Postmortalitätsvorstellungen der "Azteken" im Vergleich zu den Postmortalitätsvorstellungen der Katholiken in Zamora, Kastilien im 16. Jhd.


Dossier / Travail de Séminaire, 2010

59 Pages, Note: 1,0


Extrait


1 Einleitung

Das Totentagsfest in Mexiko, welches von der UNESCO 2003 zum geistigen Weltkulturerbe ernannt wurde, trägt in sich all die Spannungsfelder, mit denen die Mestizen-Nation Mexiko als Erbe einer Kolonialvergangenheit zu kämpfen hat.

An der Dynamik und Entwicklung des Festes über die Jahrhunderte und den über das Fest geführte Diskursen lassen sich viele der Konflikte ablesen, mit denen die Mexikaner heutzutage zu kämpfen haben. Vor allem der Kampf darum, zu definieren, was mexikanisch-sein bedeutet, was die Nation eint und definiert, wird in der Auseinandersetzung mit der Bedeutung dieses Festes erkennbar. Der Frage nachzugehen, warum diese Art den Toten zu gedenken scheinbar so einzigartig für Mexiko ist, führt womöglich zu einer Erklärung, wie sich daraus ein Pfeiler für die Bildung einer Nationalidentität ableiten lässt.

Die meisten Nationen, die nach einer Kolonialvergangenheit im 19. Und 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erlangten, arbeiten immer noch daran, einen Umgang mit den Brüchen und Umwälzungen in der eigenen Geschichte zu finden. Es gilt, nach der Unabhängigkeit eine kulturelle Vergangenheit aus der Zeit vor der Kolonialisierung und eine Kolonialperiode, in der eine teilweise durch Gewalt induzierte Vermengung zweier Kulturen zu völlig neuen Kulturelementen führte, zu identitätsgenerierenden Narrativen zu vereinigen, welche der neu entstandenen Nation eine Abgrenzung von der Kolonialmacht ermöglichen, sie mit ihrer Vergangenheit versöhnen und den heterogenen Bevölkerungsgruppen Symbole liefern, anhand derer sie sich als ein Volk definieren können.

Das Projekt, eine Nation zu bilden ist aber auch ein typisch westliches Projekt, welches vielen Gruppen immer noch suspekt bleibt da es ihrem Denken nicht eigen ist. So gibt es in Mexiko zahlreiche Dorfgemeinden mit Autonomiebestrebungen; die meisten von ihnen setzen sich aus indigener Bevölkerung zusammen. Da in vielen ländlichen Gebieten die Völkerdurchmischung (mestizaje) ausblieb, weil die Spanier sich eher in den Städten gruppierten, fühlen sich viele dieser Gemeinden auch nicht in einem Nationalprojekt eingebunden, welches oft als ein mestizo Projekt gekennzeichnet wird.

Für diese Gemeinden spielen Traditionen eine sehr große Rolle als für das Dorf identitätsstiftende Aktivitäten. Über die Teilhabe an religiösen Festen und Ritualen und einen narrativen Bezug zu „eigenen“ Traditionen lässt sich Zugehörigkeit zu einer Dorfgemeinde definieren und Abgrenzung zu andersartigen Gemeinden herstellen.

Man kann nun sagen, dass das Totentagsfest einen Platz inmitten dieses Spannungsfeldes einnimmt. Die genaue Ausprägung der Feierlichkeiten variiert etwas von Region zu Region und gravierend zwischen Stadt und Land. Für viele in Dörfern lebende Menschen bedeutet es nicht nur die Pflege einer Tradition - und des Traditionsbewusstseins überhaupt - sondern auch die Pflege der Verwandtschaftsbeziehungen über den Tod hinaus. Es wird so gefeiert „wie es die Ahnen einen beigebracht haben“, die im Fest auch mit verehrt werden. In der Stadt hingegen ist das Fest umgeben von Diskursen und Symbolen der Nationalen Identität und wird eher als ein Topos zum künstlerischen Ausdruck verstanden und gefördert. Es sind nicht die einzelnen Familien, die traditionelle Praktiken ausüben um ihrer Toten zu gedenken und sich als Teil einer Gemeinschaft zu begreifen, sondern Kunstzentren, Museen, öffentliche Plätze und Gebäude, welche eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema fördern. Dies ist immer auch im Kontext der touristischen Vermarktung zu betrachten.

