Vor wenigen Jahren wurde bei mir Lymphknotenkrebs festgestellt, was sich nach eingehender Untersuchung als Fehldiagnose herausstellte. Dennoch bewirkte diese Information in mir eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit existenziellen Themen, wie etwa dem gelebten und ungelebten Leben, dem Tod, der Liebe, der individuellen Freiheit, dem Vermächtnis des eigenen Wirkens. Sie rückte unmittelbar die Frage nach den Qualitäten und der Legitimität bislang sicher geglaubter Denk- und Handlungskonzepte, ja nach der gesamten Identität und Biografie, in ein neues Licht. Aufgrund dieser Erfahrung war es mir ein Bedürfnis, diese Masterthesis den Möglichkeiten und Grenzen Sozialer Arbeit in der psychosozialen Versorgung von Krebspatienten zu widmen. Da wir als Menschen in postmodernen Industriegesellschaften tendenziell dazu neigen, eher verkopft und entrückt zu leben und sich diese Tendenz augenscheinlich in Beratungs- und Behandlungskontexten fortsetzt, liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit auf dem Aspekt der Integration körperorientierter Verfahren und Methoden in die Klinische Sozialarbeit.
Darüber hinaus ist es mir ein besonderes Anliegen, Bedarfe und Potenziale dieser Fachdisziplin aufzuzeigen, über das etablierte Handlungsspektrum administrativer Tätigkeiten hinauszuwachsen. Aus diesem Anspruch lassen sich folgende Fragestellungen ableiten: Was kann Soziale Arbeit im Kontext psychoonkolog. und körpertherapeut. Rehabilitation von Krebspatienten leisten? Verfügt sie über die nötigen Kompetenzen zu einer umfassenderen Versorgung dieser Klientel? Inwieweit ist sie im Kontext therapeutischer Behandlung krebskranker Menschen etabliert? Wo existieren ggf. Barrieren von medizinisch-psychologischer Seite?
Die Arbeit thematisiert mit der psychoonkologischen Rehabilitation ein anspruchsvolles, jedoch entgegen aller Notwendigkeit noch immer dürftig erschlossenes, interdisziplinäres Handlungsfeld Sozialer Arbeit. Abschließend wird exemplarisch die Tanztherapie als, gleichwohl in der Psychoonkologie wie in der Körperpsychotherapie eingebettetes, Ausdrucksverfahren zur Verbesserung der Lebensqualität von Krebspatienten auf ihr Integrationspotenzial in das Handlungsrepertoire der Klinischen Sozialarbeit untersucht.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung und Fragestellungen
2 Hintergrund und wissenschaftlicher Forschungsstand
2.1 Krebs
2.1.1 Was ist Krebs? - Grundverständnis, Epidemiologie und Therapieansätze
Medizinisches Grundverständnis
Epidemiologie des Krebs in Deutschland
Konventionelle Therapieansätze
2.1.2 Biopsychosoziale Risiko- und Einflussfaktoren
Mythos Krebspersönlichkeit
2.2 Psychoonkologie
2.2.1 Was ist Psychoonkologie?
2.2.2 Komorbidität bei Krebs und psychoonkologisches Behandlungsspektrum
Erkrankungsphasen, Komorbidität und psychoonkologische Versorgungshierarchie
Psychoonkologische Therapieansätze und -verfahren
Möglichkeiten und Grenzen psychoonkologischer Versorgung
2.3 Körper(psycho)therapie
2.3.1 Was ist Körperpsychotherapie?
2.3.2 Biopsychosoziales Erkrankungsverständnis nach Wilhelm Reich
Vegetative Strömung und Körperpanzer
Vegetotherapie
Reichs Krebstheorie und seine Bedeutung fürdie wissenschaftliche Nachwelt
2.3.3 Neurowissenschaftliche Grundlagen körperpsychotherapeutischer Arbeit und ihre Bedeutung für die Behandlung von Krebspatienten
Intuitive Kommunikation und Embodiment
Leibgedächtnis
2.4 Klinische Sozialarbeit
2.4.1 Was ist Klinische Sozialarbeit?
Fachliche Verortung und Handlungsfelderder Klinischen Sozialarbeit
Klientel und professionelle Rolle
2.4.2 Soziale Arbeit als psychosozialtherapeutische Disziplin
Begriffsbestimmung und Grundlagen von Sozialtherapie
3 Rehabilitation von Krebspatienten als Handlungsfeld Sozialer Arbeit
3.1 Rechtliche Grundlage und wirtschaftliche Bedeutung der Rehabilitation als Handlungsfeld Sozialer Arbeit
3.2. Situation von Krebspatienten in der Rehabilitation
Problemlagen von Krebspatienten
Bedürfnisse von Krebspatienten
Rechte und Pflichten von Krebspatienten
3.3. Situation der Sozialen Arbeit in der psychoonkologischen Versorgung
3.3.1. Qualifikation Sozialer Arbeit für eine psychosozialtherapeutische Versorgung von Krebspatienten
Kompetenzprofil Sozialer Arbeitim Kontextpsychoonkologischer Versorgung
3.3.2. Leistungsspektrum Sozialer Arbeit in der onkologischen Rehabilitation
Niedrigschwellige psychosoziale Beratung
Psychosozialtherapeutische Behandlung und interdisziplinäre Koordination
4 Entwicklungspotenziale und Grenzen körperorientierter Sozialer Arbeit im Rahmen psychoonkologischer Rehabilitation
4.1 Soziale Arbeit in multiprofessionellen Behandlungssettings: erfolgreich etabliert oder interdisziplinär ausgebremst?
4.2 Zur Notwendigkeit der Etablierung körperorientierter Sozialer Arbeit in der sozialtherapeutischen Rehabilitation krebskranker Menschen
4.3 Grundlagen körperorientierter Sozialer Arbeit im Rahmen der psychoonkologischen Rehabilitation
4.4 Verfahren und Methoden körperorientierter Klinischer Sozialarbeit am Beispiel der Tanztherapie bei Krebs
Einordnung und Grundannahmen
Verfahrensstruktur
Methoden und Behandlungseffekte
5 Zusammenfassung und Fazit
Literatur- und Medienverzeichnis„
1 Einleitung und Fragestellungen
Im November des Jahres 2009 erkrankte ich mit 26 Jahren an Lymphknotenkrebs. Lymphom der Glendula submandibularis, hieß es. Einige Tage später erwies sich diese Einschätzung meines Arztes als Fehldiagnose. Der existenziellen Veränderung meines Lebens tat das keinen Abbruch.
Die Konfrontation mit einer derart existenzbedrohlichen Information wie der Krebsdiagnose stellt für die meisten Menschen, so auch für mich, eine schwere psychosoziale Krise dar. Sie bewirkt eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem gelebten und dem ungelebten Leben, dem Tod, dem Vermächtnis des eigenen Wirkens, der Liebe, dem Sinn von alledem. Sie rückt in kürzester Zeit die Frage nach den Qualitäten und der Legitimität bislang sicher geglaubter Denk- und Handlungskonzepte, ja nach der eigenen Identität und der gesamten Biografie, unweigerlich in ein neues Licht. Ein Fall aus dem Alltag heraus, hinein in eine große Sinnleere - ein Psychotrauma für zahlreiche Krebspatienten.
Es lag daher nahe, diese Masterthesis den Möglichkeiten und Grenzen Sozialer Arbeit in der psychosozialen Versorgung an Krebs erkrankter Menschen zu widmen. Dabei ist es mir ein besonderes Anliegen, den Bedarf und die Potenziale (klinischer) Sozialer Arbeit aufzuzeigen, über das vorrangig etablierte Handlungsspektrum administrativer Tätigkeiten hinauszuwachsen. Da wir als Menschen in (post-)modernen Industriegesellschaften tendenziell dazu neigen, eher verkopft und entrückt zu leben und sich diese Tendenz augenscheinlich in Beratungs- und Behandlungskontexten fortsetzt, soll ein besonderer Schwerpunkt dieser Arbeit auf dem Aspekt der Integration körperorientierter Verfahren und Methoden in die Soziale Arbeit liegen.
Aus diesem Anspruch lassen sich folgende Fragestellungen fürdiese Arbeit ableiten:
Was kann Soziale Arbeit im Kontext psychoonkologischerund körpertherapeutischerRehabilitation von Krebspatienten leisten?
Inwieweit ist Soziale Arbeit im therapeutischen Kontext derBehandlung krebskranker Menschen etabliert? Wo existieren gegebenenfalls Barrieren von medizinischer oder psychologischer Seite?
Die folgende explorative Abhandlung thematisiert mit der psychoonkologischen Rehabilitation ein, entgegen aller realpraktischen Notwendigkeit noch immer vergleichsweise dürftig erschlossenes, interdisziplinäres Handlungsfeld Sozialer Arbeit. Nach einer einführenden Darstellung des Status Quo medizinischer und epidemiologischer Informationen zur Krankheit Krebs erfolgt eine Einführung in die drei, für diese Abhandlung relevanten Behandlungsdisziplinen: die Psychoonkologie, die Körperpsychotherapie und die Klinische Sozialarbeit selbst.
Die erste Hälfte des Hauptteils dieser Arbeit thematisiert die Bedeutung der psychoonkologischen Rehabilitation als Handlungsfeld Sozialer Arbeit. Dazu wird neben einem Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen und die volkswirtschaftliche Bedeutung insbesondere auf die Situation der Krebspatienten, einschließlich ihrer komplexen Problemlagen, Bedürfnisse und Rechte eingegangen. Anschließend wird die Profession der Sozialen Arbeit auf ihre Kompetenzen zur Versorgung dieser Klientel sowie auf ihr bereits etabliertes psychosoziales Leistungsspektrum einschließlich Beratung und Behandlung untersucht.
