Zur Bedeutung der neuen Mittelschicht im heutigen China

Historische, soziale, ökonomische und kulturelle Aspekte


Tesis, 2010

111 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Zum sozialen und politischen Kontext der Diskussion um die neue chinesische Mittelschicht
1.2 Zum Aufbau der Arbeit

2. Zur Definition der Begriffe Klasse und Schicht
2.1 Zum Begriff der sozialen Schicht
2.2 Definition der Klassen nach Marx
2.3 Definition vom Klassen nach Weber
2.3 Definition nach Bourdieu
2.4 Bewertung
2.5 Moderne Klassenmodelle
2.6 Diskussion: Jenseits von Klasse und Schicht - alternative Zugänge

3. Definition des Begriffs der Mittelschicht und Diskussion der aktuellen Probleme und Tendenzen unter Berücksichtigung der Globalisierung
3.1 Ökonomische Aspekte der Mittelschicht
3.2 Milieustruktur und Krisen der Mittelschicht
3.3 Zum Konzept der globalen Mittelschicht
3.4 Hinweise der Zukunftsforschung zur neuen globalen Mittelschicht

4. Historische Aspekte zur Entwicklung der Mittelschicht in China
4.1 Mittelschicht, Gesellschaft und Politik in China bis 1978
4.2 Politische Entwicklung und Struktur der chinesischen Gesellschaft seit 1978
4.3 Erste Konsequenzen der beschriebenen Entwicklungen für das soziale Schichtengefüge Chinas

5. Aspekte der Forschung zur Klassen- Schichtenproblematik sowie zur heutigen chinesischen Mittelschicht
5.1 Voraussetzungen: Das Schichtenmodell der chinesischen Soziologie von 2001 und die Entwicklung in der Dekade 1990 bis 2000
5.2 Bewertung der neueren Forschungsergebnisse
5.3 Definitionsprobleme der chinesischen Soziologie im Hinblick auf den Begriff der Mittelschicht
5.4 Chinas städtische Mittelschicht: Struktur, Positionierung, Urbanisierung
5.4.1 Urbanisierung in China
5.4.2 Zur Situation der Mittelschicht in den großen Städten
5.5 Bildung, Lebensstil und Konsum in der neuen Mittelschicht
5.5.1 Bildung, Berufswahlverhalten und Ein-Kind-Politik
5.5.2.Lebensstil und Verbrauchskultur der neuen Mittelklasse
5.5.2.1 Bekleidung
5.5.2.2 Essen
5.5.2.3 Wohnen
5.5.2.4 Auto und Verkehr
5.5.2.5 Kultur und Unterhaltung
5.5.2.6 Reisen
5.5.2.7 Die Bedeutung des Konsums westlicher Markenartikel
5.5.2.8 Der Zukunftsaspekt: Das neue Konsumverhalten der Mittelschicht-Einzelkinder
5.6 Psychologische Aspekte und Probleme der chinesischen Mittelschicht
5.7 Kontroversen um die politische Bedeutung der Mittelschicht
5.8 Die neue chinesische Mittelschicht aus der Sicht der westlichen Medien und Wirtschaftsberatungsinstitute

6. Fallbeispiele aus der neuen Mittelschicht
6.1 Peking: Das Ehepaar Li
6.2 Peking: Herr Chen
6.3 Shanghai: Frau Zhou
6.4 Chengdu: Herr Tao

7. Zusammenfassung und Diskussion
7.1 Zusammenfassung
7.2 Diskussion
7.2.1 Bewertung der neuen chinesischen Mittelschicht als Markt für westliche Güter
7.2.2 Die neue chinesischen Mittelschicht unter dem Aspekt der Globalisierung
7.2.3 Soziale und politische Perspektiven der neuen chinesischen Mittelschicht
Literatur und Quellen

1. Einleitung

1.1 Zum sozialen und politischen Kontext der Diskussion um die neue chinesische Mittelschicht

Die chinesische Gesellschaft ist ein historisch einzigartiges Experiment. Seit Deng Xiaoping 1978 die ökonomische Öffnung Chinas hin zu marktwirtschaftlichen Strukturen angestoßen hat ist eine Umstrukturierung der Gesellschaftsordnung zustande gekommen, die marktwirtschaftliche Orientierungen unter der alleinigen Führung der Kommunistischen Partei Chinas verwirklicht. Einzigartig ist dieses Experiment aus zwei Gründen: Zum einen sind bisher alle kommunistischen Staaten auf erhebliche ökonomische Probleme gestoßen, was die Entwicklungen in der ehemaligen Sowjetunion, der DDR, in Kuba, in Nordkorea zeigen. Zum andern ist China das einzige Modell, das offensichtliche Erfolge bei der Steigerung des Wohnstands verbuchen kann und zugleich kommunistisch regiert wird.

China profitiert dabei von Prozess der Globalisierung. Zugleich wird deutlich, dass sich die gesellschaftliche Struktur des Landes sehr rasch verändert. Diese Veränderungen lassen sich nicht vollständig durch die KPCh steuern. Partei und Regierung setzten Rahmenbedingungen, ohne eine absolute Kontrolle erreichen zu können. Das größte gesellschaftliche Experiment hat also einen offenen Aufgang, weil die Folgen der Öffnung nicht abzusehen sind.

Die Frage nach der Klassen- bzw. Schichtenstruktur des modernen China ist sowohl in der chinesischen Öffentlichkeit als auch in der chinesischen Soziologie ins Zentrum des Interesses gerückt. In einem Vortrag an der ETH Zürich gibt Prof. Dr. Zhijian Zhou (Xiamen-Universität, Fujian) eine Übersicht zur Diskussionslage ("Soziale Schichtung und soziale Mobilität Chinas", Zürich 2008). An erster Stelle geht er auf terminologische Fragen ein und zeigt Unterschiede zwischen dem klassenanalytischen und dem schichenanalytischen Zugang auf. Das weißt auf ein theoretisches Grundproblem hin: In der marxistischen Tradition wurde bisher vom Grundwiderspruch zwischen der Arbeiterklasse und den Eignern der Produktionsmittel ausgegangen. In der weiteren Darstellung nimmt der Autor auf ein erweitertes Schichtenmodell Bezug und verweist auf die gebräuchlichsten Kriterien der Definition: Einkommen, Machtposition und Bildung.

