Geschlechtsbewusste Wohnungslosenhilfe als Arbeitsfeld Sozialer Arbeit

Männer in Wohnungnot


Bachelorarbeit, 2011

75 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Gesamtgesellschaftliche Ausgangslage

2 Wohnungslosigkeit und Wohnungslosenhilfe
2.1 Begrifflichkeiten und Fallzahlen von Wohnungslosigkeit
2.2 Wohnungslosenhilfe
2.3 Fazit

3 Männerforschung und Männerkonzepte
3.1 Entwicklung und Blickwinkel der Männerforschung
3.2 Soziologische und biographische Erklärungsansätze von Männlichkeit
3.2.1 Böhnisch: Männliche Sozialisation und Bewältigung
3.2.2 Bourdieu: Männlicher Habitus
3.2.3 Connell: Hegemoniale Männlichkeit
3.3 Fazit

4 Soziale Arbeit und Geschlecht
4.1 Männerbewusste Soziale Arbeit
4.2 Geschlechtssensible Beratung

5 Männer in Wohnungsnot
5.1 Deutungsmuster der Wohnungslosigkeit
5.2 Armut und Arbeitslosigkeit
5.3 Soziales Kapital
5.4 Gesundheit, Alkohol und Gewalt
5.5 Männer- und Frauenbilder
5.6 Konsequenzen für das Hilfesystem
5.7 Fazit

Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Die Europäische Union hat das Jahr 2010 zum .Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung’ erklärt. Auch die Bundesregierung hat sich damit verpflichtet ihren Beitrag zu leisten und das Grundrecht der von Armut und sozialer Ausgrenzung Betroffenen auf ein Leben in Würde und auf umfassendeTeilhabe an der Gesellschaft anzuerkennen. Die Regierung lässt jedoch extreme Armut, Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot sowie die steigenden Gesundheitskosten für Arme beinahe unbeachtet. Nahezu polemisch wird von Seiten der Politik, der Wirtschaft und den Medien Stimmung gegen Arbeitslosengeld-Il-Beziehende gemacht. Vor allem im .Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung’ müssen solche Missstände offen gelegt und angeprangert werden weswegen die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. zur bundesweiten Kampagne ,Der Sozialstaat gehört allen!’ aufruft. (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2010b)

Ich arbeite in einer Fachberatungsstelle für alleinstehende männliche Wohnungslose ab dem 25. Lebensjahr in Stuttgart, in der ich auch mein Praxissemester absolvierte. Immer wieder fällt mir auf, dass die Beratung durch scheinbar männerspezifische Verhaltensmuster geprägt ist. Als ich in der Zentralen Frauenberatung hospitierte, in der ausschließlich Frauen angestellt sind, welche feministisch geprägt und parteilich arbeiten, stellte sich mir die Frage wieso nicht auch in der Männerberatung geschlechtssensibel gearbeitet wird. Wieso wird das männliche Geschlecht bei der Hilfe für wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen nicht oder kaum berücksichtigt, wenn doch der Großteil der Wohnungslosen männlich ist?

In der Durchführungsverordnung zum Paragraphen 67 des Zwölften Sozialgesetzbuches ist bei der Hilfe darüber hinaus festgeschrieben „geschlechts- und altersbedingte Besonderheiten sowie besondere Fähigkeiten zu berücksichtigen.“ (§ 2 Abs. 2 Satz 3 DVO zu § 67 SGB XII)

Ich möchte mit dieser Arbeit keinesfalls frauenspezifische Angebote der Sozialen Arbeit in Frage stellen, sondern den Blick für ein männerbewusstes Pendant schärfen.

Zu Beginn meiner Arbeit werde ich die gesamtgesellschaftliche Ausgangslage und im Besonderen den Aspekt der Individualisierung erörtern, da ich die Auswirkungen des sich zurückziehenden Sozialstaates und die Pluralisierung der Lebenslagen vor allem für mein Thema für wesentlich halte, welches sich gleichermaßen mit Männlichkeit, wie mit der Thematik der Wohnungslosigkeit beschäftigt. Die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses kann zu Identitätskrisen führen - dies gilt in besonderem Maße für Männer. Die individualisierte Gesellschaft birgt gleichermaßen Chancen der Selbstthematisierung und Selbstentfaltung, wie Risiken eben diesem Zwang der Selbstverwirklichung nicht nachkommen zu können, was aus Mangel an Ressourcen vor allem für Wohnungslose eine Gefahr darstellt. Die in Punkt 1 erörterten, Gesellschaftsbedingungen sind durchweg Fundament dieser Arbeit.

