Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Historisches Vorbild
2.1 Der Blutrachekrieg zwischen Austrien und Neustrien ...
2.2 Brunhild, Königin der Burgunden ...
2.3 Parallelen zwischen Historie und Nibelungenlied ...
3. Die Figur 'Brunhild' im Nibelungenlied
3.1 Das Ideal der 'manlîchiu wîp' in der mittelalterlichen Literatur
3.2 Die Zwiespältigkeit zwischen verführerischer Schönheit und Verderbnis
3.3 Die Zähmung der Widerspenstigen
4. Die Ehekonzeptionen
4.1 Übliches Ehemodell, Werbungsverhalten und Minneaffekt
4.2 Das politische Funktionieren eines Herrscherpaares
4.3 Die Bewährung des Wormser Herrscherpaares
4.4 Die Ambivalenz der Eheallianzen
5. Die Brautwerbung
5.1 Gunthers Werbungsmotive
5.2 Werbungsbetrug und Verschiebung der Machtverhältnisse
5.3 Brunhilds Rolle bei der Zuspitzung der Ereignisse
6. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Brunhild gehört neben Gunther, Siegfried, Kriemhild und Hagen nicht nur zum Kreis der fünf wichtigsten Figuren im Nibelungenlied. Nein, sie steht auch an der Herrschaftsspitze einer matriarchalischen Gesellschaft. Obwohl ihr Auftritt gemessen an der Länge des Nibelungenliedes eher kurz ist, hält diese ungewöhnliche Figur mehr als genug Untersuchungsstoff bereit: sie ist eine mit übermenschlichen Kräften ausgestattete Walküre genauso wie Betrugsopfer, liebende Ehefrau, gekränkte Eitelkeit und erfolgreiche Intrigantin.
Die vorliegende Arbeit wird sie in ihrem vielseitigen Rollen genau unter die Lupe nehmen. Dabei sind sowohl literarische Normen des Mittelalters als auch die rekonstruierte damalige Realität als Bezugrahmen mit in die Analyse eingewebt.
Die erste Frage, die sich beim Herantasten an Brunhild stellt ist, ob diese ungewöhnliche Figur ausschließlich der Phantasie des Dichters entsprungen ist oder ob sie einer Königin nachempfunden ist, die tatsächlich existierte. Um diese Frage beantworten zu können, haben Forscher tief gegraben und ein mögliches historisches Vorbild zu Tage gefördert, dessen angeblicher Lebensweg fast ebenso effektvoll und schauderhaft tragisch ist, wie der ihrer literarischen Erbin.
Nachdem ihr vermeintliches historisches Modell hinreichend abgeklopft ist, zentriert sich die Betrachtung ganz auf sie. Da es sich bei Brunhild durch ihre Stärke und ihr Kraft erprobendes Auswahlverfahren unzweifelhaft um eine mit männlichen Merkmalen versehene Frau handelt, wird der ihre Konstruktion verhandelnde Themenkomplex durch die für die Untersuchung notwendige Theorie über das Ideal der 'männlichen Frau' eingeleitet. Im Nibelungenlied kommt Brunhild streng genommen nur in zwei Räumen vor. Einmal als souveräne Herrscherin in Island und einmal als domestizierte Ehefrau in Worms. Daher scheint es nur folgerichtig, dass der nächste Schwerpunkt auf ihr Ehekonzept gelegt ist. Wie verlief die Minne und wie sah die Ehe zwischen Adligen üblicherweise aus? Fügt sich Brunhilds Ehe darin ein? Bei der Analyse hat sich neben dem Nutzen schnell die Gefahr der geschlossenen Bündnisse herausgestellt, woraufhin dieser Beobachtung extra Analyseraum geschaffen wurde. Durch die allgemeine Strategie, vom Generellem zum Speziellen thematisch immer weiter zu verdichten, gipfelt die Arbeit anschließend im Dreh- und Angelpunkt des Nibelungenliedes: dem Werbungsbetrug. Von der Detailanalyse wurde auch der Schritt zurück, um einen besseren Überblick zu gewinnen, nicht vernachlässigt, so dass daraus eine Kurzstudie über die Verschiebung der Machtverhältnisse beim und nach dem Werbungsgeschehen entstanden ist.
Zu bemerken ist aber, dass der Rahmen, der ohnehin schon droht, aus allen Nähten zu platzen, nicht dadurch gesprengt wird, auch noch Thidreks saga oder die Edda in die Untersuchung mit einzubeziehen. Es bleibt also in dieser Arbeit offen, inwieweit die nordischen Quellen Einfluss auf die Geschichte um Brunhild im Nibelungenlied hatten.