Zhou skizziert zunächst die Zeit vor 1979 und dann die Entwicklung bis in die Gegenwart. Die soziale Gliederung der VRCh vor 1979 unterteilt er in drei Schichten (vgl. ebd.):

1. Kader: Das ist die Schicht mit dem höchsten Lebensstandard (gemessen an Einkommen, Arbeitsplatz ('goldene Reisschüssel' 金饭碗), sozialer Position und sozialer Absicherung; 1/6-1/7 der Stadtbevölkerung Chinas gehörten zu dieser Schicht.
2. Arbeiter: Das ist die Schicht mit einem mittleren Lebensstandard ('eiserne Reisschüssel' 铁饭碗); 5/6-6/7 der Stadtbevölkerung zählen zur Arbeiterschicht.
3. Bauern: Das ist die Schicht mit dem untersten Lebensstandard, angesiedelt im ländlichen China ('breiige Reisschüssel' 泥饭碗). Die Bauern machten etwa ¾ der gesamten Bevölkerung der VRCh aus.

Die Entwicklung seit 1979 sieht Zhou durch eine zunehmende Ausdifferenzierung und Mobilität zwischen den Schichten gekennzeichnet. Er nimmt dabei auf ein Zehn-Schichten-Modell Bezug, das auch in der chinesischen Öffentlichkeit intensiv diskutiert wird. Die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften (CASW) veröffentlichte 2002 einen Forschungsbericht über die Gesellschaftsschichten im modernen China. An dem Projekt haben ca. 100 chinesische Soziologen über drei Jahre gearbeitet. Auf der Grundlage einer großen Menge empirischer Daten wurden die gesellschaftlichen Schichten in zehn Segmente eingeteilt und gewichtet.

Darauf nimmt Zhou Bezug und aktualisiert die Zahlen von 2002 mit Daten, die ihm 2008 zur Verfügung stehen. Weiterhin nimmt er kleiner Korrekturen in der Terminologie vor, die hier berücksichtigt werden. Es zeigt sich folgendes Ergebnis:

"1. Führer im Staats- und Sozialwesen (2,1%)
2. Manager (1,6%)
3. Privatunternehmer (1%),
4. Fachleute: höheres professionelles und technisches Personal (4,6%)
5. Dienstleistende, z.B. Bürokräfte (7,2%)
6. Kleinhändler, selbständige Gewerbetreibende (7,1%)
7. Verkaufspersonal, abhängig Beschäftigte im Handels- und Dienstleistungssektor (11,2%)
8. Arbeiter in Betrieben und Industrie (17,5%)
9. Bauern, landwirtschaftlich Werktätige (42,9%)
10. Arbeitslose bzw. teilzeitbeschäftigte Städter (4,8%) (ebd.).

Mit diesen empirischen Ergebnissen sind allerdings einige wesentliche theoretisch- konzeptionelle Fragen noch nicht gelöst. Das soziologische Kernproblem fasst Prof. Dr. Li Lulu (2006) von der Renmin-Universität in Peking wie folgt zusammen: "Im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik sowie der fortlaufenden Modernisierung sind innerhalb der chinesischen Gesellschaft zahlreiche Interessengegensätze und Interessenkonflikte aufgebrochen. Ihre zukünftige Ausweitung steht zu erwarten. (…) Deswegen fragen sich viele Beobachter der gegenwärtigen chinesischen Szene, welchen Einfluss der Klassencharakter dieser Gegensätze und Widersprüche auf die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft nehmen wird. Damit verbunden ist die wissenschaftliche Frage, ob die Klassenanalyse ein angemessenes analytisches Werkzeug für Forschungen zum heutigen China darstellt oder nicht." (Li Lulu 2006: 1).

Soweit einleitend einige wenige Eckpunkte der Diskussion, um die Sozialstrukturanalyse Chinas aus der Sicht der chinesischen Soziologie zu kennzeichnen. Hier zeigt sich, dass auf dieser Grundlange noch nicht ohne weiteres ausgemacht werden kann, welche Segmente in dem skizzierten 10-Schichten- Modell die neue chinesische Mittelschicht ausmachen. Dies bedarf der weiteren Diskussion. Dazu muss der international-vergleichende und der ökonomische Kontext mit einbezogen werden. Die Rolle der wirtschaftlichen Entwicklung Chinas im Rahmen der Globalisierung ist besonders zu beachten. Von herausragendem internationalem Interesse (besonders bei den exportorientierten westlichen Industrienationen) ist dabei die Entstehung einer neuen Konsumentenklasse mit erheblicher Kaufkraft, die innerhalb von China, aber auch im Hinblick auf die traditionellen westlichen Luxusmarken, immer mehr Gewicht gewinnt. Dies wird unter politischen und ökonomischen Gesichtspunkten in der öffentlichen Diskussion der westlichen Gesellschaften (besonders von Medien, Banken und Consultingfirmen) thematisiert.

So wird in der ZEIT (vom 15.2.2007) unter dem Stichwort "Mittelschicht" auf China eingegangen. Der Titel lautet: "Großer Sog. China: Der Wohlstand erreicht die Mitte der Gesellschaft". Dies soll zur Illustration der westlichen Perspektive auf die Entwicklung der neuen chinesischen Mittelschicht und im Hinblick auf den Aspekt der Globalisierung näher betrachtet werden.

Die ZEIT spricht vom "neu aufstrebenden, jungen Mittelstand in Chinas Städten" (ebd.). Darauf ziele auch die übliche Werbung im Stadtbild der Großstädte und in den Massenmedien ab. Mittelstand in diesem Sinne sei "für die meisten Chinesen gleichbedeutend mit Reichtum. In diesem Sinne reich ist schon, wer eine Eigentumswohnung und ein Auto besitzt, reisen kann - und einen Universitätsabschluss gemacht hat" sowie ein stabiles Einkommen von mindestens 500 Euro pro Monat habe (ebd.). "Die chinesische Akademie der Sozialwissenschaften geht davon aus, dass heute grob geschätzt 150 Millionen Menschen dazugehören. Einig sind sich die Forscher in der Erwartung, dass der Mittelstand jährlich um einen Prozentpunkt wachsen und 2020 schon etwa 40 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen werde, also mehr als eine halbe Milliarde Menschen" (ebd.).

Es liegt auf der Hand, dass sich hinter dieser Entwicklung ein gewaltiges ökonomisches Wachstumspotential verbirgt, das für die westlichen Industrienationen interessant ist. Auch McKinsey gehe davon aus, dass 2020 eine halbe Milliarde Chinesen zur »Konsumentenklasse« gehören und mindestens 10000 Euro pro Jahr verdienen würden. Die allermeisten von ihnen würden in den großen Städten leben. Während McKinsey 2007 noch rund 77 Prozent aller Chinesen als 'arm' klassifiziert habe, "werde dieser Anteil bis zum Jahr 2025 unter zehn Prozent sinken" (ebd.).

