Erfahrungen der Spätaussiedlerinnen mit Erwerbslosigkeit im Landkreis Mittelsachsen

Zugänge und sozialpädagogische Ansätze zur besseren Integration der Spätaussiedlerinnen am deutschen Arbeitsmarkt


Diplomarbeit, 2010

156 Seiten, Note: 1,15


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsbestimmungen und Definitionen
2.1 Migration
2.2 Spätaussiedler
2.2.1 Gesetzeslage der Spätaussiedler
2.2.2 Statistische Daten
2.3 Integration

3. Die Lebens- und Arbeitsmarktsituation der Spätaussiedlerinnen im Herkunftsland
3.1 Die ehemalige Sowjetunion
3.2 Die Zeit nach der Wende

4. Umsiedlung nach Deutschland
4.1 Ursachen der Umsiedlung nach Deutschland
4.2 Erwartungen der Spätaussiedlerinnen an Deutschland

5. Eigene Untersuchung
5.1 Methodische Vorgehensweise
5.1.1 Die Auswahl von Interviewpartnerinnen
5.1.2 Die Erhebungsphase
5.1.3 Die Auswertungsphase
5.2 Untersuchungsergebnisse

6. Arbeitsmarktsituation von Spätaussiedler(inne)n in Deutschland
6.1 Berufliche Integration von Spätaussiedlerinnen
6.1.1 Zeitlicher Verlauf der beruflichen Integration
6.1.2 Bedeutung und Erwerb der deutschen Sprache
6.1.3 Berufsstruktur und Anerkennung der Berufsabschlüsse
6.1.4 Berufliche Weiterbildung
6.2 Bedingungen des Arbeitsmarktes

7. Orientierung der Spätaussiedlerinnen im Beruf und in der Familie
7.1 Selbstbild der Aussiedlerinnen
7.2 Familiäre Orientierung
7.3 Berufliche Orientierung

8. Erwerbslosigkeit der Spätaussiedlerinnen
8.1 Zum Begriff der „Erwerbslosigkeit“
8.2 Erwerbslosigkeit und beruflicher Abstieg von Spätaussiedlerinnen
8.3 Erfahrungen der Spätaussiedlerinnen mit Erwerbslosigkeit
8.4 Diskriminierung und Benachteiligung
8.4.1 Geschlechtsbezogene Diskriminierung
8.4.2 Diskriminierungs- und Benachteiligungserfahrungen
8.5 Lebensbewältigung und Bewältigungsstrategien bei der Erwerbslosigkeit

9. Soziale Arbeit mit Spätaussiedlerinnen
9.1 Zugänge und sozialpädagogische Ansätze zur besseren Integration der Spätaussiedlerinnen in den deutschen Arbeitsmarkt sowie in der allgemeinen Arbeit mit Spätaussiedlerinnen

10. Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Anhang

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS

Abbildung 1 Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland

Abbildung 2 Zuzug von Spätaussiedlern und ihrem Familienangehörigen

Abbildung 3 Erwerbsstatus von Spätaussiedlern, Ausländern und Deutsche

Abbildung 4 Stellung im Beruf von sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten nach Geschlecht und Nationalität

Abbildung 5 Erwerbslose Personen in Deutschland nach Bevölkerungsgruppen

Tabelle 1 Die Anzahl der Aufgenommenen Spätaussiedler(inne)n in Sachsen

Tabelle 2 Integrationsprozess nach Baaden

Tabelle 3 Eingliederungsversionen nach Schmitt-Rodermund/Silbereisen

Tabelle 4 Eingliederungsformen von erst seit kurzem in Deutschland lebenden Aussiedler(inne)n

Tabelle 5 Die ungerechte Teilung der Haushaltsarbeit

Tabelle 6 Bildungsstand der befragten Russlanddeutschen und der sowjetischen Bevölkerung

Tabelle 7 Verteilung der befragten Russlanddeutschen und der sowjetischen Beschäftigten auf soziale Schichten

Tabelle 8 Transkriptionsregeln nach Kallmeyer/Schütze

Tabelle 9 Arbeitslose Spätaussiedler(inne)n

Tabelle 10 Bestand an Arbeitslosen nach ausgewählten Merkmalen in Sachsen

1. Einleitung

Spätaussiedler sind Deutsche, die vor ihrer Einwanderung nach Deutschland vor allem in der Sowjetunion, deren Nachfolgestaaten sowie anderen ehemaligen Ostblockstaaten lebten. Deutschstämmige Spätaussiedler und ihre engsten Familienangehörigen erhalten bei der Einreise die deutsche Staatsbürgerschaft. Von 1989 bis 2006 sind insgesamt 2,8 Millionen Spätaussiedler zugezogen. Seit den großen Zuwanderungswellen 1989 und Anfang der 1990er Jahre gab es erhebliche Probleme bei ihrer Arbeitsmarktintegration. Hohe Arbeitslosigkeit und deutliche Unterschiede beim Einkommen und der Qualifikationsstruktur im Vergleich zu den hier aufgewachsenen Deutschen kennzeichneten die Lage (vgl. Koller 1997).

Bis zum Ende der achtziger Jahre galt die Integration von Aussiedlern als weitestgehend unproblematisch. Mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems entschieden sich viele Angehörige der deutschen Minderheit für eine Ausreise in die Bundesrepublik. Sie waren von der Gesellschaft ihres Herkunftslandes stark geprägt, Kenntnisse der deutschen Sprache waren nur noch in geringem Maße oder gar nicht vorhanden. In den letzten Jahren wurden nur wenige Analysen zur aktuellen Arbeitsmarktsituation der Spätaussiedler veröffentlicht. Dies liegt unter anderem daran, dass sie bei ihrer Einreise die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben und somit in der amtlichen Statistik in der Regel nicht gesondert erfasst sind. Lediglich im sozioökonomischen Panel und einigen speziellen Erhebungen können Spätaussiedler identifiziert werden. In der Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) wird fünf Jahre nach der Einreise der Spätaussiedlerstatus gelöscht. Anschließend sind diese Personen als solche nicht mehr identifizierbar. Eine differenzierte Betrachtung der Arbeitsmarktintegration von Spätaussiedlern ist somit kaum möglich. Eine verbesserte Datenbasis liefert seit einiger Zeit die „Integrierte Erwerbsbiografie“ (IEB) des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung (IAB), in der verschiedene Prozessdaten der BA kombiniert werden und Spätaussiedler eindeutig identifizierbar sind. Die IAB hat somit eigene Statistik der Spätaussiedlergruppen erfasst. Dabei wurde vor allem festgestellt, dass am höchsten die Arbeitslosigkeit bei Spätaussiedlerfrauen vorliegt.

Ich habe mich entschieden, mich in meiner Diplomarbeit mit dem Thema „Erfahrungen der Spätaussiedlerinnen mit Erwerbslosigkeit“ zu beschäftigen, wobei ich auch die möglichen Zugänge und sozialpädagogischen Ansätze zur besseren Integration der Spätaussiedlerinnen am deutschen Arbeitsmarkt analysieren möchte. Ich möchte vor allem herausfinden, wie die Frauen im Alter zwischen 45 und 60 Jahren ihre Erwerbslosigkeit wahrnehmen und wie sie sich dabei fühlen? Wie sieht ihre Arbeitsmarktsituation aus? Welche Schwierigkeiten erleben sie bei der Arbeitsmarktintegration? Und welche sozialpädagogischen Ansätze wären zur besseren Arbeitsmarktintegration hilfreich gewesen?

Dazu habe ich verschiedene Studien und Untersuchungen über die Lebensbedingungen, berufliche Integration, Arbeitslosigkeit und Befindlichkeit von Spätaussiedlerinnen gelesen. Außerdem habe ich meine eigenen Untersuchung mit zwei Spätaussiedlerfrauen, die vor 8 bis 15 Jahren mit ihren Familien als Spätaussiedlerinnen in die Bundesrepublik eingereist sind, durchgeführt. Die Betroffenen (Frau T., 48 Jahre, aus Russland und Frau E., 45 Jahre, aus Russland) kommen hier selbst zu Wort (Interview Nr. 1 von Frau T. und Interview Nr. 2 von Frau E., die im Anhang zu finden sind). Ziel meiner kleinen Untersuchung ist, die Erfahrungen der beiden Gesprächspartnerinnen mit Erwerbslosigkeit und ihre Arbeitsmarktsituation zu untersuchen. Dabei sollen Zusammenhänge zwischen den individuellen Geschichten und der Wirkung von Erfahrungen in gesellschaftlichen und sozialen Strukturen - ausgearbeitet werden.

Im zweiten Kapitel werde ich kurz auf die Migration im Allgemeinen und auf die Integration von Spätaussiedler(inne)n im Besonderen eingehen. Zunächst möchte ich die rechtliche Grundlage der Zuwanderungsgruppe der Spätaussiedler/-innen, die auch mit den statistischen Daten verdeutlicht wird, darstellen, um danach den Begriff der „Integration“ sowie das Integrationsphasenmodell von seinem wissenschaftstheoretischen Ansatz her zu beschreiben.

Im dritten und vierten Kapiteln werde ich die Lebens- und Arbeitsmarktsituation der Spätaussiedlerinnen in ihrem Herkunftsland sowie das Phänomen der Umsiedlung nach Deutschland darstellen, um besser nachvollziehen zu können, wodurch ihr „vergangenes“ Leben geprägt wurde und was die Spätaussiedlerinnen zu ihrer Ausreise veranlasst hat.

Im fünften Kapitel befasse ich mich mit meiner eigenen Untersuchung, wobei ich die Ergebnisse zusammenfasse, um zu sehen, welche Erfahrungen meine Interviewpartnerinnen mit Erwerbslosigkeit haben und wie ihre derzeitige Arbeitsmarktsituation aussieht.

Weitere Schwerpunkte der Arbeit bilden die Arbeitsmarktsituation der Spätaussiedler/- innen hier in Deutschland. Dabei werde ich den Verlauf der beruflichen Integration, die wichtigsten Voraussetzungen zur beruflichen Integration sowie die Bedingungen des Arbeitsmarktes in Deutschland analysieren.