Ein weiteres damit zusammenhängendes Spannungsfeld, das hier von besonderem Interesse ist, ist der religiöse Synkretismus[1]. Das Christentum wurde mit der Eroberung und der Macht der Kolonialstruktur in ganz Mexiko verbreitet und wurde der nativen Bevölkerung teils als überlegener Heilsbringer verkauft, teilweise aber auch mit Gewalt oktroyiert. Die Missionierung, die auch durch sehr verschiedene Ordensgemeinschaften durchgeführt wurde, zeigte unterschiedliche Erfolge. In manchen Gegenden wurde der neue Glaube besser aufgenommen und in das eigene Leben integriert als in anderen, wo er vielleicht nur oberflächlich übernommen wurde um im Hintergrund die eigenen Praktiken fortzusetzen. Mancherorts war der Widerstand größer und die Gewalt verstärkte nur das spätere Festhalten an den alten Glaubensvorstellungen. An manche Orte kamen die Missionare sehr spät oder gar nicht. So heterogen wie die Bevölkerung ist, so ist auch das Christentum in Mexiko, das auf viele verschiedene Arten

Symbiosen im Austausch mit den vorher praktizierten Religionen einging. Ich rede hier auch von Religionen und nicht Religion, denn trotz der aztekischen Dominanz über Zentralmexiko zu dem Zeitpunkt der Eroberung existierte ein sehr pluralistisches religiöses Feld. Einerseits übten die Azteken nur eine ökonomische und militärische Dominanz aus und beließen die örtlichen politischen Systeme und religiösen Praktiken und Glaubensvorstellungen. Anderseits bezogen die Azteken auch vieles aus ihrer eigenen Religion auf Vorgängerkulturen und pflegten Ideenaustausch mit verschiedenen Völkern und integrierten dabei auch teils derer Glaubensvorstellungen (Prem 2003, 21 ff.).

Dass es sich bei den Feierlichkeiten rund um den Día de los Muertos um „synkretistische“ Praktiken handelt wird allgemein als Fakt angesehen und zwar nicht nur im bisherigen wissenschaftlichen Diskurs, sondern das ist auch Teil des öffentlichen Diskurses. Das Spannende aber ist, mit welcher Gewichtung in den jeweiligen Diskursen die Wurzeln in der einen oder in der anderen religiösen Tradition gesehen werden. Für viele Nationalisten und Intellektuelle, die sich aktiv und bewusst an der Konstruktion der Nationalidentität beteiligen, sind die Wurzeln eindeutig in der präkolonialen Vergangenheit zu verorten. Dies ermöglicht einen Kontinuitätsdiskurs zu einem kulturellen Erbe zu konstruieren, der älter ist als die Periode der Kolonialzeit. Dieser dient als ein gewichtiger Pfeiler für die Identität einer von der spanischen Kultur unabhängigen Nation. Diese diskursive Position wurde aber auch Jahrzehnte lang in der wissenschaftlichen Literatur reproduziert, die eine Faszination pflegte für das Exotische der Feierlichkeiten, die so wenig mit der katholischen Orthodoxie zu vereinbaren sind. Erst die von postkolonialen Theorien geprägten Wissenschaftler begannen in den letzten zwanzig Jahren die Dominanz der christlichen Elemente herauszuarbeiten (Brandes 1997, 1998; Lomnitz 2005). Ob es nun mehr christlich oder präkolumbinisch ist, ist schwer zu bestimmen und nicht die entscheidende Frage. Eine Analyse der Konstruktionen, die für die jeweiligen Identitätsdiskurse verwendet werden, bleibt die eigentlich interessante Fragestellung.