Sollten sich derartige Prognosen bestätigen und das bisherige starke Wirtschaftswachstum stabil bleiben, "dann könnte der Mittelstand in einigen Jahren wirklich das Rückgrat der Volksrepublik China bilden, sagt (…) der Sozialforscher Li Qiang von der renommierten Tsinghua-Universität. Studien zeigen, dass eine olivenförmige Sozialstruktur mit dem Mittelstand als Rückgrat stabiler ist als eine Pyramide mit starker Polarisation zwischen Arm und Reich" (ebd.).

Diese Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass die chinesischen Analysen der gesellschaftlichen Schichtung und das westliche Interesse an der neuen chinesischen Mittelschicht ganz unterschiedliche Ursachen haben. Gemeinsam ist beiden Perspektiven, dass die neue chinesische Mittelschicht (wie auch immer sie definiert wird) sowohl bei der Entwicklung der chinesischen Gesellschaft als auch bei der Integration Chinas in den Prozess der Globalisierung von großer Wichtigkeit ist. Dieser Aspekt wird in der vorliegenden Arbeit besonderes Beachtung finden.

Abschließend ist noch ein weiter zentraler Punkt zur neuen Mittelschicht in China aufzuzeigen: Unter den chinesischen Soziologen wird diskutiert, ob eine starke Mittelschicht zukünftig eher zu Stabilisierung oder zur Destabilisierung des bestehenden Systems beträgt. Von Seiten der KPCh sind dazu zwei Argumente wiederholt in die Diskussion gebracht worden:

1. Mit den olympischen Spielen in Peking hat die chinesische Führung eine Nationalstolz-Kampagne begonnen, die auf der jahrtausende alten Kulturtradition und dem großen nationalen und internationalen wirtschaftlichen Erfolg basiert. Bei den Gründungsfeiern zum 60. Jahrestag des Neuen China ist das wieder deutlich geworden. Nach Ansicht der Autorin ist der wesentliche Träger dieser Initiative neben Regierung und Partei, die aufstrebende, erfolgreiche neue Mittelschicht. Die Tendenz der Führung durch das 'Proletariat', vertreten durch die Partei, wird damit relativiert. Die Vorstellung einer Harmonie des chinesischen Volkes gewinnt zunehmend an Bedeutung, wobei der Mittelschicht eine wesendliche Brückenfunktion zukommen soll. Die wird genauer zu untersuchen sein.

2. Im Jahre 2002 fand eine Plenartagung Nationalen Volkskongress (NVK) statt. Die Kernthemen waren der Bewältigung drängender sozioökonomischer Probleme gewidmet. Viele Beiträge befassten sich mit der wachsenden politischen Sorge um jene beiden Bevölkerungsgruppen, die in den vorangegangenen Jahren im Prozess der Reform und Öffnung des Landes zunehmend benachteiligt worden waren: Die ländliche Bevölkerung sowie die ehemaligen Angestellten von Staatsunternehmen. "Die KPCh bezeichnet sich (…) nun als Vorhut nicht nur der chinesischen Arbeiterklasse (…), sondern auch des ganzen chinesischen Volkes und der ganzen chinesischen Nation. Der ursprüngliche Klassenkampfauftrag der Partei und die Führungsrolle des Proletariats wurden damit (…) de facto aufgegeben" (Holbig 2002:268; vgl. auch Heilmann 2003).

Die drei bekannten Sozialwissenschaftler Hu Angang, Wang Shaoguang und Ding Yuanzhu warnten zudem bereits 2002 die Staatsführung vor der Gefahr explosiver sozialer Unruhen: Es sei höchste Zeit, verstärkt Maßnahmen im Bereich der sozialen Sicherung zu treffen, um drohende Konflikte mit den sozial schwachen Gruppen zu vermeiden. Die Befriedung oder 'Harmonisierung' der ganzen Gesellschaft stellt demnach ein zentrales Anliegen der Regierung dar. Unruhen schaden der politischen und gesellschaftlichen Stabilität und behindert die Verwirklichung des 'Wirtschaftsimperativs' (vgl, auch Reiser 2008).

Fazit der Entwicklung: Eine Harmonievorstellung tritt an die Stelle des Klassenkampfes. "Als unmittelbare Aufgabe (…) wird der 'umfassende Aufbau einer Gesellschaft mit einem bescheidenen Wohlstand' festgelegt, d.h. ein alle Gesellschaftsgruppen einschließender Wohlstand und die Vergrößerung der Mittelschicht ('Personen mit mittlerem Einkommen'). (…) Zugleich sollen soziale Ungleichverteilungen, regionale Disparitäten und strukturelle Verzerrungen in Chinas Wirtschaft und Gesellschaft eingedämmt werden" (Heilmann 2003: 5f).

Nationalstolz-Kampagne und Harmonie-Konzept steigern offenbar die Loyalität der Chinesen, insbesondere die Loyalität der Mittelschicht. Das wird auch im Ausland wahrgenommen. Petra Kolonko, langjährige Pekingkorrespondentin der FAZ (Autorin von "Maos Enkel. Innenansichten aus dem neuen China", München 2009) skizziert die Ambitionen der neuen Mittelschicht. Sie stellt fest, dass jene, die zu bescheidenem Wohlstand gekommen sind, nicht mehr Demokratie fordern würden. Die Mittelschicht sei kein revolutionäres Potenzial. Eher sei in der Mittelschicht ein konservatives Gefühl weit verbreitet, das die Herrschaft der Kommunistischen Partei durchaus stabilisiere. Man sei nationalstolz. Wenn aus dem Ausland Kritik an China geäußert werde, so seien es die Angehörigen der neuen Mittelklasse, die ihre Regierung in Schutz nähmen. Die Bürger der Volksrepublik könnten zum ersten Mal auf Macht und internationale Stellung ihres Staates stolz sein, hätten erstmals Augenhöhe mit den Bürgern der Industriestaaten erreicht. Weil dieses Nationalbewusstsein aber noch jung sei, reagiere es besonders empfindlich auf Kritik aus dem Ausland (vgl. Kolonko 2009: 70ff).

Vor dem Hintergrund der dargestellten Tendenzen und Entwicklungen wird die soziologische und gesellschaftspolitische Relevanz der Frage nach der neuen chinesischen Mittelschicht unmittelbar einsichtig.