Die zweite Hälfte des Hauptteils widmet sich schließlich dem Status der Etablierung Sozialer Arbeit im Gesundheitswesen, zeigt die gegenwärtigen Grenzen der Profession im interdisziplinären Kontext auf und arbeitet schließlich die methodischen Grundlagen und Entwicklungspotenziale einer körperorientierten Klinischen Sozialarbeit heraus. Zur Veranschaulichung wird abschließend die Tanztherapie als eigenständiges, gleichwohl in der Psychoonkologie wie in der Körperpsychotherapie eingebettetes, Ausdrucksverfahren zur Verbesserung der Lebensqualität von Krebspatienten auf ihr Potenzial zur Integration in das Handlungsrepertoire der Klinischen Sozialarbeit untersucht.
Zum Zweck der Übersichtlichkeit und Stringenz dieser Masterthesis wird regulär das generische Maskulinum verwendet. Ausgenommen sind Passagen mit dem ausdrücklichen Bedarf einer geschlechterspezifisch differenzierten Beschreibung. Hiermit sei ausdrücklich darauf verwiesen, dass diese Praxis aus dem o. g. rein formalen Zweck und keinesfalls unter dem Anspruch des grammatikalisch-sprachlichen Ausschlusses des weiblichen Geschlechts gewählt wurde.
2 Hintergrund und wissenschaftlicher Forschungsstand
2.1 Krebs
2.1.1 Was ist Krebs? - Grundverständnis, Epidemiologie und Therapieansätze
Medizinisches Grundverständnis
Nach dem gegenwärtigen schulmedizinischen Erkenntnisstand, der als prinzipiell gültige und vertrauenswürdige Basis einer interdisziplinär-pluralistischen Auseinandersetzung um das vielschichtige Phänomen von Krebserkrankungen verstanden werden kann, ist die Bezeichnung Krebs als ein uneinheitlicher Begriff zu verstehen, der „eine Reihe verschiedener Erkrankungen [zusammenfasst, denen] gemeinsam ist, dass sie mit einem vermehrten, oftmals unkontrollierten Gewebewachstum einhergehen. (...) Insgesamt gibt es über 100 verschiedene Arten[1] einer Krebserkrankung.“[2] In der Regel werden darunter maligne - d.h. bösartige -, sich unkontrolliert über Metastasen (="Übersiedlungen" krankhafter Zellen in andere als die ursprüngliche Körperregion) verbreitende, Neubildungen von Körper- oder Gewebezellen bezeichnet, die sich als Tumore (=örtlich begrenzte Zunahme des Gewebevolumens) manifestieren. Die Bösartigkeit dieser Gewebeentwicklung basiert auf den Eigenschaften dieser Tumore, durch Ausbildung von Metastasen besonders schnell zu wachsen, gesundes Gewebe zu verdrängen und die Funktion betroffener Teile des Organismus massiv zu beeinträchtigen bzw. zu verhindern. Zwar existieren auch verschiedene Formen gutartiger Tumore, jedoch werden diese nach der wissenschaftlichen Klassifikation nicht unter dem Begriff Krebs erfasst.[3]
Sehr abstrakt betrachtet basieren alle Krebserkrankungen auf einer initialen Deregulierung der Abläufe in einer Gewebe- bzw. Körperzelle. „Da Zellwachstum in einem vielzelligen Organismus streng reguliert sein muss, hat jede Störung dramatische Auswirkungen. In erwachsenen Organismen (...) ist Zellvermehrung eher ein Ausnahmezustand, der nur in wenigen Geweben aufrechterhalten oder nach Zelloder Gewebeschädigung hochreguliert wird. Ein fein abgestimmtes Netzwerk aus Signalen hält einen Großteil der Zellen in einem erwachsenen Organismus in einem Ruhezustand ohne Zellteilung. Krebs kann nur entstehen, wenn diese Regulation verloren geht.“[4] Im Zuge einer solchen Regulationsstörung wird die Aktivität wachstumsstimulierender Gene (Onkogene) über das normale Maß hinaus erhöht, wobei gleichzeitig wachstumshemmende Gene (Tumorsuppressorgene) deaktiviert sein müssen. Eine derartige Störung der zellulären Abläufe ist die Folge des Einflusses von so genannten Risikosubstanzen, die „exogenen Ursprungs sein [können] - dazu gehören [u.a.] Nahrungsbestandteile und Tabakrauch - aber auch endogene Wirkstoffe können das Krebsrisiko erhöhen. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang Hormone und Entzündungsmediatoren [=körpereigene einzündungseinleitende bzw. -regulierende Stoffe].“[5] Es muss heute also davon ausgegangen werden, dass die Wahrscheinlichkeit zur Erkrankung des Körpers an Krebs aus einem komplexen Zusammenspiel interner (genetischer, hormoneller, immunologischer) und externer Faktoren (Umwelteinflüsse, Ernährungsweisen, Lebensgewohnheiten) resultiert.
Epidemiologie des Krebs in Deutschland
In welchem Ausmaß die Erkrankung an Krebs die Bevölkerung in Deutschland betrifft, geht aus einer Auswertung der epidemiologischen Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) aus dem Jahr 2006 hervor (vgl. Tabelle 2.1.1.a).
Die Tabelle[6] gibt unter anderem Auskunft darüber, dass Männer mit durchschnittlich 47,3% Lebenszeitrisiko gegenüber den Frauen mit 38,2% deutlich häufiger an Krebs erkranken. Zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr erfolgt bei beiden Geschlechtern ein deutlicher Anstieg des Erkrankungsrisikos, wenngleich sich dieser bei den Frauen im Vergleich zur Entwicklung bei den Männern weniger sprunghaft und nicht so extrem vollzieht (Männer von 6,1 auf 25%, Frauen von 6,1 auf 13,5%). Zudem fällt auf, dass das Risiko, innerhalb von 10 Jahren an Krebs zu versterben, bei den Frauen über alle Altersstufen hinweg beständig leicht unter dem Gegenwert der Männer bleibt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 2.1.1.a. Erkrankungs- und Sterberisiko an Krebs in Deutschland nach Alter und Geschlecht, 2006
Auf das Lebenszeitrisiko hochgerechnet ist die Bedeutung der Krebserkrankungen in Deutschland wegen ihrer hohen Mortalität (jeder 2. Mann, jede 3. Frau) insbesondere aus humanitärer Perspektive, nicht zuletzt jedoch auch im Hinblick auf die daraus resultierenden Belastungen für das Gesundheits- und Sozialsystem, enorm.
Nach der Datenlage des RKI ist Krebs in den Industrienationen direkt nach den Herz- Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache. Die im Bericht des RKI[7] für das Jahr 2010 gestellte Prognose zur Anzahl der Neuerkrankungen innerhalb der deutschen Bevölkerung belief sich unter den Männern auf 246.200, unter den Frauen auf 204.000. Anhand des internationalen Vergleichs der standardisierten Neuerkrankungsrate 2006 wird deutlich, dass der Krebs in Deutschland nicht nur eine weit verbreitete Volkskrankheit, sondern auch eine Zivilisationskrankheit ist:
In Deutschland erkrankten 2006 (bei Zusammenfassung der Geschlechter) zusammen 1038,5 von 100.000 Menschen. Im europäischen Mittel waren es 751,2 von 100.000, im internationalen Durchschnitt sogar 'nur' 531,3 von 100.000 Menschen. Daran wird erkennbar, dass Krebs offensichtlich in wirtschaftlich/industriell hoch entwickelten Regionen wie der EU und insbesondere in führenden Industrienationen wie Deutschland deutlich häufiger auftritt als im Rest der Welt.
Zwar ist statistisch die Mortalitätsrate seit 1990 für beide Geschlechter rückläufig[8] ; setzt man diese Tendenz jedoch mit dem ebenfalls massiven Rückgang der Herz-Kreislauf- Erkrankungen als momentan führender Todesursache in den Industrienationen in Beziehung, so wird erkennbar, dass sich der Krebs hier schätzungsweise bis 2030 zur häufigsten Todesursache entwickeln wird.
Konventionelle Therapieansätze
Bösartige Neubildungen werden heute in der Regel, wenn lagebedingt möglich, zunächst auf operativ-chirurgischem - vielfach auch bereits minimalinvasivem - Wege entfernt. Im Falle der Inoperabilität bzw. im Zuge postchirurgischer Weiterbehandlung zur Vermeidung der Metastasierung (Streuung maligner Gewebeanteile im Sinne C77- 79 des ICD-10) wird anschließend - je nach Krebsart - durch Chemo-, Strahlen-, Hormon- oder Immun- und Antikörpertherapie interveniert. Chemotherapie erfolgt heute zunehmend als lokale therapeutische Intervention, um die meist erheblichen Nebenwirkungen, die im Rahmen einer systemischen Behandlung auftreten, zu vermeiden. Zudem setzt sich zunehmend auch die relativ schonende chronomodulierte Anwendung durch, bei der die Chemotherapeutika dem Körper unter Berücksichtigung der zeitlichen Organaktivität verabreicht werden. Strahlentherapie kann heute auch intensitätsmoduliert (d. h. mittels variabel einstellbarer Strahlenintensität zur Therapie von Tumoren in der Nähe risikosensibler Organe) oder intraoperativ (d. h. bereits während der chirurgischen Entfernung des Tumors) erfolgen. In Anbetracht des hohen Schädigungspotenzials von Chemo- und Strahlentherapie gegenüber gesunden Geweben und den demgegenüber vielfach verschwindend geringen Erfolgsraten[9] [10] wird zudem intensiv nach neuen, weniger belastenden, Therapieformen geforscht. Vielversprechend erscheinen hier etwa die Immun- oder Thermotherapie.