Um zu verstehen, wie die Spätaussiedlerinnen aus dem Herkunftskontext heraus geprägt sind und was die berufliche Integration für sie bedeutet, werde ich im siebenten Kapitel das Selbstbild der Frauen sowie ihre berufliche und familiäre Orientierung darstellen. Das nächste Kapitel widmet sich dem Hauptthema meiner Diplomarbeit, nämlich dem Thema Erwerbslosigkeit von Spätaussiedlerinnen. Hier werde ich das Phänomen der Erwerbslosigkeit beschreiben sowie auf die Erfahrungen der Spätaussiedlerinnen mit diesem Phänomen eingehen. Dabei sollen auch Ursachen der Erwerbslosigkeit, vor allem auch Benachteiligungs- und Diskriminierungserfahrungen, analysiert werden und es wird auch auf die Bewältigungsstrategien der Frauen eingegangen.

Im neunten Kapitel werde ich mögliche Zugänge und sozialpädagogische Ansätze zur besseren Integration der Spätaussiedlerinnen in den deutschen Arbeitsmarkt sowie in der allgemeinen Arbeit mit Spätaussiedlerinnen darstellen sowie sozialpädagogische Hilfsangebote für Spätaussiedlerinnen im Landkreis Mittelsachsen am Beispiel des Vereins „Hoffnung-Nadezhda e.V.“ vorstellen.

Im Schlusskapitel sollen noch einmal die Probleme der Spätaussiedlerinnen, besonders bei ihrer beruflichen Integration, zusammengefasst werden und mögliche Anregungen für die weitere Gestaltung der Integrationsarbeit im Landkreis Mittelsachsen dargestellt werden.

Die Berücksichtigung aller relevanten Aspekte zum Verständnis von Migration (im Bezug auf die Interviews) und der damit verbundenen Erfahrungen der davon betroffenen Menschen sind im Rahmen meiner Arbeit nicht annähernd möglich. Daher erhebt meine Arbeit keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern kann allenfalls eine Auswahl von mir subjektiv für wichtig erachteter Aspekte und Probleme darstellen.

2. Begriffsbestimmungen und Definitionen

Im Rahmen meiner Diplomarbeit möchte ich bestimmte Begriffe - wie Migration, Spätaussiedler, Integration, Erwerbslosigkeit -, die ich öfters benutzen werde und die einen theoretischen Bezugsrahmen darstellen, definieren.

2.1 Migration

Eine Literaturrecherche zum Stichwort Migration erbrachte nur eine Handvoll von Hinweisen. Zudem haben inzwischen sehr viele ihre eigene Definition gegeben. Der Begriff Migration basiert auf dem lateinischen Wort „migrare“ und bedeutet „wandern“ bzw. „übersiedeln“. Von Migration spricht man, wenn eine Person ihren Lebensmittelpunkt räumlich verlegt. Von internationaler Migration spricht man dann, wenn dies über Staatsgrenzen hinweg geschieht (vgl. BAMF 2008, S. 14).

Insgesamt unterscheiden sich Definitionen von Migration im Wesentlichen darin, dass die Differenz zwischen Ankunfts- und Zielregion, die notwendig ist, um von Migration zu sprechen, unterschiedlich bestimmt wird. Migration kann unterschieden werden im Hinblick auf räumliche Gesichtspunkte (intra- oder international), zeitliche Aspekte (temporär oder dauerhaft) und weiterhin bezogen auf die Wanderungsentscheidung (mehr oder weniger freiwillig oder erzwungen). Auch die Frage, ob es sich um Individual-, Gruppen- oder Massenwanderungen handelt (Treibel 2008, S. 19f.), ist ein in der Literatur häufig angeführtes Unterscheidungsmerkmal.

Zwar kann unter Migration letztlich jede „Ortsveränderung von Personen“ verstanden werden (vgl. Hoffmann-Nowotny 1973 in: Mecheril, P. 2010, S. 42), die formelle und informelle Erzeugung des Migranten, so wie wir ihn gegenwärtig kennen, ist jedoch an die nationalstaatliche Ordnung gebunden.

Als Migration kann auch die biografisch relevante Überschreitung kulturell, juristisch, lingual und (geo-)politisch bedeutsamer Grenzen bezeichnet werden. Migration geht mit der Veränderung und der Bestätigung des Bestehenden einher. In der politischen und alltagsweltlichen Diskussion um das Thema Migration geht es immer auch um die Frage, wie eine nationalstaatliche Gesellschaft ihre Grenzen festlegt und wie sie innerhalb dieser Grenzen mit Differenz, Heterogenität und Ungleichheit umgeht. Migration problematisiert Grenzen. Dies sind nicht nur territoriale Grenzen, sondern vor allem die symbolischen Grenzen der Zugehörigkeit. Durch Migration wird die Frage der Zugehörigkeit individuell, sozial und auch gesellschaftlich zum Thema. Dies gilt nicht nur für die Zugehörigkeit der „Migrant(inn)en“, sondern muss allgemeiner verstanden werden. Denn durch die Migration werden Zugehörigkeitsverhältnisse problematisiert. Der Ausdruck „Migration“ erfasst somit eine Vielzahl von Phänomenen, die für eine Gesellschaft charakteristisch sind, in der Aus- und Einwanderung, das Entstehen von Zwischenwelten oder „Fremdheit“ erfindende Diskurse von großer Bedeutung sind (vgl. Mecheril 2010, S. 11 ff.).

Im Weiteren finde ich wichtig und notwendig zu klären, welche Personengruppen als Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund zu betrachten sind. „Migrant/in“ ist eine Bezeichnung, die von Diskursen um Identität, Fremdheit, ethnische und kulturelle Differenz hervorgebracht wird und in die unterschiedlichen Unterscheidungsweisen eingeht. Deshalb ist „Migrant/in“ eine mehrwertige Bezeichnung. Sie ist diffus und kann mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Bedeutungen benutzt werden. Der Gebrauch der Bezeichnung „Migrant/in“ kann die Wanderungserfahrungen fokussieren, die persönliche oder familiäre Herkunft aus einem nicht deutschen Staat, kann auf kulturelle oder ethnische Differenzen verweisen oder aber eine Person adressieren, die einen nicht deutschen Pass besitzt (vgl. Mecheril 2010, S. 38).

Die Mikrozensuserhebung aus dem Jahr 2005 führt als Zuordnungskriterium den Tatbestand des „Migrationshintergrundes“ ein. Zu den Personen mit Migrationshintergrund zählen Ausländer, also Personen mit einer anderen als der deutschen Staatsangehörigkeit, die sogenannten Spätaussiedler, eingebürgerte Personen und Deutsche, von denen mindestens ein Elternteil einen Migrationshintergrund besitzt (vgl. Siegert 2007, S. 107). In Deutschland lebten 2009 16,05 Millionen Menschen mit einem migrationspolitischen Hintergrund, was einem Bevölkerungsanteil von ca. 19% entspricht - das ist auch in Abbildung 1, Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland 2005 - 2009 (siehe Anhang, Abb. 1, S. 118), zu erkennen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) unterscheidet verschiedene Arten der Zuwanderung. Zuwanderer unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihres Zugangsrechts, so z.B.: jüdische Zuwanderer, Asylwanderer, rückkehrende deutsche Staatsbürger, EU-Binnenmigranten, Werkvertrags- und Saisonarbeitnehmer, Spätaussiedler usw. (vgl. BAMF 2008, S. 40). In meiner Diplomarbeit werde ich eine Zuwanderungsgruppe, die Gruppe der Spätaussiedler, vertiefend betrachten.

2.2 Spätaussiedler

Die Gruppe der Spätaussiedler ist eine Zuwanderungsgruppe, die besonderen Migrationsmotiven und Anerkennungskriterien unterliegt - diese Gruppe wird öfters als „Deutschrussen“, „Russlanddeutsche“, „Wolgadeutsche“ und „Aussiedler/Spätaussiedler“ (diese Begriffe werden im Allgemeinen und in meiner Diplomarbeit synonym verwendet) bezeichnet.

Im Folgenden möchte ich zunächst einmal klären, welche Personengruppe damit genau gemeint ist, d.h., wer überhaupt unter die Rechtskategorie Aussiedler/Spätaussiedler fällt.

Die sogenannten Aussiedler/-innen sind die größte Zuwanderungsgruppe. Bei ihnen handelt es sich um Nachkommen deutscher Siedler/-innen, die aufgrund der russischen bzw. sowjetischen Politik als Minderheit in geschlossenen Siedlungen im europäischen Teil des Russischen Reiches lebten. Diese Minderheit in der Sowjetunion war nach 1941 Zwangsumsiedlungen und Repressionen ausgesetzt. Aussiedler/-innen gelten im Selbstverständnis der Bundesrepublik als deutsche „Volkszugehörige“ (vgl. Mecheril 2010, S. 27).

Aussiedler sind zunächst einmal „Vertriebene“ - genau definiert wird der Terminus des Aussiedlers im Bundesvertriebenengesetz (BVFG): „Vertriebener ist, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger (…) nach Abschluss der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990 oder danach im Wege eines Aufnahmeverfahrens vor dem 1. Januar 1993 die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verlässt (…)“ (§1 BVFG).

Der Status des Spätaussiedlers wird eindeutig in § 4 BVFG geregelt:

Spätaussiedler sind in der Regel deutsche Volkszugehörige, der die Republiken der ehemaligen Sowjetunion nach dem 31. Dezember 1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen haben. Darüber hinaus müssen nach dem 31.12.1993 geborene Antragsteller von deutschen Eltern oder zumindest einem deutschen Elternteil abstammen und sich bis zum Verlassen der Aussiedlungsgebiete zur deutschen Nationalität erklärt oder auf andere Weise zum deutschen Volkstum bekannt haben (§4 BVFG).