Um sich diesen Fragen aber zu widmen, lohnt es als Vorarbeit einen genaueren Blick auf die Traditionen zu werfen, welche sich dann im kolonialen Setting begegnet sind. Anhand eines Vergleiches der in diesen Traditionen vorhanden Vorstellungen von Tod, Totengedenken und dem Leben nach dem Tod lassen sich womöglich die Elemente herausarbeiten, die als Kontaktfläche für fruchtbare Austauschprozesse besonders geeignet waren. Daraufhin kann anhand der Unterschiede bei der späteren Untersuchung eines konkreten Fallbeispiels in einer Gemeinde festgestellt werden, wie sehr ausgeprägt der Bezug zu der einen oder anderen Tradition ist und was dies dann für eine Rolle bei der Identitätsfindung spielt. Dies erscheint mir deshalb als ein gelungenes Beispiel, um die in der Religionswissenschaft umstrittene Methode der Komparatistik auf ihre Hilfe bei der Erkenntnisgewinnung an einem bestimmten Problem hin zu testen.

Die komparatistische Arbeit soll also Aufschluss über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Postmortalitätsvorstellungen in beiden Kulturen geben um dann später in der Magisterarbeit die diskursiven Positionen in den oben genannten Spannungsfeldern zu bestimmen.[2]

In der vorliegenden Arbeit soll also zunächst in Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen aus der um die Komparatistik geführten Debatte eine heuristische Herangehensweise ausgearbeitet werden. Anhand der gewonnenen Begriffe und Kategorien sollen dann die beiden Fallbeispiele entsprechend kontextualisiert dargestellt werden. Das erste Fallbeispiel behandelt den Schöpfungsmythos, die Vorstellungen über Orte der postmortalen Existenz und ein Beispiel für ein Bestattungsritual im Rahmen dessen, was als „Aztekische Religion“ überliefert ist. Da während der conquista alle Primärquellen zur „Religion“ der Azteken vernichtet wurden, muss dem Kapitel eine Problematisierung der Quellenlage vorangestellt werden. Als zweites Fallbeispiel werden die Vorstellungen und Praktiken in Bezug auf Sterben und Jenseitsvorstellungen christlicher Gemeinden in der Provinz Zamora im 16. Jahrhundert dargestellt. Die Auswahl geschieht aus pragmatischen und heuristischen Gründen im Sinne einer „lokalen Religionsgeschichte“(Kippenberg 1995), also eine Begrenzung in der Zeitspanne und der räumlichen Ausbreitung. Als Quelle dient eine Studie von Lorenzo Pinar (Lorenzo Pinar 1991), die Testamente gläubiger Laien in der Provinz Zamora untersucht. Es ist allerdings davon auszugehen, dass die Gruppe an Menschen - und damit ihre Vorstellungen - die nach Mexiko ins Kolonialgebiet eingewandert sind, heterogener ist als die hier untersuchte Gruppe. Auch muss bedacht werden, dass die Christianisierung in der Kolonie primär von religiösen Spezialisten vorangetrieben wurde und die Glaubensvorstellungen und Praktiken der Spanier zunächst weniger in Kontakt kamen mit den kolonialisierten Einwohnern. Das heißt, dass in der vorliegenden Arbeit zwei Beispiele verwendet werden, die in keinerlei kulturellem Kontakt oder Austausch standen aber im selben Zeitraum angesiedelt sind.

Im letzten Kapitel werden dann die geschilderten Vorstellungen miteinander verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu bestimmen.

2 Postmortalitätsvorstellungen - Eine komparatistische Kategorie

Ob und wie eine religionswissenschaftliche Komparatistik möglich ist, ist Gegenstand Jahrzehnte andauernder innerfachlicher Debatten. Die Anfänge der Disziplin selbst gründeten in der vergleichenden Philologie von Friedrich Max Müller und mündeten zunächst in den stark universalisierenden und essentialisierenden Entwürfen der Religionsphänomenologen. Die Vorgehensweise von Gerardus van der Leeuw, Mircea Eliade und ihren Nachfolgern geriet aber zunehmend in Kritik und damit drohte das gesamte Unterfangen des Vergleichens als nicht durchführbar für die Religionswissenschaft aufgegeben zu werden. Der Verzicht auf eine überregionale vergleichende Praxis und Theoriebildung droht aber dem Selbstverständnis des Faches und stellt sogar hochschulpolitisch sein Existenzrecht in Frage. Ohne die Möglichkeiten des Vergleichens würde die Religionswissenschaft in eine Sammlung einzelner Regionalwissenschaften ohne eigene Theoriebildung und Methode verfallen. Selbst Jonathan Z. Smith, der mit seinem Aufsatz In Comparison a Magic Dwells (Smith 1982) eine grundlegende Kritik an den unterschiedlichen Methoden des Vergleiches innerhalb der Religionswissenschaft übt und damit die Debatte auslöst, sieht die Komparatistik als essentielle Aufgabe der Religionswissenschaft (Smith 1982, 35), obwohl er selbst keinen Vorschlag unterbreitet, wie ein solches Unterfangen gelingen könnte.