2.1.2 Biopsychosoziale Risiko- und Einflussfaktoren
Wie den eingangs genannten Ausführungen zu entnehmen war, sieht man in der medizinischen Fachwelt heute als Hauptauslöser des Krebs in erster Linie die Interaktion zwischen genetischen Dispositionen und verschiedensten chemophysiologischen, also körperlich-stofflichen, Faktoren (die oben genannten Risikosubstanzen) an. Im Hinblick auf den Fokus dieser Arbeit, die Klinische Sozialarbeit mit Krebspatienten, wird sich in Anbetracht der epidemiologischen Daten die Frage nach dem Zusammenhang mit und der Beeinflussbarkeit von psychosozialen Risiko- und Einflussfaktoren und ihrer Manifestation auf biophysiologischer Ebene stellen - sowohl bezogen auf die Krebsentstehung, besonders jedoch auf den Interventionsrahmen während der Rehabilitation.
Hinsichtlich der Krebsentstehung verdient unter dieser Perspektive besonders der Zusammenhang zwischen immunologischer Disposition (interner Risikofaktor) und den gesellschaftlichen Lebensgewohnheiten und -strukturen (externe Risikofaktoren) eine besondere Auseinandersetzung.
Die massive Häufung der Krebserkrankungen in Industrienationen (sowie die daraus resultierende Kategorisierung des Krebs als Zivilisationskrankheit[11] ) legt die Vermutung nahe, dass die für die dort vertretenen Gesellschaften charakteristischen Lebensbedingungen bzw. spezifischen Lebensweisen an der Krebsentstehung maßgeblich beteiligt sein könnten. Ein Spezifikum hochindustrialisierter Gesellschaften ist die erhöhte Stressbelastung der Menschen. Nach Ansicht des US-amerikanischen Soziologen Richard Sennett ist insbesondere die Unterordnung individueller psychophysiologischer Bedürfnisse unter die wachstumsökonomisch begründete Forderung nach der Flexibilisierung des Menschen in modernen kapitalistischen Gesellschaften ein Charakteristikum - vorwiegend westlicher - Lebensweise.[12] Nach seinen Analysen führt die Flexibilisierung und Beschleunigung der Arbeitswelt und die damit einhergehenden Auswirkungen auf das gesamte Leben der Menschen (Entgrenzung von Arbeit und Privatleben, gesundheitliche Überforderung, Entterritorialisierung, Orientierungslosigkeit, etc.) zu einer Veränderung des individuellen und letztlich gesellschaftlichen Charakters. Sennett sieht darin einen Prozess, der u. a. mit der Verinnerlichung ökonomischer Maximen - z. B. Leistungsund Konkurrenzmentalität, Verwertungsorientierung, Risikobereitschaft oder vordergründig auf Funktionalität und Kurzfristigkeit angelegte Abläufe - und deren Anwendung in originär unökonomischen Bereichen - z. B. die Konstruktion des eigenen Selbstbildes (Patchwork-Identität) oder die Ausgestaltung privater Sozial- und Liebesbeziehungen - einher geht. Er verweist darüber hinaus auf die psychophysiologischen Belastungen, denen die Menschen aufgrund dieser individuell- und gesellschaftscharakterlichen Entwicklungen ausgesetzt sind:
„Der alte soziale Kapitalismus erodiert. Unternehmen, die ihren Beschäftigten eine lebenslange Stellung sicherten, gehören der Vergangenheit an. (...) Und Politiker verfolgen heute (...) die Zerschlagung starrer Bürokratien. Doch dieser Wandel, vor allem die Fragmentierung der Großinstitutionen, bedeutet für viele Menschen eine Fragmentierung ihres Lebens. Ihr Arbeitsplatz ähnelt eher einem Bahnhof als einem Dorf. Die neuen Anforderungen an ihre Arbeit haben eine Desorientierung des Familienlebens mit sich gebracht. Auch hat die Zerschlagung der Institutionen nicht zu mehrGemeinschaft geführt. Im Übrigen sind die neuen Institutionen weder kleiner noch demokratischer; stattdessen kam es zu einer neuen Zentralisierung der Macht.“[13]
Inwiefern der Stress[14], der aus den Lebensbedingungen einer zunehmend flexibilisierten, dadurch jedoch auch verunsicherten und 'getriebenen', Gesellschaft sich auf das Risiko zur Erkrankung an Krebs auswirkt, wurde in verschiedenen groß angelegten evidenzbasierten Studien (auch unter Einbezug umfangreicher epidemiologischer Daten) untersucht.
Bislang konnte keine der durchgeführten Untersuchungen einen direkten Zusammenhang zwischen dem Erleben von akutem oder chronischem Stress und einer damit einhergehenden Erhöhung des Risikos, an Krebs zu erkranken, nachweisen[15]. Es muss jedoch beachtet werden, dass diese Studien einen methodisch schwer greifbaren Zusammenhang erforschen, was die Wahrscheinlichkeit des Einbezugs von Störfaktoren oder des Ausschlusses von, als nicht bedeutsam erachteten, Phänomenen stark erhöht und damit die Aussagekraft der Untersuchungen potenziell schwächt[16].
Mittlerweile anhand zahlreicher neurobiologischer Studien belegt ist hingegen der Zusammenhang, dass chronischer Stress die Aktivität von Genen nachhaltig beeinflussen kann:
„Die stärksten Auswirkungen, die seelische Belastungen und zwischenmenschliche Beziehungen auf körpereigene Gene des Immunsystems haben können, zeigen sich bei der Depression.(...) [Verschiedene Arbeitsgruppen fanden] übereinstimmend heraus, dass die Depression zu einer Verminderung und Funktionseinschränkung von Abwehrzellen (T-Zellen und NK-Zellen) führt. Auch die Abwehr gegen 'schlafende' Viren (Herpes- und CMV-Viren) ist während einer Depression herabgesetzt. (...)[Zudem] stellt der seelische Stress der Depression mehrere Gene des Immunsystems ab, die für die Produktion von Immunbotenstoffen zuständig sind.“[17]
„Zwischenmenschliche Belastungssituationen (...) oder pure seelische Anspannung (...) haben also die Aktivierung von Genen und somit zahlreiche biologische Effekte zur Folge. (...) Falls die Belastungssituation rasch vorübergeht, bilden sich meist auch die genetischen und die anderen körperlichen Veränderungen wieder zurück (Ausnahmen [...] sind Traumaerfahrungen [...]). Bleiben Belastungen jedoch bestehen oder treten immer wieder auf, ohne dass das Problem für den betreffenden Menschen zu lösen ist, so können die körperlichen Folgen schwer wiegend sein oder sich zu Krankheiten entwickeln. (...) Die Alarmbotenstoffe Adrenalin und Noradrenalin können zur Entwicklung eines dauerhaften Bluthochdrucks beitragen. Zusammen mit einem erhöhten Cholesterinwert, der durch Stress ebenfalls begünstigt wird, kann Bluthochdruck arteriosklerotische Herz- und Kreislauferkrankungen begünstigen.“[18]
Der damit nachgewiesene Zusammenhang zwischen Stress bzw. dauerhaften psychischen Belastungen und der Entwicklung chronischer psychophysiologischer Störungen und Erkrankungen durch das Einwirken auf die Aktivität des Erbguts und des Immunsystems lässt darüber hinaus die Schlussfolgerung einer wechselseitigen Bedingtheit von psychischen Erkrankungen durch den Körper und körperlicher Erkrankungen durch die Psyche zu. Diese Erkenntnis zeigt auf, dass Stress nach dem heutigen Kenntnisstand zwar nicht auf direktem Wege Krebs auslöst, durch die Beeinflussung der Genaktivität und des Immunsystems jedoch indirekt in der Art schädigend auf den Körper einwirkt, als dadurch die genetischen Dispositionen zur Krebsentstehung verändert und die Abwehrfähigkeit des Körpers gegenüber chemophysischen Risikosubstanzen vermindert wird. Bauer resümiert, dass „seelische Belastungen beziehungsweise Stress einen negativen Einfluss auf den Verlauf (...) [verschiedener Krankheiten hat, u.a. auf] Multiple Sklerose, rheumatoide Arthritis, Hautkrankheiten wie Schuppenflechte (Psoriasis), Herzkrankheiten inklusive Herzinfarkt, Zuckerkrankheit (Diabetes), Asthma, aber auch bestimmte Tumorerkrankungen wie Brustkrebs. Wohlgemerkt: Diese Erkrankungen werden - jedenfalls nach heutiger Kenntnis - nicht durch Stress verursacht! Stress hat jedoch einen Einfluss auf ihren Verlauf, also auf die Fähigkeit des Körpers, sich mit der Erkrankung auseinander zu setzen.“[19]
In Anbetracht des Umstands, dass der menschliche Organismus die Fähigkeit besitzt, routiniert tagtäglich tausende Genschäden zu reparieren, muss demnach angenommen werden, dass eine andauernde psychische Belastung die zellulären Reparaturmechanismen in der Art dereguliert, dass das Immunsystem einen gleichzeitigen dauerhaften Kontakt mit karzinogenen Umweltfaktoren nicht im - für die Gesunderhaltung des Organismus - nötigen Maß bewältigen kann. Eine 2010 veröffentlichte Studie[20], in deren Verlauf sowohl die historische Erfassung von Tumoren bzw. deren Behandlung in menschlichen und tierischen Trägern als auch das konkrete Vorhandensein histologischer Nachweise bzw. entsprechender Indizien in verschiedenen Mumien und Versteinerungen untersucht wurden, kam zu dem Ergebnis, dass Krebs erst seit der einsetzenden Industrialisierung im 18. Jh. massiv gehäuft, in sämtlichen vorangegangenen Jahrhunderten hingegen lediglich vereinzelt, auftrat, was auf einen Zusammenhang zwischen der Erkrankungshäufigkeit und einerseits den veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen sowie andererseits den, durch die industrielle Produktion erheblich intensivierten, Kontakt zu karzinogenen Umweltsubstanzen hindeutet. Trotz der berechtigten Kritik, dass eine Verfälschung der Daten aus früheren Jahrhunderten wahrscheinlich ist, da eine flächendeckende epidemiologische Dokumentation früher quasi nicht existierte und auch die Inanspruchnahme der Mumifizierung lediglich ein Privileg sehr vereinzelter Gesellschaftsgruppen war, wird darauf verwiesen, dass die durch industriell bedingte Umwelteinflüsse hervorgerufenen Krebserkrankungen an Grenzgeweben zwischen dem Körperinneren und der Umwelt (z. B. Schleimhäute) als Folge des wirtschaftlichgesellschaftlichen Wandlungsprozesses anzuerkennen seien (vgl. David & Zimmerman 2010).