2.2.1 Gesetzeslage der Spätaussiedler

Die Aufnahme von Spätaussiedlern/-innen in die BRD erfolgt auf Grundlage des Artikels 116 des Grundgesetzes (GG). Nach diesem Artikel ist Deutscher im Sinne des Grundgesetzes, „(…) wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat“ (GG Art. 116, Abs. 1).

Der größte Teil der Aussiedler besitzt keine deutsche Staatsangehörigkeit. Somit berufen sie sich auf die deutsche Volkszugehörigkeit: „Aussiedler ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind nach Art. 116 Abs. 1 GG Statusdeutsche“ (Weber 2002, S. 161, zit. N. Vogelgesang 2007, S. 50). Statusdeutsche werden, laut Prof. Vogelgesang, der an der Universität Trier/Soziologiebereich unterrichtet, durch drei Merkmale bezeichnet:

- „Sie müssen als Flüchtlinge oder Vertriebene gekommen sein,
- sie müssen deutscher Volkszugehörigkeit sein,
- sie müssen wegen dieser Eigenschaft Aufnahme in Deutschland gefunden haben“ (Vogelgesang 2007, S. 50, Herv. d. V. S.).

Zudem können auch Ehegatten oder Abkömmlinge die Rechtsstellung des Statusdeutschen erwerben. Deutsche Volkszugehörigkeit in Sinne des BVFG bedeutet, dass sich die betreffende Person in ihrer Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dies durch bestimmte Merkmale wie:

- Sprache,
- Abstammung,
- Kultur,
- Erziehung bestätigt wird.

Nichtdeutsche Ehegatten werden Deutsche, wenn die Ehe zum Zeitpunkt des Verlassens des Aussiedlungsgebietes mindestens drei Jahre bestanden hat. Abkömmlinge erwerben die Rechtsstellung mit der Aufnahme in Deutschland. Sonstige Familienangehörige können nur aufgrund der Regelung des ausländerrechtlichen Familiennachzugs einreisen.

Liegen die gesetzlichen Erfordernisse für die Anerkennung als Spätaussiedler vor, wird im sogenannten Aufnahmeverfahren ein entsprechender Bescheid erteilt. Die rechtliche abschließende Feststellung der Spätaussiedlerschaft erfolgt erst durch die zuständigen Behörden der Länder im Bescheinigungsverfahren (vgl. Vogelgesang 2007, S. 50). Durch die Einführung des Zuwanderungsgesetzes am 01.01.2005 haben sich die Aufnahmebedingungen verschärft. Auch die Ehegatten und Abkömmlinge der deutschstämmigen Antragsteller müssen nachweisen, dass sie ebenfalls der deutschen Sprache mächtig sind. Vorher war es möglich, diese Personen in den Aufnahmebescheid mit einzubeziehen, auch wenn keine Kenntnisse der deutschen Sprache vorhanden waren. Die Sprachkenntnisse werden anhand eines Sprachtests im Herkunftsland überprüft. Wird der Sprachtest nicht bestanden, kann das Einbürgerungsverfahren so lange ausgesetzt werden, bis die betreffende Person eine weitere Teilnahme am Sprachbestandtest beantragt (vgl. Vogelgesang 2007, S. 50 - 51).

2.2.2 Statistische Daten

Nachdem Deutschland bereits zwischen 1945 und 1950 als Folge des 2. Weltkrieges mehr als 12 Mio. Heimat- und sonstige Vertriebene aufgenommen hatte, kamen zwischen 1950 und 1984 pro Jahr durchschnittlich 36.000 Aussiedler und Spätaussiedler in die Bundesrepublik Deutschland.

1987/1988 stiegen die jährlichen Zuwanderungen stark an. 1988 wanderten bereits 203.000 Spätaussiedler nach Deutschland zu, im Jahr 1990 waren es fast 400.000. Im Zeitraum von 1990 bis 2006 wanderten fast zweieinhalb Millionen Menschen im Rahmen des (Spät-)Aussiedlerzuzugs nach Deutschland ein (2.489.938). Es ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen dauerhaft in Deutschland bleibt. Nachdem die Zuwanderung von Personen, die entweder als Aussiedler oder Spätaussiedler einschließlich ihrer Angehörigen nach Deutschland kamen, im Jahr 1990 ihren Höhepunkt erreichte (397.073), sind die Zuzugszahlen stetig zurückgegangen. Im Jahr 2000 sank der Zuzug erstmals auf unter 100.000 Personen. 2007 wurde mit 5.792 Personen der niedrigste (Spät-)Aussiedlerzuzug seit Beginn der Aussiedleraufnahme im Jahr 1950 registriert (siehe Anhang, Abb. 2: Zuzug der Spätaussiedlern und ihren Familienangehörigen, S. 119). Der stetige Rückgang der (Spät-)Aussiedlerzahlen seit Mitte der1990er Jahre resultiert vor allem aus der Abnahme des Zuzugspotenzials, der Änderung der Aufnahmevoraussetzungen (zuletzt: des Sprachstandstests) und der zunehmenden Beseitigung der Ursachen für die Auswanderung.

Allein Bundesland Sachsen hat seit 1991 bis Ende 2008 circa 115.500 Spätaussiedler(inne)n aufgenommen, davon seit dem Jahr 2000 rund 30.000. Die Anzahl der Aufgenommenen entwickelte sich im Einzelnen wie folgt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Die Anzahl der aufgenommenen Spätaussiedler(inne)n in Sachsen (vgl. http://www.soziales.sachsen.de/3921.html verfügbar am 30.05.2010).

Über das Wissen hinaus, wie viele Spätaussiedler/-innen bis 2008 nach Sachsen zugewiesen wurden, gibt es kaum Informationen darüber, wie viele Personen dieser Gruppe sich aktuell noch in Sachsen befinden und wie sie sich im Freistaat verteilen. Für den Landkreis Mittelsachsen konnte ich keine statistischen Daten zu den aufgenommenen Spätaussiedler(inne)n herausfinden. Menschen mit Migrationshintergrund sind zwar allgemein statistisch erfasst, aber speziell zu der Gruppe von Spätaussiedler(inne)n sind keine Daten vorhanden.

2.3 Zum Begriff „Integration“

In der Bundesrepublik angekommen, gilt es die Einwanderer zu integrieren. Sie sind fortan deutsche Bürger und sollen in die bundesdeutsche Gesellschaft eingegliedert werden. Die Versorgung mit Wohnraum, mit Arbeits-, Schul- und Kindergartenplätzen gehört zu den naheliegenden Aspekten, wenngleich auch hier die Eingliederung nicht problemlos verläuft. Neben dieser Versorgung, die als materielle, strukturelle oder institutionelle Integration bezeichnet werden kann, steht die soziale Integration an, die die Integration in das politische Leben einschließt. Was aber bedeutet Integration? Welcher Prozess oder Zustand wird damit umschrieben?

Sehr allgemein beschreibend bezeichnen Dietz/Hilkes (1994, S. 16) die Integration als einen wechselseitigen Prozess, der die Aufnahme von Zuwanderern in die Sozialstruktur eines bestehenden gesellschaftlichen Systems beinhaltet. Die Aufgenommenen passen sich in ihren Lebensgewohnheiten und Einstellungen an die Gegebenheiten der hiesigen Gesellschaft an und die Aufnahmegesellschaft reagiert ihrerseits auf die Zuwanderer und verändert sich. Der Integrationsprozess erfordert also einen beiderseitigen Wandel. Dietz (1997, S. 59) betont hierbei, dass sich die Integration nicht an der (kulturellen) Anpassungsfähigkeit der Zuwanderer misst. Als zentrales Kriterium der Integration gilt vielmehr die gleichberechtigte Teilhabe der Zuwanderer an gesellschaftlichen Ressourcen, unter Anerkennung der für alle geltenden Grundrechte der Aufnahmegesellschaft, ohne dass sie dafür ihre Identität aufgeben müssen.

Es liegt auf der Hand, dass beim Integrationsprozess als entscheidender Faktor die positive Haltung der einheimischen Bevölkerung gilt, die sich auf einen Wandel einlassen muss. Die personale und institutionelle Offenheit ist nahezu Voraussetzung für den Integrationsprozess, sonst ist eine Integration unmöglich. In dem Fall würden die Zugewanderten zur Assimilation oder Isolation gedrängt (vgl. Kühn 1995, S. 36). Baaden (1997 (I), S. 14) beschreibt den Integrationsprozess aus seinem Verständnis heraus weiterführend: Bei der Integration stehen ökonomische, soziale, psychologische und kulturelle Faktoren in einem wechselseitigen Zusammenhang. Er unterteilt, aus folgender Tabelle 2 ersichtlich, die Integration in den materiellen, sozialen und kulturellen Bereich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Wobei er erwähnt, dass in der Realität keine scharfen Trennungen zwischen diesen Bereichen vorhanden sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Integrationsprozess nach Baaden (vgl. Baaden (I) 1997, S. 14ff).

Wichtiger Faktor bei der Integration ist die Identität des Zuwanderers, der sich, nach Baadens Ansicht, aus allen Integrationsbereichen zusammensetzt. Sie entsteht aus dem Selbstbild und dem Fremdbild und erfordert eine ständige Balance zwischen diesen beiden Polen. Das Fremdbild resultiert dabei aus den in der Gesellschaft tatsächlich oder vermeintlich vorhandenen Ansichten über Zuwanderer. Identität ist im ständigen Wandel begriffen und damit Resultat von Lernprozessen. Erscheint die Differenz zwischen Selbstbild und Fremdbild für den Zugewanderten unüberbrückbar, so liegt eine Identitätskrise vor, die mit schweren psychosozialen Problemen einhergehen kann. Integration ist demzufolge ein umfassender Prozess, der alle Lebensbereiche und die Psyche umfasst und sich immer weiter in Entwicklung befindet (vgl. Baaden (II) 1997, S. 14).