2. Historisches Vorbild
2.1 Der Blutrachekrieg zwischen Austrien und Neustrien
Jahrelang war der wissenschaftliche Tenor dergestalt, eine Brunhild, wie sie das Nibelungenlied darstellt, habe es nie gegeben. Aber nun sind einige historisch ambitionierte Wissenschaftler doch auf ein mögliches historisches Vorbild gestoßen. Demnach soll Brunhild, geboren um 550 in Spanien, Tochter des Westgotenkönigs Athanagild gewesen sein. Der Geschichtsschreiber Gregor von Tours beschreibt sie als außergewöhnlich schön, anmutig und tugendhaft. Ihr Ruf soll laut Gregor bis zum merowingischen Ostgebietes Austriens gedrungen sein, wo Sigibert I. als König herrschte. Mit vielen kostbaren Geschenken freite er um Brunhild. Mit Erfolg. Athanagild belohnte seine Werbung mit der Hand seiner Tochter. Im Jahre 567 fand in Reims die prächtige Hochzeit statt.
Im merowingischen Westgebiet Neustrien regierte derweil Sigiberts Bruder, Chilperich I., der gerade seine erste Frau vertrieben hatte, um seine Geliebte namens Fredegunde zu ehelichen. Als er aber seine neue Schwägerin kennen lernte und von dem Reichtum ihres Vaters hörte, entschloss er sich kurzerhand dazu, Brunhilds Schwester Galswintha zur Königin zu machen. Aber kaum traf die Zukünftige an seinem Hof in Soissons ein, wurde sie von ihrer Nebenbuhlerin Fredegunde erwürgt. Doch anstatt die Mörderin zur Rechenschaft zu ziehen, ehelichte Chilperich nun doch Fredegunde Zunächst schien auch Brunhilds Mann nicht an der Vergeltung für den Mord an Galswintha interessiert. Da Brunhilde ihn jedoch beständig bedrängte, rang er sich dann doch zum so genannten Blutrachekrieg gegen seinen Bruder durch.
Und auch hier beginnt ein Königinnenstreit, der das Ende einer ganzen Fürstengeneration nach sich ziehen sollte.
Fredegunde, die was List und Tücke betraf, weitaus souveräner war als ihr Gemahl, ließ Sigibert im Jahre 575 in der Nähe von Vitry-en-Artois hinterhältig ermorden. Dies sollte bei weitem nicht die letzte Leiche sein, die ihren Lebensweg pflasterte. Daraufhin übernahm Sigiberts Sohn, der erst vierjährige Childebert II, formell die Herrschaft in Austrien. Brunhild, noch immer Königin, riß die Regentschaft allerdings an sich und führte den Rachefeldzug gegen Schwager und Schwägerin erbittert weiter. Sie soll sogar mit Helm, Schild und Schwert gerüstet an der Spitze ihrer Gefolgsmännern geritten sein. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich der Ruf von der mutigen, schlauen, heldenhaften Königin.
Fredegunde war über den Ruhm ihrer Feindin weitaus weniger erfreut und entsandte einen Attentäter nach Austrien, um die Gehasste samt Sohn ein für allemal los zu werden. Brunhild aber schöpfte Verdacht und ließ den Fremden gefangen nehmen. Unter Folter gestand der seine wahren Absichten und wurde anschließend nach Neustrien zurückgejagt. Dort angekommen beichtete der Gepeinigte seinen Fehlschlag, woraufhin ihm Fredegunde Arme und Beine abschlugen ließ.
Brunhild brachte ihre Wut noch zusätzlich zum kochen, als sie einen Sohn aus der ersten Ehe ihres Schwagers heiratete und somit rechtmäßige Erbfolgeansprüche in Neustrien stellte. Merowech, so der Name ihres frischgebackenen Ehemanns, war der Sohn der Frau, die Chilperich wegen Fredegunde hatte aus seinem Land vertreiben lassen- mitsamt ihrer Kinder.