Mythos Krebspersönlichkeit
Es kann demnach heute davon ausgegangen werden, dass die hohe Inzidenzrate von Krebs in den modernen Industrieländern neben den Potenzialen der genetischen Disposition, der umweltseitig einwirkenden Risikosubstanzen und der Eigenheiten des jeweiligen Krebstyps unter anderem in einem komplexen biopsychosozialen Zusammenspiel von kulturell bedingter psychophysiologischer Belastung und einer daraus resultierenden Modifikation der hormonellen Abläufe, der genetischen Aktivität und der immunologischen Widerstandsfähigkeit begründet liegt.
Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dieses komplexe Wechselspiel nicht auf einen Kausalzusammenhang nach dem Motto 'Wer häufig gestresst und/oder missmütig ist hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken' zu reduzieren. In den 1980er Jahren kursierte im Kontextder sozialmedizinischen bzw. psychoonkologischen Forschung die Theorie, dass ein bestimmter, zu emotionaler Verschlossenheit, Unselbstständigkeit, Überanpassung, Antriebsgehemmtheit und Depression neigender, Persönlichkeitstyp (der so genannte 'Typ C'), mit einem erhöhten Krebserkrankungsrisiko korreliere. Ein derartiger Zusammenhang konnte jedoch nie in einer methodisch sauberen klinischen Erhebung bestätigt werden[21]. Nach heutigem Forschungsstand ist die Verdichtung der oben genannten Indizien vielmehr als Folge bzw. Begleitsymptomatik der Krebserkrankung zu verstehen denn als deren Ursache: „Neuere Untersuchungen an Personen, bei denen zwar ein Krebsverdacht bestand, die Diagnose aber noch nicht gestellt war, konnten zeigen, dass die als typisch geltenden Persönlichkeitsmerkmale eine Reaktion auf die Krebserkrankung und nicht ihre Ursache kennzeichnen. Damit lässt sich die These einer Krebspersönlichkeit nach dem heutigen Wissensstand nichtweiteraufrechterhalten. (...) Die Experten tendieren dazu, diese psychischen Aspekte [des Typs C] als solche nicht als Krebsgefahr anzusehen, wenn jemand zur Bewältigung nicht außerdem zu einem riskanten Lebensstil neigt.“[22] Die Hintergründe dieser Einschätzung liegen vor allem in der erhöhten Erkrankungsgefahr so genannter Hochrisikogruppen begründet [3.] B. massiv erhöhtes Lungenkrebsrisiko unter Rauchern oder Gebärmutterhalskrebs unter Prostituierten[23] ).
2.2 Psychoonkologie
2.2.1 Was ist Psychoonkologie?
Psychoonkologie ist eine, in den 1970er Jahren im Rahmen der Untersuchung der Krebspersönlichkeitstheorie entstandene und seit 1988 als eigenständige Arbeitsgruppe in der Deutschen Krebsgesellschaft vertretene, interdisziplinäre Form der klinischen Psychologie bzw. Psychotherapie. Sie umfasst sowohl die wissenschaftlich-forschende als auch die ambulante oder klinisch-stationäre praktische Tätigkeit. Seit den 1990er Jahren liegt ihr vordergründiger Antrieb auf der Erforschung des Einflusses der Krebserkrankung hinsichtlich der Ausbildung begleitender psychisch-emotionaler, affektiver und psychosozialer Störungen und Belastungen sowie deren Linderung zugunsten der Verbesserung der Lebensqualität des Patienten. Hintergrund dieses Vorgehens ist das Bestreben, die, im Rahmen der Krebserkrankung beeinträchtigten, regenerativen Eigenressourcen des Patienten (Selbstheilungskräfte) zu (re-)aktivieren, so dass diese ergänzend zur onkologischen Akutbehandlung zu dessen vollständiger Genesung beitragen können. Eine der zentralen Grundpositionen der Psychoonkologie ist die, dass eine Krankheit - in diesem Fall der Krebs - nicht abgespalten von der Persönlichkeit des Patienten und deren Einflussfaktoren beurteilt und behandelt werden darf. Sie bezieht neben psychologischem und onkologischem auch psychosomatisches und sozialwissenschaftliches Wissen in ihre Forschung und Praxis ein und beschreitet damit einen deutlich ganzheitlicheren Behandlungsweg als zahlreiche andere medizinische Fachdisziplinen. Die Psychoonkologie ist somit heute ein noch immer vergleichsweise junges jedoch hoch zukunftsträchtiges „Teilgebiet der Onkologie, in dem sich multiprofessionelle Teams aus den Fachbereichen Psychologie, Soziologie, Sozialpädagogik, Psychiatrie, Onkologie und Theologie sowie Krankenpflege mit den emotionalen Reaktionen der Patienten und deren Familien sowie der Behandler befassen und die psychosozialen Faktoren identifizieren, die die Krebsmorbidität und -mortalität beeinflussen“[24].
Wenngleich nicht jeder Patient tatsächlich psychoonkologischer Hilfen bedarf, vertritt die Arbeitsgruppe Psychoonkologie unter Berücksichtigung der massiven Komorbidität bei Krebserkrankungen und hinsichtlich der Erweiterung der onkologischen Regelversorgung den Anspruch, die psychoonkologische Versorgung als ein für jeden Krebspatienten zugängliches, freiwillig nutzbares, Angebot zu etablieren.
2.2.2 Komorbidität bei Krebs und psychoonkologisches Behandlungsspektrum
Erkrankungsphasen, Komorbidität und psychoonkologische Versorgungshierarchie
Im Verlauf einer Krebserkrankung durchläuft der Patient verschiedene existentielle und krisenhafte Phasen, die häufig mit mehr oder minder spezifischen psychischen Belastungszuständen und/oder psychiatrischen Störungen einhergehen und daher in besonderem Maße eine psychoonkologische Versorgung erforderlich machen.
Diese Phasen sind: (1) die Mitteilung der Krebsdiagnose, (2) die onkologische Behandlung (Akutversorgung), (3) die Remissionsphase samt anschließender Rehabilitation und Nachsorge, (4) ggf. das Wiederauftreten der Krebserkrankung (Rezidiv), (5) ggf. die palliative Behandlung einschließlicher der terminalen Phase[25] (vgl. dazu Abb.2.2.2.a):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2.2.2.a. Existenzielle Krisen bei Krebspatienten (nach Karger, A.:)
Im gesamten Verlauf dieser Erkrankungsphasen sind die meisten Patienten verschiedenen körperlich-funktionellen (Schmerzen, veränderte Körperwahrnehmung, etc.), sozialen (familiäre Probleme, Änderung der beruflichen Situation), emotionalen und psychischen (Angst vor Wiedererkrankung und Tod, Traumatisierung infolge akuter Lebensbedrohung, etc.) sowie psychosomatischen Belastungen ausgesetzt, die in ihrer Häufigkeit und Intensität beträchtlich variieren können. Nach Härter, Reuter, u.a. leiden zwischen 44 und 49% der Krebspatienten an starken psychischen Belastungen. 20% der untersuchten Patienten weisen den maximal erfassbaren Grad hinsichtlich Depressivität sowie Ängstlichkeit auf. 38% der Patienten leiden im Verlauf der onkologischen Behandlung (4-Wochen-Intervall) unter konkreten psychiatrischen Störungen, davon 34% in der Rehabilitation und 24% in der Akutversorgung. Innerhalb eines 6-monatigen Intervalls erhöht sich die Prävalenz im Bereich der Rehabilitation auf 45%, in der Akutversorgung auf 38%. Die Lebenszeitprävalenz beträgt erhebliche 79% in der Rehabilitationsphase und 49% in der Akutversorgung![26]
Die nach der Studie von Härter, Reuter, u.a. in der Krebsbehandlung am stärksten repräsentierten psychischen Belastungs- bzw. Störungsformen sind die Angststörungen (Rehabilitation 17%, Akutversorgung 17%) und die Depressionen (Rehabilitation 13%, Akutversorgung 11%). Weis & Boehncke verweisen darüber hinaus auch auf die häufige Repräsentanz von Anpassungsstörungen (F43.2, 0 20%) und verschiedenen Akuten Belastungsreaktionen (F43.0), wie etwa der Posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1, 0 8%)[27]. Zabora, BrintzenhofeSzoc u.a. bestätigen, dass ca. 30 bis 50% der Krebspatienten auffällig stark belastet und ca. 30% psychoonkologisch behandlungsbedürftig sind, 5 bis 10% akut.[28] Diese Daten beschreiben das enorme Ausmaß der Komorbidität bei Krebserkrankungen und insbesondere einen erhöhten Behandlungsbedarf in der Rehabilitationsphase. Nach Newell u.a. sind heute jedoch lediglich rund 10% aller behandlungsbedürftigen Patienten in psychoonkologischer Versorgung[29], was einerseits den Ausbaubedarf psychoonkologischer Versorgung in Deutschland und darüber hinaus die Frage nach einem erweiterten unterstützenden Einbezug anderer psychosozialtherapeutischer Versorgungsformen, wie der Klinischen Sozialarbeit, aufwirft.
