Wer wird, und wann, die Sprache wiedererfinden - Spaltungen, Zeichen und Körper in Christa Wolfs Kassandra


Term Paper (Advanced seminar), 2001

37 Pages, Grade: 1,0


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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Erzählung Kassandra und ihre Voraussetzungen
2.1 Subjektive Authentizität
2.2 Scheitern eines Konzepts?

3 Subjektwerdung und Sehertum
3.1 Spaltungen
3.2 Sehertum
3.3 Was bedeutet Autonomie?
3.4 Kassandras Tod: Kapitulation oder Autonomieakt?

4 Zeichen und Körper
4.1 Persönlich-sinnlicher Zugang
4.2 Die Palastwelt
4.3 Die Welt am Skamander: ein matriarchaler Gegenentwurf?
4.4 Gibt es ein weibliches Schreiben?

5 Mythos und Utopie
5.1 Spuren verlassen?
5.2 Gibt es eine utopische Perspektive?

6 Schlußbetrachtung

7 Anhang
7.1 Siglenverzeichnis
7.2 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Christa Wolfs Erzählung Kassandra, die zusammen mit den Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra 1983 in der BRD erschienen ist, konnte zur Zeit ihrer Veröffentlichung große Aufmerksamkeit auf sich ziehen und avancierte zu einem „Kultbuch der internationalen Friedens- und Frauenbewegung“[1]. Ein Großteil der Faszination, die Kassandra zu einem Bestseller werden ließ, liegt sicherlich in der zeitgenössischen Brisanz begründet. Die Feminismusbewegung verschaffte sich zunehmend öffentliche Beachtung, und der kalte Krieg, mit der Angst vor atomarer Auslöschung einhergehend, war omnipräsent.

So wird denn auch Kassandra weithin als Schlüsselerzählung und als „Parabel mit unmißverständlicher Warnfunktion“[2] rezipiert. Die zusätzliche Rückführung des Schreibimpulses Christa Wolfs auf ihre persönliche Situation als Dichterin in der DDR tut ihr übriges, um den Eindruck zu erwecken, die Erzählung ließe sich auf ihre sozio-historische und biographische Dimension reduzieren.

In der Tat zeigt sich, daß in der Sekundärliteratur kurz nach der Veröffentlichung eine intensive, teils auch recht kontroverse, Auseinandersetzung mit Kassandra einsetzt, die jedoch in den 90er Jahren deutlich abebbt und spätestens mit dem Bekanntwerden von Christa Wolfs Stasi-Tätigkeit einer polemisch-ideologisch durchzogenen Debatte über ihre Rolle als Schriftstellerin in der DDR weicht. Der Begriff der Staatsdichterin ist schnell geprägt. Offensichtlich liegt es nah, eine Autorin, die bekennt, „daß ich schreibe, um mich besser kennenzulernen, und die Konflikte, und das, was mir auf den Leib gerückt war, auszudrücken“[3], die immer wieder gesellschaftliche Verantwortung eingefordert hat, mit ihrer Biographie für ihre Worte haftbar zu machen. Aber purer Biographismus reicht weder aus, ihre Werke zu verstehen, noch sie zu diskreditieren.

Warum also sollte man sich heute noch mit Kassandra auseinandersetzen, in Zeiten, die die Niederlage des real-existierenden Sozialismus gebracht haben und Emanzipation zu einem randständigen Thema haben werden lassen? Wo liegen die Anknüpfungspunkte, die über die konkrete Situation hinausweisen und die Arbeit am Mythos rechtfertigen können?

Zunächst einmal ist zu fragen, in welchem Verhältnis die Erzählung Kassandra und die Voraussetzungen einer Erzählung zueinander stehen. Die Voraussetzungen, ein Vortrag Christa Wolfs im Rahmen der Frankfurter Poetik-Vorlesungen, in dem sie Bedingungen und Hintergründe für ihren Schreibimpuls nennt sowie Erläuterungen zur Erzählstruktur gibt, liefern den konzeptuellen Rahmen, an dem sich die Erzählung messen lassen muß.