Baaden zählt beispielsweise in einem Überblick langfristige Integrationsziele auf, die neben politischen und gesellschaftlichen Forderungen die inter- und intrapersonelle Ebene ansprechen:

- Gleichberechtigung auf der Grundlage von gegenseitiger Akzeptanz und Toleranz,
- ein Zustand von Zufriedenheit, der Rollensicherheit, der Verhaltensstabilität und das Gefühl der Geborgenheit,
- die politische, ökonomische und rechtliche Gleichstellung,
- ein weitgehend konfliktfreies Zusammenleben von Personen und Gruppen in einem von allen akzeptierten Rahmen verbindlicher Werte und Normen.

Hervorzuheben ist dabei, dass das Integrationsziel nicht in der bedingungslosen Anpassung (Assimilation) besteht, sondern über kulturelle Unterschiede hinweg Kommunikations- und Integrationsprozesse wechselseitig in Gang gesetzt werden sollen (vgl. Baaden (II) 1997, S. 16 f.).

Weitere, anders gelagerte Probleme im Integrationsprozess tauchen auf, wenn sich der Zugewanderte und der Einheimische mit der jeweils anderen Gruppe auseinandersetzt. Dabei tauchen Probleme auf, die auf unterschiedlichen Lebensorientierungen beruhen, durch die das jeweilige Handeln begründet ist. Schmitt-Rodermund/Silbereisen verwenden als Synonym für die übergreifende Lebensorientierung den Begriff der „Kultur“. Für sie ergeben sich vier Eingliederungsversionen bzw. Verläufe, aus folgender Tabelle 3 ersichtlich, wenn der Zugewanderte sich mit der fremden Kultur der Aufnahmegesellschaft auseinandersetzt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 3: Eigliederungsversionen nach Schmitt-Rodermund/Silbereisen, (vgl. Kunschner 2000, S. 72ff).

Diese Versionen sind als Idealtypen zu verstehen, die in reiner Form kaum anzutreffen sind. Vielmehr sind Überlappungen wahrscheinlich, nicht zuletzt, weil in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedliche Bedingungen verschiedene Handlungsstrategien zulassen bzw. fördern (vgl. Kunschner 2000, S. 72 - 73). Bei der Integration spielt die Herkunftskultur eine wichtige Rolle, da eine erworbene Kultur bezeichnend für die „Formatierung“ der eigenen Identität ist. Sie ist Ausdruck des Selbstbildes, also des Bildes, dass eine Person vom eigenen Ich hat, und zugleich Maßstab für die Beurteilung Anderer (Fremdbild). Diese Identität, bzw. die Faktoren, auf denen sie beruht, kann unmöglich durch das Überschreiten einer Grenze umgepolt werden - so tief der erste Schock auch sitzen mag. Auch wenn der Wunsch zu beidem (zum Ausreisen und zum „Werden wie andere Deutsche“) vorhanden ist, braucht die Veränderung zumindest Zeit - gelegentlich gelingt es auch nicht. Eine Identität formiert sich also durch das Reflektieren von Handlungen und deren Erfolgen bzw. Misserfolgen. Eine veränderte, gewissermaßen angepasste Identität kann folglich erst dann eintreten, wenn genügend „Experimente“ durchgeführt worden sind. Maßgeblich für die Geschwindigkeit der Adaption wird das Kriterium, wie verfestigt die eigene Identität zum Zeitpunkt des Kulturwechsels ist. Wichtig ist, solange die neue (Aufnahme-)Kultur noch nicht den tragenden Pfeiler der eigenen Identität abgeben kann, ist es also an dem Part der Herkunftskultur, für psychische Stabilität zu sorgen (vgl. Kunschner 2000, S. 75).

Zusammenfassend kann man sagen, dass Integration sowohl die Annahme von Elementen der Aufnahmekultur als auch das Beibehalten von Facetten der Herkunftskultur bedeutet. Sie gilt deshalb als erstrebenswert, weil sie einerseits einen geregelten Umgang mit aktuellen Anforderungen ermöglichen kann, zugleich jedoch Rücksicht auf die Persönlichkeit von Immigranten nimmt. Im Idealfall wirken überlieferte Elemente stabilisierend und ermöglichen somit das Hantieren in einem fremden Umfeld. Nicht selten wird allerdings von Integration gesprochen und an Assimilation gedacht. Von Einheimischen verlangt Integration ein erhebliches Maß an Mitwirkung, nicht nur beim Lehren von gängigen Verhaltensweisen und Einstellungsmustern, sondern gerade auch beim Anerkennen von anderen, fremden Gebräuchen, Sichtweisen, Erfahrungen etc. Dies kann nur aus einer offenen Position heraus geschehen, die wesentlich aufwendiger ist als das Weitermachen wie bisher. Die Einheimischen erwarten jedoch, dass die Zuwanderer so werden wie sie, damit sie sie anerkennen (vgl. Kunschner 2000, S. 76).

Im Verständnis eines interkulturellen Lernens wird Integration nicht mehr als einseitige Anpassung oder Assimilation bestimmt, sondern als ein wechsel- und gegenseitiger Lernprozess, der auch die dominante Kultur im Sinne einer Bereicherung verändert. Identität und Integration werden dabei nicht als statisch, sondern als prozesshaft und immer neu zu definieren betrachtet.

Die vier möglichen Ergebnisse aus den Variablen „Aufnahmekultur“ und „Herkunftskultur“ beschreiben Positionen, die verschiedenes Verhalten in den unterschiedlichsten Lebensbereichen abbilden. Marginalisierung, Separation, Assimilation und Integration können dabei Stationen auf dem Weg der Eingliederung sein, ohne dass allerdings eine Eindimensionalität in Richtung Integration besteht. Auch wenn im Verlauf von Eingliederungsphasen mehrere Veränderungen beim Umgang mit der neuen und alten Kultur feststellbar sind, gibt es für eine Integration keine Garantie.

Assimilation

Assimilation bezeichnet die Auseinandersetzung, Anpassung und Identifikation der Zuwanderer an die Mehrheitsgesellschaft. Die mitgebrachten Verhaltensweisen, Werthaltungen und Traditionen werden zugunsten der in der Aufnahmegesellschaft gängigen Muster aufgegeben. Mit der Assimilation ist zumeist ein gewisser Zwang verbunden, der dem Betroffenen oder seiner Gruppe keine Wahl lässt: Chancengleichheit ist nur nach vorangegangener Anpassung möglich, ansonsten werden Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten Positionen erschwert oder unmöglich gemacht. Der Begriff umschreibt somit ein negatives Phänomen, denn die von Migranten angenommenen Verhaltensweisen entsprechen nicht ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen und die Zuwanderer befinden sich in einem Zustand der Unzufriedenheit.

Assimilation schützt auch nicht vor Benachteiligung. Aussiedler sind oft auch nach Jahren noch als Menschen osteuropäischer Herkunft zu identifizieren, z.B. aufgrund ihres osteuropäischen Akzentes oder ihres altertümlichen Dialektes (vgl. Baaden 1997, S. 13).

Separierung

Neben Integration und Assimilation stehen Separierung und Marginalisierung zur Verfügung. Es sind die beiden von Aussiedler(inne)n selbst am wenigsten gewollten Varianten (vgl. Schmitt-Rodermund/Silbereisen 1996a, S. 446). Separierung (oder Separation) beschreibt den Weg der Beibehaltung der alten bei gleichzeitiger Verweigerung der neuen Kultur. Gefördert werden kann die Separation, wenn durch räumliche Konzentrationen von Aussiedler(inne)n die Möglichkeit eines Verharrens in der mitgebrachten Lebensweise ermöglicht wird. Für die Betroffenen ist entweder der Sprung hin zum Neuen zu schwer, etwa weil zu großen Hürden aufgebaut wurden, oder das „Stehenbleiben“ zu einfach, wenn etwa neue Beziehungen unter Aussiedler(inne)n ein Einlassen auf das Unbekannte erübrigen und somit den Verlust an Vertrautem gering halten (vgl. Kunschner 2000, S. 77).

Marginalisierung

Marginalisierung beschreibt den Weg, wenn die Herkunftskultur von Aussiedler(inne)n beispielsweise als nicht bewahrungswürdig abgelehnt wird, der Zugang zur Aufnahmekultur jedoch nicht oder nur unzureichend gelingen will. Welche „Kultur“ dann gelebt wird, ist pauschal kaum vorherzusagen. Schmitt-Rodermund/Silbereisen sind in ihrer Studie zum Ergebnis (aus folgender Tabelle 4 ersichtlich) gekommen, dass die Marginalisierung unter erst seit kurzem in Deutschland lebenden Aussiedler(inne)n das zweithäufigstes Ergebnis (nach der Separation) ausmacht:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 4: Formen der Eingliederung von Spätaussiedlern. Studienergebnisse. (vgl. Schmitt-Rodermund/Silbereisen 1996a, S. 447).

Integrationsphasenmodell

Idealtypisch lässt sich der Integrationsprozess von Aussiedler(inne)n nach Kossolapow in vier Phasen einteilen. Das Vier-Phasen-Modell von Line Kossolapow beschreibt die Integration von Aussiedlern über einen Zeitraum von etwa sechs Jahren. Kossolapow geht bei ihrem Vier-Phasen-Modell davon aus, dass die spezifische Sozialisation von Aussiedlern bei der Integrationsanalyse einbezogen werden sollte. Die zeitliche Dimension hängt dem Modell zufolge von der Häufigkeit und Qualität der sozialen Kontakte zu Einheimischen ab, sowie von der Flexibilität beider Seiten, die Perspektive des jeweils anderen einnehmen zu können.

Kossolapow beschreibt die Phasen ab dem Einreisezeitpunkt.

Das erste Jahr danach wird als Einstiegsphase deklariert und zeichnet sich durch eine optimistische Erwartungshaltung, starke Konsumorientiertheit, enge emotionale Orientierung an der eigenen Familie und der Mentalität des Herkunftslandes und fehlenden Kontakt zu Einheimischen aus. In dieser Phase besteht eine hohe Belastung durch schulische, berufliche und sprachliche Fördermaßnahmen.