Smith kritisiert vor allem, dass bei den meisten komparatistischen Ansätzen das Augenmerk zu sehr auf die Gemeinsamkeiten gelegt würde und den Versuch, diese zu erklären, und dass die Unterschiede völlig unterschlagen würden (Smith 1982, 21). In dem meisten Fällen würden vor allem Theorien generiert, welche die Analogien versuchten kausal zu erklären, egal ob das nun Diffusions- oder Kontaktmodelle seien (Smith 1982, 22). Solche Genealogien gingen aber immer von einer „originellen Religion“ aus, von der die unterschiedlichen Religionen dann divergierten oder konvergierten, jene seien aber der anthropologischen oder historischen Forschung nicht zugänglich und so als retrospektive Konstrukte zu betrachten (Martin 2000, 51).

Smith kategorisiert die komparatistischen Herangehensweisen in vier Gruppen und zeigt jeweils ihre Schwachstellen auf. Bei dem „ethnographischen“ Modell bemängelt er, dass es sich dabei um eine sehr intuitive und idiosynkratrische Form des Vergleiches handle, in dem Reisende abhängig von ihrem eigenen Erfahrungshorizont Dinge, die ihnen als anders oder ähnlich zu dem eigenen Heimatland auffallen, in einen Zusammenhang bringen. Dies sei so unsystematisch, dass sich daraus keine Generalisierungen erstellen lassen könnten. Die „enzyklopädische Tradition“ beschränke sich nicht auf eine einzelne Kultur, sondern trage Material aus vielen Kulturen zusammen. Die zusammengetragenen Daten würden aber ohne Erklärung oder expliziten Vergleich wahllos nebeneinander stehen als Sammelsurium, und zwar durch ihre Koexistenz zum Vergleichen einladen, aber nur kontextlose Listen bleiben. Der „morphologische“ Ansatz erlaube eine komplexere und hierarchische Anordnung der gefundenen Daten. Smith kritisiert aber, dass es eine formale Progression sei, welche die Kategorien von Zeit und Raum ignoriere und als notwendige Prämisse eine a priori Vorstellung mit wenigen Archetypen als original elements voraussetze, von denen aus dann komplexe Systeme generiert würden. Die Vergleiche würden dann anhand der aus den Archetypen deduzierten Kategorien ausgeübt. Dies sei an sich ein praktikables Modell, er habe es aber nirgends in einer überzeugenden Anwendung gefunden sobald es auf Kulturphänomene übertragen worden sei. An dem „evolutionistischen“ Ansatz kritisiert er, dass es eine illegitime Kombination des ahistorischen morphologischen Ansatzes mit der zeitlichen Entwicklungskomponente der Evolutionstheorie sei. Die Daten würden aus dem Kontext gerissen um sie dann in eine Ordnung von simpel zu komplex nach einer angeblichen Chronologie zu ordnen. Diese Herangehensweise sei kontradiktorisch in sich und müsse aufgegeben werden (Smith 1982, 22 ff.). Auch alle in den letzten zwanzig Jahren vorgeschlagenen Herangehensweisen seien lediglich Abwandlungen der vier beschriebenen Grundmodelle (Smith 1982, 26).

In Auseinandersetzung mit Smiths Kritik resümiert Barbara Holdredge die Hauptprobleme, die an den morphologischen Ansatz herangetragen wurden: Erstens würden die Differenzen nicht genügend beachtet und die Einzigartigkeit und die Integrität der einzelnen Traditionen so nicht zur Kenntnis genommen. Zweitens würde der diachronen Entwicklung nicht zur Genüge Rechnung getragen und die Phänomene als statische, zeitlose Strukturen behandelt und so jegliche Dynamik ignoriert. Drittens würden die Kontexte außer Acht gelassen, welche die Phänomene aber prägten. Als vierten Punkt wird bemängelt, dass Fragen zur kulturellen Interpretation von solchen Studien ignoriert würden (Holdrege 1994, 805 f.).