Als zentrales Thema von Kassandra ist sicher die Subjektwerdung und Autonomiebestrebung der Protagonistin im Spannungsfeld von Matriarchat und Patriarchat anzusehen. Die häufig geäußerte Annahme, die Erzählung zeige in lehrstückhafter Manier Kassandras Entwicklung zum autonomen Subjekt, umgeht die Schwierigkeit, die zugrundeliegenden Auffassungen von Autonomie und Subjekt zu bestimmen. Zu diskutieren ist das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, jene Spaltung, deren Ursache Christa Wolf zu erforschen sucht. Stets bleibt die Ich-Suche Kassandras verbunden mit der Suche nach einem `Wir´. Zu fragen ist auch, welche Rolle das angestrebte Sehertum in diesem Zusammenhang spielt.

Die Begegnung mit der Gegenwelt zum patriarchalen Königshof, der Gesellschaft am Skamander, beschleunigt die Entwicklung Kassandras durch die sinnliche Erfahrung einer alternativen Lebensweise. Hier wird eine orale Subkultur im Schatten einer literalen Kultur gelebt. Der Unterschied tritt im Verhältnis von Zeichen und Körper zutage. Die orale Kultur bleibt an den Körper gebunden (auch zum Vollzug der Sprache), während die literale Körperlichkeit unterdrückt und Sprache als Manipulationsmittel einsetzt.

Aber inwiefern kann die Gesellschaft am Skamander als utopisches Modell dienen? Ist ihre Existenz nur im ` Zeitenloch ´ möglich? Handelt es sich bei Kassandra wirklich um ein Lehrstück weiblicher Autonomieentwicklung oder vielmehr um eine Parabel des Scheiterns? Wie ist der Rückgriff auf den Mythos zu bewerten, insbesondere in Hinsicht auf den möglichen utopischen Gehalt?

2 Die Erzählung Kassandra und ihre Voraussetzungen

Die Tatsache, daß Christa Wolf in den Voraussetzungen einer Erzählung. Kassandra dezidiert Auskunft erteilt über biographische, historische und poetologische Hintergründe ihrer Erzählung, stellt einen in dieser Form wohl einmaligen Blick in die Entstehungsgeschichte eines literarischen Werkes dar. Wolf zeichnet ihren Anverwandlungsprozeß auf der Grundlage persönlichen Erlebens, ihrer Griechenlandreise, und der geschichtlichen Situation, die Angst vor dem atomaren Krieg, nach.

Sie betont, keine Poetik entwickeln zu wollen, weil die zentrale Größe, subjektive Erfahrung, dadurch zwangsläufig erstickt wird: „Es gibt keine Poetik, und es kann keine geben, die verhindert, daß lebendige Erfahrung ungezählter Subjekte in Kunst-Objekten ertötet und begraben wird.“ (V, 10) Nichtsdestotrotz stellt sie jedoch ihr Konzept des weiblichen Schreibens vor, das der Reduktion auf einen Erzählstrang, jenem einen blutroten Faden, das Netzwerk entgegenstellt. Ihr Programm beruht auf der Annahme,

daß im Grund, vom Grunde her alles mit allem zusammenhängt; und daß das strikte einwegbesessene Vorgehn, das Herauspräparieren eines `Stranges´ zu Erzähl- und Untersuchungszwecken das ganze Gewebe und auch diesen `Strang´ beschädigt. Aber eben diesen Weg ist doch, vereinfacht gesagt, das abendländische Denken gegangen, den Weg der Sonderung, der Analyse, des Verzichts auf die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zugunsten des Dualismus, des Monismus, zugunsten der Geschlossenheit von Weltbildern und Systemen, des Verzichts auf Subjektivität zugunsten gesicherter `Objektivität´. (V, 161)

Linearer Erzählstrang und das Primat der Objektivität sind in ihren Augen eng miteinander verknüpft. Die Auflösung des Gewebes in einzelne Ursache-Wirkung Beziehungen bestimmt das männlich geprägte westliche Denken, für das die lineare Erzählung sowohl ein Symptom als auch ein Wegbereiter ist. Es fällt jedoch auf, daß in den Voraussetzungen zwar der Versuch unternommen wird, ein Netzwerk der Schreibimpulse einzufangen, die Argumentationslinie aber, die zur Entwicklung des Konzepts weibliches Schreiben führt, durchaus in dem angegriffenen Denken verhaftet bleibt, auf der Grundlage von Ursache-Wirkung voranschreitet.