Die bis zu drei Jahre dauernde Kontaktaufnahmephase beginnt mit der Absicherung der Wohnverhältnisse sowie der schulischen und beruflichen Eingliederung. Das neue Wohnumfeld und soziale Beziehungen am Arbeitsplatz und in der Schule fördern Kontakte zu Einheimischen. Anzahl und Art dieser Kontakte sind dabei abhängig von den ersten Erfahrungen mit Ansässigen. In diesem Abschnitt bestehen Probleme darin, dass sie in ihrem Auftreten und ihrer Sprache als fremd wahrgenommen werden oder die Erwartungshaltungen zwischen Aussiedlern und Einheimischen differieren. Wenn die Anerkennung als Ausgleich für Misserfolge und Enttäuschungen ausbleibt, kann sich Resignation einstellen, in deren Folge soziale Beziehungen zu Einheimischen auf ein Minimum reduziert werden. Wenn darüber hinaus das Einbringen der eigenen spezifischen Lebensweise nicht angenommen wird, kann dies Isolation nach sich ziehen. Auslöser sind dabei gelegentlich kulturelle Unterschiede, die auf Grund verschiedener Deutungen zu Missverständnissen führen können. Ergänzend kann aus heutiger Sicht auf die hohe Arbeitslosigkeit und die vorhandenen Ballungen von Aussiedler(inne)n hingewiesen werden.

Die Einbezugsphase bestimmt das vierte und fünfte Jahr. In ihr ist die letztendliche Eingliederungsform noch nicht abschließend bestimmt. Sie zeichnet sich durch ein Relativieren und Verarbeiten der kulturellen Dissonanzen aus, wobei die Migranten mehrheitlich zur Überkompensation neigen.

Nach etwa fünf Jahren beginnt die Identitätsfindungsphase. Kossolapow sieht drei Alternativen, die nun zur Wahl stehen. Im ersten Fall überwiegt die Bereitschaft zu normgerechten Verhalten, was die Verdrängung der spezifisch eigenen Kultur zur Folge hat (Assimilation). Im zweiten Fall dominiert das Abgrenzungsverhalten, das durch die Bildung von Subgruppen begleitet wird (Separation und Marginalisierung). Die dritte Variante zeichnet sich durch ein reflexives Verhalten aus, das neue kulturelle Formen und Kombinationen zulässt und sich als Mehrheitszugehörigkeit äußert (Integration) (vgl. Kossolapow, 1992, S. 19 - 28).

Dauer und Verlauf dieser Phasen sind individuell sehr unterschiedlich und abhängig von vielen Einzelfaktoren und gehen fließend ineinander über.

An der Stelle möchte ich ganz kurz meine eigene Erfahrung mit diesem Vier-Phasen- Modell erläutern. Da ich selbst Spätaussiedlerin bin, die vor 8 Jahren mit den Eltern nach Deutschland umgesiedelt ist, habe ich alle vier Phasen des Modells durchgelaufen. In der Einstiegsphase (bis einem halben Jahr nach Einreise) hatte ich auch sehr viele optimistische Erwartungen. Ich habe gedacht, dass ich die Sprache sehr schnell lerne und habe die Schwierigkeiten nicht so richtig wahrnehmen können. Meine Familie (meine Eltern) war für mich in dieser Zeit der einzige Orientierungspunkt, wohin ich mich immer wieder zurückzog. Ich hatte keine Kontakte zu Einheimischen, davor hatte ich einfach Angst. Als ich dann ein Sprachkurs besucht habe (nach einem halben Jahr nach Einreise), wurde mir klar, dass es nicht leicht ist, die Sprache zu lernen und dass es dabei vor allem wichtig ist, mit Einheimischen Kontakte zu knüpfen, erst dann kann man die Sprache beherrschen und ohne die Angst leben, dass man als Aussiedlerin auffällt. Ich habe versucht, selbständig die Behördengänge zu erledigen und auch andere Außenkontakte zu knüpfen. Erst dann war mir klar, dass ich mit meiner gebrochenen Sprache überall auffiel und manchmal als Ausländerin bezeichnet wurde. Ich musste immer erklären, dass ich keine Ausländerin bin. In solchen Situationen war ich immer frustriert und unsicher. Halt und Sicherheit habe ich nur bei meiner Familie gesucht. Dabei sagte ich mir immer: „Du musst weiter, mach die Augen zu und geh weiter, sonst wirst du ein Leben lang in Angst und Unzufriedenheit verbringen.“ Zu dem Zeitpunkt habe ich mir gewünscht, dass ich die Sprache ohne Akzent sprechen kann, damit ich nicht auffalle. Ich habe Angst gehabt, meinen Mund aufzumachen, damit niemand mitkriegt, dass ich eine Aussiedlerin bin. Ich habe mich auch stark damit auseinandergesetzt, dass ich doch in Kasachstan geboren wurde und dort auch meine Kindheit und Jugend verbracht habe. Ich konnte es nicht einfach löschen. Als ich dann mein Studium angefangen habe (nach 4. Jahren seit Einreise), war ich mit verschiedenen Situationen konfrontiert. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon gute Deutschkenntnisse, doch die Angst bestand noch. Ich habe mich mit meinen Vorstellungen und den gesellschaftlichen Erfordernissen auseinandergesetzt. Ich habe meinen Weg gesucht und bin langsam an den Punkt gekommen, an dem ich für mich eine Entscheidung getroffen habe (ab dem 7 Jahr). Ich habe begriffen, dass es egal ist, wer du bist, Aussiedler oder Ausländer, Hauptsache, du bleibst ein Mensch. Ich bin jetzt Stolz darauf, dass ich eine Spätaussiedlerin bin. Ich habe sehr viele Kontakte zu Einheimischen knüpfen können, ich pflege meine Kontakte zu den einheimischen Nachbarn sehr, ich bin Mitglied in einem Verein, ich kann die Sprache (auch mit Akzent) und ich bin mit meinem Leben zufrieden. Ich versuche nicht, meine Herkunft zu vertuschen und erzähle meinen Freuden von meinem Herkunftsland und rede mit ihnen über alles, was damit zu tun hat.

3. Die Lebens- und Arbeitsmarktsituation der Spätaussiedlerinnen im Herkunftsland

Will man die Schwierigkeiten und Besonderheiten verstehen, die die russlanddeutschen Aussiedler nach der Ausreise beim Einleben in der deutschen Gesellschaft haben, ist es notwendig, sich mit den Bedingungen und Umständen zu befassen, die vor der Wanderung bestanden haben, denn es geht bei einer Aussiedlung immer um zwei Seiten einer räumlichen Bewegung: Der Auswanderungswillige löst sich erst aus seiner Herkunftsgesellschaft, eher er sich in die Zuzugsgesellschaft einbindet.

Es scheint mir wichtig, einen kurzen Blick auf das Leben russlanddeutscher Frauen in der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten zu werfen.

Den nachfolgenden Darstellungen, die sich auf das Leben der Spätaussiedlerfrauen in der ehemaligen Sowjetunion und in den Nachfolgestaaten beziehen, liegen die Untersuchungsergebnisse der „Frauenforschung in Russland: Die Perspektiven der neuen Vision“ (vgl. A.I. Posadskaja, 2002, S. 11 - 18) sowie Befragungsstudien von Е. Gruzdeva, L. Rzhanicyna, Z. Hotkina (erschien 1992 in „Frau und Gesellschaft“) und des Osteuropa-Instituts München mit russlanddeutschen Aussiedlern über ihr Leben im Herkunftskontext zugrunde.

3.1 Die ehemalige Sowjetunion

Die staatliche Frauenpolitik hatte in der ehemaligen Sowjetunion vor dem Jahr 1991 den Anspruch, alle Frauen - gleich welcher Nationalität, in ländlichen und städtischen Regionen, im europäischen sowie kaukasischen, zentralasiatischen und sibirischen Teil

- unter der staatlichen Emanzipationsideologie zu vereinigen und ihre Lebensbedingungen zu verallgemeinern. Tatsächlich konnte in den 1970er Jahren ein mit westlichen Industrieländern unvergleichbar hoher Standard in der rechtlichen Gleichstellung, der Partizipation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, dem Bildungsniveau, dem System der staatlichen Kinderbetreuung sowie den Regelungen von Mutterschaftsschutz und -urlaub präsentiert werden (vgl. Bade/Oltmer 2003, S. 129).

Im Jahr 1965 bildeten berufstätige Frauen mit höherem Abschluss und Fachschulausbildung zusammen die Gesamtzahl der Spezialisten der Sowjetunion:

- weibliche Fachkräfte mit Hochschulausbildung 52%;
- weibliche Fachkräfte mit einem durchschnittlichen Fachausbildung 62%.

So waren insgesamt unter den Spezialisten in der UdSSR (Ingenieure, Ärzte, Agronomen, Lehrer etc.) mehr Frauen als Männer beschäftigt. Dies zeigt die enorme Rolle der Frauen in der Entwicklung des Landes und ihren Platz im System der gesellschaftlichen Arbeit (vgl. Kurganov I.A., 1968, S. 42).

Die Frau war in der ehemaligen Sowjetunion voll in das Beschäftigungssystem einbezogen, da die geschichtlichen Ereignisse, vor allem der Zweite Weltkrieg, für die sich anbahnende industrielle Produktion einen männlichen Arbeitskräftemangel hervorgebracht hatte. Das niedrige Lohnniveau machte die gleichzeitige Erwerbstätigkeit von Frau und Mann erforderlich, um den Lebensstandard abzusichern. Die Berufstätigkeit, in der Regel ohne Unterbrechungen, wurde für Frauen ein selbstverständlicher Bestandteil der Frauenrolle. Sie verbanden damit wirtschaftliche Unabhängigkeit und Selbstbestätigung (vgl. Westphal, 1997, S. 79). Während in den westlichen Industrieländern die Erwerbsbeteiligung von Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst zurückging, stieg diese in der Sowjetunion auf 51% in den 1970er Jahren und blieb bis 1985 konstant hoch. Mitte bis Ende der 1980er Jahre waren 85% aller Frauen im erwerbsfähigen Alter entweder Vollzeit berufstätig oder in einer Ausbildung befindlich (vgl. Lapidus 1992 in Bade/Oltmer 2003, S. 129 - 130).