1.2 Zum Aufbau der Arbeit

Zunächst in anzumerken, dass die Quellenlage zum Thema der Diplomarbeit nicht sehr gut ist. Die wesentlichen einschlägigen Werke der chinesischen Soziologie liegen nur in chinesischer Sprache vor. Alle dadurch erforderlichen Übersetzungsarbeiten wurden von der Autorin durchgeführt.

Weiterhin werden in dieser Arbeit aufgrund der Quellensituation in größerem Umfang geprüfte und authentische Internetquellen genutzt. Auf mehrere halboffizielle chinesische Internetquellen wurde Bezug genommen, die als authentische Regierungsäußerungen gewertet werden können. Auch hier wurden die Übersetzungsarbeiten, wenn im Text nicht anderes angegeben, von der Autorin ausgeführt.

In dieser Arbeit soll das Thema in folgenden Schritten behandelt werden:

Zunächst wird kurz auf die unterschiedlichen Definitionen von Klasse und Schicht eingegangen, so wie sie in der aktuellen Diskussion der Soziologie zu finden sind. Vor diesem Hintergrund soll dann zunächst das sozialstrukturelle Phänomen der Mittelschicht allgemein knapp skizziert werden. Dabei wird auf den deutschen Kontext, die globale Situation und auch auf Prognosen zur Mittelschicht eingegangen. Dem folgt eine kurze historische Erläuterung zur Entwicklung des Mittelstandes im alten China, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat und bis 1949 tendenziell Bestand hatte.

Nach diesen einleitenden historischen, definitorischen und systematischen Skizzen wird auf die Schichtung der chinesischen Gesellschaft eingegangen, so wie sie sich in der Phase von 1949 bis 1978 gezeigt hat. Dabei ist es wichtig, die politischen Hintergründe dieser Entwicklung zu betrachten. Auf dieser Basis werden dann die Wandlungen im neuen China seit 1979 eingehend dargelegt. Insbesondere die jüngere Vergangenheit sowie die sozialwissenschaftlichen und politischen Diskussionen um die Klassen- bzw. Schichtenproblematik und die damit verbundene Frage der sozialen Ungleichheit werden erörtert.

Dies bildet dann den Hintergrund dafür, die sogenannte 'neue Mittelschicht' im heutigen China genauer zu analysieren und ihre gesellschaftliche und zukünftige Bedeutung zu bewerten. Zudem werden einige von der Autorin erhobene Fallbeispiele von Angehörigen dieser neuen Mittelschicht vorgestellt.

Die Arbeit schließt mit einer kritischen Diskussion und einem Ausblick auf die Zukunft der Mittelschicht im modernen China. Dabei werden besonders die Fragen der Globalisierung, der politischen Dimension und der weltwirtschaftlichen Relevanz der neuen chinesischen Mittelschicht beachtet und erörtert.

2. Zur Definition der Begriffe Klasse und Schicht

Schichten- und Klassentheorien in der Soziologie befassen sich grundlegend mit der Beschreibung und Analyse sozialer Ungleichheit. "Als soziale Ungleichheit bezeichnet man wertvolle, nicht absolut gleich und systematisch aufgrund von Positionen in gesellschaftlichen Beziehungen verteilte, vorteilhafte bzw. nachteilige Lebensbedingungen" (Hradil 2004: 207). Aus Gründen der politischen und sozialen Gerechtigkeit ist es unmittelbar einsichtig, dass die soziologische Aufklärung von Schichten- und Klassenstrukturen in einer Gesellschaft für die Öffentlichkeit, die Politik, die Regierung und die Legitimation der Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind. Auch für die Frage nach der Struktur der Mittelschicht ist dieser theoretische Hintergrund wichtig. Im Folgenden werden daher die Begriffe der Schicht und der Klasse kurz skizziert und ihre theoretische und historische Herkunft knapp beschrieben und bewertet.

2.1 Zum Begriff der sozialen Schicht

Zu einer Schicht werden Menschen mit ähnlichen 'äußeren' Lebensbedingungen sowie ähnlichen 'inneren', 'psychischen' Merkmalen zusammengefasst. Zu den äußeren Lebensbedingungen gehören insbesondere die Berufsposition, Einkommen und Besitz, das Qualifikationsniveau sowie Einfluss und Sozialprestige. Hradil nimmt darüber hinaus auf den Statusbegriff Bezug und definiert 'sozialen Schicht' wie folgt: "Gruppierungen von Menschen mit ähnlich hohem Status innerhalb einer oder mehrerer berufsnaher Ungleichheitsdimensionen werden üblicherweise als Schichten bezeichnet. Dementsprechend finden sich Einkommensschichten, Berufsprestigeschichten und Bildungsschichten. Werden Statusgruppierungen in Hinblick auf mehrere berufsnahe Dimensionen sozialer Ungleichheit zugleich angeordnet, so wird von 'sozialen' Schichten gesprochen" (Hradil 1999: 36).

In diesen Zusammenhang ist noch auf die Begriffe 'Lebensstil' und 'Sozialmilieu' hinzuweisen, die zwar schwerer zu operationalisieren sind, aber detailliertere Zugänge zur Erklärung sozialer Ungleichheit erlauben. Dies wird insbesondere für die Frage nach der Mittelschicht bedeutsam sein. Nach Hradil (1999: 42) ist ein Lebensstil der "regelmäßig wiederkehrende Gesamtzusammenhang der Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen, Wissensbestände und bewertenden Einstellungen eines Menschen" (ebd.). Demgegenüber "fassen 'soziale Milieus' Gruppen gleichgesinnter zusammen, die gemeinsame Werthaltungen und Mentalitäten aufweisen und auch die Art gemeinsam haben, ihre Beziehungen zu Mitmenschen einzurichten und ihre Umwelt in ähnlicher Weise zu sehen und zu gestalten" (Hradil 1999: 41).

Häufig orientieren sich Schichteinteilungen an der Berufsposition, weil damit die anderen Schichtkriterien tendenziell verknüpft sind. So setzen hohe Berufspositionen in der Regel eine gute Bildung und Qualifikation voraus. Sie ermöglichen ein vergleichsweise hohes Einkommen, hohes Sozialprestige und großen Einfluss. Die Schichtenanalyse geht davon aus, dass Menschen in ähnlichen Lebensbedingungen ähnliche Lebenserfahrungen machen und dass die 'äußere Lebenslage' daher einen gewissen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und auf das Verhalten der Menschen ausübt. Man nimmt an, dass schichttypische Mentalitäten und Lebensstile einen schichttypischer 'Habitus' (eine besondere Lebenshaltung des Menschen; vgl. Bourdieu 1987) herausbilden. Schichten unterscheiden sich in der Regel auch durch typische Privilegien und Benachteiligungen, die mit der Schichtzugehörigkeit zusammenhängen.