Fredegundes Rache sollte grausam sein. Sie inhaftierte den Bischof, der Brunhilde und Merowech verheiratet hatte, und ließ ihn kurz darauf erdolchen. Dessen Freund und Vertrauter, Bischof Romacher von Coutances, vergiftete sie. Dann beauftragte sie ihren Liebhaber, Graf Leudegast damit, Merowech unter die Erde zu bringen. Leudegast konnte ihm aber nicht so einfach habhaft werden und brachte, um seine Königin milde zu stimmen, Gefolgsleute des Austrasischen Herrscherpaares um. Fredegunde aber ließ den Erfolglosen foltern und enthaupten.
Eine Reaktion aus Austrien ließ nicht lange auf sich warten. Merowech war, ebenso wie sein Vater, nicht gerade zimperlich im Umgang mit seinen Verwandten und setzte seinerseits Mörder auf seine Stiefmutter Fredegunde an. Er selbst wollte sich seinen Vater Chilperich vorknöpfen. Nach einem verfehlten Anschlag auf das Leben seines Erzeugers, bei dem dessen Leibarzt aufs Fürchterlichste zugerichtet wurde, ließ seinerseits Chilperich die Jagd auf seinen Sohn eröffnen. Viele Male entkam Merowech den Anschlägen, bis ihm im Jahre 577 sein Glück verließ und er tot in einer Burg nahe Reims aufgefunden wurde. Wie sich herraustellte, war er von seinem engsten Vertrauten hinterrücks mit dem Schwert durchbohrt worden. Der Täter behauptete zwar, Merowech habe nicht mehr leben wollen und ihn um diesen 'Freundesdienst' gebeten, wurde dennoch als Verräter betrachtet. Schließlich ging das Gerücht um, er habe im Auftrag von niemand geringerem als Königin Fredegunde persönlich gehandelt. Bevor er diese Verdachtsmomente aber lichten konnte, wurde er von Fredegunde gehängt.
Brunhild, die nun mit gerade einmal 27 Jahren zum zweiten Mal Witwe war, führte gepanzert und bewaffnet an der Spitze ihres Heeres den Blutrachekrieg umso erbitterter fort.
Innenpolitisch zog sich der Kreis um Fredegunde enger. Die Brüder Merowechs, die ebenfalls aus Chilperichs erster Ehe hervorgegangen waren, beanspruchten nun ihrerseits den neustrischen Thron. Fredegunde reagierte nach Schema F darauf: sie gab den Tod eines Sohnes nach dem anderen in Auftrag. Und damit nicht genug. Sicherheitshalber wurden auch deren Geliebten hingerichtet. Und um auch nicht das kleinste Risiko mehr einzugehen, tötete sie schließlich auch Chilperichs erste Frau. Ihr Mann allerdings, soll von den blutrünstigen Taten nichts mitbekommen haben.
Kaum hatte die mordlustige Königin ihre Stiefsöhne aus dem Weg geräumt, gebar sie Chilperich im Jahre 584 den nunmehr einzigen Thronfolger Chlotar II.
Seine Vaterfreuden währten jedoch nur kurz, denn noch im selben Jahr ließ Fredegunde auch ihn ermorden. Er hatte nämlich durch Zufall von dem Ehebruch seiner Frau mit einem seiner Vasallen erfahren, als er gerade auf dem Weg zu einer Jagd war. Er wollte seine Gattin nach Rückkehr von der Jagd furchtbar bestrafen, kam durch Fredegundes hastiges Eingreifen aber nicht mehr dazu. Diese rief nach Entdeckung des Ehebruchs sogleich nach jenem Geliebten und schmiedete mit ihm ein Mordkomplott. Ihr Liebhaber beauftrage einen Attentäter damit, Chilperich bei seiner Rückkehr zu erstechen. Die Tat sollte dann Merowech in die Schuhe geschoben werden. Und so geschah es dann auch.