Der Vorwurf der Inkonsequenz hinsichtlich der Umsetzung der in den Voraussetzungen entwickelten Forderungen in der Erzählung Kassandra ist häufig formuliert worden. Sowohl formal als auch inhaltlich ist bezweifelt worden, daß sich Christa Wolfs Gestaltung des mythologischen Stoffes derart radikal von den Vorlagen absetzt, wie sie es anstrebt. Fraglich ist also, in welchem Verhältnis Kassandra und ihre Voraussetzungen zueinander stehen . Handelt es sich wirklich um das Scheitern eines Konzeptes? Ist die Autorin in der Lage, den Prozeß der Objektivierung aufzuheben und die Subjektivität von Erfahrung zu retten?

2.1 Subjektive Authentizität

Dem Postulat der Objektivität setzt Christa Wolf die Forderung nach subjektiver Authentizität entgegen. Die Entstehungsgeschichte eines Werkes ist immer in der persönlichen Erfahrung begründet, „erzählen, das heißt: wahrheitsgetreu zu erfinden auf Grund eigener Erfahrung.“ (DdA Bd.2, 481) Der Autor/die Autorin bleibt persönlich von dem betroffen, was zu erzählen ist, so daß keine Objektivierung des Stoffes, keine Spaltung von Erzähltem und Erzähler eintritt. Erst dadurch entstehen die vier Dimensionen, die insbesondere moderne Prosa auszeichnen.

„der erzählerische Raum [hat] vier Dimensionen [...]; die drei fiktiven Koordinaten der erfundenen Figuren und die vierte, `wirkliche´ des Erzählers. Das ist die Koordinate der Tiefe, der Zeitgenossenschaft, des unvermeidlichen Engagements, die nicht nur die Wahl des Stoffes, sondern auch seine Färbung bestimmt.“ (DdA Bd.2, 487)

Die vierte Dimension also ist es, die den Mehrwert von Literatur bestimmt, die verantwortlich ist für den Gestaltungswillen des Autors/der Autorin. Diese Bestimmung durch Engagement und Zeitgenossenschaft führt zu dem, was Christa Wolf `phantastische Genauigkeit´[4] (vgl. DdA Bd.2, 488) nennt. Es geht also keineswegs darum, die Phantastik zugunsten von teleologisch-politischem Erzählen einzuschränken, aber diese Phantastik wird nur dann sinnhaft, wenn eben jenes Moment der subjektiven Einbezogenheit dem Werk Tiefe verleiht.

Eben jenen Prozeß der Anverwandlung eines gegebenen Stoffes durch Erleben schildert Christa Wolf in den Voraussetzungen. In dieses persönliche Erleben ist ausdrücklich die Lektüreerfahrung des antiken Textes einbezogen.[5] Die Erlebnisse der Griechenlandreise und die `Begegnung´ mit der literarischen Figur Kassandra bleiben aufeinander bezogen. Sinnlich/körperliche Erfahrungen werden nicht verabsolutiert, stattdessen soll in einem ständigen Abgleich mit theoretischen Überlegungen und literarischen Vorlagen eben jene phantastische Genauigkeit erlangt werden, deren es für die Gestaltung der Erzählung bedarf.

Die Erzählung Kassandra stellt eine Verdoppelung dieser Perspektive subjektiver Authentizität dar, indem einerseits Christa Wolfs Zugang zum Stoff personal erfolgt und andererseits die Rekapitulation der inneren und äußeren Ereignisse in Troia in einem hoch subjektiven inneren Monolog geschieht. Die Wahl der Darstellungsweise folgt also konsequent aus der Involviertheit der Autorin.