Holdrege bietet daraufhin in ihrem Artikel „Comparative Religion with a Difference“ (Holdrege 1994) ein Verfahren des Vergleichs an, das diese Schwächen umgehen soll. Sie erläutert ihre dreistufige Vorgehensweise an dem Fallbeispiel des Textvergleiches der Torah mit den Veden. In der Phase 1, Geschichte der Interpretationen, geht es darum, innerhalb der jeweiligen zu untersuchenden Traditionen den Text innerhalb des network of symbols zu verorten, und zwar in einem diachronen Rahmen, um die Wirkungsgeschichte der sukzessiven Interpretationen der symbolischen Komplexe zu analysieren (Holdrege 1994, 806). Dabei vergleicht sie ihre Methode mit der einer geologischen Stratigraphie-Analyse:

The history of Interpretations phase of my study is concerned with examining the symbolic complexes found in the core strata of texts in each tradition and cross-correlating the various strata in order to discern structural continuities as well as diachronic transformations from layer to layer. (Holdrege 1994, 807)

Diese erste Phase ist in drei Einzelschritte unterteilt. Zunächst will sie die symbolischen Formulierungen in den core strata der einzelnen Texttraditionen freilegen, indem sie mit der Analyse der ältesten Schriften beginnt und sich zu der neueren Literatur durcharbeitet. Im Zweiten Schritt sollen die im ersten Schritt herauskristallisierten Symbole synchron von jedem „Stratum“ der Literatur getrennt analysiert werden. In den nächsten beiden Schritten sollen dann die Symbole diachronisch in cross-correlation gebracht werden um die Kontinuitäten, Transformationen und Interjektionen herauszufinden. Zuerst müssen die strukturellen Kontinuitäten und die rekurrierenden Motive gefunden werden danach liegt der Fokus auf den diachronen Transformationen, die im Rahmen des historisch-kulturellen Kontextes und der aktuellen Bedürfnisse in jedem „Stratum“ geschehen sind und zu Reformulierungen in den Texten geführt haben (Holdrege 1994, 807 f.). Zum Schluss der ersten Phase sollen die Texte dann in die kulturellen Matrizen eingebettet werden indem man die Praktiken der Präservation und Appropriation der Texte analysiert (Holdrege 1994, 810).

Die zweite Phase ist dann der Vergleich der in Phase 1 gewonnenen Erkenntnisse über Strukturen in den Symbolsystemen der beiden Texte. Zunächst liegt der Fokus auf den Ähnlichkeiten und als nächster Schritt werden die Unterschiede beleuchtet. Da die Beschreibung der Schritte, die Holdredge in dieser Phase vornimmt sehr auf die Aspekte und Stellenwerte des Schriftlichen konzentrieren (Holdrege 1994, 810), sollen sie hier nicht in aller Ausführlichkeit aufgeführt werden.

In der dritten Phase soll die kulturelle Interpretation geleistet werden, also ein Versuch unternommen werden, die Ähnlichkeiten und Unterschiede in den schriftlichen Konzeptionen im

Lichte der einzigartigen „Gestalt“ der religiösen Traditionen in denen sie eingebettet sind herauszuarbeiten.