2.2 Brunhild, Königin der Burgunden
Gerade einmal Alleinherrscherin geworden, stand Fredegunde der Sinn nach weiterem Machtzuwachs. So begab sie sich nach Burgund, wo König Guntram regierte, und noch beziehungsweise kein Thronfolger mehr existierte. Fredegunde versuchte ihn zur Ehe oder zumindest zur Adoption ihres Sohnes zu bewegen, damit nach Guntrams bereits geplanten Ablebens Burgund an sie oder Chlotar fiel. Guntram aber ging sehr zu ihrem Verdruss auf keines ihrer Vorhaben ein und schickte stattdessen nach Brunhild um ihren Sohn Childebert zu adoptieren. Fredegunde konnte das natürlich nicht zulassen und sandte einige Schergen aus, die Brunhilds Sohn, und wenn möglich gleich Brunhild mit, umbringen sollten. Die Attentäter wurden allerdings gefasst und in den Kerker geworfen. Daraufhin verjagte Guntram Fredegunde von seinem Hof. Sie unternah daraufhin mehr als zehn weitere Anschläge auf Guntram, Brunhild und Childebert. Im Jahre 593 gelang ihr dann schließlich der Mord an Guntram. Childebert erbte nun also Burgund und vereinigte es im Jahre 595 mit Austrien. Zwölf Monate später erlag aber auch er einem Giftmordanschlag. Sein Reich fiel daraufhin an seine beiden, noch minderjährigen Söhne Theudebert und Theuderich. Brunhild, die bis zur Großjährigkeit ihrer Enkel, Königin von Austrien und Burgund war, ordnete, um späteren Streitigkeiten ihrer Enkel entgegenzuwirken, die Teilung des Reiches an. Austrien sollte an Theudebert und Burgund an Theuderich fallen, wobei sie hinzusetze, dass keiner der beiden beim Ableben des anderen das Gesamtreich erben würde.
Im Jahre 597 starb dann Brunhild Todfeindin an einem langwierigen Leiden. Noch auf dem Totenbett soll sie aber ihren Sohn Chlotar instruiert haben, die Verhassten und ihre Enkel ins Grab zu bringen. Theuderich nahm ihm dabei seine Aufgabe sogar teilweise ab. Trotz Brunhilds Vorkehrungen liebäugelte er nämlich doch mit dem Reich seines Bruders und ließ Theudebert schließlich von einem Verbündeten köpfen:
„Theuderich wusste, dass Theudebert häufig in die Schatzkammer zu schreiten und mit Wohlgefallen die Geschmeide zu schauen pflegte. Er bestach deshalb einen Schatzwächter, der den Bruder bei passender Gelegenheit meucheln sollte. Als nun Theudebert wieder einmal sich über die Schatztruhe beugte, um sich am Anblick des Reichtums zu erfreuen, da fiel ihm- als Folge eines Schwertstreichs aus dem Hinterhalt- unversehens das Haupt in die Kleinodien.“[1]
Anschließend veranlasste Theuderich das baldige Ableben der beiden Söhne seines Bruders. Da er aber durch Brunhildes Vorkehrungen nicht automatisch Herrscher über Austrien wurde, wollte er die einzige Tochter seines gemeuchelten Bruders ehelichen. Brunhild aber durchkreuzte seine Pläne und verbot die Heirat, woraufhin Theuderich seine Oma persönlich mit dem Schwert durchbohren wollte. Die waffengewandte Brunhild jedoch wehrte seinen Angriff ab und zwang ihren Angreifer zur Flucht. Wenig später war er tot. Durch wessen Auftrag, ob Brunhildes oder Chlotars, er sein Leben verlor, ist ungeklärt.
Brunhild, wieder Alleinherrscherin, wählte unter Theuderichs unehelichen Söhnen den elfjährigen Sigibert II. als Erben beider Reiche. Bis er den Thron besteigen konnte, regierte wieder sie. Als Residenzstadt wählte sie Worms. Dort baute sie Stück für Stück die Stadt auf und aus, führte aber auch den Krieg gegen Neustrien unerbittlich weiter.
Dank ihrer Aufbauarbeiten wurden damals die 'Brünhildiswisi' und der 'Brünhildis- graben', nach ihr benannt. Sie ließ sogar 'Brünhildis-Münzen' prägen, von denen heute nur noch ein einziges Exemplar erhalten ist, das in der Pariser Nationalbibliothek aufbewahrt wird.
Im Jahre 613 sandte Chlotar einen Boten zu Brunhild. Er meine, es sei Zeit endlich Frieden zu schließen und lud die Burgundenkönigin auf sein Schloss ein. Er wolle mit ihr einen Friedensvertrag unterzeichnen und sie sogar heiraten. Brunhild misstraute seinem Angebot nicht und reiste zu ihm. Kaum war sie angekommen, wurde Chlotar wortbrüchig und ließ sie umbringen. Gebunden an vier wilde Rosse soll sie zerrissen worden sein, heißt es. Sie wurde unter großer Trauer von Chlotar standesgemäß in einem schwarzen Marmorsarg unter der 'blauen Basilika' des Martinsklosters von Autun beigesetzt.
2.2 Parallelen zwischen Historie und Nibelungenlied
Einige Entsprechungen zwischen Geschichtsschreibung und Nibelungenlied lassen sich zweifelsohne erkennen.