Fraglich bleibt jedoch, inwieweit der Anspruch, die Figuren nicht zu Objekten zu degradieren, eingelöst wird und werden kann. Häufig entsteht gerade in den Voraussetzungen der Eindruck, daß die mythologische Kassandra-Figur als Projektionsfläche für gesellschaftspolitische Zusammenhänge gebraucht wird. In der Literatur, die notwendigerweise, wenn sie zeitlich überdauern soll, beispielhaft arbeitet, bemißt sich der Wert einzelner Figuren eben nach ihrem Beispielcharakter. So kann nur schwerlich eine Subjektivität, die über einen Modellcharakter hinausgeht, erhalten bleiben.

Dies bedeutet aber keinesfalls, daß die literarische Figur nicht im Aneignungsprozeß des Lesens als Subjekt erfahren werden kann. Das notwendige Einschrumpfen personalen Erlebens aufs Exempel kann im Vorgang der Rezeption aufgehoben werden, und damit entsteht für den Leser/die Leserin wieder eine subjektive Erfahrung. Trotzdem sollte sich die Autorin dieses Extraktionsprozesses bewußt sein. Mit ihrer Forderung, Kassandra nicht als Objekt, sondern als Subjekt zu behandeln, schafft Christa Wolf Erwartungen, die nicht zu erfüllen sind.

2.2 Scheitern eines Konzepts?

Das Mißlingen der Umsetzung der in den Voraussetzungen formulierten `poetologischen´ Überlegungen in der Erzählung Kassandra ist Christa Wolf sowohl auf formaler, als auch auf inhaltlicher Ebene vorgeworfen worden. Ihr übergeordnetes Ziel, Erklärungen für die Entfremdung des modernen Menschen, seine Spaltungen, in der phylogenetischen Entwicklung von der (nicht letztlich bewiesenen) matriarchalen Vorzeit hin zum Patriarchat zu finden, führt bisweilen zu einer Stringenz in der Erzählung, die sie in ihrem Programm zu überwinden sucht.

In Kassandra hat Christa Wolf eine Figur gefunden, in der sie `ihr Geschlecht zum Glauben an sich selber kommen´ läßt. Bei diesem Entwurf bzw. unter diesem Glauben ist allerdings die Suche nach einer anderen Art zu erzählen, nach einer nicht-heroischen Literatur, auf der Strecke geblieben.[6]

Auf der Ebene der Erzählstruktur läßt sich beobachten, daß das anfängliche Bemühen, den linear-chronologischen Erzählfluß durch ein assoziatives Netz zu ersetzen, gegen Ende der Erzählung immer mehr einem geordneten, dem Ende entgegenstrebenden Stil weicht. Die angestrebte Mannigfaltigkeit wird außerdem durch die Wahl des subjektiv beschränkten inneren Monologs eingeschränkt. Das Postulat der Subjektivität kann so zwar erfüllt werden, aber der Blick auf die Geschehnisse in Troia bleibt stets an eine Perspektive gebunden, eine Perspektive zumal, die sich häufig als die einzig richtige geriert. „Nicht gemeinsame Suche nach neuen Mustern der Wirklichkeitserfahrung, sondern Präsentation von richtiger Deutung der Wirklichkeit bestimmt die Erzählstruktur.“[7]

Die innerpsychische Vielfalt wird zwar überzeugend dargestellt, indem sich Kassandra schonungslos ihrer inneren Zerrissenheit und den Widersprüchen ihres Handelns stellt. Die politisch-sozialen Geschehnisse jedoch sind nur unter der Deutungsperspektive Kassandras richtig zu verstehen. Mechthild Quernheim sieht den Leser/die Leserin sogar vor die Alternative gestellt, Kassandras Sichtweise zu übernehmen oder auf Seiten Achills zu geraten[8]. Diese zunächst überzeugende Dichotomie übergeht allerdings das letzte `wir´ zu dem Kassandra in ihrem inneren Monolog gelangt. Jenes `wir´ schließt ausdrücklich Achill, das Vieh, ein und verwischt so die zuvor sorgfältig gezogenen Grenzen zwischen `Freund´ und `Feind´. Die Bedeutung dessen wird noch hinsichtlich Kassandras Entwicklung zu diskutieren sein.

