden zu Trägern und Mitge- staltern der neuen Gesellschaft. Es muss vielen Künstlern wie ein Rückschritt in ver- gangene Zeiten vorgekommen sein, dass sie ihre Autonomie (die es vielleicht nie ganz uneingeschränkt gegeben hatte), oder zumindest den größten Teil davon, vor allem in den ersten Jahren der DDR eingebüßt hatten. Der Künstler hatte nämlich eine dienende Rolle einzunehmen, er selbst trat in den Hintergrund und das „Ge- meinschaftsdenken“ in den Vordergrund, man wusste genau, wohin der Weg gehen sollte. Rehberg bringt dies auf den Punkt: „Paradoxerweise wurde gerade im Rahmen eines avantgardistischen Gesellschaftsprojektes den Künstlern jede avantgardistische Funktion bestritten, sollten die Künstler eine dienende Rolle einnehmen und nicht zu Vordenkern oder Vorläufern neuer Weltzustände werden.“ (Rehberg 2003: 18). Gil- len umschreibt dies mit der Formel des „entmündigten Künstlers“ (vgl. Gillen 1996). Eine geistig freie, dem autonomen Schöpfungsakt des Künstlers entsprungene Kunst entsprach nicht den Vorstellungen der SED-Führung.

Die Kunst galt Mittel der Erkenntnisgewinnung, genauso wie die Wissenschaft, und sollte deshalb ihrer erzieherischen und führenden Rolle gerecht werden. Sie wurde dafür benutzt, die Menschen dem Sozialismus nicht nur näher zu bringen, sondern sie zur gleichen Zeit auch davon zu „überzeugen“ und zur neuen „antifaschistischen Bewusstseinsbildung“ beizutragen. Die Kunst sollte den Weg in eine neue Gesell- schaft ebnen; damit unweigerlich verbunden war auch die Umformung und Verände- rung des Einzelnen.

Der bildenden Kunst wurde später, als es nicht mehr darum ging, den Sozialismus aufzubauen, sondern zu stabilisieren, eine deutliche Funktion in der Selbstdarstellung der sozialistischen Gesellschaft zugewiesen. Kunst diente der Propagierung des So- zialismus nach sowjetischem Vorbild, sie sollte das sozialistische Geschichtsbild festigen. Sie habe eine unmittelbar ideologische und weltanschauungsbildende Po- tenz und - wie der Kunsttheoretiker Peter Feist 1977 in der Zeitschrift „Bildende Kunst“ schreibt - „Sie ist erst recht kein Gegenspieler zur Ideologie, sondern nimmt auf ihre Weise an der Bildung von Ideologie, Weltbild und Alltagsbewusstsein teil. Und dazu gehört - in untrennbarem Zusammenhang mit der Ausbreitung, Verbrei- tung und Verteidigung der Werte des Sozialismus - ebenso das Aufspüren und Kriti- sieren alles dessen, was um uns und in uns selbst diesen Werten im Wege steht.“ (Feist 1984: 414). Zitate dieser Art ließen sich noch zahlreich anführen. Eines halte ich jedoch noch für wichtig zu erwähnen, denn selbst nach der von Honecker propa- gierten „Weite und Vielfalt“ für die Kunst ab den 1970er Jahren wurde diese nicht aus ihrem Dienstverhältnis entlassen: Noch in einem DDR-Lexikon von 1989 wird Kunst als Erscheinung des gesellschaftlichen Überbaus verstanden, sie trage „[…] in der Klassengesellschaft Klassencharakter und dient als ideologische Waffe im Klas- senkampf.“ (Universallexikon 1989: 243).

Soweit zur Theorie. Auch wenn die Kunst- und Kulturbeauftragten diese Forderun- gen an die Kunst bis zum Ende nicht aufgaben, so folgte die Praxis keinesfalls immer dem theoretischen Anspruch. Dem Vorwurf, dass die DDR-Kunst nur Staatskunst zur Verherrlichung des Arbeiter- und Bauernstaates war, setzt vor allem die Zeit nach 1970 einiges entgegen. Es waren die alternativen Künstlerszenen, die es immer gegeben hatte und die in den 70er und 80er Jahren verstärkt entstanden beziehungs- weise entstehen konnten (dazu später mehr) und sich nicht instrumentalisieren ließen. Außerdem entwickelten auch „staatsnahe“ Künstler im Laufe der Zeit zunehmend eine Malerei, die sich für eine Vereinnahmung durch den Staat nicht mehr hergab (vgl. Vilmar: 407). Vilmar spricht von einer Überwindung des Sozialistischen Rea- lismus und bezieht sich auf die Studie von Ulrike Goeschen mit dem passenden Titel: „Vom sozialistischen Realismus zur Kunst im Sozialismus“ (2001), in der sie die These vertritt, dass die Eroberung der künstlerischen Freiheit der politischen Freiheit vorangegangen war. Auf diese These wird im Teil II genauer einzugehen sein. Der bildenden Kunst wurde bis zum Ende der DDR eine große Aufgabe übertragen, was nicht zuletzt deshalb erfolgversprechend schien, weil Bilder Menschen leicht beeinflussen, besonders, wenn Gegenständlichkeit und erzählerische Inhalte einge- halten werden, was die Richtlinie des sozialistischen Realismus (siehe nächstes Kapi- tel) ja vorgab. Solche Bilder sind besonders leicht zugänglich, sie machen Vorstel- lungen anschaulicher, verständlicher und somit auch plausibler und sprechen damit ein breites Publikum an. Im Gegensatz zur Plastik kann die Malerei im kleinsten Rahmen ganze Welten anschaulich machen (vgl. Damus 1991: 16), sie kann Emotio- nen ansprechen, Beziehungen deutlich machen und Geschichten erzählen. Die Male- rei spielte aus diesen Gründen die zentrale Rolle in der DDR: „Die Malerei“, so Damus4 (a.a. O.: 17), „bot die günstigsten Voraussetzungen für künstlerischen Fort- schritt, für eine inhaltlich wie formal geprägte Entwicklung der Kunst. Die Entwick- lung der bürgerlichen Kunst, die Herausbildung der Moderne findet ihren differen- ziertesten und reichsten Niederschlag in der Malerei.“

