Kaum ein wissenschaftliches Werk der vergangenen 20 Jahre hat die vergleichende Analyse von Wohlfahrtsstaaten so nachhaltig beeinflusst wie Gøsta Esping-Andersens „The Three Worlds Of Welfare Capitalism“ von 1990. Das Werk wurde intensiv rezipiert und bereits nach kurzer Zeit als „Meilenstein in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung“ bezeichnet (Kohl 1993: 72). Bis heute gehört es zum „Standardrepertoire der Wohlfahrtsstaatsforschung“ (Baum-Ceisig et al. 2008: 19) und dient als Grundlage für die Typisierung unterschiedlicher Regimes, indem es ihrer wissenschaftlichen Analyse seinen „Stempel aufgedrückt“ hat (Siegel 2007: 261). Josef Schmidt bezeichnet Esping-Andersens Typologie gar als „Dreh- und Angelpunkt der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung“ (Schmidt 2002: 91).
Kurz nachdem Esping-Andersen die Wohlfahrtsstaatenforschung revolutioniert hatte, erfuhr auch die politische Welt im Jahr 1991 durch den Zusammenbruch der Sowjetunion gravierende Veränderungen. Staaten wie Polen, Ungarn und Rumänien konnten sich dem Westen und seinen außenpolitischen Organisationen annähern, außerdem entstanden neue Staaten wie Estland, Lettland und Litauen. Mittlerweile sind zehn der so genannten Mittelosteuropäischen Länder (MOEL) sogar der Europäischen Union (EU) beigetreten, außer Slowenien gehörten neun davon bis 1991 zum Territorium der Sowjetunion oder standen als Mitglied des Militärbündnisses Warschauer Pakt zumindest unter großen sowjetischem Einfluss. Mit den politischen Veränderungen in diesen Ländern entstanden auch große Herausforderungen – zum Beispiel für die jeweiligen Wohlfahrtsregimes. In diesem Zusammenhang etablierte sich in der Wissenschaft früh der Begriff „postsozialistischer Wohlfahrtsstaat“ (Kasza 2002: 271).
In dieser Arbeit wird diskutiert, ob man bei der Analyse der 2004 und 2007 der EU beigetretenen MOE-Länder mit Hilfe von Esping-Andersens Theorie tatsächlich vom „postsozialistischen Wohlfahrtsregime“ als einer eigenen Kategorie sprechen kann, oder ob es sich eher um eine heterogene Gruppe von Staaten handelt. Dazu wird zunächst das Konzept Esping-Andersens näher erläutert, ehe sich diese Arbeit dem Vergleich unterschiedlicher Wohlfahrtsregimes in den MOE-Ländern widmet und ein Fazit gezogen wird.
Eine eigene empirische Analyse kann diese Arbeit schon aus Gründen des dafür benötigten Umfangs nicht leisten. Deshalb werden Rezensionen, Kritiken und Erweiterungsvorschläge der Wissenschaftsgemeinde herangezogen.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Typologie von Wohlfahrtsstaaten
- 2.1 Esping-Andersen: „The Three Worlds Of Welfare Capitalism“
- 2.1.1 Definition der Grundprinzipien
- 2.1.1.1 Dekommodifizierung
- 2.1.1.2 Stratifizierung
- 2.1.1.3 Verhältnis staatlicher und privater Vorsorgeleistungen
- 2.1.1.4 Defamiliarisierung
- 2.1.2 Die drei Regimetypen
- 2.1.2.1 Der liberale Wohlfahrtsstaat
- 2.1.2.2 Der konservative Wohlfahrtsstaat
- 2.1.2.3 Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat
- 2.1.3 Kritik an Esping-Andersens Konzept
- 2.1.3.1 Erweiterungsvorschläge: mögliche neue Cluster
- 2.1.3.2 Verwendung des Begriffs „postsozialistischer Wohlfahrtsstaat“
- 3. Analyse der Wohlfahrtsstaaten in den MOEL
- 3.1 Historische Entwicklung
- 3.1.1 Unter sowjetischem Einfluss bis 1990/1991
- 3.1.2 Anfang der 1990er Jahre
- 3.1.2 Mitte der 1990er Jahre bis heute
- 3.2 Probleme bei der Anwendung der Regime-Theorie für die MOEL
- 3.3 Vergleich zwischen den Wohlfahrts-Systemen der MOEL
- 3.3.1 Gemeinsamkeiten
- 3.3.2 Unterschiede
- 3.4 Forschungsstand: Schlussfolgerungen
- 4. Fazit
- Anwendung von Esping-Andersens Theorie auf postsozialistische Wohlfahrtsstaaten
- Analyse der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Wohlfahrtssysteme in den MOEL
- Bewertung der Eignung des Begriffs „postsozialistischer Wohlfahrtsstaat“
- Diskussion der Herausforderungen und Chancen für die Wohlfahrtsstaaten in den MOEL
- Einordnung der MOEL in die Typologie Esping-Andersens
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht, ob sich die 2004 und 2007 der EU beigetretenen mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) anhand von Esping-Andersens Theorie als „postsozialistisches Wohlfahrtsregime“ kategorisieren lassen oder ob es sich eher um eine heterogene Gruppe von Staaten handelt. Hierfür wird zunächst das Konzept Esping-Andersens erläutert, anschließend werden die verschiedenen Wohlfahrtsregime in den MOEL verglichen und schließlich ein Fazit gezogen.
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einleitung, die den wissenschaftlichen Kontext der Arbeit erläutert und die Relevanz von Esping-Andersens Konzept „The Three Worlds Of Welfare Capitalism“ hervorhebt. Anschließend wird das Konzept Esping-Andersens näher beleuchtet, wobei die zentralen Begriffe Dekommodifizierung, Stratifizierung, Defamiliarisierung und die drei Regimetypen (liberal, konservativ, sozialdemokratisch) erläutert werden. Die Arbeit geht dann auf die Kritik an Esping-Andersens Konzept ein und stellt die Frage nach der Relevanz des Begriffs „postsozialistischer Wohlfahrtsstaat“. Schließlich wird die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten in den MOEL analysiert, wobei sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern hervorgehoben werden.
Schlüsselwörter
Diese Arbeit befasst sich mit den zentralen Themen der Wohlfahrtsstaatenforschung, insbesondere mit der Typologie von Wohlfahrtsstaaten und der Frage, wie sich postsozialistische Staaten in diese Typologie einordnen lassen. Die wichtigsten Schlüsselwörter sind: Dekommodifizierung, Stratifizierung, Defamiliarisierung, Wohlfahrtsregime, postsozialistischer Wohlfahrtsstaat, Mittelosteuropäische Länder (MOEL), Esping-Andersen, „The Three Worlds Of Welfare Capitalism“.
- Arbeit zitieren
- Bernd Schlüter (Autor:in), 2010, „Postsozialistische Wohlfahrtsstaaten“ – heterogene Gruppe oder Regime-Cluster à la Esping-Andersen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176644