In Mittel- und Nordostitalien vollzog sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ein bemerkenswerter Wirtschaftsaufschwung. Während die wirtschaftliche Entwicklung im Dreieck Mailand-Turin-Genua in den 1950er und 60er Jahren nach fordistischem Muster verlief, schienen hier andere Gesetze zu gelten: Das Wachstum konzentrierte sich erstaunlicherweise auf eher traditionelle Sektoren wie die Textil-, Schuh- oder Möbelherstellung, und statt großer, vertikal integrierter Konzerne prägten vor allem kleine Familienbetriebe das Geschehen. In den 1970er Jahren entstand die Bezeichnung „Drittes Italien“, welche die zentralen und nordöstlichen Verwaltungsregionen im Rahmen der wirtschaftsstrukturellen Gliederung Italiens als eigenen Raum in Abgrenzung zu Nordwesten und Mezzogiorno definiert. Seitdem wuchs das Interesse an der Region merklich und anhaltend gute Wirtschaftsdaten waren die Grundlage für die Entstehung eines Mythos, der das Modell Drittes Italien als europäische Antwort auf die Globalisierung sah und es zum Paradigma regionaler Wirtschaftsförderung erhob.
Doch seit einigen Jahren treten nun auch hier krisenhafte Entwicklungen zutage, die das mitunter sehr positive Bild dieses Wirtschaftsraumes angreifen. Es finden Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer statt, einst unabhängige Kleinbetriebe werden von integrierten Großunternehmen aufgekauft und asiatische Produzenten, die vom Label „made in Italy“ profitieren wollen, machen den alteingesessenen Betrieben vor der eigenen Haustür Konkurrenz. Gleichsam als Gegenreaktion auf die einstige Verklärung beschwören Autoren wie HADJIMICHALIS (2006) oder BIANCHI (1998) bereits das Ende des Dritten Italien herauf. Aus dieser Divergenz in der Bewertung ergibt sich die Hauptfragestellung der Diplomarbeit: Ziel ist es, durch eingehende Analyse der aktuellen wie früheren Entwicklung zu einer differenzierten Neubewertung des Phänomens Drittes Italien zu kommen.
Dabei wird davon ausgegangen, dass ökonomisches Handeln nicht losgelöst vom historisch gewachsenen sozialen Kontext erfolgt. Neben der wirtschaftlichen Analyse soll daher ein breiter Überblick über die soziokulturellen Rahmenbedingungen gegeben werden, vor deren Hintergrund die wirtschaftliche Entwicklung erfolgt. Für die Einordnung und Bewertung der aktuellen Situation ist auch entscheidend, inwieweit die spezifischen gesellschaftlichen Verhältnisse, die einst den Aufstieg des Dritten Italien begünstigten, heute überhaupt noch existieren.
Inhaltsverzeichnis
- I Einführung und Problemstellung
- II Die Ökonomie des Dritten Italien
- II.1 Organisation
- II.1.1 Industriedistrikte nach Marshall
- II.1.2 Flexible Spezialisierung
- II.1.3 Embeddedness und Vertrauen
- II.2 Evolution
- II.2.1 Die Entstehungsphase
- II.2.2 Die Wachstumsphase
- II.2.3 Reife, Erneuerung oder Niedergang?
- II.3 Innovation und Interaktion
- II.2.1 Innovative Milieus
- II.2.2 Das Dritte Italien aus regulationstheoretischer Perspektive
- III Soziokulturelle und historische Rahmenbedingungen
- III.1 Mezzadria
- III.2 Familie
- III.3 Städtesystem und Handwerkstradition
- III.4 Institutioneller Rahmen
- III.4.1 Kommunalpolitik
- III.4.2 Gewerkschaften
- III.4.3 Lokale Banken
- III.4.4 Nationalstaat
- IV Aktuelle Entwicklungen
- IV.1 Demographische und gesellschaftliche Veränderungen
- IV.1.1 Fertilität und Familie
- IV.1.2 Immigration
- IV.2 Internationalisierung
- IV.2.1 Produktionsverlagerung ins Ausland
- IV.2.2 Inverse Delocalization
- IV.2.2a Fallbeispiel: Chinesen in Prato
- IV.3 Großunternehmen
- V Resumée
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Text befasst sich mit der ökonomischen Entwicklung des „Dritten Italien“, einer Region im Zentrum und Nordosten Italiens, die sich durch ihre spezifische Wirtschaftsstruktur und ihren Erfolg in traditionellen Sektoren auszeichnet. Ziel ist es, die Entstehung und Entwicklung dieser Wirtschaftsregion zu analysieren und die besonderen Merkmale ihres Produktionssystems zu untersuchen.
- Die Organisation des Wirtschaftsraums "Drittes Italien" und seine Abgrenzung von anderen Wirtschaftsräumen in Italien
- Die Entstehung, Entwicklung und Herausforderungen des "Dritten Italien" im Kontext des globalen Wandels
- Die soziokulturellen und historischen Rahmenbedingungen, die die Entwicklung des "Dritten Italien" begünstigt haben
- Die Bedeutung von Innovation und Interaktion für den Erfolg des "Dritten Italien"
- Aktuelle Herausforderungen und Entwicklungstrends des "Dritten Italien"
Zusammenfassung der Kapitel
- I Einführung und Problemstellung: Die Einführung stellt die Thematik des "Dritten Italien" in den Kontext des italienischen Wirtschaftsraums und beleuchtet den Nord-Süd-Gegensatz, der lange Zeit die ökonomische Debatte in Italien dominierte.
- II Die Ökonomie des Dritten Italien: Dieses Kapitel analysiert die organisationellen, evolutionären und innovativen Merkmale des "Dritten Italien". Es betrachtet die Bedeutung von Industriedistrikten, flexibler Spezialisierung und Embeddedness sowie die Entstehung und Entwicklung des Wirtschaftsraums.
- III Soziokulturelle und historische Rahmenbedingungen: Dieses Kapitel befasst sich mit den soziokulturellen und historischen Faktoren, die die Entstehung und Entwicklung des "Dritten Italien" geprägt haben, wie Mezzadria, Familientradition und Handwerkstradition.
- IV Aktuelle Entwicklungen: Dieses Kapitel beleuchtet die aktuellen Herausforderungen und Entwicklungstrends des "Dritten Italien", wie demographische Veränderungen, Internationalisierung und die Rolle von Großunternehmen.
Schlüsselwörter
Die zentralen Begriffe des Textes sind: "Drittes Italien", "Industriedistrikte", "Flexible Spezialisierung", "Embeddedness", "Mezzadria", "Handwerkstradition", "Innovation", "Internationalisierung", "Produktionsverlagerung", "Inverse Delocalization".
- Quote paper
- Simon Weller (Author), 2011, Das Dritte Italien - zukunftsfähiges Modell oder fragiles Gebilde?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177301