Im nächsten Gliederungspunkt werde ich mich mit der Thematik der Wohnungsnot bzw. Wohnungslosigkeit und dem dazugehörigen Hilfesystem auseinandersetzen. Nachdem die Begrifflichkeiten definiert wurden werde ich, obwohl es keine offizielle Statistik der Anzahl von Wohnungsnotfällen und Wohnungslosen gibt, auf die Quantität dieser eingehen und auf wohnungslose Männer in Statistiken im Besonderen. Im Anschluss hieran werde ich kurz das Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe darstellen.

In Punkt 3 gehe ich auf den zweiten Gegenstand dieser Arbeit ein: Männlichkeit und Mannsein. Nachdem ich die Entwicklung der Männerforschung beschrieben habe, werde ich auf aktuelle Forschungsrichtungen eingehen. Auf Grundlage dieses Wissens werden verschiedene Konzepte von Männlichkeit vorgestellt. Für Böhnisch (3.2.1) ist die Sozialisation grundlegend für männerspezifische Denk- und Handlungsmuster, die sich vor allem in krisenhaften Situationen in männertypischem Bewältigungsverhalten äußern. Der Habitusbegriff Bourdieus, der im Unterkapitel 3.2.2 beschrieben wird, kann ebenfalls geschlechtsspezifisch gedeutet werden. Habitus und Geschlechterordnung bestimmen sich wechselseitig. Als drittes Konzept (3.2.3) beschäftigt sich diese Arbeit mit dem Modell hegemonialer Männlichkeit, welches von Connell geprägt wurde. Hiernach bestehen verschiedene Männlichkeitstypen nebeneinander. Hegemonie beschreibt hierbei nicht nur das Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen, sondern auch das von Männern untereinander.

Im 4. Kapitel stelle ich mir die Frage welche Konsequenzen diese Konzepte auf eine geschlechtssensible Soziale Arbeit haben könnten. Da ich ein ambulantes Setting, vor allem im Zusammenspiel von männlichem Geschlecht und Wohnungslosigkeit, für am ehesten geeignet halte, werde ich in Punkt 4.2 beschreiben welche Kompetenzen hierfür erforderlich sind.

Im letzten Kapitel dieser Arbeit werde ich die Ergebnisse der Kapitel 2, 3 und 4 auf Basis der gesellschaftlichen Ausgangslage zusammenführen und anhand des Lebenslagenansatzes Handlungs- und Deutungsmuster männlicher Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit in den Bereichen Wohnungsverlust und aktuelle Wohnsituation (5.1), Einkommens- und Arbeitssituation (5.2), Verfügbarkeit von sozialem Kapital (5.3), Gesundheit, Alkoholkonsum und Gewalt (5.4), Männer- und Frauenbilder (5.5) sowie Bewertung des Hilfesystems (5.6), erörtern. Hierbei stütze ich mich auf eine Studie aus dem Jahr 2005 von Jörg Fichtner, der eben dies untersuchte.

Soweit erforderlich werde ich sowohl im generischen Femininum als auch im generischen Maskulinum schreiben. Mit dieser bewussten Beidnennung möchte ich der sprachlichen Gleichbehandlung gerecht werden.

