Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Basis Andersons: Parks Konzeption einer Stadtforschung
3 Andersons beispielhafte Großstadtstudie über den Hobo
3.1 Zum Vorverständnis
3.2 Zur Methode
3.3 Die Studie im Einzelnen
3.3.1 Ein Überblick über Hobohemia
3.3.2 Der Jungle
3.3.3 Überlebensstrategien in Hobohemia
3.3.4 Gründe für das Leben als Hobo
4 Schlussbemerkung: „The Hobo“ – Warum ein Klassiker?
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Zu Ehren des 1986 verstorbenen Soziologen Nels Anderson fand im Jahr 2008 eine Forschungskonferenz mit dem Namen „25th Qualitive Analysis Conference – Qualitive 2008: The Chicago School & Beyond“ statt. Das Bemühen, den wissenschaftlichen Ansatz Andersons wiederaufleben zu lassen, ist für den heutigen Forschungsstand der Stadtanthropologie bezeichnend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sein erstes Buch „The Hobo. The Sociology of the Homeless Man“ bereits 1923 erstmalig publiziert wurde.[1]
Um mit Lindner gesprochen dem „Chicago Touch“[2] nachzuspüren, muss man sich Andersons Stellenwert innerhalb der „Chicago School of Sociology“, in der er unter Robert Ezra Park forschend tätig war, vergegenwärtigen. Wie äußerte sich das Wirken von Andersons ethnographischem Erstlingswerk innerhalb der Chicago School und welche Aspekte machen die Verbindung zu Parks Schrift „The City“ deutlich, die er 1925 veröffentlichte?
Andersons Arbeit über amerikanische Wanderarbeiter des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die Hobos, wird heute von Kulturanthropologen als einer der ersten Beiträge zur Stadtforschung angesehen.[3] Insbesondere die deutsche Volkskunde, die zurückgehend auf Wilhelm Heinrich Riehl viele Jahre eine Bauernkunde, also die Erforschung des Landlebens betrieben hatte, begab sich mit der Institutionalisierung der Stadt als Forschungsraum seit den späten 1980er, frühen 1990er Jahren auf fachliches Neuland, das unter anderem auch durch die Rezeption und Aufarbeitung der Chicagoer Soziologenschule geprägt war.
Die für die frühen 1920er Jahre besondere Vorgehensweise Andersons, nämlich sich seinem Forschungssubjekt in teilnehmender Beobachtung anzunähern, gilt in der Europäischen Ethnologie nach wie vor als Pionierarbeit im Sinne der Vorbereitung der inzwischen längst etablierten qualitativen Forschungsmethoden unserer Fachdisziplin.[4]
In „The Hobo“ beschreibt und analysiert Anderson, welche Erfahrungen er mit den Hobos machte, die er im Rahmen eines von Park angelegten Forschungsprojektes untersuchte.
Anderson befragte unter anderem Dr. Ben L. Reitman, einen Tramp, zu seinem Begriff
eines Hobos:
„There are three types of the genus vagrant: the hobo, the tramp and the bum.
The hobo works and wanders, the tramp dreams and wanders and the bum drinks
and wanders.“[5]
Ziel von Andersons Forschung war es anfänglich, über das vorherrschende negative Bild der Hobos in der Öffentlichkeit aufzuklären und durch eine verstehende Sichtweise zu korrigieren, da die Dauerbewohnung der Wanderarbeiter (ca 30.000 in Hochzeiten) sich aufgrund ihrer Vielzahl zum sozialen Problem in ihrem Hauptaufenthaltsort Hobohemia verdichtete.
Anderson wollte die Bevölkerung über die schlechten Lebensbedingungen der Hobos informieren und den Hobos damit helfen. Deshalb galt seine Forschungsarbeit als eine der ersten überhaupt, die sich mit der Frage der sozialen Brennpunkte im städtischen Raum auseinandersetzte und sie zum Problem sich industrialisierender Ballungszentren erhob, die in der Hochphase des wirtschaftlichen Aufschwungs von der Landnahme Amerikas zur industriell führenden Weltmacht entstanden. Ein Wohlfahrtsgedanke, der sich auch durch andere Arbeiten der Chicago School zieht.[6]
Doch die Hobos profitierten von dieser Phase nicht – ein Paradoxon - da sie selbst durch ihre Arbeitstätigkeiten zum Aufbau der Vereinigten Staaten von Amerika erheblich zur Ausbau der Infrastruktur beitrugen.[7] Man könnte sagen, dass Anderson hier gewissermaßen eine Ungerechtigkeit den Hobos gegenüber empfand, die sicher nicht zuletzt daher rührte, dass er das Leben als Wanderarbeiter aus eigener Erfahrung kannte.