In einem totalitären System ist jeder gesellschaftliche Bereich von einer bestimmten Macht abhängig und dieser hörig. Und je mehr Gewicht einem gesellschaftlichen Bereich zufällt, desto mehr Verantwortung wird ihm zugewiesen. Gerade, weil der bildenden Kunst5 solch eine große Verantwortung übertragen wurde, genügte es nicht, sie nur zu fördern. Vielmehr wurde versucht, diesen wichtigen Bereich, dem eine so entscheidende Bedeutung beim Aufbau einer neuen Gesellschaft beigemessen wurde, unter die Kontrolle der Partei zu bringen. Es wurde überwacht, kontrolliert und manipuliert. Der realistische Sozialismus galt nicht nur als richtungweisend, sondern als existentiell. Im Folgenden soll nun der sozialistische Realismus genauer betrachtet werden.

3.2 Der sozialistische Realismus: Kunst muss nicht künstlerisch sein, auf den Inhalt komme es an, Staatskunst bis 1969

Während kurz nach Kriegsende wieder in ganz Deutschland zahlreich und mit gro- ßem Besucherandrang die Kunstwerke zu sehen waren, die der Nationalsozialismus als „entartete Kunst“ verbannt hatte - allein in Sachsen zählten bis 1949 133 Museen über eine Million Besucher (vgl. Lindner 1996: 64) - so kündigte sich schon einige Jahre später ein schärferer Wind aus sowjetischer Richtung an. Wichtig für eine Neuorientierung der Kunstpolitik war der Führung jedoch von Anfang an der Zu- spruch des Publikums. Und wie sich herausstellte, zeichnete sich schon bei der ersten allgemeinen Kunstausstellung 1946 eine Zäsur in der Kunstpolitik von SMAD (Sow- jetische Militäradministration in Deutschland) und SED ab, die in großem Maße auch vom Besucherverhalten getragen wurde (a.a.O.: 65). Gut zwei Drittel der Besu- cher lehnten in erster Linie stark abstrahierende und expressionistische Werke ab, sie wünschten stattdessen volksnahe, realistische Bilder beziehungsweise Kunst von den „alten Meistern“ zu sehen. Die hauptsächliche Ausrichtung auf eine leicht verständli- che Kunst ist nicht zu übersehen (a.a.O.: 67). Die Ergebnisse der Besucherumfrage der ersten allgemeinen Kunstausstellung kamen gerade recht und konnten gut zur Legitimation der Kunstpolitik der SBZ ( Sowjetische Besatzungszone) genutzt wer- den. Auf der ersten zentralen Kulturtagung der SED 1948, wo die Forderung nach dem sozialistischen Realismus erstmals ausgesprochen wurde, verkündete der SED- Funktionär Anton Ackermann: „Eine reale, wirklichkeitsnahe und volksverbundene Kunst kann der Förderung durch alle aufbauenden und fortschrittlichen Volkskräfte sicher sein." (Liepold et. al 2002).