Die sowjetischen Frauen arbeiteten zu hohem Anteil in so genannten männlichen Berufen, wie zum Beispiel als Chemiearbeiterin, Busfahrerin, Druckerin, Lackiererin und Arbeiterin im Maschinenbau oder der Metallverarbeitung. Es gab auch „feminisierte“ Tätigkeitsbereiche, wie das Bildungs-, Kultur- und Gesundheitswesen oder in der Dienstleistungsbranche, wo der weibliche Anteil bei 90 bis 100% lag (Westphal, 1997, S. 81).

Neben dem vollen Einbezug von Frauen in das Erwerbssystem zielte die sowjetische Staatspolitik darauf ab, familiäre Aufgaben zu vergesellschaften, wie bis Mitte der 1920er Jahre durch Errichtung von Volkskantinen geschehen und durch Errichtung und fortwährenden Ausbau der staatlich organisierten Kinderbetreuung. Insgesamt zeigt sich, dass das Ziel der Vergesellschaftung familiärer Aufgaben faktisch nur unzureichend umgesetzt wurde und vorwiegend den Frauen neben ihrer ganztägigen und kontinuierlichen Erwerbsarbeit gleichzeitig die Verantwortung für die Kindererziehung und die familiäre Haushaltsführung oblag. Immerhin konnte die Unterbringung der Kinder in ganztägigen Kindergärten weitgehend gewährleistet werden, während die Unterbringung in Kinderkrippen kaum verallgemeinert war. Trotz der häufig unzureichenden Ausstattung mit Kinderbetreuungseinrichtungen setzten Aussiedlerinnen mit kleinen Kindern ihre Berufstätigkeit kaum länger als ein Jahr aus, viele waren zudem ohne Unterbrechungen berufstätig. Ihre Kinder wurden dann innerhalb des familiär-verwandtschaftlichen Netzwerkes, vorwiegend von der eigenen Mutter oder der Schwiegermutter oder auch innerhalb der Nachbarschaft, betreut (vgl. Westphal 2003, S. 131). Ein hohes Organisations- und Improvisationstalent sowie eine hohe soziale Kompetenz zeichneten die Frauen aus (vgl. Gawlik 1993, S. 27).

Als Ursache für diese Entwicklung der Frauenarbeit war die stalinistische Industrialisierungsstrategie zugunsten der Schwerindustrie. Die Entwicklung der Massenkonsumgüterindustrie und der Dienstleistungen wurde vernachlässigt (vgl. Bade 2003, S. 131). Neben einem Mangel an Dienstleistungsbetrieben wie Reinigungen, Restaurants, Schneidereien etc. wurden diese auch häufig aufgrund der geringen Qualität wenig von Frauen in Anspruch genommen. Hinzu kam eine mangelhafte Ausstattung mit elektrischen Haushaltsgeräten, wie Waschmaschine, Kühlschrank, Staubsauger. Einkaufen bedeutete meist Schlange stehen und eine Suche nach den gewünschten Waren, die nicht zu jeder Zeit und am selben Ort vorzufinden waren. Die Erledigung von Hausarbeiten stellte sich als äußerst mühsam und zeitintensiv dar und wurde auf die Feiertage bzw. auf das Wochenende verlegt. Freizeit war für viele Frauen angefüllt mit Hausarbeiten. Ihnen blieb wenig Zeit für Weiterbildung und öffentlich- kulturelle Betätigungen oder einfach für Erholung und Muße (vgl. Rosenbaum 1991, S. 66). Die Frauen stellten gewöhnlicherweise ihre eigenen persönlichen Wünsche zurück, um dem Familienwohl bzw. dem Wohl anderer Vortritt zu gewähren. Die Wurzeln dieser Belastungswilligkeit liegen in den kulturellen und politischen Traditionen. In diesen ist und war die „Opferbereitschaft“ von Frauen mit Stärke verbunden und die Identifikation von Frauen mit der russischen Nation und deren Symbolik von Gemeinschaft, Geborgenheit sowie Selbstaufgabe selbstverständlich (vgl. Westphal, 1997, S. 86).

Männer beteiligten sich kaum an der Hausarbeit; jüngere und besser ausgebildete Frauen forderten jedoch die Beteiligung des Mannes an der Hausarbeit verstärkt ein (vgl. Rosenbaum 1991, S. 66). Im Jahr 1963 in Leningrad wurde eine spezielle Erhebung von 160 Arbeitnehmern durchgeführt, die ergab, wer sich in 160 Arbeitnehmerfamilien am meisten mit Haushalt beschäftigt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 5: Die ungerechte Teilung der Haushaltsarbeit (vgl. Kurganov 1968, S. 147).

So wird deutlich, dass sich in allen 160 Familien mit dem Haushalt Frauen beschäftigen und nur in 48 Familien (weniger als ein Drittel) helfen Männern dabei. Die Umfrage stellte aber nicht heraus, wie bedeutend diese männlichen Hilfen sind. Insbesondere Frauen mit geringen beruflichen Qualifikationen, niedrigem Einkommen und Frauen, die unter schlechten Arbeitsbedingungen tätig waren, wären bereit gewesen, ihre Erwerbstätigkeit aufzugeben oder einzuschränken, wenn der Ehemann ausreichend verdient hätte. Ein weiteres spezifisches Merkmal der Frauenerwerbsarbeit war der geringere Verdienst. Der durchschnittliche Lohn von Frauen betrug 65 - 70% weniger als jener vergleichbar beschäftigter Männer. Sie arbeiteten häufiger an extrem gesundheitsgefährdenden und körperlich anstrengenden Arbeitsplätzen. Auch konnten sie trotz ihres hohen Bildungsniveaus kaum Aufstiegserfolge verbuchen (vgl. Rosenbaum 1991, S. 46). Männer waren stärker in qualifizierten, gewerblichen Ausbildungen technischer Schulen und Berufsschulen vertreten und nahmen in größerem Umfang Möglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung und Zusatzqualifikation wahr. Frauen qualifizierten sich stärker in allgemeinbildenden Schulen und für akademische Berufe als in berufsbildenden Schulen und für Facharbeiterberufe, was sich später in einem geringeren beruflichen Prestige und Einkommen ausdrückte. Viele Frauen qualifizierten sich nach Heirat und Geburt des ersten Kindes nicht weiter, wechselten auf familienfreudlichere Arbeitsplätze, was ebenfalls meist zu einer Einschränkung ihrer beruflichen Aufstiegsperspektiven führte. Dennoch arbeiteten Frauen nicht nur aus finanzieller Notwendigkeit, sondern die Berufstätigkeit war ihnen als Quelle persönlicher Zufriedenheit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit wichtig (vgl. ebd., S. 63).

Den Alltag und die Lebensbedingungen der Frauen in der Sowjetunion kurz vor der Wendezeit schildern sehr anschaulich die Reportagen von Gabriele Krone-Schmalz in dem Buch „In Wahrheit sind wir stärker“ (1992). Die Autorin geht vor allem auf die unterschiedlichen Lebensumstände der Frauen im Hinblick auf die riesigen Ausmaße des Landes ein. Sie thematisiert die alltägliche Doppelbelastung durch Beruf und Familie und problematisiert die Emanzipation der Frauen. Dabei lässt sie Frauen mit ihrer Sichtweise auf diese Dinge zu Wort kommen. Stellvertretend für alle anderen stelle ich eine in Moskau lebende Frau mit ihren Lebensbedingungen vor. Bei diesem Beispiel lassen sich die Angaben und Erläuterungen zum Leben im Herkunftsland aus der Fachliteratur wiederfinden:

Galina ist 31 Jahre alt, seit 11 Jahren verheiratet, hat einen Sohn (10 Jahre) und eine Tochter (7 Jahre). Vor 12 Jahren schloss sie die Fachschule für Bauwesen mit dem Diplom „Bauarbeiter-Anstreicher“ ab und arbeitet seitdem in diesem Beruf. Ihr Mann ist Ingenieur bei der Eisenbahn. Zusammen mit den Schwiegereltern wohnt die Familie in einer Zweizimmerwohnung von 27 Quadratmetern. Der Wohnungsantrag von Galina, vor 12 Jahren gestellt, läuft noch. Zum Arbeiten, d.h. Anstreichen, Tapezieren, Verputzen von Fassaden und Fliesenlegen, verlässt sie um halb sieben früh das Haus. Halb fünf ist Arbeitsschluss. Auf dem Heimweg, der eine Stunde dauert, muss sie noch einkaufen, was mit Schlangestehen und langen Wartezeiten verbunden ist. Danach geht sie mit ihrem Sohn zum Arzt. Abends geht sie wieder aus dem Haus, um sich den Fragen ihrer Mitbürger zu stellen, weil sie Abgeordnete im Moskauer Stadtsowjet und Parteimitglied ist. Ihr Mann arbeitet von neun bis sechs. Galinas Schwiegereltern sind beide pensioniert. Die Schwiegermutter kümmert sich hauptsächlich um die Kinder. In ihrem Interview meinte Galina, dass man in der Sowjetunion die meisten Baustellen ohne die Frauen gleich schließen könne. Die Arbeit auf dem Bau sei natürlich schwer, aber das war für die Frau immer so. Das sei nicht außergewöhnlich. Man könnte die Arbeit für Frauen schon erleichtern, aber alles auf einmal gehe eben nicht. Die Dreifachbelastung durch Arbeit, Familie und Abgeordnetenfunktion meistere sie im Großen und Ganzen, aber nicht ohne die Hilfe der Schwiegereltern. Manchmal tue es ihr leid, dass die Familie zu kurz kommt. Persönliche Wünsche für sich selber hat sie keine. Sie ist mit dem Leben zufrieden. Sie wünsche sich Glück und Frieden für alle Menschen (vgl. Krone-Schmalz 1992, S. 57).