Welche Form psychoonkologischer Versorgung in der jeweiligen individuellen Situation des Krebspatienten angemessen ist, verdeutlicht Tabelle 2.2.2.b. In der hier dargestellten exemplarischen psychoonkologischen Versorgungshierarchie wird in Abhängigkeit vom Zeitpunkt und der Schwere der psychischen Belastung des Patienten sowie seiner Handlungsressourcen auf adäquate ambulante oder klinischstationäre Formen der klinischen Versorgung verwiesen. Verfügt der Patient (hier dargestellt in der letzten Stufe der Versorgungshierarchie) über genügend Ressourcen, seine bestehende Symptomatik ohne professionelle psychoonkologische Unterstützung zu bewältigen, besteht zudem die Möglichkeit, ihn in so genannte Laien- bzw. Selbsthilfegruppen einzubinden bzw. zu vermitteln.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 2.2.2.b. Psychoonkologische Versorgungshierarchie, nach psychischer Belastung des Patienten
Psychoonkologische Therapieansätze und -verfahren
Das psychoonkologische Versorgungsspektrum ist überaus breit gefächert und bindet unter dem Anspruch der ganzheitlichen Therapie von Krebspatienten neben Interventionstechniken verschiedenster psychotherapeutischer Grundausrichtungen auch Elemente zahlreicher nicht (originär) schulmedizinischer Ansätze - etwa aus verschiedenen Schulen traditioneller östlicher Gesundheitslehre - in die Behandlung mit ein. So beinhaltet sie neben den Verfahren zur akuten Krisenintervention (u.a. Tiefenpsychologie, Verhaltens-, Gesprächs- und Gestalttherapie) auch diverse Methoden ressourcenorientierter Behandlung im Rahmen von Ausdrucks-, Bewegungs-, Entspannungs-, Imaginations-, Konzentrations- und Meditationskonzepten.
Ausdrucksverfahren, wie die Kunst- und Gestaltungs- bzw. die Musik- oder Tanztherapie, beziehen künstlerisch-kreative Ressourcen der Patienten in die Behandlung ein. Der zugrunde liegende Zugangsansatz dieser Verfahren ist die Sichtbar- und Fühlbarmachung nicht oder nur schwer auf sprachlicher Ebene kommunizierbarer Inhalte (Erfahrungen, Gefühle, Haltungen, etc.) im Rahmen des therapeutischen Prozesses. Besondere Bedeutung haben in diesem Zusammenhang körperorientierte Verfahren, da sie den Patienten in seiner materiellen wie nichtmateriellen Ganzheit aktivieren.
Entspannungsverfahren bauen auf den Ansatz der Wechselwirkung von Körper und Psyche und zielen auf die Reduktion psychosomatisch oder somatopsychisch bedingter Belastungen (etwa durch Ängste oder andere Formen von Stress) und die Erreichung eines Zustandes inneren Gleichgewichts. Dazu können neben atemtherapeutischen Übungen, Autogenem Training (nach J. H. Schultz) und verschiedenen Verfahren zur Muskelentspannung (z. B. nach E. Jacobson) auch Techniken der meditativen Praxis, des Yoga, Tai Chi oder Qi Gong einbezogen werden.
Imaginative Verfahren kombinieren vor dem Hintergrund, nachhaltig einen positiven Einfluss auf die Befindlichkeit des Patienten nehmen zu wollen, verschiedene Entspannungstechniken mit dem kreativem Potenzial des Menschen zur Imagination, also dem Vorstellungsvermögen. Das schließt neben Autonomietrainings und systemischer Familienaufstellung u.a. Techniken wie die der therapeutisch geleiteten Visualisierung von Situationen oder Personen ein. Im Kontext der Visualisierung nach Carl O. Simonton werden vom Krebspatienten beispielsweise schwache Krebszellen visualisiert, die durch die körpereigenen Abwehrkräfte zerstört werden, was die tatsächliche Aktivierung bzw. Bestärkung immunologischer Prozesse anstrebt[30]. Eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes stellt das Bochumer Gesundheitstraining dar. Im Rahmen dieses Verfahrens wird gezielt an der Verarbeitung und Veränderung retrospektiv revisualisierter, auf verschiedenen Ebenen erfahrbar gemachter, wenig genesungstauglicher Konzepte der bisherigen Lebensführung gearbeitet. Es kombiniert spirituelle und philosophische Fragestellungen mit medizinischen Themen der gesunden Ernährung, körperlicher Bewegung und einer vielseitigen Lebensführung.[31]
Möglichkeiten und Grenzen psychoonkologischer Versorgung
Es bleibt festzuhalten, dass im Rahmen der Anwendung der oben genannten psychotherapeutischen, Ausdrucks-, Entspannungs- und Imaginationsverfahren die eigentliche Krebserkrankung nicht geheilt werden kann. Die psychoonkologische Versorgung stellt deshalb auch keinen Ersatz für eine medizinische Krebstherapie (Operation inkl. anschließende Weiterbehandlung) dar, sondern ist als deren ganzheitlich orientierte Ergänzung zu verstehen. Sie kann die körperliche und psychische Belastung von Krebspatienten reduzieren und somit die Lebensqualität des Patienten verbessern. Die Bandbreite psychoonkologischer Versorgung erstreckt sich von der psychosozialen Diagnostik über Informationsvermittlung und Beratung, psychotherapeutische Krisenintervention, ressourcenorientierte Basisversorgung in Einzel- und Gruppentherapien, psychoedukative Anleitung von Patienten und ihren Angehörigen, bedarfsorientierte Kooperation und Vernetzung mit externen Leistungserbringern, Rehabilitation und Nachsorge, gegebenenfalls Langzeit- und/oder Sterbebegleitung schwerkranker Patienten und ihrer Angehörigen, bis hin zu abstrakteren Leistungen wie der Prävention und Öffentlichkeitsarbeit. Im Verlauf dieser weitreichenden Versorgungsprozesses werden den Patienten Hilfestellungen zur aktiven emotionalen und psychischen Entlastung und Stabilisierung vermittelt und Unterstützungsmöglichkeiten zur biopsychosozialen Verarbeitung ihrer Krebserkrankung angeboten (z. B. Aufbau sozialer Kontakte, Vermittlung in Selbsthilfegruppen, Aufzeigen konkreter Selbsthilfemöglichkeiten). Sie werden für eine realistische, ressourcen- und lösungsorientierteWahrnehmung ihrer Ängste, Gedanken und Bedürfnisse sensibilisiert und zu einem akzeptierenden, wertschätzenden und salutogenetisch orientierten Umgang mit diesen angeleitet.
Die Grenzen psychoonkologischer Versorgung liegen vordergründig in der, am gegenwärtigen onkomedizinischen Forschungs- und Kenntnisstand ausgerichteten, authentischen Vermittlung ausschließlich realistischer Hoffnungen und Handlungs- sowie Behandlungsoptionen, die den Patienten über seine Krebserkrankung und Handlungsressourcen aufklärt, ihm jedoch keine Ausheilung des Krebs odereine durch die Psychoonkologie begründete Verlängerung seiner Lebenszeit in Aussicht stellt.[32]
2.3 Körper(psycho)therapie
2.3.1 Was ist Körperpsychotherapie?
Nach der Definition der Deutschen Gesellschaft für Körperpsychotherapie e.V. beschreibt die Körperpsychotherapie eine körperorientierte psychotherapeutische Disziplin, die „direkt und indirekt mit dem Organismus als einer essentiellen Verkörperung des mentalen, emotionalen, sozialen und spirituellen Lebens [arbeitet. Der Therapeut bzw. die Therapeutin] ermutigt sowohl innere selbstregulative Prozesse [des Patienten] als auch die angemessene Wahrnehmung der äußeren Realität. Durch seine/ihre Arbeit ermöglicht der/die Körperpsychotherapeut/in entfremdeten Aspekten des Klienten bewusst, anerkannt und integriert zu werden.“[33] Auf der Basis eines Grundverständnisses der Untrennbarkeit und wechselseitigen Bedingtheit von Körper und Psyche ist es das Bestreben der Körperpsychotherapie, die Überführung des Patienten von einem entfremdeten in einen ganzheitlichen Zustand zu ermöglichen. Sie bedient sich vorwiegend tiefenpsychologisch-psychoanalytischer Grundlagen, auf deren Basis unbewusste psychische Prozesse (Übertragungsphänomene, frühkindlich verinnerlichte Überzeugungen, etc.) erfahrungs- bzw. körperwahrnehmungsorientiert mittels verschiedener Techniken körperlicher Berührung, Übung oder Achtsamkeit erlebbar gemacht werden. Trotz zahlreicher neurowissenschaftlicher Belege körperpsychotherapeutischer Grundannahmen, auf die im späteren Verlauf dieses Kapitel noch einmal eingegangen wird, ist die Körperpsychotherapie nach dem deutschen Psychotherapeutengesetz[34] (noch immer) keine einheitlich kassenärztlich anerkannte bzw. abrechenbare Psychotherapiemethode und wird gegenwärtig der Komplementärmedizin zugeschrieben. Lediglich in Einzelfällen werden in Deutschland und in Österreich die Kosten bestimmter körperpsychotherapeutischer Praktiken von einigen Krankenkassen übernommen. In der Schweiz ist die Methode vollständig anerkannt und zugelassen.[35]
2.3.2 Biopsychosoziales Erkrankungsverständnis nach Wilhelm Reich
Das methodische Behandlungsspektrum innerhalb der Körperpsychotherapie ist für eine differenzierte Darstellung im Rahmen dieser Arbeit zu umfangreich, weshalb im Folgenden exemplarisch und ausschnitthaft auf relevante Aspekte des pathogenetischen und therapeutischen Grundverständnisses Wilhelm Reichs, einem der bedeutendsten Pioniere der Körperpsychotherapie, eingegangen werden soll. Reich - Arzt, Psychoanalytiker und ein Schüler Sigmund Freuds - widmete sich in besonderem Maße der Erforschung des Krebs und gilt heute als Wegbereiter zahlreicher moderner körpertherapeutischer Verfahren.