1 Gesamtgesellschaftliche Ausqanqslaqe

Zu Beginn meiner Arbeit möchte ich zunächst die gesamtgesellschaftliche Ausgangslage beschreiben, die jeder unserer Gesellschaft vorfindet. Die pluralisierte Gesellschaft mit ihren erweiterten Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen birgt vor allem für wohnungslose Menschen, die die Zielgruppe meiner Arbeit darstellen, ebenfalls die Gefahr des ,Herausfallens’ aus dieser Gesellschaft in sich. Nicht jeder ist in der Lage die Chancen einer individualisierten Gesellschaft adäquat für sich zu nutzen. Prekäre Arbeitsverhältnisse, die damit einhergehende Gefahr des Identitätsverlustes und mangelnder materieller Absicherung treffen vor allem Männer. Die klassische Sozialstaatlichkeit, welche auf die Sozialgesetzgebung Bismarcks im 19. Jahrhundert zurückgeht, wurde von einer Wohlfahrtsstaatlichkeit abgelöst, die heute durch Globalisierung, Modernisierung und Individualisierung geprägt ist und durch die fiskalische und normativ-kulturelle Krise einen Bruch erhielt, so dass man heute von einer sogenannten .Postwohlfahrtsstaatlichkeit’ sprechen kann. Diese ist gekennzeichnet durch die Aktivierung der Zivilgesellschaft aufgrund expandierender Sozialleistungen bei gleichzeitiger schrumpfender Wirtschaftstätigkeit einhergehend mit monetären Problemen des Staates. Soziale Sicherung geschieht unter Inkaufnahme sozialer Ungleichheiten. Der Staat wird zum Gewährleister, welcher öffentliche Aufgaben steuert und reguliert, deren Ausführung er jedoch in die Hände gesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure und Institutionen legt. Prekariat und Unsicherheit erfassen zunehmend auch die Mittelschichten. Die Unterscheidung zwischen denen, die integriert sind und denjenigen, die ausgeschlossen sind, unterstellt, dass das System im Inneren noch funktioniert, dass nur eine weiter verbreitete Prekarisierung zu verzeichnen ist. Es spricht jedoch mehr dafür, dass Integrationsmaschinerien wie Arbeitsmarkt und Sozialstaat auf eine andere Logik zusteuern, nämlich auf ein gestuftes Nebeneinander von drinnen und draußen. Robert Castel unterscheidet zwischen der Zone der Integration, der Zone der Verwundbarkeit und der Zone der Abkopplung. Menschen, denen ein Wohnungsverlust droht könnten hierbei der Zone der Verwundbarkeit zugeordnet werden, solange die Chance der Wohnraumerhaltung, jedoch bestenfalls die Gefahr des Wohnungsverlustes besteht. Merkmal der postwohlfahrtstaatlichen Gegenwart ist die Zone der Verwundbarkeit, denn nicht nur die Unterschichten, sondern vielmehr auch die Mittelschichten sind von den Umbrüchen betroffen. Abgekoppelt scheinen wohnungslose Menschen ohne jegliche Unterkunft, (vgl. Chassé 2008, 59 f)

Individualisierungstheoreme

Für erklärungsbedürftig, da missverständlich, halte ich den Begriff der Individualisierung. Meines Erachtens ist die Auseinandersetzung mit der Individualisierungsthematik von Nöten, um die steigenden Gefahren aufgrund mannigfaltiger Entgrenzungen im Zusammenwirken mit sozialstaatlicher Reglementierung aufzuzeigen. Besonders betroffen von den Risiken sind bereits an den Rand gedrängte Menschen, wie beispielsweise Wohnungslose.

Der aus der Soziologie stammende Begriff Individualisierung beschreibt Veränderungen kultureller und sozialer Strukturen und deren Konsequenzen für die Akteurinnen und Akteure. Gegenwärtige soziologische Diagnosen zeigen, dass der Individualisierungsbegriff vor allem in den drei Bedeutungsdimensionen Kultur, Struktur und individuelle Autonomie verwendet werden kann. „Veränderungen in den Dimensionen von Kultur und Struktur werden dabei als ursächliche Bedingungen für Individualisierung aufgeführt, während Autonomie als abhängige Variable und damit als ein Definitionskriterium für Individualisierung gedeutet werden kann.“ (Krön / Horáček 2009, 8) In der Dimension der Kultur wird betont, dass sich Werte der Moderne pluralisieren und Moralvorstellungen unverbindlich werden. In der Strukturdimension meint der Individualisierungsbegriff eine Freisetzung des Individuums aus vormaligen strukturellen Kontexten. Letztendlich gewinnen Individuen mit den Auflösungen der traditionellen Strukturen in Familie, Gesellschaft und Arbeit und der parallelen Eingliederung in neue Strukturzusammenhänge an Individualisierungsoptionen, (vgl. Krön 2007, 482 f) Die Frage nach Auswirkungen der kulturellen und strukturellen Veränderungen für die Akteurin bzw. den Akteur akzentuiert Individualisierung in der Autonomiedimension. Das Ineinandergreifen von sozialer (Klassen-) Herkunft und ständisch geprägter Lebensführung bricht zugunsten einer Pluralisierung von Lebenslagen und Individualisierung von Lebenswegen auf. Es werden Multimöglichkeiten des Denkens und Handelns gegeben, mit welchen sich jeder Einzelne auseinandersetzen kann und vor allem muss. (vgl. Krön / Horáček 2009, 8 f) Es entsteht eine Art Verpflichtung zu Autonomie, Selbstkontrolle und Selbstverantwortung. Die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind nun den eigenständigen Wahlentscheidungen der Einzelnen geschuldet, wodurch sich vor allem sozialstrukturelle, solidarische und politische Veränderungen ergeben.