Anfang der 50er Jahre wurde in der DDR eine Richtlinie für die Produktion von Lite- ratur, Musik und bildender Kunst durchgesetzt, die in der UdSSR bereits seit 1932 bindend war: der sozialistische Realismus. Viele Künstler wehrten sich anfangs noch gegen die vorgegebene Kunstrichtung, da sie durch ihre Volkstümlichkeit und Ideali- sierung der Gesellschaftsverhältnisse an die Kunstdoktrin des Nationalsozialismus erinnerte. Deshalb versuchte man ab 1950, die Künstler in verschiedene Organisatio- nen (Akademie der Künste) und Verbände (Verband Bildender Künstler) und somit in den neuen Plan einzubinden. War man nicht Mitglied im Verband der Bildenden Künstler, so galt man auch nicht als Künstler, erhielt keine Materialien, keine Auf- träge und durfte nicht ausstellen. Auch wenn diese Rechnung nicht ganz aufging, so setzte man doch auf zentralistische Herrschaftsstrukturen, wodurch der Künstler bes- ser kontrolliert und gelenkt werden konnte. Viele Künstler fühlten sich anfangs auch verpflichtet, die Partei im „Kampf gegen den Faschismus“ zu unterstützen. Da die Kunst in ihrer erzieherischen Rolle den Anspruch erhob, das gesamte Volk zu erreichen, musste sie allgemeinverständlich sein. Das Kunstverständnis sollte keiner- lei Voraussetzung bedürfen, die Kunst also volksnah sein. Daraus ergab sich die Richtlinie, der Künstler solle mit aller Kraft um Klarheit und Verständlichkeit ringen. Deshalb konnte es nur eine akzeptierte Form geben: den Realismus, der eine auf die Wirklichkeit bezogene Gegenständlichkeit und damit eine naturalistische Darstellung der Umwelt zum Vorbild hat6. Mit der „äußeren Richtigkeit“ wurde nun auch die „innere Richtigkeit“ gleichgesetzt (im Gegensatz zur Strömung des Naturalismus um 1900, gegen den sich der sozialistische Realismus absetzen sollte). Der Realismus galt als charakteristisch für die neue, sich gerade herausbildende Gesellschaft, die im Marxismus-Leninismus die fortgeschrittenste Wissenschaft der Menschheit sah (vgl. Gute 1953: 10). Er war verankert im Hier und Jetzt und richtete seinen Blick auf das unausweichlich Bevorstehende. „Realistisch war, die vorwärtstreibenden Kräfte der Gesellschaft überzeugend zu gestalten, also nicht die Gegenwart, wie sie ist, sondern wie sie sein soll/wird.“ (Damus 1991: 104).

Inhalt und Form mussten zusammengehen. Während die Form festlag und kaum Spielraum ließ, war die Bandbreite der erlaubten Themen etwas größer. Bevorzugt wurden Themen wie die deutsch-sowjetische Freundschaft, Darstellungen von Akti- visten und Erneuerern der Gesellschaft (der Arbeiter), Friedensmanifestationen oder die produktive und gesellschaftliche Arbeit an sich. Es entstanden beispielsweise Bilder, in denen der Aufbau des Sozialismus dokumentiert wurde (so genannte Baustellenbilder). Typisches Bildthema war auch immer der Held, der durch sein zielgerichtetes Handeln als Vorbild eines idealen kommunistischen Menschen dienen sollte: „Stärke und Bedeutung der realistischen Kunst bestehen darin, dass sie die hohen inneren Qualitäten und typischen positiven Charakterzüge des einfachen Men- schen offenbaren und darlegen, diesen Menschen eindringlich künstlerisch gestalten kann und muss, den Menschen, der würdig ist, Vorbild und nachahmenswertes Bei- spiel für andere Menschen zu sein.“ (Malenkow 1953: 12).

Kunst sollte ihrer Form nach realistisch und ihrem Inhalt nach sozialistisch sein (vgl. Ackermann 1946: 55). Als Maßstäbe der Beurteilung eines Kunstwerks galten sein Verhältnis zur Wirklichkeit und seine Aussage unter dem Gesichtspunkt der Partei- lichkeit und Volksverbundenheit. Dies schloss so gut wie jede andere Kunstrichtung aus, die nicht gegenständlich oder die expressionistisch oder modern war. Der hohen und edlen Aufgabe wegen, die die Kunst zu erfüllen hatte, mussten „Lüge und Fäul- nis erbarmungslos aus den Werken der Literatur und Kunst ausgemerzt werden“ (Malenkow 1953: 12). Gemeint waren alle Stilrichtungen, die nicht mit dem Realis- mus zu vereinbaren waren. Die freie Farb- und Formgestaltung des Expressionismus beispielsweise drückte das individuelle Erlebnis des Künstlers aus und richtete sich appellativ gegen die bestehende Ordnung. Avantgardistische Strömungen hatten im- mer den Anspruch, eine Gegenwelt zu schaffen und dem Betrachter einen alternati- ven Entwurf zur bestehenden Ordnung zu unterbreiten. Dies konnte jedoch nicht die Intention der SED sein, denn es ging nicht darum, das Bestehende zu bekämpfen, sondern ganz im Gegenteil darum, die bestehende Ordnung positiv zu reflektieren. „Die Methode des sozialistischen Realismus besteht darin, jederzeit bei einem künst- lerischen wie bei einem theoretischen Vorhaben von der historisch-konkreten Situa- tion auszugehen“, wie es der Generalsekretär Herbert Gute des Verbandes Bildender Künstler 1953 ausdrückte (vgl. Gute 1953: 19). Als realistisch-sozialistisch galten Bilder, die die reale revolutionäre Veränderung darstellten und somit vorantrieben: „Der […] Grundzug des sozialistischen Realismus lehrt uns, die Wirklichkeit wahr- heitsgetreu in ihrer revolutionären Entwicklung wiederzuspiegeln“, heißt es im ersten Heft der Zeitschrift „Bildende Kunst“, worin die Programmatik des sozialistischen Realismus vorgestellt und als maßgebend für die bildende Kunst erklärt wurde. Die Bilder sollten Optimismus und Harmonie ausstrahlen. Kunst selbst war nun nicht revolutionär oder kritisch, neu oder überraschend, sondern galt als „Spiegel der ge- sellschaftlichen Wirklichkeit“, sei „der Politik untergeordnet“ und nur nach inhaltli- chen Kriterien zu bewerten (vgl. Grotewohl 1951: 208). Dass die Beurteilung von Kunst nach politischen Kriterien in den Vordergrund geriet und die nach ästhetischen in den Hintergrund, war nur ein Abstrich, den die Kunst machen musste. Der Inhalt war das Maß aller Dinge. Leugne ein Künstler die Bedeutung des Inhaltes eines Kunstwerkes, so könne er kein wahrer Künstler sein, dies führe nämlich zur „Zerstö- rung der künstlerischen Form“ und „bedeutet Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst“, wie Herrmann Bruse dies auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED 1951 festhält (vgl. Bruse 1953: 62).