Reichs Forschung baute zunächst auf Freuds These zum Dilemma des vom Lust- und Realitätsprinzip bestimmten Menschen in der zivilisierten Kulturgesellschaft auf[36]. Seit Beginn der 1920er Jahre gab es in der psychoanalytischen Fachwelt eine Diskussion um das Phänomen eines nicht offenkundigen Widerstandes von Patienten im Zuge der psychoanalytischen Behandlung, einer Art verdeckter und geheimer Feindseligkeit des Patienten gegenüber dem Therapeuten, die Reich - im Gegensatz zur Überzeugung großer Teile seiner Fachkollegen - auf einen direkten Zusammenhang zwischen den, durch Freud beschriebenen, Äußerungen des Todestriebs und der Lusthemmung seiner Patienten zurückführte. Unter diesen beobachtete er einen Anstieg selbst- und fremdschädigender Verhaltensweisen bei wachsender Einschränkung der Triebregungen durch die Kultur und führte demzufolge das Phänomen der oben genannten Feindseligkeit auf eine Art charakterlicher Panzerung zurück, die er fortan Charakterwiderstand nannte. Dieser hat die Funktion, individuelle historisch erworbene Abwehrmuster zu organisieren, weshalb er metaphorisch auch als eine Art strukturelles
Abbild individueller Lebensgeschichte mitsamt ihrer daraus gewonnenen Erfahrungen des Patienten verstanden werden kann. Reich führte ihn auf die Notwendigkeit einer körperlich-muskulären Verpanzerung im Sinne anthropologisch gewachsener, situationsbedingter, körperlicher Schutz- und Verarbeitungsmechanismen (z. B. Fluchtreaktion bei Angriffen, etc.) zurück. Wie Freud weist auch Reich den Erlebnissen der frühen Kindheit (Art, Zeitpunkt und Intensität der Konflikte, Verhältnis zwischen gelebter Triebbefriedigung und Frustration, etc.) in ihrer jeweiligen Ausprägung eine zentrale Rolle im Sinne psychosozialer Dispositione]n für die Ausbildung neurotischer Charakterausprägungen bzw. Panzerungen zu. Auf der Basis der FREUDschen Thesen und seiner eigenen Beobachtungen klassifizierte er schließlich eine Reihe neurotischer Charaktertypen (masochistischer, zwanghafter, passiv-femininer, männlich-aggressiver, hysterischer, phallisch-narzisstischer Charakter)[37]. Im Anschluss führte er verschiedene klinische Studien durch, die ihn zur Annahme gelangen ließen, dass sich die von ihm beschriebenen Formen psychischer Verpanzerung (Charaktertypen) jeweils auch als physiologisch-muskuläre Verpanzerung im Körper des Patienten manifestieren müssten.
Vegetative Strömung und Körperpanzer
Im Zuge seiner Recherchen nach medizinischen Studien zur Bekräftigung seiner Annahme stieß Reich schließlich auf Friedrich Kraus' Erkenntnisse zur vegetativen Strömung[38] und wandte diese auf seine Beobachtungen zum Charakterwiderstand an. Er schlussfolgerte, dass sich eine psychosozial bedingte Neurose als chronische Störung im Muskelapparat niederschlage, was sich als Haltungs- und Beweglichkeitsstörung sowie vegetatives Ungleichgewicht äußern müsse[39]. Reich postulierte auf Basis der KRAUSschen Studien, dass die allgemeine Grundlage für jegliche Lebensprozesse die physiologische Korrelation der Prozesse mechanischer Spannung und Entspannung, bioelektrischer Ladung und Entladung sowie - im erweiterten Sinne - von Expansion und Kontraktion ist. Exemplarisch verdeutlichte er diesen Zusammenhang vielfach an der Korrelation psychoemotionaler und biophysischer Prozesse, etwa dem wechselseitigen Wirkungsmechanismus zwischen der Ausschüttung gefäßweitender bzw. -verengender Botenstoffe (Neurotransmitter, Hormone) bei körperlichen Erregungszuständen (sexuelle Lust vs. Angst). Er wies darauf hin, dass die „muskuläre Verkrampfung nicht etwa eine Folge, ein Ausdruck oder eine Begleiterscheinung des Verdrängungsmechanismus [sei, sondern dessen] wesentlichstes Stück“[40] und begründete damit gleichzeitig die Frage nach Aufrechterhaltung desselbigen. Nach Reich bilden demzufolge Muskel- bzw. Körperpanzer und charakterliche Panzerung eine beständige funktionale Einheit[41].
Nach anschließenden intensiven Beobachtungen an seinen Patienten unterteilte Reich die muskulären Körperpanzerungen in sieben psychofunktional zusammenhängende Muskelgruppen entlang der Körper-Rumpf-Länge (von den Augen bis zum Becken).
Vegetotherapie
Reich stellte im Zuge seiner weiteren Praxis fest, dass die ausschließlich auf sprachlicher Ebene kommunizierende psychotherapeutische Methodik für eine ganzheitliche Auflösung psychophysiologischer Verpanzerungen nicht ausreicht[42] und erweiterte die verbale psychotherapeutische Behandlung um verschiedene manuelle Techniken zur Massage und Lockerung der Muskel- und Bindegewebsstrukturen in den entsprechenden psychofunktionalen Muskelgruppen. Aufgrund der Abhängigkeit der Atmung von der Muskelspannung kombinierte er seine psychotherapeutische Behandlung mit verschiedenen Elementen der Atemtherapie[43] und nannte die Gesamtheit dieser kombinierten Verfahren in Anlehnung an Kraus' Grundlagen Vegetotherapie - die erste Methode der Körperpsychotherapie und methodischer Ausgangspunkt zahlreicher späterer körperpsychotherapeutischer Verfahren. Grundprinzip der Vegetotherapie ist die Annahme, dass psychische Erregung zu körperlicher Erregung führt, erhöhte Angst beispielsweise die bioenergetische Ladung im Organismus erhöht, da sie aufgrund der körperlichen Verpanzerung nicht ausreichend abgebautwerden kann. Dertherapeutische Ablauf beginnt,
„(...) derVorstellung von der prinzipiellen Identität von Körper und Seele folgend, sowohl über das Auflockern von muskulären Verspannungen als auch über das Bearbeiten chronischer Charakterhaltungen. Aus der Beobachtung, dass Patienten schon in frühen Jahren den Atem anhalten, um vor allem sexuelle Erregung zu unterdrücken, räumt Reich dem Atmen eine zentrale Bedeutung ein (...)
Die Lösung muskulärer Panzerung findet zum einen über die direkte Behandlung und Lockerung der betroffenen Bereiche statt, was jedoch nicht mit Massage im herkömmlichen Sinn zu verwechseln ist, da (...) leitender Gesichtspunkt stets die emotionale Funktion der Muskelspannung ist. Klassischerweise beginnt man mit der Lösung jener Blockade, welche dem Genitalen am entferntesten liegt (Gesicht, Augen). (...) Die Intensivierung der Atmung geschieht durch verbale Anweisung sowie durch Berührung bzw. Bewegungen. (...) Mit zunehmender Lösung körperlicher Blockaden kommt es zu wahrnehmbaren Strömungsempfindungen, die fortschreitend bis ins Becken bzw. in die Beine reichen, welche letztendlich im Orgasmusreflex ihren Ausdruck finden. Der Orgasmusreflex ist gekennzeichnet durch eine einheitliche Bewegung des ganzen Körpers. Der Organismus folgt einheitlich und total der Spannungs-Ladungsfunktion: Mechanische Spannung (Organe füllen sich mit Flüssigkeiten), bioelektrische Aufladung, elektrische Entladung (durch Muskelzuckungen infolge des Orgasmus), mechanische Entspannung (infolge des Rückflusses der Körperflüssigkeiten). (...) Auch der Vegetotherapeut folgt dem Muster Ladung - Entladung, was bedeutet, dass einer Phase der Aufladung durch intensiviertes Atmen, manuellen Druck oder Bewegung eine Phase der Entladung folgt, in welcher es auch zum Ausdruck von Gefühlen kommt. Wesentlich ist, dass diese Reaktionen unwillkürlich sind. Reich unterstreicht das Kriterium der Unwillkürlichkeit und verweist darauf, dass willkürliche Bewegungen oftmals als Abwehr von unwillkürlichen funktionieren, was in Bezug zur Bioenergetik beachtenswert erscheint.“[44]
Reichs Krebstheorie und seine Bedeutung fürdie wissenschaftliche Nachwelt
Ausgehend von diesem biopsychosozialen Konzept - hervorgegangen aus den ätiologischen Grundlagen nach Freud und den pathogenetischen nach Kraus, weiterentwickelt durch seinen eigenen vegetotherapeutischen Ansatz - begann Reich, intensiv, insbesondere im Rahmen unzähliger praktisch-experimenteller Untersuchungen, an der Erforschung des Krebs zu arbeiten. Die Ergebnisse seiner Forschung sind ebenso komplex wie in ihrer Bedeutung weitreichend. Inhaltlich stark zusammengefasst postulierte er u. a. folgende zentrale Grundthesen[45]:
Krebs ist keine lokale sondern eine allgemeine Erkrankung des gesamten Organismus. Sie stellt die letzte Stufe eines bestimmten biologischen Zellverfallsprozesses dar.
Die Deregulierung der Zellteilungsorganisation ist das Resultat einer unnatürlichen Funktionsweise des Gesamtorganismus, die ihre Ursache in einem bioenergetischen Ungleichgewicht des Zusammenspiels der beiden Systeme Körper und Psyche hat.
Dieses bioenergetische Ungleichgewicht basiert auf einer übermäßigen Abfuhr biosexueller Energie auf zellulärer Ebene.