Letztlich scheint sich in die Gestaltung der Kassandra-Figur doch ein Hang zur Objektivierung, eine Degradierung zum Exempel einzuschleichen, der laut `poetologischem´ Programm vermieden werden sollte. Der Anverwandlungsprozeß wird getrübt durch sozial-politische Erkenntnisse, die in der Erzählung vermittelt werden sollen.

Sie [Christa Wolf] macht Kassandra zum Objekt, indem sie vorgibt, die Wahrheit über sie zu wissen – im Gegensatz zu den männlichen Imaginationen, die, ihrer Meinung nach, die Figur subjektiv verzerrt haben.[9]

Beachtet man allerdings die stoffliche Ausgangsposition, so muß man konstatieren, daß hier ebenfalls eine intentional gestaltete und damit reduzierte Figur geboten wird. Christa Wolf nimmt demzufolge keine Reduktion einer für sie direkt erfahrbaren Person zu einer literarischen Figur vor. Vielmehr geht ihr Bestreben dahin, der Reduzierung entgegen zu wirken und die Darstellung um subjektive Eigenschaften zu erweitern.

Inhaltlich bereitet in der Sekundärliteratur vor allem der Gang Kassandras in den Tod Probleme. Kassandra findet offensichtlich keinen Weg, aus den Dichotomien hin zu einem `Dritten´, Leben, d.h., „die Alternative zwischen Martyrium und Unterwerfung, gegen den Wolf in ihren theoretischen Äußerungen so heftig polemisiert, bleibt in der poetischen Praxis bestehen.“[10] Kassandra sieht sich damit in die Position versetzt, sich zu opfern oder ein den patriarchalen Bedingungen untergeordnetes Leben zu führen. Diesem Dilemma auf der Figurenebene entspricht auf Seiten der Autorin die Problematik, Kassandra entweder zur Heroin oder zur Gescheiterten werden lassen zu müssen. Insbesondere die Heroisierung im Epos sieht Christa Wolf in den Voraussetzungen als Zeichen patriarchalen Gebärdens.

Erst als Besitz, Hierarchie, Patriarchat entstehn, wird aus dem Gewebe des menschlichen Lebens [...] jener eine blutrote Faden herausgerissen, wird er auf Kosten der Gleichmäßigkeit des Gewebes verstärkt: die Erzählung von der Heroen Kampf und Sieg oder Untergang. Die Fabel wird geboren. Das Epos, aus den Kämpfen um das Patriarchat entstanden, wird durch seine Struktur auch ein Instrument zu seiner Herausbildung und Befestigung. Vorbildwirkung wird dem Helden auferlegt, bis heute. (V, 170f.)

So bleibt die Frage, warum sie die stoffliche Vorlage nicht verändert hat. Hat sie letztlich doch der Last des Mythos nachgegeben? Wäre es nicht für einen Gegenentwurf vonnöten gewesen, von der stofflichen Vorlage abzuweichen, die sich allerdings bei mythischen Stoffen immer schon durch große Divergenzen verschiedener Überlieferungen auszeichnen? Christa Wolf hat sich ihren eigenen Angaben zufolge in erster Linie auf die Bearbeitung Robert Ranke-Graves gestützt, was ihr eine wissenschaftlich umstrittenen Basis liefert.

„Der große Wurf der Gegengeschichte, der sich selbst als Arbeit der Intertextualität gibt, scheitert an der Vielschichtigkeit der überlieferten Varianten, weil er sie – mit dem Stichwortgeber Graves – ausblendet oder zurichtet.“[11]

3 Subjektwerdung und Sehertum

3.1 Spaltungen

Die Gesellschaft und die Menschen in Kassandra sind vielfach gespalten. Es gehen Risse durch das soziale System, die zwischen Frauen und Männern, zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen matriarchaler (Ur-)kultur und patriarchaler Ordnung verlaufen. Es gibt nicht nur eine Realität in Troia, sondern eine Vielzahl. „Wie viele Wirklichkeiten gab es in Troia noch außer der meinen, die ich doch für die einzige gehalten hatte.“ (K, 25)