3.3 Der offizielle Ausstellungsbetrieb: die Dresdner Kunstausstellungen

Das „wahre“ Kunstverständnis benötigte nun einen adäquaten Präsentationsrahmen. Dieser war durch ein zentralistisches und dirigistisches Ausstellungswesen gekenn- zeichnet bei gleichzeitiger Marginalisierung des privaten Ausstellungsbetriebes bis hin zum Verbot bürgerlicher Kunstvereine (vgl. Kaiser 2003: 97). Im Mittelpunkt des staatsoffiziellen Ausstellungsbetriebes standen die zentralen Dresdner Kunstausstel- lungen (neben den thematischen Sonderschauen und den Bezirkskunstausstellungen), die von 1946 bis 1988 in Abständen von drei bis fünf Jahren insgesamt zehnmal stattfanden (Kaiser 2003: 97).

Auf der III. (der ersten nicht gesamt-deutschen) Kunstausstellung konnte man nun erstmals und in vollem Maße nachvollziehen, was sozialistischer Realismus bedeute- te. Der Maler Rudolph Schäfer machte sich in seinem Bild „Aufnahme in die Orga- nisation der Thälmann-Pioniere“ (Abb. 1) die Genremalerei zunutze, indem er eine Szene aus dem Alltag darstellte. Der Maler zeigt die Aufnahme eines Mädchens in den Kreis der Thälmann-Pioniere, die sich um das Mädchen gruppieren. Sie sind zu erkennen an den für die Pioniere typischen weißen Blusen und Hemden mit aufge- nähtem Emblem am linken Oberarm und an den blauen Halstüchern. Im Hintergrund soll das Porträt von Ernst Thälmann, der 1944 auf Befehl Hitlers erschossen wurde, das Volk an seine heldenhaften Taten erinnern. Der Handschlag mit einem Parteiof- fizier besiegelt die Aufnahme. Die Genremalerei beschreibt den Alltag oder stellt Szenen politischer Ideale in diesen hinein. Auf diese Weise kann man sich leichter mit ihnen identifizieren. Das Ideal der lebenslangen (politischen) Bindung an sozia- listische Organisationen scheint in dem Moment real, wo es vom Betrachter als wirk- lich und nachvollziehbar, als Widerspiegelung der Wirklichkeit, empfunden wird. Ideal und Wirklichkeit bilden dadurch eine untrennbare Einheit. Das kann nur eine realistische Malweise bewirken: „Eine solche Malweise war in der Lage, Vorgestell- tes, Erwünschtes, ideale Wirklichkeiten ebenso glaubhaft darzustellen wie Gesehenes und Erlebtes“ (Damus 1991: 111). Und je detailreicher die Malerei war, je mehr sie an die Wirklichkeit erinnerte, desto realer wirkte sie, sie ließ keinen Platz für Fanta- sie: je eindeutiger die Botschaft, desto besser.

Ein weiterer wichtiger Bildtypus war das Arbeiterporträt. Gerhard Müllers „Bildnis eines Offiziers der kasernierten Volkspolizei“ (Abb. 2) beispielsweise zeigt einen Vertreter des einfachen Volkes, einen Arbeiter, der in die neue Führungsschicht auf- gestiegen ist. Er steht stellvertretend dafür, dass die Arbeiterklasse die Staatsgewalt errungen hat. Die neuen Machthaber der Gesellschaft sind die Arbeiter, jeder ist nun ein Teil davon. Typisch für diese Porträts ist die (perspektivisch) überhöhte Dreivier- telansicht; der Offizier scheint auf den Betrachter herabzublicken. Mit diesem per- spektivischen Kunstgriff soll der Herrschaftsanspruch der neuen Machthaber ver- deutlicht werden.