2.2 Definition der Klassen nach Marx

Nach der ursprünglichen Definition sind 'Klassen' durch die Stellung der Menschen im Produktionsprozess definiert. Marx unterscheidet die Nichtbesitzer und die Besitzer der Produktionsmittel. Für die kapitalistische Produktionsweise sind das die Proletarier (auch Arbeiterklasse genannt) und Kapitalisten (auch Bourgeoisie genannt). Marx schreibt dazu: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer (…), kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen" (Marx/Engels 1974 [zuerst 1848]: 23f.).

Aus der Analyse der ökonomischen Verhältnisse wird also klar, dass die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können, andere Interessen haben, als diejenigen, die über Produktionsmittel verfügen und Arbeitskräfte einstellen. Arbeiter wollen ihre Arbeitskraft möglichst teuer verkaufen und möglichst wenig dafür tun. Die Kapitalisten wollen die Arbeitskraft billig einkaufen und möglichst lange und intensiv ausbeuten.

Sobald Mitglieder einer Klasse die Gemeinsamkeit ihrer Interessen erkennen und danach zu handeln beginnen, spricht Marx von einem Übergang von der 'Klasse an sich' (d.h. einer Klasse, die nur begrifflich durch die Stellung im Produktionsprozess gekennzeichnet ist) zur 'Klasse für sich', also zu einer Klasse, die sich ihrer selbst bewusst ist und den Willens hat, für ihre Interessen gemeinsam zu kämpfen. So entsteht nach Marx 'Klassenbewusstsein'. Bewusst oder unbewusst befänden sich also die beiden analytisch bestimmbaren Klassen 'Lohnarbeit' und 'Kapital' in einem dauernden Streit, dem 'Klassenkampf'. In den kommunistischen Staaten wurde daraus der Schluss gezogen, dass eine Diktatur des Proletariats (realisiert durch die Kommunistische Partei) erforderlich ist, um die Klassengegensätze zu überwinden (vgl. ebd.).

2.3 Definition vom Klassen nach Weber

Der Begriff der sozialen Klasse wurde innerhalb der Soziologie von Max Weber differenziert und ausgeweitet (vgl. Weber 1922/1985: 170ff; 531ff). Das Konzept von Marx wird weiter untergliedert. Weber unterscheidet drei Formen von Klassen:

-die Besitzklassen (sie werden durch den Besitz bestimmt),
-die Erwerbsklassen (sie werden durch die Erwerbschancen bestimmt) und
-die sozialen Klassen (sie werden durch ihre Chancen/Risiken des sozialen Aufund Abstiegs bestimmt).

Nicht allein der Besitz von Eigentum ist also das zentrale Gliederungskriterium sondern auch die Marktchancen, die z.B. über die Ausbildung vermittelt werden. Das Marxsche Zweiklassenmodell differenziert sich nach Weber in ein Modell mit vier sozialen Klassen:

-Arbeiterschaft,
-Kleinbürgertum,
-besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit, sowie die
-Klasse der Besitzenden und durch ihre Bildung Privilegierten.

2.3 Definition nach Bourdieu

Nach Pierre Bourdieu (vgl. 1987: 171ff) gibt es drei große Klassenlagen:

-das Großbürgertum/Bourgeoisie,
-das Kleinbürgertum und die
-Arbeiterschaft.

Diese verteilen sich 'im sozialen Raum' entlang einer vertikalen Achse. Darauf sind die Herrschaftsverhältnisse abgebildet. Die Klassen selbst differieren sich durch das soziale und ästhetische Unterscheidungsvermögen ihrer Angehörigen (die 'feinen Unterschiede'). Innerhalb der einzelnen Klassen unterscheidet Bourdieu auf einer horizontalen Achse Klassenfraktionen (also Gruppen) mit einer besonderen Position. Dabei geht es um spezielle Lebensstile, wie etwa beim

-Besitzbürgertum (Unternehmer; an Tradition und Luxus orientiert),
-bei der neue Bourgeoisie (leitende Angestellte; an Fortschritt orientiert) und
-beim Bildungsbürgertum (Intellektuelle, Lehrkräfte an Universitäten; an Lebenskunst oder geistiger Askese orientiert).

Die einzelnen Klassenfraktionen grenzt Bourdieu anhand der Struktur ihres gesamten Kapitals gegeneinander ab. Dabei unterscheidet er

-ökonomisches Kapital von
-kulturellem Kapital,
-sozialem Kapital und
-symbolischem Kapital.

So ist etwa beim Bildungsbürgertum ein hohes 'kulturelles Kapital', aber nur ein relativ gering ausgeprägtes 'ökonomisches Kapital' gegeben. Die verschiedenen Klassenfraktionen werden auch als 'Milieus' bezeichnet. Die Bedingungen der sozialen Lage, also die jeweiligen Verortungen im sozialen Raum, bestimmen einen jeweils unterschiedlichen festen 'Habitus'. Die Handlungsstrategien hingegen bieten einen individuellen Freiheitsspielraum. Der Habitus prägt den spezifischen Geschmack, aber auch die kulturellen Handlungsformen (Lebensstil). Zugleich ermöglicht der Habitus eine Unterscheidung zwischen der Eigengruppe und Fremdgruppen (die Wahrnehmung 'feiner Unterschiede').

2.4 Bewertung

In den traditionellen Schichtungs- oder Klassenmodellen spielen nach wie vor das Erwerbsleben, die Macht, die Ausbildung sowie finanzielle Ressourcen eine zentrale Rolle bei der Definition. Beruf oder berufliche Position und damit verbundene finanzielle Ressourcen bilden die zentralen Dimensionen für soziale Differenzierungen und soziale Ungleichheiten. Milieu, Lebensstil und Bildung werden zunehmend einbezogen auch wenn die Operationalisierung Probleme mit sich bringt.

Die Bildung in Form von Zertifikaten dient dabei in der Regel als Voraussetzung für die Erreichung einer bestimmten Berufsposition. 'Bildung' steht damit in der Regel nicht für tatsächlich angeeignetes Wissen und Können, sondern eher für die Chance in Form von formalen Ausbildungsabschlüssen bestimmte soziale Positionen zu erreichen. Innerhalb der aktuellen Modelle stehen immer drei Dimensionen in einer Beziehung: Je höher die Bildung, desto höher ist die Chance auf eine entsprechende Berufsposition und ein damit verbundenes hohes Einkommen.

