Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Zum Begriff der (modernen) Kinder- und Jugendliteratur
2 Realismus und Realität im Kinderbuch
3 Der problemorientierte Kinderroman
3.1 Beispiel: Peter Härtling: „Oma“ (1975)
4 Der psychologische Kinderroman
4.1 Beispiel: Gudrun Mebs: „Sonntagskind“ (1983)
5 Literaturangaben
1 Zum Begriff der (modernen) Kinder- und Jugendliteratur
Der Begriff der Kinder- und Jugendliteratur hat mittlerweile mehrere Bedeutungen: Es gibt bestimmte Texte die sich für Kinder eignen, obwohl diese ursprünglich nicht als Adressaten gedacht waren, zum Beispiel Fabeln, Märchen oder Reime. Ab dem 18. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung, wurden Texte speziell für Kinder verfasst und mit der Zeit entstanden viele fiktionale und nichtfiktionale Texte, die Gesamtheit der Kinder- und Jugendliteratur. Es bildet sich ein eigenständiges gesellschaftliches bzw. literarisches Handlungs- und Symbolsystem heraus. Trotz dieser verschiedenen Bedeutungen hat die Kinder- und Jugendliteratur bis heute, durch das Festsetzen von Normen, hauptsächlich eine moralisch- soziale Funktion bzw. Erziehungsfunktion, sie dient also als didaktisches Instrument. Die Merkmale der Kinder- und Jugendliteratur sind „Einfachheit, Linearität, Regelhaftigkeit, Handlungsdominanz, Identifikation, typisierende Figurengestaltung, Leseanreden, Schriftgröße und Illustrationen.“[1]
Seit dem 18. Jahrhundert ist sie durch zwei Wesens- bzw. Funktionsbestimmungen gekennzeichnet. Zum einen ist der Ausgangspunkt die Gesellschaft, denn den Kindern und Jugendlichen werden Inhalte, Normen und Werte vermittelt die für das Heranwachsen bzw. für das Leben in einer Gemeinschaft bedeutend sind. Sie sollen über die Literatur erzogen und zu handlungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft gemacht werden. Zum anderen ist der Ausgangspunkte das kindliche Subjekt, die Kinder- und Jugendliteratur muss sich also den aktuellen Bedürfnissen anpassen, wie z.B. Spiel, Abenteuer, erste Liebe. Darstellung, Thema und Struktur sind vom kindlichen Adressaten abhängig. Die meisten Texte beinhalten beide Funktionen. Deshalb spielt die Anpassung, die Adaption in der Kinder- und Jugendliteratur eine große Rolle, sie bezieht sich in der Kinder- und Jugendliteratur hauptsächlich auf die literarische Produktion.
„Adaption bezeichnet hier alle Handlungen, Methoden, Formen, einen Text so zu gestalten, zu verändern, zu bewerben, anzupreisen, zu bewerten, auszuwählen, dass er den kognitiv- psychischen Dispositionen den Bedürfnissen, dem Erwartungshorizont des anvisierten Adressatenkreises entspricht.“[2] Dies betrifft Fragen von Inhalt, Form, Thema, Handlungen, Figuren, Erzähler und Darstellungsweisen.
In der modernen Kinder- und Jugendliteratur geht es nicht nur darum zu fragen, ob der Text auch hinsichtlich der kindlichen Auffassungsgabe angepasst ist, sondern inwieweit der Text die Wirklichkeit authentisch erfasst. Ein solcher Blickwinkel macht aufgrund historischer, thematischer und formaler Gesichtspunkte eine Unterscheidung der Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur in problemorientierten- bzw. sozialkritischen Kinderroman, psychologischen Kinderroman, komischen Kinderroman und fantastischen Kinderroman, möglich. Sie unterscheidet sich nicht mehr prinzipiell von der Erwachsenliteratur, weil der Wertungsstandort in die kindlichen Protagonisten gelegt wird und ihr Standpunkt nicht mehr korrigiert wird, falls er sich als problematisch oder falsch erweist, es handelt sich somit um anti-autortiäre Texte[3].
2 Realismus und Realität im Kinderbuch
Für Peter Scheiner stellt der Realismus eine „grundlegende ästhetische Kategorie“ dar. Er spricht von einer „erzählerischen Methode der Wirklichkeitserfassung“[4] [5].