Zur Veranschaulichung der Prozesshaftigkeit der REiCH'schen Pathogenesetheorie sei aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit gegenüber einer ausführlichen Beschreibung auf Tabelle 2.3.2.a verwiesen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab. 2.3.2.a. Vereinfachte Darstellung der Verstandnisses der Krebsentstehung nach Wilhelm Reich
Reich resümierte: „Das Krebsproblem ist identisch mit dem so unendlich schwierigeren Problem der Beziehung von Leben und Tod. Der Krebs ist nichts anderes als verfrühtes und beschleunigtes, aber'normales'Absterben des Organismus“[46].
Dieser Aussage ist zu entnehmen, dass er die Krebsentstehung als prinzipiell regulären Begleitprozess der biozellulären Entwicklung einschätzte, nach dem die Biopathie des Organismus eines jeden Menschen von Geburt an einzusetzen beginnt. Daraus können diverse Potenziale zur Intervention abgeleitet werden, nämlich dass die Reduktion belastender biopsychischer und biophysischer Einflussfaktoren eine unnatürliche Beschleunigung des natürlichen Biopathieprozesses verhindern kann (Ausschluss kanzerogener Risikofaktoren, Stufe 1) und die Unterstützung des zellulären Stoffwechsels, der Regulierung der Zellteilung und der Vitalfunktionen den Zerfallsprozess entgegenwirken kann (Intervention bei bereits beschleunigtem Biopathieprozess, Stufen 2-4).
[...]
[1] Die verschiedenen Formen von Krebs im Sinne bösartiger Neubildungen werden im internationalen medizinischen Klassifikationskatalog ICD-10 zwischen den Indizes C00 und C97 nach ihrer Art und dem Ort ihrer Manifestation differenziert, weitere Neubildungen unsicheren Verhaltens zwischen D37 und D48. Aufgrund ihrer Komplexität und dem Bedarf einer detaillierteren Differenzierung derverschiedenen Krebsarten wurden die dort beschriebenen Klassifikationen zudem in ein gesondertes, speziell für den Bereich onkologischer Diagnostik entwickeltes, System namens ICD-O überführt. vgl. ICD-10 WHO Online-Version 2011, abrufbar unter: http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlamtl2011/chapter-ii.htm
[2] vgl. „Was ist Krebs“, Beitrag aufdem medizinischen Informationsportal MedizInfo, abrufbar unter: http://www.medizinfo.de/krebs/allgemein/definition.shtml
[3] vgl. „Was ist Krebs“, Beitrag aufdem medizinischen Informationsportal MedizInfo, abrufbar unter: http://www.medizinfo.de/krebs/allgemein/definition.shtml
[4] Marian, B. & Micksche, M.: „Wie Krebszellen entstehen“, MMA, krebs:hilfe! 1/2006, Institut für Krebsforschung, Universitätsklinik für Innere Medizin I, Wien; Artikel abrufbar unter: http://www.clinicum.at/dynasite.cfm?dsmid=72499&dspaid=559489
[5] Marian, B. & Micksche, M.: „Wie Krebszellen entstehen“, MMA, krebs:hilfe! 1/2006, Institut für Krebsforschung, Universitätsklinik für Innere Medizin I, Wien; Artikel abrufbar unter: http://www.clinicum.at/dynasite.cfm?dsmid=72499&dspaid=559489
[6] vgl. „Krebs in Deutschland - Ergebnisse nach ICD-10“, Robert-Koch-Institut, 2010, S.4, abrufbar unter: http://www.rki.de/cln_151/nn_203956/DE/Content/GBE/DachdokKrebs/KID/gesamt_ bKindern/C00__ 97__ 07,templateId=raw,property="publicationFile.pdf"/C00_97_07.pdf
[7] vgl. „Krebs in Deutschland 2005/2006 - Ergebnisse nach ICD-10“, Robert-Koch-Institut, 2010, S.1, abrufbar unter: http://www.rki.de/cln_151/nn_203956/DE/Content/GBE/DachdokKrebs/KID/gesamt_ bKindern/C00__ 97__ 07,templateId=raw,property="publicationFile.pdf"/C00_97_07.pdf
[8] vgl. „Krebs in Deutschland 2005/2006“, Robert-Koch-Institut & GEKID, 2010, S.21, abrufbar: http://www.rki.de/cln_160/nn_205770/DE/Content/GBE/Gesundheitsberichterstattung/GBED ownloadsB/KID2010,templateId=raw,property="publicationFile.pdf"/KID2010.pdf
[9] vgl. Morgan,G., Ward,R., Barton,M.: ,The Contribution of Cytotoxic Chemotherapy to 5-year Survival in Adult Malignancies", clinical onkology Australia 2004, S.549-560 sowie Abel, U.: ,Die zytostatische Chemotherapie fortgeschrittener epithelialer Tumoren, eine kritische Bestandsaufnahme.", Stuttgart 1990, Hippokrates, lSBN-13: 978-3777309675
[10] Blech, J.: ,Giftkur ohne Nutzen", Spiegel-Artikel, 04.10.2004; abrufbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32362278.html
[11] Definition der Gesundheitsberichterstattung des Bundes:
„Unter Zivilisationskrankheiten versteht man [die] zusammenfassende Bezeichnung für funktionelle und organische Gesundheitsstörungen und Krankheitszustände, bei denen materielle wie ideelle Einflüsse der Zivilisation auf den Menschen von auslösender, begünstigender oder auch ursächlicher Bedeutung sind; die Skala dieser Einflüsse (...) [erstreckt sich von] einfachsten Lebensbedingungen der Wohnung, Kleidung, Ernährung, Hygiene, Beleuchtung über die Arbeits- und Lebensgewohnheiten bis zu den Gegebenheiten des Zusammenlebens der Menschen und den nachteiligen Seiten der Technisierung wie unphysiologisch einseitige Belastung, ungenügende Abhärtung, Lärmeinfluss, Luftverunreinigung, Genussmittelmissbrauch, abnorme Betriebsamkeit des modernen Erwerbslebens, Unsicherheit, Existenzangst.“; abrufbar unter: http://www.gbe-bund.de/glossar/Zivilisationskrankheiten.html
[12] vgl. Sennett, R.: „Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“, Berlin-Verlag, Berlin 1998. ^ In Erweiterung der Thesen Sennetts thematisiert Jörg Schröder verstärkt die körperliche Dimension der modernen kulturgesellschaftlichen Belastungen auf den menschlichen Leib; vgl. dazu: Schröder, J.: „Der flexible Mensch und sein Leib“, Marburg, 2008, abrufbar unter: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2008/0916/ sowie Abraham, A.: „Von der Verletzlichkeit der Körper und der Kulturen“, S.12-13; abrufbar unter: http://www.transcript-verlag.de/ts1227/ts1227_1.pdf
[13] Sennett, R.: „Die Angst, überflüssig zu sein“, Artikel fürDIE ZEIT, Nr.21, 19.05.2005, abrufbar unter: http://www.zeit.de/2005/21/Kapitalismus_4
[14] Der Begriff Stress ist ein in verschiedenen Wissenschaften uneinheitlich definierter Begriff. Im Zusammenhang der Untersuchungen psychophysiologischer Dependenzen in Erwartung einer Beeinflussung des Erkrankungsrisikos an Brustkrebs wurden als Indizien für Stress u.a. kritische Lebensereignisse (z.B. Tod nahestehender Personen), Alltagsbelastungen (z.B. Verkehrsstau) sowie chronische Belastungen (z.B. hohe Anforderungen im Job) verwendet.
[15] vgl. „Stress und Krebsrisiko - Gibt es einen Zusammenhang?“, DKFZ Heidelberg, 28.04.2011; abrufbar unter: http://www.krebsinformation.de/themen/risiken/stress.php
[16] „Methodische Probleme: Warum ein Zusammenhang schwer zu belegen ist“, Information des DKFZ Heidelberg; abrufbar unter: http://www.krebsinformation.de/themen/risiken/stress.php
[17] Bauer, J.: „Das Gedächtnis des Körpers“, Eichborn, 2002, S.163-164
[18] Bauer, J.: „Das Gedächtnis des Körpers“, Eichborn, 2002, S.54-55
[19] Bauer, J.: „Das Gedächtnis des Körpers“, Eichborn, 2002, S.57-58
[20] David, R. & Zimmerman, M.R.: „Nature Reviews Cancer 10“, 2010, S.728-733; Artikel abrufbar unter: http://www.medizinauskunft.de/artikel/aktuell/2010/20_10_krebs.php
[21] vgl. Schwarz, R.: „Die Krebspersönlichkeit. Mythos und klinische Realität“, 1994, 2001, Stuttgart, Schattauer Verlag sowie
Dalton, S.O., Mellemkj^r, L., u.a.: „Depression and cancer risk“, 2002, Denmark, 1969-1993. American Journal of Epidemiology, 155, S.1088-1095
[22] „Gibt es die Krebspersönlichkeit?“, Online-Beitrag des DKFZ Heidelberg, 2007, abrufbar unter: http://www.krebsinformationsdienst.de/leben/krankheitsverarbeitung/psyche-und- krebsrisiko.php ^ kritisch dazu: Aragona et al., J. Exp. Clin. Cancer 16:111,1997 Tjemsland etal., Psycho-Oncology 6: 311, 1997 Sachs et al., J. Neuroimmunol. 59: 83, 1995 ^ Erhöhung des Tumorrisikos nicht durch belastende Ereignisse an sich, sondern durch die depressive Verarbeitung der Ereignisse durch den Betroffenen.