2.5 Moderne Klassenmodelle

Für die Klärung der Frage nach der neuen chinesischen Mittelschicht muss aber noch auf neuere Modelle Bezug genommen werden. Da die moderne chinesische Soziologie teilweise auch auf dem Klassenmodell beruht, wird im Folgenden kurz die die neo-marxistischen Klassentheorie nach Erik Olin Wright skizziert (vgl. 1989; hier bezieht sich die Autorin auf die Version von 2002).

Nach Wright unterteilt sich eine Gesellschaft in zwei Hauptklassen, die allerdings ihrerseits wieder intern untergliedert werden können:

- Besitzer von Produktionsmitteln (Unternehmer), die Klassen 1-3
- Nicht-Besitzer von Produktionsmitteln (Arbeitnehmer), die Klassen 4-12

Die Klassen 1-3 (kleine Bourgeoisie) dienen dazu, die Unternehmer (Besitzerer von Produktionsmitteln) genauer einzuteilen.

Hierbei gilt:

1. Unternehmer die typischerweise mehr als 10 Mitarbeiter beschäftigen. Sie besitzen ausreichend Kapital, um Arbeiter einzustellen. Sie selber müssen hierbei nicht arbeiten.
2. Kleinunternehmer haben typischerweise weniger als 10 Mitarbeiter und können es sich leisten Mitarbeiter einzustellen. Sie müssen jedoch selber mitarbeiten
3. Kleinbürgertum; das sind eigenständige Unternehmer die genügend Kapital besitzen um ein eigenes Unternehmen zu gründen es sich jedoch nicht leisten können Mitarbeiter einzustellen und daher gezwungen sind zu arbeiten

Arbeitnehmer (Nicht-Besitzer von Produktionsmitteln) werden bei Wright anhand von zwei Dimensionen unterteilt: ihre Qualifikationsressourcen (z.B. Bildungsabschlüsse) und organisatorische Ressourcen (Verfügungsgewalt über Material, Geld und Untergebene)

Wright geht davon aus, dass es neben den beschriebenen Hauptklassen widersprüchliche Klassenlagen gibt: In der Bourgeoisie, am unteren Rand der Klasse, gibt es beispielsweise die qualifizierten Manager, die selbst keine Produktionsmittel besitzen, aber Verfügungsgewalt über Produktionsmittel haben. Am unteren Bereich der Mittelklasse gibt es die nicht qualifizierten Aufsichtstätigkeiten und fachlich teilweise nicht qualifizierte Nichtmanager. Am oberen Rand der Mittelklasse gibt es fachlich qualifizierte Manager.

Hier soll es sich um sogenannte 'widersprüchliche Klassenlagen handeln'. Wright versucht diese genauer zu bestimmen. Es werden Fragen der Kontrolle über die Produktionsmittel herangezogen, die gerade bei der schnellen Verwissenschaftlichung und Technisierung der Produktion von großer Wichtigkeit sind. Qualifikation ist also ein weiteres wichtiges Kriterium der Definition, das neben der Kontrolle über die Produktionsmittel eingeführt wird. Die Position innerhalb seiner Klassenstruktur wird folglich auch durch die Qualifikation bestimmt.

2.6 Diskussion: Jenseits von Klasse und Schicht - alternative Zugänge

Seit den 1980er und 1990er-Jahren wird speziell in der deutschen Soziologie diskutiert, ob sich die Klassen und Schichten zunehmend auflösen oder heute gar schon aufgelöst haben. Auf diese beiden Richtungen wird auch in der modernen chinesischen Soziologie Bezug genommen (beispielsweise bei Li Lulu 2006). Daher soll an dieser Stelle die Kontroverse knapp skizziert werden.

Die Vertreter der Auflösungs- oder Entstrukturierungsthese sind beispielsweise Ulrich Beck ("Risikogesellschaft", 1986) und Gerhard Schulze ("Erlebnisgesellschaft", 1992). Diese Positionen werden kritisiert von Michael Vester u.a. ("Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel", 2001) und Rainer Geißler ("Die Sozialstruktur Deutschlands", zuerst 1992).

Das Argument der Entstrukturierungstheoretiker hat im Kern folgende Form:

Zunehmender Wohlstand und breiter Massenkonsum führen letztlich auch bei den unteren Mittelschichtsegmenten dazu, dass sie teilweise Privilegien der mittleren und oberen Schichten erhalten (komfortablen Wohnungen, Autos, Farbfernsehern, Urlaubsreisen, Bildungsmöglichkeiten, Zugang zur Information durch das Internet etc.). Exklusive Statussymbole verlieren dadurch zunehmend ihre unterscheidenden Potentiale, weil sie heute vielen zugänglich sind. Schichttypische Milieus mit entsprechenden Lebensstilen, Mentalitäten, Einstellungen und Verhaltensweisen scheinen sich aufzulösen.

Ein Weiteres kommt hinzu: Die neuen globalisierten Gefahren der 'Risikogesellschaft' (vgl. Beck 1986; 2007) werden sozusagen 'demokratisiert', alle können potenziell betroffen werden: Umweltgefährdungen, neue Formen der Kriminalität, des Terrorismus oder atomarer Bedrohungen sind für alle Gruppen der Gesellschaft in ähnlicher Form gegeben.

Für diese Gesamtentwicklung werden zwei wesentlich Ursachen genannt: Zum einen werden die Lebensbedingungen, die Soziallagen und die Lebensstile immer differenzierter; zum anderen hat der ökonomische, soziale und kulturelle Wandel nach Beck (1986) einen 'Individualisierungsschub' ausgelöst, der die Menschen aus ihren bisherigen traditionellen Werten und Bindungen löst und ihre Verhaltensspielräume erheblich erweitert. Steigender Wohlstand lockert die materiellen und normativen Bindungen an Religion, Kultur und Herkunftsmilieus. Die Freizeit nimmt tendenziell zu, ebenso wie die räumliche und biografische Mobilität der Menschen. Höhere Bildungsniveaus sind heute, in der Medien- und Informationsgesellschaft erheblich leichter erreichbar.

Die Kritiker der Entstrukturierungsthese (z.B. Vester u.a. 2001) sehen zwar auch den Anstieg des Lebensstandards, die zunehmende Vielfalt der Lebensbedingungen, den Individualisierungsschub und die zunehmende Mobilität. Jedoch werfen sie den Entstrukturierungstheoretikern vor, die Auswirkungen dieses Wandels auf das Schichtungssystem erheblich zu überschätzen. Die Schichtstruktur der modernen Gesellschaft sei keineswegs verschwunden. Sie sei heute dynamischer, mobiler und pluraler geworden. Kennzeichen einer modernen Gesellschaft sei eben nicht die Auflösung der sozialen Schichtung, sondern ein dynamisches, pluralisiertes Schichtgefüge, das wegen seiner Vielfalt auch leicht unübersichtlich werden könne.