Optimistische Bilder in fröhlichen Farben, mit gut gelaunten Menschen in überzeugender, realistischer Malweise sollten positiv stimmen und die Vorstellungskraft der Bevölkerung ansprechen. Die SED setzte darauf, dass die Menschen auf die positive Ausstrahlung der Bilder auch entsprechend reagieren und die Wirklichkeit, den „real existierenden Sozialismus“, lieben würden. In erster Linie sollte Kunst ein Bild von einer Wirklichkeit vermitteln, wie sie die SED-Führung als Wunschbild vor Augen hatte. Real am sozialistischen Realismus war deshalb wohl nur die auf die Wirklichkeit bezogene Gegenständlichkeit, denn er betrachtete die Wirklichkeit aus dem Blickwickel der Ideologie und verklärte sie somit.

Mit dem Tod Stalins 1953 setzte in der DDR eine politische Lockerung ein, die mit einer Lockerung auch im Kunstbetrieb einherging. Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 bestärkte Künstler, Schriftsteller und Musiker, zusätzlich mehr Freiräume zu fordern. Fragen des Stils und des Inhalts sollten den Künstlern überlassen werden, die Partei solle lediglich als Förderer der Künste auftreten. Reagiert wurde auf diese Forderungen durch die Auflösung der staatlichen Kunstkommission, die 1954 durch das Kulturministerium ersetzt wurde. Und tatsächlich konnte man eine Abkehr vom sozialistischen Realismus und eine, wenn auch nicht ganz klare, Annäherung an mo- derne Gestaltungsweisen beobachten: „Eine insgesamt wenig spektakuläre, an allge- meinen Prinzipien ´moderner´ Malerei orientierte gegenständliche Malweise setzte sich durch.“ (Damus 1991: 138). Impressionistische, spätexpressionistische und so- gar surreale Malweisen konnte man hier und da sehen. Dies sollte aber nicht lange anhalten. Schon wenige Jahre später, 1957, versuchte man wieder, Künstler auf den sozialistischen Realismus festzulegen7, der sich von der Malerei bis 1953 lediglich durch seine Abkehr von der Kleinteiligkeit und dem Detailreichtum der früheren Jahre unterschied. Personendarstellungen zeichneten sich jetzt durch großflächige und konturierte Malerei aus, was für Parteiideologen teilweise ein Dorn im Auge war und als „Vorhof des Modernismus und Abstraktionismus“ bezeichnet wurde (vgl. a.a.O. 1991: 175). Die Modernisierung jedoch stand auf dem Programm, vor allem in der Architektur, und so blieb die Malerei davon auch nicht ausgenommen. Eine neue Form künstlerischer Volkstümlichkeit setzte sich durch, die eher auf verallgemei- nernde Themen zurückgriff, ohne die erzieherische Funktion der Kunst zurückzu- nehmen. Die großflächige Malerei wurde nun zum Programm. Das Genrebild war noch immer aktuell; das Brigadebild, welches das kollektive Leben am Arbeitsplatz und in der Freizeit schilderte, sollte die Kluft zwischen dem Künstler und dem Volk endgültig überwinden. Pischner, stellvertretender Minister für Kultur, stellte nach der Eröffnung der IV. Kunstausstellung zufrieden fest: Die Kunstausstellung „ist das Ergebnis eines langwierigen Prozesses einer immer enger werdenden Verbindung zwischen Künstlern und Werktätigen.“ (Pischner 1962: 10). Weiterhin mahnte er, das große Ziel, eine von hohem Ideengehalt erfüllte volksverbundene sozialistische Kunst, weiterhin vor Augen zu haben. Der Maler Walter Womacka war einer der hochgelobten Vertreter des sozialistischen Realismus auf dieser Ausstellung. Sein Bild „Sommer“ (Abb. 3) veranschaulicht neue Tendenzen des sozialistischen Rea- lismus: Die Personen auf dem Bild, vermutlich Arbeiter auf dem Felde, die sich vor dem Betrachter in einer lockeren Reihe gruppiert haben und ihn direkt anblicken, scheinen an ihn zu appellieren, ebenfalls teilzuhaben an dem aufregenden, neuen und positiven sozialistischen Leben. Sie erscheinen ganz nah und für jeden erreichbar, jeder kann sich zu ihnen gesellen. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Womacka einen Teil der Figuren in die vordere Bildebene platziert, die Personen füllen fast den ganzen Bildraum und werden außerdem am unteren Bildrand abge- schnitten, so dass sie in einer Dreiviertelansicht dem Betrachter noch näher sind. Diese Darstellungsweise war typisch für die Bilder der IV. Kunstausstellung. Die Personen auf den Bildern wirken dadurch dem Betrachter näher, für ihn besser er- reichbar. Sie strahlen durch ihren zufriedenen, optimistischen und ruhigen Gesichts- ausdruck vor allem eines aus: das Glück, an dieser neuen Welt teilhaben, diese neue Welt mit aufbauen und gestalten zu dürfen. Durch die flächige und verallgemeinern- de, verdichtende Malweise wird auch das Thema nicht mehr auf eine konkrete Situa- tion gelenkt. „Im Laufe der 60er Jahre gelangten mehr Künstler zu verallgemeinern- den Bildideen und überwanden die Berichterstattung mit einer sinnbildhaften Bild- form“ (Damus 1991: 195). Daran, dass Künstler eine real scheinende ideale „Wirk- lichkeit“ ins Bild zu setzen hatten, änderte sich jedoch nichts. Von den Künstlern wurde nunmehr Individualität gefordert, es mussten neue Gestaltungsmittel gefunden werden, die das Neue sichtbar machten (a.a.O. 1991: 208), aber alles selbstverständ- lich im Rahmen der politischen Vorstellungen der Führung. Die Betonung lag nun hauptsächlich auf inhaltlichen Gesichtspunkten, die künstlerischen Mittel waren ab Mitte der 60er Jahre relativ frei. Man befürwortete nun einen gewissen Stilpluralis- mus, schließlich musste auf die wissenschaftlich-technischen Revolution, die mit immer komplizierter werdenden gesellschaftlichen Zusammenhängen und damit ei- ner Veränderung des Bewusstseins einherging, auch in der Kunst reagiert werden. Allerdings sollten Stilmittel eher funktional eingesetzt werden, jedem „willkürli- chen“ Gebrauch wurde Einhalt geboten. Dort, wo sie eher im Hintergrund zu wirken schienen und nicht den Inhalt verstellten, ihn im besten Fall sogar hervorhoben, wur- den sie akzeptiert. Der wohl am meisten angepasste Maler seiner Zeit, Willi Sitte, brachte den neuen Zeitgeist beispielsweise in „Chemiearbeiter am Schaltpult“ (Abb. 4) zum Ausdruck: Sitte malt hier keinen bestimmten Arbeiter, vielmehr steht er stell- vertretend für den Arbeiter, und zwar für den neuen, fortschrittlichen Arbeiter, der den Prozess der wissenschaftlich-technischen Revolution selbst mit vorangetrieben hat und nun ein Teil dieses Fortschritts ist. Versinnbildlicht wird die wissenschaft- lich-technische Revolution durch das Schaltpult, das er mit der linken Hand bedient; gleichzeitig drückt er mit der rechten einen Knopf auf einer durchsichtigen Schalt- wand, die dem Betrachter einen Einblick in seine Arbeit gewähren soll. Der Arbeiter steht uns direkt gegenüber und nimmt auch hier fast die ganze Bildfläche ein. Durch die imaginäre Wand und die unscharf-überlagert wirkende Malweise sieht er aus wie in eine weite Ferne gerückt. Nichts scheint hier echt zu sein, weder die Situation, noch die Farben oder der Arbeiter. Und das ist auch beabsichtigt, denn der Arbeiter, stellvertretend für den Arbeiter, demonstriert in diesem Bild den Allmachtsanspruch der Partei, die dadurch schon fast ins Göttliche erhoben wird. Die Partei, die für die Arbeiterklasse die Macht innehat, also mit ihr und für sie kämpft, scheint gleichzeitig unerreichbar und unbeirrbar.

