Und der Altbundeskanzler Kohl hat dennoch recht!


Essay, 2011

21 Seiten


Leseprobe


Statt ernsthaft über die Intervention eines emeritierten politischen Senior Chief Executives oder ehemaligen Staatschefs von Weltformat nachzudenken, der die Hand eines Präsidenten, nämlich die François Mitterands, vor dem Fiasko und Drama von hunderten von Jahren nachbarschaftlicher Feindschaften im Schweigen zusammen mit den Millionen von Opfern dieses historischen Debakels, symbolisch zum Zwecke der alternativlosen Aussöhnung angesichts der neuzeitlichen Imperative hielt - nur vergleichbar mit einem anderen historisch maßgeblichen Leader und dessen symbolischer Zeichensprache, nämlich Willy Brandts Kniefall vor dem Holocaust Mahnmal in Polen - versucht man, seine eigene Politik zu rechtfertigen und die Intervention zu relativieren, indem man sie einem nicht mehr zeitgemäßen geopolitischen Weltbild zuordnet, ja selbst sie zu diskreditieren – und so nichts dazuzulernen. Die verbale und paraverbale Semiotik können von weltpolitischer Tragweite sein. Man denke an Kennedys historisches Berlin Statement, dass unter anderem eine Abschreckung des Feindes in einer bipolarisierten Welt war und die transatlantische Partnerschaft als vitale Voraussetzung für das friedliche Gedeihen der jungen Bundesrepublik rituell bekräftigte.

Die gegenwärtige Debatte erinnert mich an eine Episode aus meiner Studentenzeit in meiner Madrider Männerwohngemeinschaft. Als der guatemaltekische Medizinstudent Oscar einzog montierte er den klassischen Deckenleuchter in seinem Zimmer ab, legte aber dafür den ganzen Boden mit dickem Teppich als amoureuse Spielwiese aus. Es war seine Lösung des Wertedilemmas Pragmatik versus Klassik entsprechend seiner Sozialisierung in einer Kultur ohne viel geschichtlichen Ballast. Doch die Integration der beiden Werte hätte eine Optimierung sein können.

Ebenso, wie im Management, lassen sich die neuen strategischen Akteure hierzulande ungern von ihren Vorgängern im Amt über die Schultern schauen und noch viel weniger hineinreden, obwohl der gegenwärtige Status nur im Lichte der Politik der Vorgänger erklärbar ist. Das junge Land hat eine geringe kulturelle Vergangenheitsorientierung und der für viele mehr vergangenheitsorientierte Kulturen besondere Vorzug der Seniorität mit seiner größeren Weisheit hat daher auch geringere Bedeutung.

Der Altbundeskanzler, ebenso wie der ehemalige französische Staatpräsident, der nicht lange vor seinem Tod, in Moskau klipp und klar in einem Satz mit drei Worten feststellte, dass der Nationalismus Krieg bedeutet (le nationalisme c’est la guerre), hatte diese Zeit, Kulturen und Systeme transzendierende zentrale Erkenntnis und beide haben in Verdun eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft integrierende symbolische Handlung vorgenommen; eine Geste seitens zwei Elder Statesmen, die, so man sie nicht kontextarm, sondern im Sinne kontextreicher Kulturen interpretiert, ganze Bibliotheken füllt. Deutschland hat eine wesentlich kontextärmere Kultur als Frankreich, was zu einer unterschiedlichen Wertigkeit der Geste in den Augen der Bürger der beiden Länder führen mag. Doch zumindest Diplomaten und Strategen verstehen die Sprache des Protokolls, der Rituale und symbolischen Gesten und können sie ihren Landsleuten kulturspezifisch übersetzen. Sie sind vitale Signale gut gemanagter Kommunikation, sowie auch der Abschreckung und ein Teilbereich der Semiotik (Lehre von den Zeichen) in den internationalen Beziehungen. Das alltägliche Ritual der Europa integrierenden EURO-Symbolik in unseren Händen wird daher vielleicht nicht genügend politisch valorisiert. - Dieses Exposé ist ein Plädoyer für die Integration komplementärer innen und außenpolitischer Optiken im Hinblick auf die Optimierung maßgeblicher Entscheidungen.

In Deutschland tut man sich relativ leicht mit der Verhaltensweise der Vergötterung, gefolgt von der Verwerfung eines vormals hochgepriesenen Idols, das die Menschen zu solidarisieren vermochte. Die allgemeinkulturelle relationale oder Beziehungsorientierung ist auch hier gering, die sachdienliche Aufgabenorientierung dominiert. - Auch hier kann man eine Umkehrung deutsch-französischer kultureller Wertepräferenzen beobachten. Und hier besteht in Deutschland offenbar eine systemunabhängige soziokulturelle Kontinuität. Und sie argumentiert für Kohl im Sinne der Kurzfristigkeit ohne langfristige, Zeit(en) überdauernde Orientierung – den Kompassverlust, den man ja gerade in einer planetaren Gesellschaft, sowohl topographisch als auch durch die Multiplizierung maßgeblicher nationaler, wie organisationaler Player (die die Macht von souveränen Staaten nun häufig übertreffen und globale Wirtschafts- Finanz- und strategische Krisen auslösen können) und kultureller Akteure (zum Beispiel die kulturelle Instrumentalisierung der Religion, die einen politisch-strategischen Dominoeffekt auslösen kann.)