[23] „Was sind humane Papillomviren?“, Online-Beitrag von Roche Deutschland, 2010, abrufbar unter: http://www.roche.de/diagnostics/infektionsdiagnostik/gebaermutterhalskrebs.htm
[24] Heußner, P. In: Dorfmüller, M.: „Psychoonkologie. Diagnostik - Methoden - Therapieverfahren“, 1999, 3. Auflage 2009, Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, S.11
[25] vgl. Weis, J., Heckl, U, Link, H. [Hrsg.].: „Psychoonkologische Behandlung und Betreuung: Diagnostik psychosozialer Belastungen und Behandlungsbedarf“, 2006, Online-Beitrag für onkodin, abrufbar unter: http://www.onkodin.de/e6/e38842/e41575/e41581/index_ger.html
[26] Härter, M., Reuter, K., u.a.: „Komorbide psychische Störungen bei Krebspatienten in der stationären Akutbehandlung und medizinischen Rehabilitation“, 2000; 39(6): 317-323, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York; abrufbar unter: https://www.thieme-connect.com/ ejournals/abstract/rehabilitation/doi/10.1055/s-2000-8948#N452-1
[27] Weis, J., Boehncke, A.: „Psychische Komorbidität bei Krebserkrankungen“, Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, Volume 54, Nr. 1, S.46-51, DOI: 10.1007/s00103-010-1184-y; abrufbar unter: http://www.springerlink.com/content/b2j23h57782w667n/ insbesondere: Sellik 1999, Stark2002, Grassi 2004, Massie 2004, Okamura 2005
[28] Zabora, J., BrintzenhofeSzoc, K., u.a.: „The prevalence of psychological distress by cancer site.“, Psychooncology. 2001 Jan-Feb;10(1):19-28., John Wiley & Sons; abrufbar unter: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11180574
[29] Newell, S.A., Sanson-Fischer, R.W. & Savolainen, N.J.: „Systematic review of psychological therapies for cancer patients: Overview and recommendations for future research.“, 2002, Journal ofthe National Cancer Institute 94, S.558-584
[30] Die klinische Wirksamkeit der Simonton-Methode ist umstritten. Kritisch dazu: http://www.esowatch.com/ge/index.php?title=Simonton-Training
[31] vgl. „Psychoonkologische Unterstützung“ des Webportals Biologische Krebsabwehr des GfBK e.V., 2011, Heidelberg; abrufbar unter: http://www.biokrebs.de/therapien/seele-und- koerper/psychoonkologische-therapieverfahren
[32] vgl. „Kodierung psychosozialer Leistungen im Akutkrankenhaus“, Leitlinien der PSO Arbeitsgemeinschaftfür Psychoonkologie in der Deutschen Krebsgesellschaft e.V., Stand 2004; abrufbar unter: http://www.pso-ag.de/main-beratung.htm sowie „Die Möglichkeiten der Psychoonkologie- Lebensqualität zählt“, Interview des Europa Donna - Brustkrebs-Netzwerks Österreich mit Dr. Karin Gruber, Wien 2009; abrufbar unter: http://www.europadonna.at/information/psychoonkologie_moeglichkeiten.html
[33] „Definition der Körperpsychotherapie“ im Internetauftritt der Deutschen Gesellschaftfür Körperpsychotherapie e.V., Berlin 2010; anrufbar unter: http://www.koerperpsychotherapie- dgk.de/Koerperpsychotherapie.html
[34] „Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten“, Stand 02.12.2007; abrufbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/psychthg/BJNR131110998.html
[35] vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Psychotherapie#Rolle_in_den_gesetzlichen_ Gesundheitssystemen
[36] Freud postulierte, dass sich das menschliche Wesen originär am Streben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung (Lustprinzip [Eros]) ausrichtet, es zugleich jedoch existenziellen Bedrohungen durch die Naturgewalten ausgesetzt ist. Um in den daraus, zum Zwecke der Überwindung dieser elementaren Bedrohungen, entstehenden Kulturen überleben zu können, sind die Menschen gezwungen, sich sozial zu arrangieren, was in erster Linie 'Triebverzicht bzw. -kontrolle im Tausch gegen elementare Sicherheit' bedeutet. Da Kulturen aufgrund der verbesserten Regenerationsbedingungen ihrem Wesen nach beständig wachsen, steigt analog auch der Druck zur sozialen Anpassung. Die menschliche Psyche ist daher gezwungen, sich mit den Anforderungen der Kulturgesellschaft zu arrangieren (Realitätsprinzip), was sie in das Dilemma der beständigen 'Sehnsucht' nach dem Anderen (Streben nach Autonomie und Triebbefriedigung [Lustprinzip] vs. Streben nach Sicherheit und Kultur [Realitätsprinzip]) stürzt und im Individuum infolge fehlender Bewältigungsoptionen dieses Dilemmas zu Aggression [Todestrieb] führt. Da das Individuum sich gegen die sogleich automatisch maßregelnde kulturelle Autorität nicht erfolgreich wehren kann, identifiziert es sich mit der Autorität, was äußerlich zu Kontroll- und Strafbedürfnis führt und damit weiteres Leid in den anderen Menschen nach sich zieht. Kultur ist nach Freud daher eine der zentralen Quellen menschlichen Leids, kultureller Fortschritt der Motor wachsenden Unbehagens der Menschen. Sie führt demnach tendenziell zu neurotischen Gesellschaften von sich selbst und ihrer Umwelt entfremdeter Individuen. vgl. Freud, S.: „Das Unbehagen in der Natur“, 1930, S.448f
[37] vgl. Reich,W.: „Charakteranalyse“, 1933 Kiepenheuer & Witsch, 2010 AnacondaVerlag GmbH, Köln, S.198-314, besonders S.256-307
[38] Friedrich Kraus, der heute als einer der bedeutendsten Wegbereiter der modernen Herz- Kreislauf-Diagnostik gilt, studierte in bemerkenswertem Umfang die menschliche Neurophysiologie und gliederte den Menschen nach seinen Erkenntnissen in eine (äußere) Kortikalperson und eine Tiefenperson. Er untersuchte verschiedene elektrophysiologische Zusammenhänge und Wirkungsmechanismen sowie deren physiologische Manifestation in der Tiefenperson. Das Ergebnis seiner Studien war die Erkenntnis, dass der Prozess der vegetativen Strömung elektrolytischer Körperflüssigkeiten als „wahrer Hintergrund aller Reaktion und Entwicklung“ verstanden werden könne (vgl. Kraus, F.: „Allgemeine und spezielle Pathologie der Person“, 1926, Thieme, Leipzig, S.5) „Nach Kraus waren alle Gewebe dank der Ionisation der Körperflüssigkeiten elektrisch geladen. Die Bewegung der ionisierten Körperflüssigkeiten verursachte elektrische Ströme und zunehmende Ladung der Gewebe bei Schwellung und umgekehrt abnehmende Ladung beim Abschwellen der Gewebe.“ (Marlock, G., Weiß, H.: „Handbuch der Körperpsychotherapie“, 2006, Schattauer, S.52) Kraus schlussfolgerte: „Auch die meisten Krankheitszustände, funktionelle wie so genannte organische, haben ihren letzten Grund in der vegetativen Strömung.“ (vgl. Kraus 1926, S.52) Seine Forschungen wurden in den folgenden Jahren durch zahlreiche weitere wissenschaftliche Untersuchungen gestützt und ergänzt.
[39] vgl. Marlock, G., Weiß, H.: „Handbuch der Körperpsychotherapie“, 2006, Schattauer, S.53
[40] vgl. Marlock, G., Weiß, H.: „Handbuch der Körperpsychotherapie“, 2006, Schattauer, S.52
[41] vgl. Reich, W.: „Die Entdeckung des Orgons. Band 1: Die Funktion des Orgasmus“, 1969, Kiepenheuer & Witsch, Köln, S.258-260
[42] Alfred Lorenzer untermauerte diese Einschätzung durch seine Ausführungen zum Szenischen Verstehen, nach dem er den Komplex des Verstehens in einen logischen, einen psychologischen und einen szenischen Verstehensmodus unterteilte. Der Zwang des Patienten zur Reinszenierung konflikthafter Situationen (Übertragung) verdeutlicht in diesem Zusammenhang die Begrenztheit des verbalen Zugangs zu unbewussten Inhalten. vgl. Lorenzer, A.: „Szenisches Verstehen - Zur Erkenntnis des Unbewußten“, Tectum, 2006
[43] In Anlehnung an das Buch „Die Kunst des Atmens“ von Leo Kopfler entwickelten Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen bereits Ende des 19. Jahrhunderts eine eigene Form der Atem-, Stimm- und Sprechtherapie, die noch heute eine wichtige Grundlage logopädischer Arbeit ist. Hintergrund der Therapie ist ein ganzheitliches Grundverständnis des Menschen, nach dem Atemstörungen als Ausdruck psychosomatischer Prozesse verstanden werden. Daran angelehnt wird in der Atemtherapie immer die Ganzheit von Atmung, Körperhaltung und Körperbewegung berücksichtigt. vgl. Schlaffhorst, C., Andersen, H.: „Atmung und Stimme“, Möseler, Wolfenbüttel, 1996
[44] vgl. „Charakteranalytische Vegetotherapie (Reichsche Körpertherapie)“, aus: Stumm, G., Wirth , B.: “Methoden und Schulen der Psychotherapie”, S.4; abrufbar unter: http://www.wilhelmreich.at/wp-content/uploads/Charakteranalytische-Vegetotherapie-.pdf
[45] vgl. Reich, W.: „Die Entdeckung des Orgons. Band 2: Der Krebs“, 1971, 4. Auflage 2009, Kiepenheuer & Witsch, Köln
[46] vgl. Reich, W.: „Die Entdeckung des Orgons. Band 2: Der Krebs“, 1971, 4. Auflage 2009, Kiepenheuer & Witsch, Köln
[47] vgl. „Charakteranalyse“, Beitragsseite des Wilhelm-Reich-instituts Wien, 2009; abrufbar unter: http://www.wilhelmreich.at/?page_id=240
- Arbeit zitieren
- Patrick Hentschke (M.A.) (Autor:in), 2011, Klinische Sozialarbeit mit Krebspatienten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/175455
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