Bis zum Ende der DDR sollten diese Themen, Gegenstände und Inhalte ihre Gültig- keit behalten, die SED beanspruchte bis zuletzt einen uneingeschränkten Führungs- anspruch auf dem Gebiet der Kultur. Der Arbeiter war und blieb zentraler Bildgegen- stand (Martin Damus 1991: 16), auch wenn das Bild des Arbeiters und die Malweise sich verändert hatten, Kunst sollte bis zuletzt volkstümlich, verständlich und optimis- tisch sein.

Es soll hier aber nicht darum gehen, im Einzelnen den Verlauf der Kulturpolitik der DDR nachzuzeichnen. Vielmehr sollte auf die vorgegebene „Methode“ des sozialis- tischen Realismus und seinen Wandel genauer eingegangen werden, um später, wenn es um die Untersuchung der IX. Kunstausstellung geht, darauf Bezug nehmen zu können, außerdem wird der Rahmen für die spätere Analyse abgesteckt. Die 80er Jahre sollen in dieser Arbeit besondere Beachtung finden, da hier noch einmal ein entscheidender Wandel stattfand.

Ergänzend zu diesem Rahmen soll der nächste Abschnitt Aufschluss über das „Feindbild“ in der Bildenden Kunst geben. Denn darin offenbarte sich die andere Seite der Medaille, die mit Unterdrückung, Ausgrenzung und Bestrafung verbunden war.