Wichtig ist das Bewusstsein darüber, dass Realistische Erzählungen nur auf die Wirklichkeit verweisen bzw. sich auf sie beziehen können, aber niemals selbst die Wirklichkeit sind, denn „die literarische Wirklichkeit ist stets eine gestaltete Wirklichkeit“. Trotzdem wird beim Schreiben und Lesen realistischer Texte Fantasiearbeit geleistet, denn allein Wirklichkeitsausschnitte sprachlich zu veranschaulichen und möglichst lebensnah zu vermitteln setzt Imaginationskraft voraus. Wichtig ist, wie mit Fantasie umgegangen wird, „ob sie von den Problemen der Realität wegführt“, oder ob sie Perspektiven für mögliche Veränderungen und Alternativen durch Beschreibungen aktueller Verhältnisse aufzeigt und somit „zum Erwerb einer sozialen Handlungskompetenz beiträgt. Das bedeutet: unter realen Bedingungen leben und gleichzeitig Unzulänglichkeiten angehen.“[6]
Ab dem 18. Jahrhundert hatte die Kinder- und Jugendliteratur eine gesellschaftliche Bildungsfunktion, durch literarische Vorbilder wurden gesellschaftlich relevante Verhaltensnormen und Werte wie Sparsamkeit, Tugendhaftigkeit und Gehorsam vermittelt. Es handelt sich dabei um autoritäre Kinder- und Jugendliteratur, denn durch Einschränkung und Zensierung wird eine Einordnung der Kinder in die Erwachsenwelt verlangt. Also dienten die an die nächste Generation adressierten Werke des 18. Jahrhunderts vorwiegend erzieherischen Zwecken, es gab keine unterhaltene Lektüre, speziell für Kinder und Jugendliche.
Auch im 19. Jahrhundert standen diese moralisierenden Beispielgeschichten als Erzählform noch im Mittelpunkt der Kinder- und Jugendliteratur, hinzu kamen nationalerzieherische Schriften in denen „jungen Menschen ein politisch- patriotisches Bewusstsein“ vermittelt wurde. Leitbilder sollten diesen jungen Menschen die Identifikation mit dem erstrebten Nationalstaat erleichtern, z.B. durch Darstellung besonderer Ereignisse der deutschen Geschichte, welche Stärke und Kraft des deutschen Reiches zeigten, oder Biografien berühmter, erfolgreicher Männer, die Nationaltugenden wie Treue, Tapferkeit, Heldenmut und Selbstlosigkeit verkörperten.[7]
Es handelt sich bis dahin um autoritäre Kinder- und Jugendliteratur, denn durch Einschränkung und Zensierung wird eine Einordnung der Kinder in die Erwachsenwelt verlangt. In den Texten werden zwar kindliche Positionen dargestellt, aber nur um diese letztlich wieder korrigieren zu können[8].
Um die Jahrhundertwende stand nun das Kind im Zentrum der Buchproduktion, man orientierte sich nun an den kindlichen Wirklichkeitserfahrungen und richtete Darstellungsmethoden, Erzählhaltung und Sprachform danach aus. In den 20er und 30er Jahren wurden „Motive aus der aktuellen Lebenssituation des Großstadtkindes“ hinzugefügt. Zum Beispiel im realistischen Kinderbuch Pünktchen und Anton, 1931, von Erich Kästner[9].
„Allerdings fehlte diesen Ansätzen realistischen Erzählens jede sozialkritische Dimension“. Im Nationalsozialismus erfolgte eine Rückwendung zu den Moralgeschichten des 19. Jahrhunderts und man verfolgte einen ideologisch einheitlichen Kurs in der Kinder- und Jugendliteratur. Im Mittelpunkt stand die emotionale Beeinflussung anstatt sachliche Informationen und Aufklärung. „Helden opferten sich ohne Wenn und Aber der nationalsozialistischen Bewegung und vermittelten dem Leser, dass diese Gemeinschaft nur durch Einordnung, Unterordnung und absoluten Gehorsam des einzelnen funktionierte“[10].
Ende der 60er Jahre gab es endlich erste Anzeichen einer Tendenzwende. Die neuen, so genannten antiautoritären Kinderbücher befreiten das Kind „aus gesellschaftlicher Abhängigkeit und patriarchalischen Erziehungsmustern“, verfehlten aber oftmals die Interessen und den Erfahrungshorizont der jeweiligen Altersgruppe. Eine Verbesserung dessen wurde um 1970 erkennbar. Hier beginnt die sozialkritische Phase, die Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit darstellt. Abschließend lässt sich sagen, dass das Maß an Realität in Kinderbüchern von den jeweiligen „aktuellen Zeitströmungen, von Geschehnissen und Einstellungen in der Gesellschaft“ abhängig ist. „Das Realitätsbild unterliegt also einem historischen Wandel“[11].
