„Unser Rechtswesen muss in erster Linie der Erhaltung der Volksgemeinschaft dienen. Die Unabsetzbarkeit der Richter auf der einen Seite muss die Elastizität der Urteilsfindung zum
Zwecke der Erhaltung der Gesellschaft entsprechen.“ So fiel am 23. März 1933, also noch im Anfangsstadium der nationalsozialistischen Machtergreifung, in einer Rede vor dem Reichstag das Urteil des amtierenden Reichskanzler Adolf Hitler über das zukünftige Verhältnis von Justiz und Politik aus. Die vorliegende Arbeit will sich mit diesem Verhältnis speziell in Hinblick auf die nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik beschäftigen.
Vergleicht man hierbei die Vorgehensweise des nationalsozialistischen Regimes auf den beiden erbhygienischen Feldern der Verhütung und der Vernichtung „unwerten“ Lebens, so
fällt in erster Linie die offensichtlich grundverschiedene rechtliche Vorgehensweise ins Auge. Bereits wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtergreifung erließ das Regime das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN), das die Zwangssterilisation als erbkrank bezeichneter Individuen gesetzlich normierte. Die als „Euthanasie“ euphemistisch camouflierte Aktion der Vernichtung unerwünschten Lebens hingegen wurde ohne gesetzliche Grundlage und nur auf Basis eines entsprechenden Erlasses Adolf Hitlers durchgeführt.
Während also das eine Gebiet, die Verhütung „erbkranken“ und so für die Volksgemeinschaft als unnütz erachteten Lebens scheinbar vollkommen auf dem Boden des nationalsozialistischen (Un-)Rechtssystems stand, wurde die Vernichtung „unwerten“ Lebens in einem Graubereich des nationalsozialistischen Rechts durchgeführt. Legt man Ernst Fraenkels Theorie des nationalsozialistischen Doppelstaates einer Analyse dieser beiden erbgesundheitsbiologischen Topoi zu Grunde, so kann man zunächst vereinfacht das GzVeN dem Normen-, die Euthanasieaktion jedoch dem Maßnahmenstaat zuordnen. Für eine verallgemeinernde Betrachtung mag dies zutreffen. Doch wenngleich die Gesetzesform des GzVeN formale Legalität signalisiert, sind hier gerade in Bezug auf die Form der Ausführung und Anwendung des Gesetzes durch die Erbgesundheitsgerichtsbarkeit des Dritten Reiches kritische Fragen angebracht. Deshalb wird sich die vorliegende Arbeit in erster Linie mit dem Themengebiet der praktischen Umsetzung des GzVeN vor der Erbgesundheitsgerichtsbarkeit und der dieser zeitlich vorgelagerten Erfassungs-und Ermittlungsphase der vermeintlich erbkranken Menschen beschäftigen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Ernst Fraenkels Theorie des Nationalsozialistischen Doppelstaates
- Diagnose Doppelstaat
- Die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat als Grundlage des Maßnahmenstaates
- Bedeutung des Maßnahmenstaates auf dem Gebiet der Erbgesundheitssachen
- Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN)
- Die für das GzVeN relevanten Diagnosen
- Zusammensetzung der Erbgesundheits (ober) gerichte
- Der Gesetzeskommentar von Gütt/Rüdin/Ruttke
- Das GzVeN - ein NS- Unrechtsgesetz?
- Die quantitative Dimension der Sterilisationspraxis im Deutschen Reich
- Der Stand der eugenischen Wissenschaft und deren Relevanz für die Erbgesundheitsentscheidungen
- Debatte um Ausweitung der Krankheitsdefinitionen
- Verfahrensweise vor der Erbgesundheitsgerichtsbarkeit
- Im Vorfeld: Wer stellte die Anträge zur Sterilisation und wer zeigte die Erfassungs-und Ermittlungsphase an?
- Die Prozessphase - Erschwernisse für die Angeklagten im Prozess
- Die Verordnungen zur Ausführung des GzVeN
- Das Recht auf Anhörung vor den Erbgesundheitsgerichten
- Beweislastumkehr
- Resümee
- Abkürzungsverzeichnis
- Literaturverzeichnis
- Quellen
- Sekundärliteratur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Verhältnis von Justiz und Politik im nationalsozialistischen Deutschland, speziell im Hinblick auf die Erbgesundheitspolitik. Sie untersucht die praktische Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vor der Erbgesundheitsgerichtsbarkeit und die der zeitlich vorgelagerten Erfassungs-und Ermittlungsphase vermeintlich erbkranker Menschen. Dabei werden kritische Fragen zur Legalität des Gesetzes und zur Fairness der Prozesse gestellt.
- Die Rolle der Erbgesundheitsgerichtsbarkeit im nationalsozialistischen System
- Die rechtliche Grundlage und praktische Anwendung des GzVeN
- Die Frage der Grundrechtsbeschneidung in den Verfahren
- Die Bedeutung des Maßnahmenstaates für die Erbgesundheitspolitik
- Die Auswirkungen der eugenischen Wissenschaft auf die Erbgesundheitsentscheidungen
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung präsentiert das Thema der Arbeit und skizziert die unterschiedlichen rechtlichen Vorgehensweisen des nationalsozialistischen Regimes in Bezug auf die Erbgesundheitspolitik, insbesondere die Zwangssterilisation und die Euthanasie. Kapitel 2 stellt die Theorie des nationalsozialistischen Doppelstaates von Ernst Fraenkel vor und ordnet das GzVeN dem Normenstaat und die Euthanasie dem Maßnahmenstaat zu. Kapitel 3 beleuchtet das GzVeN und seine praktische Umsetzung, insbesondere die Zusammensetzung der Erbgesundheitsgerichte, den Gesetzeskommentar und die quantitative Dimension der Sterilisationspraxis. Kapitel 4 analysiert die Verfahrensweise vor der Erbgesundheitsgerichtsbarkeit, die Erfassungs- und Ermittlungsphase sowie die Prozessphase und die damit verbundenen Erschwernisse für die Angeklagten.
Schlüsselwörter
Nationalsozialismus, Erbgesundheitspolitik, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN), Erbgesundheitsgerichtsbarkeit, Zwangssterilisation, Eugenik, Maßnahmenstaat, Normenstaat, Grundrechte, Prozessrecht, Ernst Fraenkel, Rechtsgeschichte.
- Arbeit zitieren
- Daniel Braner (Autor:in), 2009, Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/171864