3.2 Die Zeit nach der Wende

Die von Gorbatschov 1985 initiierte politische und wirtschaftliche Umgestaltung und der anschließende Zerfall der Sowjetunion 1991 brachte für Frauen in der ehemaligen Sowjetunion zweierlei, erstens die Verschlechterung ihrer materiellen Lebenslage und zweitens eine offene Diskussion vorigen Tabuthemen (Sexualität, Kriminalität, Armut etc.). Im Verlauf der wirtschaftlichen Umstrukturierungen waren Frauen häufig die ersten, die entlassen und die letzten, die auf frei gewordenen Stellen wieder eingestellt wurden. Laut Befragungsstudie von Е. Gruzdeva/L. Rzhanicyna/Z. Hotkina wurden 8 von 10 befragten Frauen in Moskau 1992 aufgrund der Stellenplankürzungen oder im Zusammenhang mit der Liquidation des Unternehmens entlassen. In Moskau stellten 1992 Frauen einen Anteil von 80% aller erwerbslos Gemeldeten. Sie waren durchschnittlich 50 Jahre alt, besaßen eine Hoch- und Fachhochschulausbildung und waren vor dem wirtschaftlichen Umbruch als Technikerinnen oder Ingenieurinnen tätig. Drei Viertel der Frauen, die arbeitslos geworden sind, lebten in Haushalten, in denen das durchschnittliche Einkommen pro Person nicht mehr als 300 Rubel betrug, während es bei einem Fünftel der Frauen weniger als 100 Rubel waren. So lebte die überwiegende Mehrheit der Familien, in denen Frauen ihre Jobs verloren hatten, unterhalb der Armutsgrenze. Man kann auch nicht außer Acht lassen, dass Arbeit nicht nur fürs Einkommen gesorgt hat, sondern auch für die Verteilung sozialer Güter wie Wohnen, Kinderbetreuungsorte, Ausflüge zu Sommerlagern für Kinder und jetzt auch für Lebensmittel, wichtige Haushaltsgegenstände, Haushaltsgeräte, Kleidung, Schuhe, etc. In Bezug auf die Inflation und die explodierenden Kosten des Lebens, sorgte die Lage der Familien, in denen es Arbeitslose gab, für eine große Unruhe (Е. Gruzdeva/L. Rzhanicyna/Z. Hotkina, 1992, S. 180).

Frei werdende bzw. angebotene Stellen erforderten weder ein hohes Ausbildungsniveau noch professionelle Kenntnisse, sondern vor allem Kinderlosigkeit. Der Kündigungsschutz für schwangere Frauen und Mütter mit Kleinkindern entfiel zunehmend, da ein Zuwachs an ungeschützten und befristeten Arbeitsverhältnissen zu verzeichnen war. Die wirtschaftliche Umstrukturierung betraf vorwiegend die „feminisierten“ Branchen, wie das Bildungs-, Kultur- und Gesundheitswesen, den Dienstleistungssektor, den Handel, die Textil- und Leichtindustrie sowie die Rüstungsindustrie. Nicht nur die Erwerbslosigkeit stieg dramatisch, auch die Arbeitsbedingungen, die Qualität der Arbeit und die Entlohnung von Frauen verschlechterten sich. Des Weiteren wurden die gesundheitsgefährdenden Arbeitsplätze vermehrt Frauen zugewiesen, und eine daraus resultierende Erhöhung der gesundheitlichen Risiken für Frauen war zunehmend zu beobachten (vgl. Novikowa/Schipulo 1992, S. 104 - 110).

Zentrales Thema politischer und sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzungen über die Lebenslage von Frauen in der nachsowjetischen Gesellschaft wurde erneut die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das neue in diesen Diskussionen war die offene Forderung, Frauen sollten sich aus dem Berufsleben ganz oder teilweise zurückziehen. Gestützt wurde diese Forderung mit ökonomischen und demographischen Argumenten (vgl. Rosenbaum 1991, S. 83 - 96). Nur eine kleine Minderheit intellektueller Frauen stellte die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Zuweisung von Frauen auf den gesamten Bereich der familiären Reproduktion in Frage und forderte eine Neudefinition der Geschlechterrollen von Frau und Mann. Eine breite Zustimmung unter den Frauen fand in der Umbruchssituation jedoch eher der Ansatz, Frauen sollten reale und materiell abgesicherte Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Kombinationen von Berufs- und Familienrollen haben. Psychisches Unbehagen, eine unsichere Zukunft und ein existentieller Kampf um das Überleben kennzeichneten den Alltag von Frauen in der nachsowjetischen Gesellschaft (vgl. Westphal 2003 in: Bade/Oltmer 2003, S. 133 - 134).

Für russlanddeutsche Frauen kam neben der allgemeinen Verschlechterung der Lebenslage auch die Furcht vor ausbrechenden Nationalitätenkonflikten hinzu.

Einschätzungen von Sozialwissenschaftlerinnen aus der ehemaligen Sowjetunion zufolge wurden gerade in dieser Situation traditionelle geschlechtliche Rollenvorstellungen belebt und das Frauenbild der liebevollen, sich dem Mann und der Familie hingebenden Hausfrau und Mutter hervorgebracht. Bei einem Teil der Frauen hat diese Umgestaltung des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens den Wunsch geweckt, sich in die Familie zu flüchten. Manche sahen einen Ausweg aus der Situation in der Arbeitszeitverkürzung für die Frau, damit sie Haus und Familie mehr Zeit widmen könnte. Auch in der Umbruchssituation waren es weiterhin vorwiegend Frauen mit ungünstigen Arbeitsbedingungen, die auf ihre berufliche Arbeit verzichten bzw. in eine Teilzeitarbeit wechseln wollten (vgl. Novikowa/Schipulo 1992, S. 108).

Dennoch, so zeigten Untersuchungsergebnisse des Osteuropa-Instituts München, hielten Frauen an dem bislang selbstverständlichen Lebenskonzept Familie und Beruf weiterhin fest. Der familienwirtschaftlichen Organisation des Alltags kam als Überlebensstrategie zentrale Bedeutung zu. Fehlende institutionelle Leistungen und Entlastungen konnten durch dieses System kompensiert werden. Im Rahmen der familienwirtschaftlichen Organisation nahmen die Frauen eine besondere Rolle ein; neben ihrer Zuständigkeit für familiäre und berufliche Arbeit verwalteten sie das Einkommen der Familie und sorgten für die sozialen Netzwerke, die für die wirtschaftliche Existenzsicherung der Familie unabdingbar waren (vgl. Westphal 2003 in: Bade/Oltmer 2003, S. 134).

Genderstudien des Arbeitsmarktes in Russland führten zu dem Schluss, dass eine ausgeprägte Tendenz zur Bildung eines spezifischen Frauenarbeitsmarktes, charakterisiert durch begrenzte Arten der Beschäftigung, niedrigen Status der Arbeit und niedrige Löhne, instabile Beschäftigung und Chancen für Karriereaufstieg und berufliches Weiterkommen, existiert. Immer mehr Arbeitskräfte flüchten aus dem öffentlichen Sektor in neue Sektoren wie private Unternehmen, kleine Unternehmen, Joint Ventures (vgl. A. I. Posadskaja, 2002, S. 11 - 18).

Will man die Bildungs- und Berufsstruktur sowie die soziale Schicht der Aussiedler mit denen der sowjetischen Bevölkerung vergleichen, kann man sich die Untersuchungsergebnisse des Osteuropainstitutes (1987 -1990) anschauen. Der Vergleich der Ergebnisse zeigt, dass die Russlanddeutschen in der Sowjetunion ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau aufweisen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 6: Bildungsstand der befragten Russlanddeutschen und der sowjetischen Bevölkerung in Prozent (vgl. Westphal 1997, S. 91).

Die Russlanddeutschen unterschieden sich aber in ihrer Verteilung auf die sozialen Schichten nicht wesentlich von der sowjetischen Gesamtbevölkerung. Über die Hälfte der Befragten war als Arbeiter/-in beschäftigt, etwas über ein Viertel als Angestellte und der verbleibende Anteil war in der Landwirtschaft tätig.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 7: Verteilung der befragten Russlanddeutschen und der sowjetischen Beschäftigten auf soziale Schichten (vgl. Dietz 1990 in Westphal 1997, S. 90).

Sie waren in allen Wirtschaftsbranchen vertreten, jedoch vorwiegend in der Industrie und im Bauwesen (41,1%, im Vergleich zu den sowjetischen Beschäftigten 39%), in der Land-/Forstwirtschaft (23,3% zu 19%) sowie im Gesundheits-, Bildungs- und Kulturbereich (18% zu 19%).

Insgesamt deuten die Ergebnisse der Osteuropastudien daraufhin, dass sich die Russlanddeutschen in der ehemaligen Sowjetunion in ihrer Bildungs- und Berufsstruktur sowie in ihrer Verteilung nach sozialen Schichten nicht wesentlich von der sowjetischen Gesamtbevölkerung unterschieden. Ferner war die materielle Lebenslage der Russlanddeutschen, objektiv und subjektiv betrachtet, ähnlich dem sowjetischen Durchschnitt, oft sogar höher (vgl. Westphal, 1997, S. 90 - 92).

4. Umsiedlung nach Deutschland

Noch immer verlassen alljährlich mehrere tausende Spätaussiedler/-innen Haus und Hof (bis auf die letzten 3 - 5 Jahre) und geben ihren Bekanntenkreis auf, um nach Deutschland zu ziehen, trotz der ungewissen Zukunft. Um ein Verständnis für die heutige Rückwanderung zu erhalten, erscheint es mir sinnvoll, die Ursachen und Motive der wandernden Menschen zu verstehen.

