Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Kreuzung sozialer Kreise: Georg Simmels Theorie der Rollendifferenzierung
2.1 Die Entstehung des modernen Individuums
2.2 Rollenstress, Orientierungsprobleme, Entfremdung
2.3 Individualität als funktionale Notwendigkeit
3. Von segmentär zu funktional differenzierten Gesellschaften: Niklas Luhmanns Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung
3.1 Die Herausbildung der modernen Gesellschaft
3.2 Systemdifferenzierung als Wiederholung der Differenz System/Umwelt
3.3 Differenzierungsformen
3.4 Evolution
4. Fazit und Diskussion
5. Literaturverzeichnis
6. Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
„Seitdem es Soziologie gibt, befasst sie sich mit Differenzierung“, schreibt Niklas Luhmann (1997: 595) in seinem zweibändigen und sicher bedeutendsten Werk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“. Und tatsächlich stellen Überlegungen zu den Themen Differenzierung und Arbeitsteilung seit jeher zweifellos einen der Schwerpunkte so- ziologischer Forschung dar. Das zeigt sich zum einen daran, dass sich bereits die soziologischen „Klassiker“ wie Emilie Durkheim, Georg Simmel oder Max Weber mit Differenzierungstheorien auseinandergesetzt haben, die differenzierungstheoretische Perspektive aber zum anderen auch in den aktuellen soziologischen Debatten wieder und immer noch von großer Bedeutung ist. Es handelt sich bei den verschiedenen soziologischen Differenzierungstheorien - obgleich sie teilweise aufeinander aufbau- en - zwar nicht um ein einheitliches Theoriekonzept, sondern vielmehr um ein Bün- del von durchaus unterschiedlich angelegten Theorien, trotz einiger Unterschiede ähneln sie sich jedoch in ihrer grundlegenden Ausrichtung (vgl. Schimank 2007: 9).
Ziel dieser Arbeit ist es, mit den Theorieansätzen der Soziologen Georg Simmel (1858-1918) und Niklas Luhmann (1927-1998) zwei prominente und aus unterschied- lichen Epochen stammende Differenzierungstheorien näher vor- und gegenüberzu- stellen. Während Simmels differenzierungstheoretische Überlegungen auf die Ebene der Rollendifferenzierung bezogen sind, wendet sich Luhmann mit seiner autopoieti- schen Systemtheorie der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme zu, wo- durch freilich ganz andere Phänomene in den Blick geraten. Die Auswahl dieser bei- den Theorien bietet sich an, um zu zeigen, dass auf jeder der beiden Ebenen wichti- ge Einsichten und Erkenntnisse gewonnen werden können und es daher unange- bracht wäre, eine der beiden Betrachtungsebenen gegen die andere auszuspielen.
Zum Aufbau der Arbeit: Zunächst wird Simmels Konzept der Rollendifferenzierung vorgestellt (Kapitel 2), woran sich eine Darstellung der Theorie gesellschaftlicher Dif- ferenzierung im Umfeld von Luhmanns Systemtheorie anschließt (Kapitel 3). Im Schlusskapitel werden die beiden Theorieansätze kritisch gewürdigt und die Frage gestellt, ob eine Synthese beider Ansätze denkbar und unter Umständen gewinn- bringend sein könnte.
2. Die Kreuzung sozialer Kreise: Georg Simmels Theorie der Rollendifferenzierung
Bereits in einem seiner Frühwerke („Über sociale Differenzierung“, 1890) entwirft der Soziologe und Philosoph Georg Simmel die zentrale These, dass sich mit wachsen- der Entwicklung und Differenzierung einer Gesellschaft auch die Individualität des Einzelnen stärker ausbildet. Die moderne Individualität verbindet dabei die Momente von Einzigartigkeit und Selbstbestimmung trotz äußerer Einflüsse. Dieses Zuspre- chen von Einzigartigkeit und Selbstbestimmtheit geschieht je nach Person und Situa- tion in unterschiedlichem Maße, d.h. wir bescheinigen verschiedenen Personen in beiden Hinsichten unterschiedliche Individualitätsgrade (vgl. Schimank 2007: 42). Daraus leitet sich auch ab, dass Einzigartigkeit und Selbstbestimmung nicht ein- und dasselbe, sondern zwei unterschiedliche Dinge sind. Dies soll an folgendem Beispiel verdeutlicht werden: Ein Mensch mit Ecken und Kanten, der unbequeme Ansichten vertritt und sich somit gegen die ansonsten vorherrschende Meinung stellt, kann si- cher als einzigartig bezeichnet werden, auch wenn er sein restliches Leben vollkom- men fremdbestimmt lebt. Andererseits kann ein „stromlinienförmiger“, durchschnittli- cher Mensch durchaus als selbstbestimmt bezeichnet werden - nämlich dann, wenn er beispielsweise seine Berufslaufbahn selbst in die Hand genommen und sich aus eigener Kraft von einem niedrigen zu einem hohen Posten hochgearbeitet hat.