Die erste sehr aufwendige Phase scheint mir eine legitime und fruchtbare Vorgehensweise zu sein. Allerdings könnte eingewendet werden, dass sie in dieser Form nur ausführbar ist, wenn man sich mit zentralen Texten von Religionen befasst. Diese Art der Analyse auf Traditionen ohne einen elaborierten Schriftkanon zu übertragen, dürfte einige Schwierigkeiten bereiten, da man diese „Strata“ als solche kaum definieren können wird, wenn man nur einen punktuellen Zugang zu einer mündlich überlieferten Tradition hat oder nur archäologische Funde vorhanden sind. In der vorliegenden Arbeit scheint sie mir auch nicht anwendbar zu sein, da das schriftliche Material das vorliegt im Falle der Azteken nur ein Text aus einer bestimmten Zeit ist[3], der statisch ist und keine diachrone Entwicklung mehr durchläuft, da er eine Rekonstruktion aus Erinnerungen der bereits christianisierten Ur-Einwohner ist und somit auch nicht einen „Ort“ innerhalb eines Symbolzusammenhangs darstellt. Auch ist an diesem Ansatz zu bemängeln, dass Religionen als Symbolsysteme verstanden werden. Darüber hinaus ist die Methode schwierig auf Fallbeispiele zu übertragen, bei denen der Fokus auf Praktiken und Vorstellungen bestimmter Akteure gelegt wird. Sicherlich ist es in solchen Fällen auch unabdingbar, die Vorstellungen und Praktiken jeweils in den sozio-kulturellen Kontext der untersuchten Tradition zu stellen und auch den mythischen Rahmen zu beleuchten. Aber eine Erfassung der diachronen Entwicklung ist womöglich nicht zu leisten, da man in diesen Fällen auf qualitative Erhebungen angewiesen ist, die eine bestimmte Konstellation als Momentaufnahme widerspiegeln und diese wiederum als solche ein Konstrukt ist.

Da es sich in der vorliegenden Arbeit nicht um die Analyse von Texten handelt, denen ein autoritativer zentraler Wert in einer religiösen Tradition zugesprochen wird, muss eine andere Herangehensweise gewählt werden. Die Vorschläge, die Luther H. Martin in seinem Aufsatz Comparison (Martin 2000) auf der Grundlage von wissenssoziologischen Prämissen macht, scheinen für das vorliegende Projekt am geeignetsten zu sein.

Nach Martin ist die Grundlage jedes wissenschaftlichen Vergleiches, durch Generalisierungen zu einer reflektierten Kategorienbildung zu gelangen, anhand derer dann durch Homologien oder Analogien Ähnlichkeiten oder Unterschiede festgemacht werden können:

The principle or principles of generalization, in other words, must be explained if they are to be accorded any intellectual integrity. (Martin 2000, 46)

Kategorien und Generalisierungen sind aber gesellschaftlich konstruiert und daher auch kulturabhängig. Jede Kultur hat ihr eigenes Set an Kategorien anhand derer die vorhandenen Daten über die Welt organisiert werden. Diese Organisationsschemata sind einem Außenseiter nicht unbedingt ersichtlich; selbst wenn er der Sprache mächtig ist entziehen sich ihm oft die semantischen Zusammenhänge wegen eines Mangels an Zugang zu dem kompletten Wissensbestand.

The common-sensical aggregate of generalizations in any group’s “circle of knowledge” constitutes its “encyclopedia”, indeed its “encyclopedia of comparative knowledge”. (Berger 1969 in: Martin 2000, 46)

Bei Begegnungen mit einer Gesellschaft, die einen anderen Wissensbestand hat als die unsere, neigen wir dazu, die beobachteten Daten und Phänomene nach den aus unserem Wissensbestand stammenden Kategorien zu organisieren. Dieses Problem wird mit dem Terminus Ethnozentrismus beschrieben. Es gibt kein wirkliches entkommen aus der Ethnozentrismusfalle, denn unser Denken wird immer an den Wissenskontext gebunden sein, in den wir hinein sozialisiert worden sind.

In oder words, neither the costums of contemporary China, for example, nor those of the Western Middle Ages accord with a modern Western observer’s common-sense data and rules for classifying this data. Consequently, simplistic attempt of description of others to the generalizations/categories of the observer, creating thereby a perception of similarities where none exist. (Martin 2000, 47)

Effektive Generalisierungen können nur auf der Basis von theoretischer Reflektion erstellt werden. Theoretische Generalisierungen definieren Kategorien anhand der Regeln, die auf alle Elemente einer Kategorie zutreffen und sie alle als gleichberechtigt behandeln (Martin 2000, 47). Man muss dazu erst klären, welche Daten verglichen werden sollen und welche Kriterien man verwenden wird um bestimmte Daten als „religiös“ von anderen Daten abzusetzen. Dann muss man sich fragen ob sie als unabhängige Variable konstruiert werden, die zufälligen Einfluss auf andere kulturelle Formationen ausüben oder ob es abhängige Variablen sind, die von anderen sozialen oder kulturellen Faktoren beeinflusst werden (Martin 2000, 49).