Die Schichtungstheoretiker (z.B. Geißler) führen dazu empirisch belegten Fakten an: Wichtige Lebenschancen (wie Bildungs- und Aufstiegschancen, Chancen auf eine hohe Erbschaft, auf politische Teilnahme, auf angenehme und qualifizierte Arbeit) und wichtige Lebensrisiken (wie Arbeitslosigkeit, Armut, Krankheit, Kriminalität) seien auch heute immer noch schichtentypisch verteilt. Auch Wertorientierungen und Lebensstile seien weiterhin speziellen Schichten zuzuordnen. Hier werden die Erziehungsziele, die Nutzung der Massenmedien und des Internets, die sportlichen Aktivitäten oder die Partnerwahl genannt. So seien auch heute nur 1,5 Prozent der Frauen mit Hauptschulabschluss mit einem Akademiker verheiratet, und von den Männern mit Hauptschulabschluss hat nur jeder 300ste eine Ehepartnerin mit Universitätsabschluss. Das spricht deutlich für Schichtenhomogenität.

Die von Beck und anderen postulierten Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse erfassen auch nicht gleichmäßig alle gesellschaftlichen Gruppen, sondern vollziehen sich in höheren Schichten intensiver, weil mit hohem Wohlstand eine stärkere Freisetzung aus materiellen Zwängen und mit höherem Bildungsniveau ein höheres Maß an Selbstreflexion und eine tiefer gehende Ablösung aus traditionellen Bindungen verknüpft sind. Der traditionelle 'Klassengegensatz' zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern besteht auch heute noch in der Wahrnehmung von Konflikten durch die Bevölkerung, also in der sogenannten 'öffentlichen Meinung'.

3. Definition des Begriffs der Mittelschicht und Diskussion der aktuellen

Probleme und Tendenzen unter Berücksichtigung der Globalisierung An dieser Stelle kann es nicht um die Darstellung einer allgemeinen Theorie der Mittelschicht aus soziologischer und ökonomischer Sicht gehen. Dies würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Vielmehr sollen kurz einige historische und definitorische Aspekte angesprochen werden, die für die die Frage nach der neuen chinesischen Mittelschicht von Bedeutung sind. Weiterhin wird auf einige aktuelle Aspekte der Diskussionen über die Mittelschicht im Rahmen der Soziologie, der Politik, der Zukunftsforschung und der öffentlichen Diskussion eingegangen.

Es gibt keine von allen akzeptiere und klare Definition des Begriffs der Mittelschicht. Vielmehr lassen sich einige Tendenzen angeben, die nun kurz zusammengefasst werden sollen. In der Soziologie bezeichnet 'Mittelschicht' üblicherweise jene Bevölkerungsgruppen, die im Hinblick auf Einkommen, Besitz und Bildung weder der reichen, relativ unabhängigen Oberschicht noch der besitzlosen, bildungsarmen und einkommensschwachen Unterschicht zuzuordnen sind. Zumeist werden graduelle Unterscheidungen in obere, mittlere und untere Mittelschicht vorgenommen.

Die Entstehung des Mittelschicht-Konzepts wird oft mit der Abgrenzung zur marxschen Theorie der Zwei-Klassen-Gesellschaft in Verbindung gebracht. Dem kann man entgegengehalten, dass es offensichtlich eine weitere soziale Schicht existiert, die im klassischen Sinne weder den Kapitalisten noch dem Proletariat zugeordnet werden kann. Manche Mittelschichtmitglieder haben zwar Verfügungsgewalt über aber keinen Besitz an Produktionsmitteln (z.B. höhere Manager). Letztlich stellt also das Konzept der Mittelschicht eine gewisse Abgrenzung zum marxschen Klassengegensatz dar. Folglich wird die Mittelschicht in der öffentlichen Diskussion, der Politik und besonders in der Wirtschaft oft als tragendes und stabilisierendes gesellschaftliches Element der bürgerlichen Gesellschaft angesehen, das die Vorstellung von marxschen Klassenantagonismus schon lange widerlegt hat.

3.1 Ökonomische Aspekte der Mittelschicht

Spezielle ökonomische Aspekte hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) regelmäßig empirisch erhoben und in die Diskussion eingeführt (vgl. DIW 2008). Statistisch bestimmt es als 'Mittelschicht' jenen Teil der Bevölkerung, mit einem Nettoeinkommen zwischen 70 bis 150 Prozent des üblichen Durchschnitts aller privaten Haushaltsrealeinkommen.

Das Beispiele 'Deutschland' soll aufgrund der guten Datenlage näher betrachtet und exemplarisch erläutert werden. Im Jahre 2006 lag der Einkommensmedian in Deutschland knapp über 16.000 Euro.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: DIW Berlin, Heft 10/2008).

Haushalten, die über 90 und 110 Prozent des allgemeinen Durchschnittseinkommens verfügen werden als 'Durchschnittsverdiener' bezeichnet und damit den Kernbereich der Mittelschicht zugeordnet.

Diese Definition wird aber von unterschiedlichen Institutionen je unterschiedlich gehandhabt. Die EU nimmt beispielweise als untere Grenze 60%, die WHO sogar 50% des jeweiligen Landes an. Die Überlegungen zur Obergrenzen reichen bis 200%.

Allerdings ist 'die' Mittelschicht nicht nur in ökonomischen Kategorien fassen. Das renommiert Heidelberger Sozialforschungsinstitut Sinus-Sociovision benutzt in seiner Forschung den Begriff des 'Milieus'. "Die Mitte besteht ihrer Einteilung nach am oberen Rand aus den hoch gebildeten 'Etablierten' und 'Postmateriellen', am unteren Rand aus 'Hedonisten' oder 'Konsum-Materialisten', denen Auto und Fernseher wichtig sind. Im Zentrum steht, als größte Gruppe, die bürgerliche Mitte mit einem Anteil von 15 Prozent. Einfache bis mittlere Angestellte sind darin vertreten, die zwischen 1500 und 3000 Euro verdienen" (vgl. Brönstrup 2008).