Die kurzfristige wirtschaftliche Denkweise, die eigentlich ein Spezifikum des Anglo-Finanzkapitalismus ist, hat offenbar im Zuge der Umerziehung durch die Alliierten auf deutschen Boden gegriffen, nicht aber die politisch langfristige Denkweise dieser Alliierten. Das ist der Unterschied zwischen einer spezifischen Anglo- und einer diffusen deutschen Kultur. Es ist erforderlich, die gesamte Kultur, deren Werte man importiert auf den national-kulturellen, langfristig-historischen Prüfstand zu stellen, um zu erkennen, ob, was, und wie fremdkulturelle Werte in einer deutschen Zielkultur sinnvoll übernommen werden können. Die rechte Korrelierung der Ausgangs und der Zielkultur ist erforderlich für situativ kontextualisiertes, zeitgemäßes Management. Hier sind womöglich die undifferenzierten Kulturimport Enthusiasten und Kohl Kritiker einer kulturunbewussten, obsoleten Erkenntnis verhaftet, weil sie nicht über die historische Tiefenerkenntnis einer positiven Vergangenheitsorientierung verfügen und somit das deutsche Zeit- Kultur- und Identitätsdilemma fortschreiben und ihre eigene Kultur nicht genügend entwickeln, wodurch sie nicht nur wirtschaftliche, sondern auch geistige Leadership beanspruchen und ein begehrterer weltpolitischer Partner mit politischer und kultureller Persönlichkeit werden könnten.

Die politische Kultur und die Gesellschaftskultur bilden die beiden Pole eines interdependenten Kontinuums, die insgesamt einen Kreislauf darstellen und längerfristig kann die Kompass- und Orientierungslosigkeit eines universellen prinzipienlosen Relativismus auf beiden Seiten zu einer gesamtkulturellen Abwärts- oder Lasterspirale führen, die in einer identitäts- und wertefreien Anarchie endet, falls das zunehmend kulturell ungesteuerte Schiff nicht einen Schuss vor den Bug bekommt, damit es noch den Kurs korrigieren kann. Die jüngste Intervention des Bundespräsidenten zur Finanzpolitik und die des Innenminister hinsichtlich der Religionsdebatte, sowie die Helmut Kohls sind Signale, die einen Bewusstseinswandel anmahnen und sollten nicht überhört werden; ein gesamtkultureller Diskurs könnte folgen, in dem die Kultur, wie alles heutzutage in der technisch-wissenschaftlichen Ära ganzheitlicher in Bezug auf seine Zukunftstauglichkeit und Tragfähigkeit evaluiert wird. Dies erfordert die Betrachtung der gesamten historischen Zeitachse, eine gesamtkulturelle kritische Standortbestimmung als Voraussetzung für nachhaltiges Handeln nach innen und außen mit einer erweiterten kulturellen Intelligenz zur Bewältigung des Hier und Jetzt. Denn die Fragmentierung der psychologischen, soziokulturellen Zeitachse mit deren energetisch-physiologischen Auswirkungen gestattet es kulturellen Gegnern, in die verursachte Bresche einzubrechen und einzufallen und über die Zeitachse den damit einhergehenden psychophysiologischen kulturellen und schließlich den topographischen Raum zu okkupieren, was zu einem Kulturkonflikt führt.

Diese kulturkritische Attitude ist nicht das, was einen US-Präsidenten Deutschland übergehen lässt, sondern vielmehr deren Abwesenheit. Nur einen Partner mit einer eigenen kulturell-politischen Persönlichkeit lohnt es sich ja in eine Konsultation miteinzubeziehen. Wenn diese aber nicht als vorhanden erachtet wird, dann ist jede Gallone Kerosin der amerikanischen Präsidentenmaschine mit Destination zu diesem Scheinpartner ja Verschwendung, denn man weiß ja sowieso, beispielsweise, dass der Partner aufgrund seiner geistigen Koordinaten keinen konstruktiven Beitrag zur Lösung eines bestimmten Sachverhalts zu leisten vermag. Man braucht einen Partner, um - so, wie zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten - die Partnerschaft rituell zu besiegeln oder aber um den erforderlichen Rat eines geschätzten Partners einzuholen und in eine Strategieentwicklung miteinzubeziehen.

Wenn der Elder Statesman und ehem. deutsche Staatsmann von Weltformat H. Kohl rügt, dass Deutschland, metaphorisch gesprochen, vom transatlantischen Partner übergangen wird, weil es offenbar, so sein Eindruck vermittels der semiotischen Interpretation im Bereich der Geopolitik, schon seit Jahren keine berechenbare innen- oder außenpolitische Größe mehr se, kann man diese Wahrnehmung eventuell sogar noch durch die Tendenz bekräftigen, dass auch schon europäische Leader versucht waren, Deutschland zu umgehen, und Dinge in einer Art Gentlemen’s Club distinktiver Kulturgüte unter sich abzuklären, aber natürlich aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung nicht um es herumkommen. Dennoch heißt dies nicht, dass bilaterale oder multilaterale Konsultationen an Deutschland vorbei nicht der europäischen politischen Kultur entsprächen, da die souveränen Staaten ja immer noch ihre speziellen internationalen Beziehungen pflegen müssen. Die deutsch-französischen Gipfel bezeugen diese Erfordernis. Und wenn die Partner der Union ihre individuellen Beziehungen nicht-antagonistisch weiterentwickeln, so ist es ein Gewinn für die Gemeinschaft insgesamt.

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Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Und der Altbundeskanzler Kohl hat dennoch recht!
Autor
Jahr
2011
Seiten
21
Katalognummer
V177585
ISBN (eBook)
9783640993918
ISBN (Buch)
9783640995165
Dateigröße
537 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
ein Teil in Englisch
Schlagworte
intrakulturelles Management, H. Kohl, Weltpolitik, Semiotik, internationale Beziehungen, Innenpolitik, Deutschland
Arbeit zitieren
D.E.A./UNIV. PARIS I Gebhard Deissler (Autor:in), 2011, Und der Altbundeskanzler Kohl hat dennoch recht!, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177585

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