2.1 Die Entstehung des modernen Individuums
Sowohl das Ausleben als auch die Gewährung von Einzigartigkeit und Selbstbestimmung sind in der modernen Gesellschaft zu universellen Wollens- und Sollensprinzipien geworden (vgl. Schimank 2007: 43). Doch wie ist dieses, die Einzigartigkeit und Selbstbestimmung betonende Selbst- und Fremdbild des Menschen durch zunehmende gesellschaftliche Differenzierung entstanden? Um diese Frage zu beantworten, hat Simmel mit seiner Theorie der „Kreuzung sozialer Kreise“ ein überzeugendes Erklärungsmodell entwickelt, das auch noch heute Gültigkeit besitzt und seinen Ausgangspunkt bei folgender Beobachtung nimmt:
„Wenn der moderne Mensch zunächst der elterlichen Familie angehört, dann der von ihm selbstgegründeten und damit auch der seiner Frau, dann seinem Berufe (...); wenn er sich seines Staatsbürgertums und der Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Stande bewusst ist (...), ein paar Vereinen angehört (...): so ist dies schon eine sehr große Mannigfaltigkeit von Gruppen“ (Simmel 1989: 239f.)1.
Die zunehmende Rollendifferenzierung in der modernen Gesellschaft hat also dazu geführt, dass sowohl die Anzahl als auch die Kombinationsmöglichkeiten und die Verschiedenartigkeit unterschiedlicher Rollen zugenommen hat (vgl. Schimank 2007: 44). Die oben aufgeführte Rollenauflistung ließe sich sicher problemlos für einen zeitgenössischen Menschen erstellen. Während in vormodernen Gesellschaften we- nige Rollen einen Menschen weitgehend definierten, tendieren moderne Gesellschaf- ten im Zuge der zunehmenden Arbeitsteilung zu immer spezialisierteren Rollen, die zu bestimmten sozialen Kreisen zählen. Simmel drückt es folgendermaßen aus:
„Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensys- tem, derart, dass jede neu hinzugekommene ihn genauer und unzweideutiger be- stimmt (...) je mehr es werden, desto unwahrscheinlicher ist es, dass noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination aufweisen werden“ (Simmel 1989: 240).
Genau aus dieser Tatsache ergibt sich die Einzigartigkeit der Person bzw. genau hier zeigt sich der Zusammenhang zwischen wachsender Rollendifferenzierung und wachsender Individualisierung: Je mehr Rollen ein Mensch besitzt und ausfüllt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ein anderer Mensch über das identische „Rollen-Set“ verfügt, denn „das Spezifische der Individualität“ wird durch nichts anderes als „durch die Kombination der Kreise gewahrt“ (Simmel 1989: 244):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: vormoderne Gesellschaft (links): fest vorgegebene Rollen, kein Spielraum für Indivi- dualität; moderne Gesellschaft (rechts): keine Vorgaben für Rollen, Kreuzung sozialer Kreise
Die Individualität „wird (...) eine um so größere sein, wenn die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende, als konzentrische sind; d.h. allmählich sich verengen- de Kreise, wie Nation, soziale Stellung, Beruf, besondere Kategorie innerhalb dieses, werden der an ihnen teilhabenden Person keine so individuelle Stelle anweisen, weil der engste derselben ganz von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren bedeutet“ (Simmel 1989: 241).
Anzumerken ist hierbei auch, dass immer weniger soziale Vorgaben für bestimmte Rollen und Rollenkombinationen existieren (vgl. Schimank 2007: 44), d.h. die gesell- schaftliche Rollenvielfalt steht dem Individuum in der modernen Gesellschaft sozu- sagen im Selbstbedienungsverfahren zur Verfügung - und mehr noch: „Tendenziell läuft es darauf hinaus, dass jede Rolle mit beinahe jeder anderen kombiniert sein kann“ (vgl. ebd.). Zur Veranschaulichung könnte man sich die moderne Gesellschaft somit fast wie einen Supermarkt vorstellen, in dem sich jeder Mensch seine ver- schiedenen Rollen nach den eigenen Bedürfnissen und Wünschen zusammenstellen kann. Selbstbestimmung äußert sich somit vor allem in der Wahlfreiheit bzw. in Form der Freiheitsgrade der Lebensgestaltung: „Das gilt für die Berufswahl ebenso wie für die Wahl des Familienstandes, der politischen oder religiösen Zugehörigkeit und der Freizeitaktivitäten“ (Schimank 2007: 45).