3.4 Wie Kunst nicht sein sollte: Feindbild und Zensur in der bildenden Kunst

3.4.1 Das Feindbild in der bildenden Kunst: der Formalismus

Begriffe bekommen erst ihre volle Bedeutung, wenn ein Gegenbegriff existiert. „Schön“ und „hässlich“ ist ein Gegensatzpaar, welches sich einerseits ausschließt, sich andererseits jedoch gegenseitig bedingt. Betrachtet man das DDR-Regime als ein totalitäres System mit politisch religiösen Zügen - wie dies in Abschnitt 2 getan wurde -, so wird schnell klar, dass sich das System nat ü rlich als der positive Pol ei- nes Gegensatzpaares sah, dessen anderer Pol das Feindbild war. Auf diese Weise sprach sich das System selbst seine eigene Bedeutung und alleinige Daseinsberechti- gung zu. Und diese Gegenpoligkeit manifestiert sich in einem totalitären System natürlich auch in der bildenden Kunst. Das Feindbild wurde in dem gesehen, was von der Richtlinie des sozialistischen Realismus, der ja für sich in Anspruch nahm, die Wirklichkeit widerzuspiegeln und die wahre Kunst zu sein, abwich: Es war haupt- sächlich der Formalismus, Kunst also, die den Inhalt zugunsten der Form vernachläs- sigte. Den Formalismus sah man hauptsächlich in der abstrakten Kunst vertreten. Sie stand stellvertretend für alle verhassten Ausformungen der Moderne, die ihre Wur- zeln im Kapitalismus haben: „Von östlicher Seite wurde der im Westen siegreiche, `befreiende Konstruktivismus´ als abscheulichste Ausformung des zu überwindenden Kapitalismus dargestellt.“ (Rehberg & Kaiser 2003: 41). Stefan Heymann konstatiert in der Zeitung „Einheit“ 1949: „Die ständig sich steigernde und differenzierende Arbeitsteilung, eine Folgeerscheinung der kapitalistischen Wirtschaft, macht auch vor den geistigen Bezirken nicht halt.“ (Heymann 1949: 278). In der Kunst äußere sich die Differenzierung durch die L´art pour L´art-Bewegung, worin der Formalis- mus seinen Ursprung habe. Wie der Arbeiter im Kapitalismus nicht mehr den Ge- samtzusammenhang sieht und nur noch seine eigene spezialisierte Tätigkeit erfüllt, sehe die formalistische Kunst eben auch nicht mehr den gesellschaftlichen Gesamt- zusammenhang, sondern beziehe sich (egoistischerweise) nur auf sich selbst. Forma- listische Kunst sei subjektiv und negiere die objektive Realität. Der Realismus dage- gen sei die „einzig mögliche, aber auch die wirklich objektive - weil gesellschaftlich bedingte - Ästhetik“ und „(…) das Kriterium aller wahren Kunst“ (a.a.O.: 287). Le- gitimiert wurde die Kunstauffassung also ideologisch, anfangs verstärkt im Sinne des Antifaschismus, später unter revolutionärem Vorzeichen; und vom Kapitalismus mit all seinen „Gesichtern“, inklusive der modernen Kunst, wollte man ja gerade Ab- stand nehmen. Insofern wurde eben auch der kapitalistische Westen zum Feind. Hauptfeind wurde, durch seine Nähe zur DDR, die BRD. Diese Fixierung auf den „nächstgelegenen“ Feind ließ immer einen direkten Vergleich zu, der Feind erschien somit real und nah und konnte besser instrumentalisiert werden, zum Beispiel, indem sich die DDR im Gegensatz zur BRD permanent als die fortschrittlichste Gesell- schaft darstellte.