Sowohl Andersons Vater wie auch er selbst waren Hobos und schlugen sich einige Jahre mit Gelegenheitsjobs auf Wanderschaft durch, ehe Nels Anderson seinen Collegeabschluss machte und nachfolgend an der Universität Chicago am Department of Sociology studierte, wo auch Park lehrte. Park, dessen bedeutendste Schrift „The Ciy“ das Thema der Stadt als besonderen Verhaltensraum von Menschen aufgriff und erste Überlegungen und Vorschläge zum Erforschen urbaner Siedlungsräume anstellte, verstand sich im Gegensatz zu früheren Soziologen, die sich auf Archivalien und statistische Erhebungen zwecks Datengewinnung fokussierten, als empirisch arbeitender Wissenschaftler, der seine Daten durch eigene Beobachtungen im Feld gewann. Parks Devise lautete demgemäß, sich die „Füße nass (…)“ zu machen und zu seinen Studenten zu sagen: „Geht raus, geht auf die Straße und lernt etwas übers Leben.“[8]
2 Basis Andersons: Parks Konzeption einer Stadtforschung
Von der Prämisse ausgehend, dass alle Hochkulturen aus Städten hervorgegangen seien[9], erläutert Park, warum menschliches Verhalten im urbanen Kontext zu erforschen sei und unterbreitet der Forschung Vorschläge für konkrete Fragestellungen. Park postuliert, dass die Stadt mehr sei als ihr äußeres Erscheinungsbild.
So sei die Stadt Ausdruck menschlicher Natur, demzufolge habe sie auch eine eigene Kultur: die Stadtkultur. Die historische Stadtforschung dagegen sei lediglich an geographischen oder ökologischen Gesichtspunkten interessiert gewesen. Es gebe nun die Tendenz, typische Erkennungsmerkmale urbanen Lebens herauszuarbeiten.[10] Hierzu gehörten Daten über die Einwohner und Institutionen. Ein wesentlicher Indikator sei die Stadt als Ort des zivilisierten Menschen, der sich von unzivilisierten Stämmen zwar in subtiler Weise unterscheide, jedoch mit derselben Forschungsmethode, nämlich der Anthropologie zu untersuchen sei. Die Faszination, die von der Stadt ausgehe, sei deshalb so groß, weil so wenig über sie bekannt sei und deshalb müsse man sie näher studieren.[11]
Im ersten Abschnitt „The City Plan and Local Organization“ führt Park in das Spannungsverhältnis zwischen städtischer Moral und Individualität ein, das sich wie ein roter Faden durch die folgenden Abschnitte zieht und Ansatzpunkte für viele Überlegungen Parks liefert. Die städtische Moral entstehe in den kleinsten Einheiten der Stadt, den Nachbarschaften. Hier bilde sich ein typischer Ton heraus, der durchaus verschieden sein könne zu dem anderer nachbarschaftlicher Verhältnisse.[12] Typischerweise sei darin auch einer der Ausgangspunkte für Konflikte zu sehen, insbesondere solche der Klassen-/ beziehungsweise Ethnienzugehörigkeit.[13] Diesen Gedanken führt der Autor auch am Beispiel der Berufsgruppenzugehörigkeit und den damit bedingten Einkommensverhältnissen im zweiten Abschnitt „Industrial Organization and the Moral Order“ fort. In den unterschiedlichen Arbeitsdisziplinen sieht der Autor die Individualität der Menschen zum Ausdruck kommen; deshalb seien diese zu erforschen. Die Professionalisierung des Arbeitsalltags zeige eine unterschiedlich ausgeprägte Bildung an. Bildung als rationales Kennzeichen moderner Städte strukturiere die Stadt zugleich. Park bezeichnet Bildung als bedingende Fähigkeit zur Kommunikation und ohne diese sei keine Mobilität denkbar, da bestimmte Stimuli die Leute in die Städte zögen.[14] Die Stimuli seien vor allem Nachrichten und diese hätten großen Einfluss auf das kollektive Verhalten der Menschen. Die Städte seien in einer chronischen psychologischen Krise, da sie einem ständigen Veränderungsprozess unterlegen wären, der sich jedoch mithilfe der Nachrichten kontrollieren ließe.[15]
[...]
[1] Vgl. Nason-Clark 2010.
[2] Lindner 2004, S. 114.
[3] Vgl. Lindner 2004, S. 114.
[4] Vgl. Schmidt-Lauber 2007, S. 223-225.
[5] Anderson 1937, S. 87.
[6] Vgl. wikipedia 2007.
[7] Vgl. Anderson 1937, S. xxi.
[8] Lindner 2004, S. 143.
[9] Vgl. Park 1925, S. 2.
[10] Vgl. Park 1925, S. 1.
[11] Vgl. Park 1925, S. 2-3.
[12] Vgl. Park 1925, S. 4.
[13] Vgl. Park 1925, S. 7-9.
[14] Vgl. Park 1925, S. 12-14.
[15] Vgl. Park 1925, S. 15-19.