Dieser Vervielfachung der äußeren Wirklichkeiten entspricht eine innerpsychische Spaltung der Personen, der Kassandra in ihrem inneren Monolog nachgeht. Ihre eigenen ursprünglichen, weit zurückliegenden Spaltungserfahrungen sind der Tod ihres Bruders Aisakos und die darauffolgende Reaktion des Palastes sowie der Deflorationsritus im Tempelbezirk der Athene. Beide Erlebnisse stehen symbolhaft für eben jene innere Zerrissenheit, die Kassandra aufgrund der äußeren Bedingungen durchleben muß. Der Selbstmord ihres Bruders, der in der offiziellen Darstellung des Hofes nicht als Verzweiflungstat stehenbleiben kann und deshalb in einen Mythos eingekleidet wird, konfrontiert Kassandra zum ersten Mal mit der Situation, mit ihrer Umwelt nicht übereinzustimmen. Sie weigert sich, die verbreitete Geschichte, Aisakos sei in einen Vogel verwandelt worden, zu glauben und reagiert auf den Verlust emotional, ohne Kalkül.

Ich allein – wie konnt ich es vergessen: Das war das erstemal! – ich allein wand mich tage- und nächtelang schreiend, in Krämpfen auf meinem Lager. Selbst wenn ich es hätte glauben können, aber ich glaubte es nicht, daß mein Bruder Aisakos ein Vogel war; daß die Göttin Artemis, der man Seltsamkeiten zutraute, ihm, indem sie ihn verwandelte, seine innigste Sehnsucht erfüllt habe: Ich wollte keinen Vogel anstelle meines Burders. (K, 51)

Gleichzeitig erfährt sie sich erstmalig als Einzelwesen, als Individuum, das aus einer symbiotischen Beziehung herausgerissen wird. Dieser in gewissem Grade zur Ausbildung einer Persönlichkeit notwendige Prozeß wird durch die Vertuschungsstrategie der Palastwelt traumatisch besetzt. Aisakos wird in seiner Schwäche nicht akzeptiert, er muß nachträglich zum Helden stilisiert werden. Die Tendenz zur Heroisierung wider Willen, die Kassandra später im Krieg in Troia beobachtet, ist hier bereits angelegt, und schon als Kind gerät sie deshalb in Konflikt mit ihrem Umfeld.

Ebenso einschneidend ist die Erfahrung der Entjungferung, die sie deutlich die Trennung von Männern und Frauen, die Degradierung der Frau zum Objekt erfahren läßt. Zusammen mit anderen Mädchen sitzt sie im Tempelbezirk der Athene und wartet darauf, von Männern `gewählt´ zu werden. Neben das Gefühl der Ohnmacht und Passivität tritt wieder die Erfahrung der Vereinzelung. Auch die Mädchen untereinander haben `nichts miteinander zu tun´.

An einem Tag kriegte ich fürs Leben genug von Männerbeinen, keiner ahnte es. Ich spürte ihre Blicke im Gesicht, auf der Brust. Nicht einmal sah ich mich nach den anderen Mädchen um, die nicht nach mir. Wir hatten nichts miteinander zu tun, die Männer hatten uns auszusuchen und zu entjungfern. (K, 20)

Objekt zu sein „ist die `Signatur´ für Frauenleben in Troia“[12]. Die an der Oberfläche homogen wirkende Realität, die Kassandra in ihrer Kindheit und Jugend erlebt, ist bereits tief von Spaltungen durchzogen. Diese Tendenz wird durch die fortschreitende Zerstückelung Troias in widerstreitende gesellschaftliche Kräfte noch verstärkt. Kassandra wird einerseits durch ihren `Hang zur Übereinstimmung´ mit ihrer Familie und andererseits durch `Gier nach Erkenntnis´ bestimmt. (vgl. K, 74) Durch den Sieg patriarchaler Strukturen in Troia und der damit einhergehenden voranschreitenden Unterdrückung der Frau wird ihre Übereinstimmung mit den Herrschenden intellektuell unmöglich, auch wenn sie sie emotional nie wirklich überwinden kann.