- Die historische Brunhild war wie ihr Pendant im Nibelungenlied, eine Schildmaid, die Herrschaftsstatus innehatte.
- Es gab einen Streit zweier Königinnen, der viele Opfer nach sich zog.
- Brunhilds Gegenspielerin bewirkte den Untergang einer ganzen Fürstengenerationähnlich Kriemhilds, die den Burgundenuntergang verursachte.
- Die historische Brunhild war tatsächlich Burgundenkönigin in Worms.
Alles Zufall oder dienten die ja selbst auch schon fast mystische Lebensgeschichten Brunhilds und Fredegundes als Wegbereiter für das Nibelungenlied? Die Meinungen der Forscher sind nach wie vor geteilt, die Reaktionen über die scheinbare Enthüllung der wahren Identität der Nibelungenhelden eher von Skepsis als von Begeisterung geprägt. Es wird auch diskutiert ob nicht Fredegunde für die Nibelungenlied-Brunhilde Modell stand und nicht die gleichnamige Burgundenkönigin. Zu einem eindeutigem Ergebnis kann man derzeit noch nicht gelangen. Zu phantastisch klingt auch die von Gregor von Tours aufgezeichnete Geschichte des Blutrachekrieges zwischen den Herrscherhäusern Austriens und Neustriens.
Fest steht, dass Brunhild, so wie sie das Nibelungenlied uns vorstellt, eine außergewöhnliche literarische Figur ist. Das Außergewöhnlichste, wenn man es so nennen darf, ist augenscheinlich ihre übermenschliche Kraft. Die ist wortwörtlich nicht von dieser Welt und folglich reines Konstrukt. Handelt es sich dabei um ein für die damalige Literatur typisches Frauenkonzept?
3. Die Figur 'Brunhild' im Nibelungenlied
3.1. Das Ideal der 'manlîchiu wîp' in der mittelalterlichen Literatur
In der mediävistischen Forschung wird ein in der mittelalterlichen Literatur häufig auftretendes Konzept diskutiert: das Ideal der 'männlichen' Frau.
Frauen sind von vornherein schwer vorbelastet- schließlich sorgten sie für die Vertreibung aus dem Paradies. Ihre physische Unterlegenheit gepaart mit der Bibelforderung, sie solle dem Mann Untertan sein, tun ihr übriges um sie als die minderwertigeren Menschen zu brandmarken. Die Mittelalterfrau soll Kinder gebären, sich um deren Aufzucht kümmern und ihrem Mann aufopferungsvoll dienen. Einzig adlige Damen haben noch das Privileg sich den Künsten zuwenden zu können und ihrem Gemahl durch Tanz und Gesang zu unterhalten. Die hohe Minne kann sie zu reinen, tugendhaften und schönen 'Überfrauen' hochstilisieren. Wie aber passt das Bild des 'manlîchiu wîp' in dieses Konstrukt?
Anders als heute hängt die Zuordnung zu einem Geschlecht im Mittelalter nicht primär mit den Geschlechtsorganen zusammen. Die Zuschreibung zu einem Geschlecht hängt stark von moralischen Qualitäten ab. 'Frausein' wird, wie kann es anders sein, mit Lasterhaftigkeit und moralischem Abweichen verbunden. 'Mannsein' dagegen mit sittlichmoralischer Vollkommenheit. Die Geschlechter stehen also jeweils für ein dem anderen entgegengesetztes Ende einer moralischen Werteskala, die allerdings nicht starr, sondern verschiebbar ist. Erstaunlicherweise ist es gerade die Kirche, die hierfür den nötigen Erklärungsansatz bietet. Zum einen predigt sie, nur in Verbindung mit dem Mann sei die Frau Bild Gottes, wohingegen dem Mann allein diese Position zukommt. Zum anderen benennt sie das Weibliche und das Männliche als zwei in jedem Menschen koexistierende Prinzipien.
Besonders Kirchenvater Augustinus hat sich ausgiebig mit diesem Gedanken beschäftigt. Laut ihm strebe der männliche Geist automatisch nach Vervollkommnung und der ewigen Anschauung, wodurch er immer mehr Bild Gottes wird. Diese geistige Qualität
[...]
[1] Hansen, Walter: Die Spur der Helden. Die Gestalten des Nibelungenliedes in Sage und Geschichte. Bergisch Gladbach 1988, Seite 39.