4.1 Die Ursachen der Umsiedlung nach Deutschland

Die Ursachen für die Aussiedlung der Spätaussiedler/-innen liegen sowohl in der geschichtlichen Entwicklung als auch in der aktuellen Situation. Die deutsche Bevölkerung in der UdSSR wurde jahrelang diskriminiert und benachteiligt, es erfolgte keine umfassende Rehabilitierung. Die Auflösung der Sowjetunion und die Konsolidierung neuer Nationalstaaten führten vielfach zu einer Verschärfung ethnischer Konflikte und einer instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage (vgl. Baaden (I) 1997, S. 20 f.).

Was sind die Hintergründe der schwerwiegenden Entscheidung für die Ausreise nach Deutschland? Es ist sicher keiner Familie leicht gefallen, die vertraute Umgebung für immer zu verlassen und sich auf eine Reise ins Ungewisse zu begeben. Viele Russlanddeutsche waren unsicher, misstrauisch und verängstigt, und doch haben sie beschlossen auszureisen. Bei dieser wichtigen Entscheidung waren verschiedene Faktoren relevant.

Die Migrationsgründe der Russlanddeutschen und anderer deutschstämmiger Gruppen haben sich bis in die jüngste Zeit immer von den Gründen anderer Auswanderer unterschieden. Die Migranten ohne deutsche Abstammung kamen vorwiegend aufgrund politischer Verfolgung oder der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse nach Deutschland. Die deutschen Minderheiten aus Osteuropa, also Spätaussiedler/-innen, dagegen verfolgten andere Ziele:

- Für diese Personen war es an erster Stelle wichtig, in „das Land der Väter“ zurückzukehren;
- An zweiter Stelle stand der Wunsch, die vor Jahrzehnten aus politischen Gründen getrennten Familien zusammenführen zu wollen (vgl. Hibert 2004, S. 70).

Die Ausreisemotive waren alle damit verbunden, in „das Land der Väter“ zurückzukehren und als „Deutsche unter Deutschen“ zu leben, jedoch wirtschaftliche Gründe und das Begehren, den Lebensstandard zu verbessern, nahmen eine untergeordnete Rolle ein.

Seit einigen Jahren haben sich die Ausreisemotive geändert. Sehr oft wird den Spätaussiedler(inne)n unterstellt, nur aus ökonomischen Gründen ihre Herkunftsländer zu verlassen und nach Deutschland umzusiedeln. Ohne Zweifel ist die Zahl der Familien, die sich auch aufgrund der günstigen wirtschaftlichen Situation in der ehemaligen Heimat zur Ausreise entschlossen haben, in den letzten Jahren gestiegen, aber die Familienzusammenführung steht immer noch an zweiter Stelle (vgl. Hibert 2004, S. 70). Weitere wichtige Gründe sind ethnische Konflikte und Angst vor einem Krieg, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die Vermeidung des Militärdienstes und erst dann der Wunsch ins Abstammungsland der Familie zurückzukehren (vgl. Ruder 2008, S. 1 ff.). Das Aufkommen von Nationalismus in den asiatischen Staaten sowie die Einführung von Kirgisisch oder Kasachisch als Staats- und Unterrichtssprache kommen hinzu.

Ebenfalls seit Jahren unverändert ist die Sorge der Eltern um die Zukunft der Kinder. Wobei nicht nur materielle Besserstellung der Kinder eine große Rolle spielt, sondern die Befürchtung, dass bei einer Nichtausreise ihre deutsche Identität ganz verloren geht und der Nachwuchs von einer völligen Assimilation bedroht wird. Gerade dieses Motiv war oft nach einem langen Überlegungsprozess sehr wichtig für die Ausreise. Fraglos hängt eine Verschlechterung der Lebenssituation im Herkunftsland immer mit der Ausreise zusammen und gibt auf die eine oder andere Weise den letzten Anstoß zur Aussiedlung (vgl. Ruder 2008, S. 1 ff.).

Die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Gründe, unzureichende medizinische Versorgung im Herkunftsland, besonders für die älteren Generationen, spielte bei der Ausreise nicht die letzte Rolle. Die Rente war so klein, dass sie für die Lebensmittel nicht gereicht hat - diese katastrophalen Lebensumstände und die Verarmung waren für viele Spätaussiedler/-innen die Gründe für die Rückwanderung nach Deutschland.

Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass es meist nicht nur ein Ausreisemotiv gibt, sondern mehrere Faktoren zusammen für die Entscheidung eine Rolle spielen. Bei mir zum Beispiel spielten folgende Faktoren eine wichtige Rolle. Meine Eltern wollten ausreisen, weil die wirtschaftliche Lage in unserer Heimat sich ziemlich verschlechtert hat. Die Lebensbedingungen waren kaum auszuhalten, kein Strom, kein Wasser, keine Beheizung in den Häusern. Meine Eltern und auch ich mussten hart arbeiten, um mit Lebensmitteln und mit anderen wichtigen Dingen versorgt zu sein. Meine Eltern haben sich große Sorgen um meine Zukunft gemacht.

4.2 Erwartungen der Spätaussiedler an Deutschland

Die genannten Ausreisemotive selbst dienen als ein aussagekräftiger Anhaltspunkt dafür, was Spätaussiedler/-innen von Deutschland erwarten. In Deutschland wollen Spätaussiedler/-innen und ihre Nachkommen eine Heimat finden und als Deutsche unter Deutschen leben. Für sie bietet Deutschland eine gesicherte Zukunft. Sie denken an die Zukunft ihrer Kinder, an bereits in Deutschland lebende Familienangehörige und versprechen sich eine bessere ökonomische und berufliche Perspektive.

Spätaussiedler/-innen verknüpfen mit ihrer Ausreise die Hoffnung, ihren Minderheitenstatus loszuwerden. Sie wollen frei sein von jenen Zwängen, Vorschriften, Benachteiligungen und Diskriminierungen, die ihren bisherigen Alltag bestimmt haben. Mit der Integration ist eine Vielzahl von Problemen und Konflikten verbunden, die oftmals von den Spätaussiedler(inne)n unterschätzt bzw. infolge ungenügender oder unrealistischer Information nicht genügend bedacht werden. Sie werden nicht richtig aufgeklärt, was sie in Deutschland erwartet, und kennen meist nur die Erzählungen der Großeltern oder Bekannten und Verwandten, die in Deutschland leben oder die mal einen Urlaub im Herkunftsland gemacht haben: und „wie denen in Deutschland gut geht“, weil sie „ein BMW-Auto fahren und eigenes Haus schon gebaut haben“ (Swetlana und Waldemar, 52 Jahre aus Kasachstan) - es sagt aber keiner, dass sie zurzeit fast 100 000 Euro Schulden bei der Bank haben und „sich oft allein“ oder „nicht dazugehörig fühlen“.

Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich berichten, dass ich von Deutschland wirklich unrealistische Erwartungen hatte. Mir wurde von meiner Freundin, die nach Deutschland umgesiedelt war (wir haben einander Briefe geschrieben), erzählt, dass in Deutschland jeden Tag früh morgens die Straßen mit einem Spülmittel gewischt werden. Wie sie darauf gekommen ist, kann ich nicht genau sagen. Ich könnte nur vermuten, dass sie zu dem Zeitpunkt noch klein war (8 Jahre alt) und eventuell die Realität ganz anders sah. Sie hat vielleicht gesehen, wie die Straßen ab und zu sauber gemacht werden und hat daraus ihre eigene Vorstellungen gebildet. Von unseren Verwandten haben wir oft Postpakete mit Sachen und Süßigkeiten bekommen. Ich habe mich als Kind sehr darüber gefreut und habe von Deutschland geträumt.

Probleme von großer Bedeutung für den Integrationsverlauf sind nach der Einreise in Deutschland vor allem bei der Wohnungs-, der Arbeitssuche und Aufnahme sozialer Kontakte zu den einheimischen Deutschen erkennbar (vgl. Ködderitzsch 1997, S. 44). Es wird eine große Bereitschaft zur Anpassung mitgebracht, dennoch müssen sie die Erfahrung machen, dass ihr Deutschsein nicht ausreicht, um von der einheimischen Bevölkerung als Deutscher unter Deutschen anerkannt zu werden (vgl. Dietz I 1997, S. 36 f.).

5. Eigene Untersuchung

5.1 Methodische Vorgehensweise

Als ich mein zweites Praxissemester bei der ARGE SGB II Mittweida absolviert habe, hatte ich hauptsächlich mit den Menschen zu tun, die erwerbslos waren. Ich konnte merken, wie die Erwerbslosigkeit auf Menschen wirkt, wie frustriert sie sind und wie manche die Welt nicht mehr verstehen. Besonders betroffen von der Erwerbslosigkeit sind Spätaussiedler/-innen, da sie meist auch mehrere zusätzliche Probleme wie z.B. Sprachschwierigkeiten oder die Verwertung der im Herkunftsland erworbenen Berufsabschlüsse haben, was die Arbeitsmarktintegration in Deutschland besonders erschwert. An der ARGE haben wir auch eine Statistik geführt, aus der man jährlich ableiten konnte, dass in Deutschland mehr Frauen als Männer arbeitslos sind.

[...]

Ende der Leseprobe aus 156 Seiten

Details

Titel
Erfahrungen der Spätaussiedlerinnen mit Erwerbslosigkeit im Landkreis Mittelsachsen
Untertitel
Zugänge und sozialpädagogische Ansätze zur besseren Integration der Spätaussiedlerinnen am deutschen Arbeitsmarkt
Hochschule
Hochschule Mittweida (FH)
Note
1,15
Autor
Jahr
2010
Seiten
156
Katalognummer
V168951
ISBN (eBook)
9783640871599
ISBN (Buch)
9783640871667
Dateigröße
1367 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erfahrungen, spätaussiedlerinnen, erwerbslosigkeit, landkreis, mittelsachsen, zugänge, ansätze, integration, spätaussiedlerinnen, arbeitsmarkt
Arbeit zitieren
Veronika Schmidt (Autor:in), 2010, Erfahrungen der Spätaussiedlerinnen mit Erwerbslosigkeit im Landkreis Mittelsachsen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168951

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Titel: Erfahrungen der Spätaussiedlerinnen mit Erwerbslosigkeit im Landkreis Mittelsachsen



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