Der Kalte Krieg steigerte diese Feindsetzungen aber nicht nur auf östlicher Seite, sondern auch auf westlicher. Rehberg beschreibt dies mit dem Begriff der „Gegen- satzspannung“, welche die unterschiedliche Betrachtungsweise beider Staaten gegen- seitig ins Extrem trieb (vgl. Rehberg & Kaiser 2003: 41). Auf westlicher Seite sprach man sich für die Abstraktion aus, die das neue Lebensgefühl auch auf dieser Seite veranschaulichen sollte. Die Abstraktion wurde zum Ausdrucksmittel zerbrochener Ontologien (vgl. a.a.O. 44) und war letztlich die Variante des Antifaschismus auf westlicher Seite. Die schmerzlichen Erfahrungen der Vergangenheit sorgten für die gleiche Ausgangssituation und mögen in einem Punkt für Übereinstimmung gesorgt haben: Man wollte sich vom Faschismus klar abgrenzen und mit der Ästhetik des Nationalsozialismus brechen. Die jeweils neuen Gesellschaftsentwürfe entzweiten jedoch nicht nur, sondern machten den anderen sogar zum Feind. Um den sozialistischen Realismus in der DDR durchzusetzen, beschloss man, alle nicht volkstümlichen und nicht volksnahen Kunstrichtungen zu eliminieren. Ohne massiven Druck ging es anscheinend nicht. Im so genannten Formalismusstreit äu- ßerte sich dies durch eine regelrechte Hetze gegen alle Varianten moderner, abstrak- ter Kunst. Unter dem Pseudonym N. Orlow (eigentlich Wladimir Semjonowitsch Semjonow) wurde 1951 in der „Täglichen Rundschau“ ein Artikel veröffentlicht, der den Anstoß zu dieser Debatte gab. Orlow spricht in seinem Artikel „Wege und Irr- wege der modernen Kunst“ vom Kampf demokratischer, also sozialistisch- realistischer Kunst gegen antidemokratische, volksfeindliche und dekadente (= mo- derne) Kunst. Der „antidemokratischen“ Richtung der „`Modernisten´, `Formalisten´, `Subjektivisten´ usw.“ wirft er rückständige und falsche philosophische Vorstellun- gen vor, die darauf gerichtet seien, „die deutsche Arbeiterklasse, die werktätigen Bauern und die Intelligenz auf dem Gebiet der Kunst wehrlos zu machen, die demo- kratische Kunst zu liquidieren und sie vom richtigen Wege abzubringen.“ (Orlow 1951). Orlow bezeichnet den Formalismus als abstoßend, falsch, ideenlos, roboter- haft, rückständig und unnütz. Er spricht sich in diesem Artikel gegen die „Zerstörung der Kunst“ aus, die allein von den Formalisten ausgehe. Denn die wirklich große Kunst habe sich schon immer den Menschen, die Natur und die Gesellschaft zum Gegenstand gewählt. Der „entscheidende“ Fehler der „volksfeindlichen“ Formalisten liege darin, sich nicht auf eine inhaltliche Aussage festzulegen, sondern die Form sozusagen allein zum Gegenstand zu machen. Das führe zur „Liquidierung“, zur „Zerstörung“ der Kunst.

Trotzdem gab es natürlich viele Maler, die abstrakt gearbeitet haben, meist jedoch im Verborgenen. Die Situation in den 70er Jahren (siehe nächster Abschnitt) versprach zwar eine Liberalisierung der Kunstpolitik, zum Öffentlichwerden abstrakter, mo- derner Kunst kam es jedoch nur in sehr begrenztem Maße. Und wenn es dazu kam, so versuchte man dies oft zu unterbinden.

[...]


1 Künstler hängten ihre Bilder eigenhändig ab, denn dieses Projekt hatte weder inhaltliche noch museumstechnische Mindeststandards beachtet (vgl. Tannert 1999: ). Wirr zusammengepfercht und ohne Zusammenhänge zu erklären, waren rund 500 Bilder zu sehen, die eher an die Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ von 1938 erinnerten (vgl. Rauterberg 1999: ) - im unteren Geschoss wurde übrigens Nazikunst ausgestellt - , als dass sie eine angemessene Würdigung der DDR-Künstler darstellten. Das alles war wohl zu viel für die Künstler, die sich dadurch nur wieder der gängigen Beschuldigung ausgesetzt sahen, dass Kunst aus dem Osten doch sowieso nichts wert sei. Kurzerhand nahmen sie ihre Bilder, im wahrsten Sinne des Wortes, selbst in die Hand.

2 Vorausgesetzt, er besaß den Segen des „Großen Bruders“ in der Sowjetunion.

3 Beispielsweise hatten in der Renaissance Hochzeitsbilder die Funktion, der zukünftigen Braut ihre Rolle in der Ehe zu zeigen.

4 Martin Damus hat eine Professur für Kunstgeschichte an der Universität in Osnabrück inne und lebte bis 1965 in Ostberlin.

5 neben dem Film und dem Fernsehen

6 Im Naturalismus gibt es drei Richtigkeiten: die zeichnerische, die anatomische und die farbliche Richtigkeit, ferner drei Illusionsebenen: Räumlichkeit, Körperlichkeit und Stofflichkeit.

7 Indem man beispielsweise versuchte, Künstler an Betriebe zu binden. Viele Betriebe hatten einen bestimmten, für ihn zuständigen Künstler.

Ende der Leseprobe aus 136 Seiten

Details

Titel
Gegensatzspannung zwischen staatsoffizieller und gegenkultureller Kunstprogrammatik in der Moderne
Untertitel
Zwei Dresdner Kunstausstellungen im Jahr 1982
Hochschule
Technische Universität Dresden
Note
2,4
Autor
Jahr
2009
Seiten
136
Katalognummer
V168765
ISBN (eBook)
9783656431428
ISBN (Buch)
9783656434047
Dateigröße
11658 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
aneignung, moderne, verdikt, gegensatzspannung, kunstprogrammatik, beispiel, dresdner, kunstausstellungen, jahre
Arbeit zitieren
Uta Beckhäuser (Autor:in), 2009, Gegensatzspannung zwischen staatsoffizieller und gegenkultureller Kunstprogrammatik in der Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168765

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