Dazu müssen zunächst theoretische Überlegungen zum Religionsbegriff geführt werden. Martin bietet an dieser Stelle einen diskursiven Ansatz an:

Since „religion,“ like „literature,“ „philosophy“ and “history”, is but a discursive formation with its own history and historically constituted set of rules, rules for such generalizations might well be formulated according to scientific principles which are not contingent upon any one culture. (Martin 2000, 53)

Damit schließt er sich Fritz Stolz in dem Versuch an, die Kategorien mit Begriffen zu benennen, die in ihrer semantischen Einbettung möglichst kulturneutral sind. (Stolz 1993)

Für die vorliegende Arbeit soll als eine heuristische Religionsdefinition folgendes gelten: Religionen sind diskursive Formationen, die aus dem kulturellem Wissensbestand einer Gruppe von Menschen heraus Traditionen, Praktiken und Vorstellungen begründen und einen Bezug auf Existenzformen und Orte außerhalb der empirischen Realität aufzeigen. Die Frage danach, ob es sich hierbei um eine abhängige oder unabhängige Variable handelt, soll zunächst ausgeklammert werden.

Da unmöglich alle sozialen Bereiche, auf die religiöse Diskurse Einfluss haben oder von denen sie beeinflusst werden, miteinander verglichen werden können, liegt der Fokus dieser komparatistischen Arbeit auf dem soziokulturell spezifischen Umgang mit Tod und Sterben; ein Bereich von dem anzunehmen ist, dass jede Gesellschaft einen Diskurs führt.

The relationship between the dead and the living is a key to social control and social reproduction in any society. The living inherit what they have from the dead, and the transcendence of community and family is figured in the things that are passed from one generation to another, things that are deemed too sacred to part with - inalienable possessions. (Lomnitz 2005, 101)

Damit der Themenkomplex „Tod und Sterben“ und seine Implikationen im gesellschaftlichen Leben beider zu vergleichender Kulturen möglichst umfassend behandelt werden kann, sollen folgende Generalisierungen als Kategorie des Vergleiches dienen:

- Postmortalitätsvorstellungen (Unter diese Kategorien fallen Vorstellungen, die im Zusammenhang stehen mit den Möglichkeiten der Fortexistenz nach dem, was gesellschaftlich jeweils als „Tod“ definiert wird.[4] )

Als Subkategorien können jeweils untersucht werden:

- die Orte postmortaler Existenz[5] o die anthropologische Form postmortaler Existenz
- Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten
- Bestattungsrituale o Totengedenkfeiern

Im Folgenden werden die Fallbeispiele jeweils kontextualisiert behandelt.

3 Fallbeispiele

3.1 Der Totenkult der Azteken

No recordamos ningún otro pueblo que haya representado la muerte en forma tan obsesiva como en algunas de nuestras culturas prehispánicas. ¿Culto a la muerte? Más bien culto a la vida... a través de la muerte. (Matos Moctezuma 1997, 17)[6]

3.1.1 Exkurs: Die Quellenproblematik

Bei jeder Untersuchung von Quellen aus einer anderen Zeit und/oder einem anderen kulturellen Kontext stellen sich große Verständnisherausforderungen. Selbst wenn die Sprachbarrieren überwunden werden können, sind in den meisten Fällen die epistemologischen Kontexte nicht bekannt, welche eine möglichst nicht verfremdende Interpretation erlauben würden. Auch ist es notwendig, sich die Strukturen anzuschauen in deren Kontext eine Quelle entstanden ist und die Frage nach den dahinterstehenden Intentionen zu stellen. Im vorliegenden Fall ergeben sich darüber hinaus noch weitere Herausforderungen, die es fast unmöglich machen, Aussagen über die Glaubensvorstellungen im aztekischen Volk und religiöse Praktiken zu treffen. Es gibt keine Quellen, die wir üblicherweise „Primärquellen“ bezeichnen würden. Fast alle Bildquellen, vor allem aber die, welche religiöses Wissen enthielten, wurden bei der Verwüstung während der Einnahme von Tenochtitlán gezielt zerstört. Da auch viele der Priester, die Widerstand leisteten, umgebracht wurden, ist das religiöse Wissen mit den Trägern untergegangen. In der Zeit unmittelbar nach der Eroberung, aufgrund der zu fürchtenden Repressalien, wagte vermutlich niemand über dieses Wissen zu sprechen (Prem 2003, 11). Der Zugang zu den überlebenden Priestern wurde auch von den katholischen Missionsbemühungen verschüttet und den Mönchen zunächst untersagt, sich mit der „heidnischen Religion“ zu befassen. Das Wissen der religiösen Spezialisten blieb also unzugänglich (Prem 2003, 53).

