Mit dem Siegeszug der digitalen Fotografie erfährt die Diskussion um die Möglichkeit der
Einschreibung des Realen in das Medium der Fotografie und damit insbesondere die für
das fotografische Dokument angenommene spezifische Verbindung zur Wirklichkeit neuen
Aufschwung. Unabhängig davon, ob die technische Neuerung als radikaler Bruch und damit
als Eintritt in eine postfotografische Ära gewertet wird oder sie den schon immer begründeten
Argwohn gegenüber dem Wahrheitsanspruch der Fotografie lediglich aktualisiert, ist die
Feststellung, dass den Bildern nicht zu trauen sei, inzwischen zum Gemeinplatz geworden.
Paradoxerweise hat der Zweifel an ihrem dokumentarischen Wert keinesfalls den Verzicht
auf Fotografien als Mittel des Erkenntnisgewinns zur Folge, sondern ist vielmehr Auslöser
einer dokumentarischen ‘Bilderflut’ innerhalb der zeitgenössischen Kultur, besonders in den
Medien, wo ihre Macht nach wie vor ungebrochen scheint. Vor allem aber ist in jüngerer Zeit
eine Proliferation des Dokumentarischen innerhalb des Kunstfeldes zu beobachten. Seit den
1990er Jahren erfreut sich die Dokumentation dort starker Popularität, an mancher Stelle wird
gar ein Paradigmenwechsel in Form eines „documentary turn“ ausgerufen. Dass es sich dabei
nicht um eine naive Rückkehr zu einem unkomplizierten fotografischen Realismus handelt,
belegen die zahlreichen Ausstellungen der letzten Jahre, die Titel wie Reality Check (Hamburg
2002), After the Fact (Berlin 2005) oder Documentary Creations (Luzern 2005) tragen und sich
mit dem veränderten Verständnis vom Verhältnis zwischen fotografisch konstruierter Realität
und außer- oder vorfotografischer Welt auseinandersetzen. [...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- I Ikonoklasten
- Alfredo Jaar: Real Pictures
- Susan Meiselas: Kurdistan: In the Shadow of History
- II Hyperrealisten
- Luc Delahaye: History
- Taryn Simon: An American Index of the Hidden and Unfamiliar
- III Archivare
- Peter Piller: Archiv Peter Piller
- Penelope Umbrico: Suns from Flickr
- IV Künstliche Dokumente
- Walid Raad: The Atlas Group Archive
- Randa Mirza: Parallel Universes
- Dokumentarische Reflexionen: Resümee und Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Analyse dokumentarischer Strategien in der zeitgenössischen Fotografie. Sie untersucht, wie Künstler*innen mit der Vermitteltheit dokumentarischer Wahrheit umgehen, ihre Arbeiten von früheren Formen der Fotografie abgrenzen und das Dokumentarische jenseits der Fakten betrachten. Die Arbeit analysiert die Auswirkungen und Strukturen des fotografischen Dokuments und reflektiert die spezifischen Eigenschaften eines im Kunstfeld situierten Dokumentarismus.
- Vermitteltheit dokumentarischer Wahrheit
- Abgrenzung von früheren Formen der fotografischen Dokumentation
- Das Dokumentarische jenseits der Fakten
- Effekte und Strukturen des fotografischen Dokuments
- Eigenschaften eines im Kunstfeld situierten Dokumentarismus
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit untersucht vier verschiedene dokumentarische Strategien in der zeitgenössischen Fotografie: Ikonoklasmus, Hyperrealismus, Archivierung und die Konstruktion künstlicher Dokumente.
- Ikonoklasten: Dieses Kapitel analysiert die Arbeiten von Alfredo Jaar (Real Pictures) und Susan Meiselas (Kurdistan: In the Shadow of History). Es zeigt, wie die bildstürmerische Geste des Verzichts auf die Darstellung von problematischen Wahrheiten zu neuen Dokumentationsformen führt.
- Hyperrealisten: Dieses Kapitel untersucht die Werke von Luc Delahaye (History) und Taryn Simon (An American Index of the Hidden and Unfamiliar). Es beleuchtet die Frage, ob visuell spektakuläre Fotografien, die sich durch Schärfe, Größe und satte Farbigkeit auszeichnen, objektive Fakten darstellen können, oder ob ihr ungewöhnlicher Stil ein Anliegen jenseits der dokumentarischen Evidenz verfolgt.
- Archivare: Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Arbeiten von Peter Piller (Archiv Peter Piller) und Penelope Umbrico (Suns from Flickr). Es analysiert, ob die künstlerische Aneignung der archivalischen Methode eine ironische Wiederholung der Wissensbildung oder eine Reflexion über die epistemische Autorität der archivarischen Ordnung darstellt.
- Künstliche Dokumente: Dieses Kapitel untersucht die Arbeiten von Walid Raad (The Atlas Group Archive) und Randa Mirza (Parallel Universes). Es analysiert die Dokumentationsabsicht, die jenseits der Evidenz verfolgt wird, indem der Wahrheitsanspruch der Dokumente negiert wird.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit dokumentarischen Strategien in der zeitgenössischen Fotografie, ikonoklastischer Geste, hyperrealistischem Stil, archivalischen Methoden, künstlichen Dokumenten, Vermitteltheit dokumentarischer Wahrheit, epistemischer Autorität, Dokumentationsabsicht jenseits der Fakten.
- Quote paper
- Julia Linda Schulze (Author), 2010, Jenseits der Fakten. Zu dokumentarischen Strategien in der zeitgenössischen Fotografie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/174566