In den 70er Jahren beginnt eine neue Epoche in der Geschichte der Kinderliteratur. Es handelt sich jetzt um eine kindgemäße Literatur, um antiautoritäre Kinder- und Jugendliteratur, denn die kindlichen Positionen in einem Text werden nicht mehr korrigiert und es werden Werte und Normen von Kindern vermittelt, es erfolgt eine Bestätigung der kindlichen Auffassung auch wenn diese im Widerspruch zur Welt der Erwachsenen steht[12].
Geprägt durch einen Kindheitsbegriff, der sich gegen die herkömmliche bürgerliche Erziehung wendet und Chancengleichheit für sozial Benachteiligte fordert., gerät die traditionelle Kinder- und Jugendliteratur immer stärker in die öffentliche Kritik, denn ihr werden Realitätsmangel, die Verschleierung gesellschaftlicher Verhältnisse sowie die Vermittlung illusionistischer Weltbilder vorgeworfen.
Bis in die späten 60er Jahre wurde Kindheit als eine in sich abgeschlossene Lebensphase gesehen und die kindliche Erlebnisperspektive stand im Mittelpunkt der Kinder- und Jugendliteratur. Somit gab es nur wenig Platz für die Auseinandersetzung mit aktuellen Problemen des Alltags. Seit der Reformpädagogik in den 70er Jahren geht man jedoch von einer Gleichstellung der Kinder und Erwachsenen aus, damit entfallen die zuvor als notwendig erachteten Frei- und Schonräume. Es wird eine kompromisslose Darstellung der Wirklichkeit gefordert. Dieser sozialkritische Realismus setzt sich durch und daraus entwickelt sich der problemorientierte Kinderroman[13].
3 Der problemorientierte Kinderroman
Durch das neue Verständnis von Kindheit erfolgt der bereits erwähnte Systemwechsel um 1970 in der Kinder- und Jugendliteratur und zieht einen Wandel in der Thematik, Form und Funktion der realistischen Kinderliteratur mit sich.
Ursula Wölfel markierte mit ihrem Band: „ Die grauen und die grünen Felder“ (1970) diesen Wendepunkt in der Kinder- und Jugendliteratur, indem sie schonungslos die Probleme von Unterschichtkindern und Behinderten aufdeckt und Alkoholsucht, Denunziation, Rassismus und Armut in der Dritten Welt thematisiert. Das bedeutet also eine thematische Erweiterung der Kinder- und Jugendliteratur.Diese realistischen Kinderkurzgeschichten besitzen Aufforderungscharakter, sie provozieren geradezu klärende Gespräche über die dargestellten Konflikte der Kinder. Das Ziel dieser problemorientierten Kinderromane ist es, keine Themen der Wirklichkeit vor den Kindern zu verbergen sondern sie mit einer unverschleierten Realität des derzeitigen Gesellschaftssystems zu konfrontieren.Die kindlichen Leser/innen sollen in dieser Gesellschaft handlungsfähig werden, um sie zu verändern bzw. weiterzuentwickeln. Voraussetzung dafür ist, dass sie über die aktuellen sozialen und politischen Missstände aufgeklärt werden.
[...]
[1] Zitat: Carsten Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 1999. S.8/9
[2] Zitat: Carsten Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 1999. S. 14
[3] Vgl. Carsten Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 1999. S. 8-12. S.57-59
[4] Vgl. Elvira Armbröster- Groh: Der moderne realistische Kinderroman. Frankfurt a. Main 1997, S 16.
[5] Vgl. Elvira Armbröster- Groh: Der moderne realistische Kinderroman. Frankfurt a. Main 1997, S 16
[6] Vgl. Elvira Armbröster- Groh: Der moderne realistische Kinderroman. Frankfurt a. Main 1997, S 17/18
[7] Vgl. Isa Schikorsky. Schnellkurs: Kinder- und Jugendliteratur. Köln. 2003. S.68/69
[8] Vgl. Carsten Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 1999. S.27
[9] Vgl. Elvira Armbröster- Groh: Der moderne realistische Kinderroman. Frankfurt a. Main 1997.S 18/19
[10] Vgl. Isa Schikorsky. Schnellkurs: Kinder- und Jugendliteratur. Köln. 2003. S. 71/127
[11] Vgl. Elvira Armbröster- Groh: Der moderne realistische Kinderroman. Frankfurt a. Main 1997.S. 19
[12] Vgl. Carsten Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 1999. S.27
[13] Vgl. Elvira Armbröster- Groh: Der moderne realistische Kinderroman. Frankfurt a. Main 1997.S. 20/21