[...]


[1] Die Tragfähigkeit des „Synkretismus“ Konzeptes muss geprüft werden und im Rahmen neuerer Theoriebildung diskutiert werden. Es kann aber nicht gänzlich verworfen werden, da er im Mexikanischen Identitätsdiskurs eine prominente Rolle spielt. Dennoch scheinen andere Konzepte tragfähiger zu sein für die Analyse dieses Feldes, zum Beispiel das Konzept von Transculturation in the Contact Zone, welches Carrasco und Sessions in ihre Argumentation einbringen. (Carrasco und Sessions 1998, 232 f.)

[2] Dies macht Sinn, wenn man Kulturen nicht als statische Systeme begreift, die aufeinanderprallen und Elemente austauschen um ein variierendes Konglomerat zu bilden, sondern Kulturen als diskursive Felder begreift, in der Individuen aber auch Gemeinschaften in ständigen Aushandlungsprozessen ihre Positionierungen bestimmen. Wenn dann zwei solche Diskurstraditionen aufeinandertreffen, beginnt ein Positionen- und Ideenaustausch der bestimmten Machtstrukturen und im Falle eines kolonialen Settings auch bestimmten Asymmetrien in der Kommunikation unterworfen sind. Wenn der neue Diskursrahmen dann aber einigermaßen umrissen ist, können sich die einzelne Akteure oder Akteursgruppen darin positionieren und so ihre eigene Identitätskonstruktion mit den Vorhanden Diskurselementen betreiben.
Diese Art von Kulturverständnis eignet sich auch besser für die Erklärung von Wandel und Dynamik in Traditionen und Ritualen und um heterogene Wahrnehmung der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in einem Feld zu beschreiben.

[3] Die Quellenproblematik wird im nächsten Kapitel ausführlicher behandelt.

[4] Wann jemand als „Tot“ erklärt wird hängt von einer Grenze ab, die Objekt gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse ist und daher auch verschiebbar. Obwohl dies sicherlich auch ein sehr spannender Punkt für kulturelles Vergleichen ist, muss es aufgrund mangelnder Daten von dieser Arbeit ausgeklammert werden.

[5] Dies scheint als Kategorie neutraler zu sein, als die Kategorie „Gegenwelten“(Stolz 1993).

[6] Wir können uns an kein anderes Volk erinnern, welches den Tod in einer solch obsessiven Form repräsentiert hat, wie manche unserer prehispanischen Kulturen es getan haben. Kult dem Tode? Eher ist es ein Kult an das Leben.. .durch den Tod. (Übers. d. Autors)

Fin de l'extrait de 59 pages

Résumé des informations

Titre
Postmortalitätsvorstellungen der "Azteken" im Vergleich zu den Postmortalitätsvorstellungen der Katholiken in Zamora, Kastilien im 16. Jhd.
Université
University of Heidelberg  (Institut für Religionswissenschaft)
Cours
Komparatistisches Hauptseminar "Postmortalitätsvorstellungen"
Note
1,0
Auteur
Année
2010
Pages
59
N° de catalogue
V175131
ISBN (ebook)
9783640960378
ISBN (Livre)
9783640960958
Taille d'un fichier
667 KB
Langue
allemand
Mots clés
Tod, Sterberitual, Postmortalität, Jenseits, Azteken, Aller Heiligen, Synkretimus, Komparatistik, Día de Muertos
Citation du texte
Mariana Pinzon (Auteur), 2010, Postmortalitätsvorstellungen der "Azteken" im Vergleich zu den Postmortalitätsvorstellungen der Katholiken in Zamora, Kastilien im 16. Jhd. , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/175131

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