3.2 Milieustruktur und Krisen der Mittelschicht

Nicht erst seit der globalen Wirtschaftskrise (seit 2009) gibt es subjektive Abstiegsangst und objektive Erosionen in der Mittelschicht. Friederike Müller- Friemauth leitet die Trendforschung bei Sinus und hat in einem Interview über wesentlich Tendenzen Auskunft gegeben (in Brönstrup 2008). "Leute aus der Bürgerlichen Mitte berichten uns in Tiefeninterviews sehr häufig von Abstiegsängsten. (…) Hätten die Menschen vor 20 Jahren nur den Aufstieg gesucht, seien sie über die Jahre immer vorsichtiger geworden. Heute fürchteten sie um ihre Rente und sorgten sich, dass ihre eigenen Kinder den Lebensstandard nicht mehr werden halten können, den sie sich als Eltern erarbeitet haben. Insgesamt stehe das Private hoch im Kurs - das zeige das 'Comeback der Familie'. Bei Finanzdienstleistungen etwa steht die Sicherheit wieder im Vordergrund."

Die Sinus-Konzeption der deutschen Mittelschichten für das Jahr 2009 sieht wie folgt aus:

(Quelle: http://www.sociovision.de/loesungen/sinus-milieus.html)

Es ist in Deutschland erkennbar, dass die Mittelschicht von Ängsten und realen ökonomischen Problemen besonders am unteren Rand stark betroffen ist. Die oben bereits angesprochene Studie des DIW vom Frühjahr 2008 zeigt, dass der Anteil des 'harten Kerns' der Mittelschicht an der Bevölkerung von 62% in 2000 auf 54% in 2006 zurückgegangen ist. Mc Kinsey veröffentlichte 2008 ebenfalls eine Studie, die feststellte, dass bis 2020 nicht einmal mehr jeder zweite Deutsche der Mittelschicht angehören wird (vgl. Brönstrup 2008).

Die Zone des prekären Wohlstands wird immer größer (vgl. auch Bologna 2006) Aus der Lebensstandardsicherung für die Mittelschicht hat sich letztlich in Deutschland eine Grundsicherung für die Unterschicht herausgebildet, die aktuell (2010) zu erheblichen politischen Kontroversen zur Idee des Sozialstaats führt. Die Mittelschicht hat große Abstiegssorgen - auf diesen Punkt wird auch bei der neuen chinesischen Mittelschicht die Aufmerksamkeit zu richten sein. Angst machen vor allem die Veränderungen in der Arbeitswelt und die Veränderungen (Kürzungen) der sozialen Sicherungssysteme. Das Versprechen Leistung gegen Sicherheit scheint tendenziell fast aufgelöst. Die Mittelschichtangehörigen haben den Leistungskriterien entsprochen und erleben trotzdem Angst vor dem Abstieg.

Mittlerweile wird auch "Die Ausplünderung der Mittelschicht" (Beise 2009) sehr polemisch diskutiert. Marc Beise, eine bekannter Journalist (Süddeutsche Zeitung) schreibt: "Sie haben was geleistet. Sie bringen sich ein. Dennoch sind Sie permanent vom Abstieg bedroht und von den Politikern als Zahlmeister der Nation auserkoren - und werden noch dazu mit Undank überhäuft." (Beise 2009: 7) "In dieser Gesellschaft wird von der Politik an die Ränder gedacht: Gebt den Armen, nehmt den Reichen! In Wirklichkeit geht es gegen uns, gegen die in der Mitte. Lange schon leiden wir unter einer Politik der Ausplünderung" (Beise 2009: 9).

"Im Abschwung wird der Staat uns weiter schröpfen. Aber warum? Viele Milliarden Euro werden für Soziales ausgegeben, und die Not steigt dennoch. Wir sind die Mittelschicht. Was anderen gegeben wird, fehlt uns. Wir haben Jobs, arbeiten viel, verdienen aber auch nicht schlecht. Wir wohnen gut. Nur Sparen für`s Alter, nachhaltig vorsorgen, uns und den Kindern etwas aufbauen - all das, was für Menschen wie uns einst normal war und die Gesellschaft stabilisierte, das können wir nicht mehr" (Beise 2009: 10f.).

Obwohl die Mittelschicht also der Profiteur und auch der Motor des Wohlfahrtsstaates war, sehen 41% der Befragten überwiegend Chancen in einem Rückzug des Staates. 68% glauben in erster Linie für den Staat zu arbeiten. Mit ihrer Leistungsorientierung passen sie sich dem Stress in der Arbeitswelt an. Sie zeigen ein ausgesprochenes Karrieredenken und eine Ellenbogenmentalität, ohne nach oben aufzubegehren. Mit ihrer hohen Bildungsorientierung setzen sie auch ihre Kinder unter Stress, oftmals ist die gesamte Zeit der Kinder verplant. Häufig arbeiten beide Elternteile und haben kaum Zeit für ihre Kinder (vgl. ebd.). In der chinesischen Situation werden sich besonders in diesen Punkten Überscheidungen zeigen.

Allerdings deuten nicht nur polemische Thesen von Seiten des Journalismus und er Tagespolitik auf eine Krise der deutschen Mittelschichten in. Auch die Ungleichheitsforschung in der Soziologie zeigt klare Tendenzen zum Abbau der traditionellen Mittelschicht. Stefan Hradil (2009) hat in einem aktuellen Vortrag an der Akademie für politische Bildung in Tutzing im Oktober 2009 die neusten Entwicklungen und die aktuellen Zahlen zusammengefasst und bewertet.

Er schreibt: "Die Verteilung der Einkommen wurde in Deutschland seit etwa dem Ersten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre hinein allmählich gleicher. Seither wird die Einkommensverteilung wieder ungleicher. (…) Die Verschärfung finanzieller sozialer Ungleichheit findet vor allem bei den Niedrigeinkommen und bei den hohen Einkommen statt. (…) Wenn mehr Menschen niedrige oder aber hohe Einkommen haben, dann beziehen weniger Menschen mittlere Einkommen: Die Einkommensmittelschicht schrumpft. (…) Die Pufferfunktion der Mittelschicht schwindet." Die belegt Hradil mit Bezug auf eine OECD-Statistik von 2008:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Studie der OECD 2008)

[...]

Final del extracto de 111 páginas

Detalles

Título
Zur Bedeutung der neuen Mittelschicht im heutigen China
Subtítulo
Historische, soziale, ökonomische und kulturelle Aspekte
Universidad
Technical University of Chemnitz  (Soziologie)
Calificación
1,3
Autor
Año
2010
Páginas
111
No. de catálogo
V170238
ISBN (Ebook)
9783640889266
ISBN (Libro)
9783640889716
Tamaño de fichero
2920 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
bedeutung, mittelschicht, china, historische, aspekte
Citar trabajo
Jun Liu Zou (Autor), 2010, Zur Bedeutung der neuen Mittelschicht im heutigen China, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/170238

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