Nun war in mich, in Hekabe die Königin, in die unglückliche Polyxena, in alle Schwestern, ja in alle Frauen Troias der Zwiespalt gelegt, daß sie Troia hassen mußten, dessen Sieg sie wünschten. (K, 92)

Auch die Frauen der matriarchal geprägten Gegenkultur am Skamander bleiben also in der Gesellschaft Troias verhaftet. Der Wunsch nach einem Sieg Troias bleibt bestehen, einerseits sicherlich weil die griechische Gesellschaft keine Alternative bietet, andererseits scheint jedoch die Macht der Sozialisation so ungebrochen, daß kein dauerhaftes Gegenmodell entwickelt werden kann. So entsteht ein Gefühlszwiespalt, der für Kassandra unweigerlich an Bewußtsein geknüpft ist, weil die Wahrnehmung einer gespaltenen Umwelt nur zu innerlichen Rissen führen kann. Diese Spaltungen zu überwinden gelingt ihr bis zum Ende nicht, denn dies hieße in ihrem Fall, sich Angst und Schmerz auszuliefern.

Werd ich, um mich nicht vor Angst zu winden, um nicht zu brüllen wie ein Tier [...] – werd ich denn bis zuletzt, bis jenes Beil. – Werd ich denn noch, wenn schon mein Kopf, mein Hals – werd ich um des Bewußtseins willen bis zuletzt mich selber spalten eh das Beil mich spaltet, werd ich – Warum will ich mir diesen Rückfall in die Kreatur bloß nicht gestatten. (K, 27f.)

3.2 Sehertum

In der mythischen Vorlage gibt es zwei Erklärungsmodelle für Kassandras Sehergabe. Die eine Version besagt, daß Kassandra und ihr Bruder Helenos als Kinder im Tempel des Apollon spielten, wo ihnen die heiligen Schlangen die Ohren und den Mund leckten und ihnen so die Sehergabe verliehen. Die andere lautet, daß sich Apollon in Kassandra verliebte und sie die Kunst der Weissagung lehrte, sie allerdings, als sie ihn verschmähte, mit dem Fluch belegte, die Wahrheit zu prophezeien ohne Gehör zu finden. Der Wandel des Mythos zeigt deutlich die Reduktion der Frau zum (Sexual-)Objekt in Kontrastierung zum Ideal der Geschwisterlichkeit, dem Einklang der Geschlechter. Eine Veränderung, die auch Kassandra in ihrer Jugend erfahren hat. Jäh aus der Symbiose mit ihrem Bruder gerissen, sieht sie sich mit dem Entjungferungsritual konfrontiert.

[...]


[1] Didon 1992, 35

[2] ebd., 32

[3] Interview Radio Bremen (im Internet zugänglich), 3

[4] Christa Wolf entlehnt diesen Begriff Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften.

[5] Christa Wolf hat schon in ihrem berühmten Essay Lesen und Schreiben (DdA Bd. 2, 463-503) Lesen als persönliches Erleben `realen´ Erfahrungen gleichgestellt.

[6] Weigel 1989, 171

[7] Quernheim 1990, 343

[8] vgl.ebd., 343

[9] ebd., 345

[10] Heidelberger Leonard 1994 , 134

[11] Preußer 1994, 79

[12] vgl. Helmtrud Mauser 1985, 296

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Details

Title
Wer wird, und wann, die Sprache wiedererfinden - Spaltungen, Zeichen und Körper in Christa Wolfs Kassandra
College
RWTH Aachen University  (Germanistisches Institut - Lehrstuhl für NDL)
Course
Hauptseminar: Christa Wolf: Die Arbeit am Mythos
Grade
1,0
Author
Year
2001
Pages
37
Catalog Number
V17428
ISBN (eBook)
9783638220088
File size
667 KB
Language
German
Keywords
Sprache, Spaltungen, Zeichen, Körper, Christa, Wolfs, Kassandra, Hauptseminar, Christa, Wolf, Arbeit, Mythos
Quote paper
Meike Adam (Author), 2001, Wer wird, und wann, die Sprache wiedererfinden - Spaltungen, Zeichen und Körper in Christa Wolfs Kassandra, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17428

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