2.2 Rollenstress, Orientierungsprobleme, Entfremdung
Gleichzeitig nehmen mit der Anzahl der Rollen jedoch auch Rollenstress und Orie]n- tierungsprobleme zu, da die Person in jeder einzelnen Rolle „mehr oder weniger strikten Rollenerwartungen ausgesetzt“ ist, „die als sozialer Konformitätsdruck auf ihr lasten und zunächst einmal Selbstbestimmung beschneiden“ (ebd.). Dieser Konfor- mitätsdruck kann jedoch durch zwei Dinge abgemildert werden. Zum einen verfügt eine Person bei vielen ihrer Rollen über eine Exit-Option, d.h. sie kann bestimmte Rollen verlassen, wenn sie sich nicht länger den an diese Rolle adressierten Erwar- tungen beugen will (so kann z.B. ein verheirateter Ehemann seine Rolle durch Scheidung verlassen; gleiches gilt für einen Jugendlichen, der seinen Spaß am Ten- nis verliert und daher aus dem Tennisclub austritt). Greift man noch einmal auf den Supermarkt-Vergleich zurück, könnte man hier also salopp formulieren, dass eine Rückgabe bzw. ein Umtausch von Rollen in modernen Gesellschaften möglich ist, während es diese Exit-Option in vormodernen Gesellschaften nicht gab. Außerdem können Personen immer wieder auftretende Überlagerungen und Beeinträchtigungen zwischen verschiedenen Rollen gezielt dazu benutzen, die Anforderungen der einen Rolle gegen die der anderen Rolle auszuspielen, um sich auf diese Weise Freiräume zu schaffen:
„So kann jemand (...) in seinen Rollen als Vater und Ehemann von seiner Frau bezüglich seiner ehelichen Pflichten Rücksichtnahme darauf erwarten, dass er in seiner Berufsrolle den Erwartungen seiner Vorgesetzten gerecht werden muss. Da seine Frau diese Erwartungen nicht im Einzelnen kennt, kann er sie ihr gegenüber auch übertrieben darstellen, um sich noch weniger um Haushalt, Kinder und Gattin kümmern zu müssen.“ (Schimank 2007: 45).
Simmel sieht jedoch auch noch eine andere, in diesem Fall nicht abzumildernde Schattenseite. Durch die Vielzahl der Rollen kann das Individuum sein Leben an kei- ner einzelnen der vielen Rollen mehr gänzlich ausrichten und aus dieser einen Rolle seinen Sinn beziehen. Mit anderen Worten: Keine Rolle dominiert das Individuum mehr ganz, wie es in vormodernen Gesellschaften noch der Fall war. So kommt es zu psychischem Stress, Rollenstress und einem Gefühl der Entfremdung, auch da die Rollenerwartungen nicht immer hinreichend klar definiert sind (vgl. Schimank 2007: 47).
2.3 Individualität als funktionale Notwendigkeit
Wie vor ihm schon Durkheim2, erkennt also auch Simmel die Ambivalenz der durch die zunehmende Rollendifferenzierung hervorgebrachten Individualität: Die frühere Unzweideutigkeit und Sicherheit weicht zunächst einer Schwankung der Lebensten- denzen, doch je mehr Gruppeninteressen sich in einem Individuum bündeln, desto entschiedener wird es sich über seine eigene Identität bewusst. Daraus leitet sich die Erkenntnis ab, dass die Individualität geradezu zum unersetzbaren Integrationsmus- ter wird, wenn die Rollendifferenzierung immer weiter voranschreitet (vgl. Schimank 2007: 46f.). Individualität ist somit eine funktionale Notwendigkeit fortschreitender gesellschaftlicher Differenzierung: Vom Einzelnen wird mehr Selbstbestimmung ver- langt, die für moderne Gesellschaften zugleich funktional notwendig ist. Für die Viel- zahl an zu koordinierenden Rollen sind keine perfekten allgemeingültigen Regeln vorhanden, sondern man muss sich hier auf die Gestaltungsfähigkeiten der Individuen verlassen.
[...]
1 Zitate, die der Primärliteratur von Simmel und Luhmann entnommen wurden, wurden in der vorliegenden Arbeit zur besseren Lesbarkeit der neuen Rechtschreibung angepasst
2 Einführende Anmerkungen zu Durkheims Theorie der „organischen Solidarität“ finden sich z.B. bei Schimank (2007: 26-41).