Gerade dieser Zwang zur Selbstkontrolle ist nicht für jeden Menschen gleichermaßen zu bewältigen, so dass der Weg von der Zone der Verwundbarkeit in die Zone der Abkopplung schleichend verlaufen kann.

Das wahrscheinlich populärste Werk, das sich dem Thema der Individualisierung gewidmet hat ist das Buch .Risikogesellschaft’ aus dem Jahr 1986 des Soziologen Ulrich Beck. Bei Becks Individualisierungsthese steht Individualisierung zum einen für einen veränderten Vergesellschaftungsmodus, der die Subjekte umfassend auf Formen der Selbststeuerung und Selbstkontrolle verpflichtet, zum anderen ist Individualisierung eingebettet in einen umfassenden Transformationsprozess der Gesellschaft, den Beck diskutiert. Er deutet den tiefgreifenden Prozess dieses gesellschaftlichen Wandels als historischen Kontinuitätsbruch, (vgl. Wagner 2004, 17) Ulrich Beck setzt auf Reflexivität als Hauptmoment der Gesellschaftsentwicklung. Er geht davon aus, dass die moderne Gesellschaft an einem Punkt angekommen ist, an dem sie sich mit den von ihr selbst initiierten Dynamiken konfrontiert sieht. „Die moderne Gesellschaft (.Erste Moderne’) hat Dinge in Gang gesetzt, deren Konsequenzen nun auf die Gesellschaft zurückfallen (.Zweite Moderne’).“ (Krön / Horáček 2009, 130) Das Schicksal, selbst Produkt der Moderne, steht im Zeichen der Angst, nicht der Not. Die moderne Gesellschaft implodiert quasi und ihre Basisprinzipien lösen sich im Zuge radikaler Modernisierung von Innen her auf. Diese Veränderungen werden auf struktureller Ebene sichtbar, beispielsweise anhand des Wandels politischer oder familiärer institutioneller Vorgaben. Zum anderen ändern sich ebenfalls die Vorgaben für den Wandel selbst, was daran zu erkennen ist, dass sich basale Grundunterscheidungen für sozialen Wandel in der modernen Gesellschaft umformen, (vgl. Krön / Horáček 2009, 132 f) Der analytische Hintergrund von Becks These besteht in der Hervorhebung dreier Dimensionen von Individualisierungsprozessen: Freisetzungs-, Entzauberungs- und Reintegrationsdimension. Unter Freisetzung versteht er die Herauslösung der Subjekte aus vorgegebenen traditionellen Sozialformen und Versorgungsbezügen. Die damit verbundenen Orientierungsunsicherheiten werden in der zweiten Dimension, der Entzauberungsdimension, thematisiert. Die sogenannte Reintegrationsdimension beschreibt die Form der Wiedereingliederung der freigesetzten Individuen in die Gesellschaft. Beck differenziert entlang einer weiteren Ebene, bei der es um den Unterschied zwischen der objektiven Lebenslage und dem subjektiven Erleben geht. Die Untersuchung Jörg Fichtners über männliche Wohnungslosigkeit, auf die ich im späteren Verlauf der Arbeit eingehe, folgt der Logik dieser Ebene. Becks Interesse gilt weniger der subjektiven Lage des Einzelnen als vielmehr der Individualisierung als Prozess, die nach den strukturellen Veränderungen objektiver Lebenslagen und gesellschaftlich bedingten Biographiemustern fragt, (vgl. Wagner 2004, 17 ff)

Das Konstrukt der Risikogesellschaft ist attraktiv für die Soziale Arbeit, da es die Sozialarbeit von der traditionellen Normbindung und der entsprechenden ideologischen Fixierung auf abweichendes Verhalten entlastet und ihr so Raum gibt für eigenständige und der gesellschaftlichen Wirklichkeit angemessene Interpretationen und Interventionskonzepte gibt. Andererseits ist Becks Theorie einseitig und selektiv und der Terminus der Individualisierung ist ausschließlich positiv besetzt. Der Rückgriff auf die Bürgergesellschaft und der Abbau von Sozialleistungen gefährdet Personen, die auf sozialstaatliche Unterstützung angewiesen sind.

Für Lothar Böhnisch ist Individualisierung die Konsequenz beschleunigter ökonomischer und sozialer Arbeitsteilung - Milieus erodieren, normativ-kulturelle Vorgaben lösen sich auf, Lebensstile pluralisieren sich. Bei Böhnischs Individualisierungstheorem handelt es sich um eine soziologische Strukturkategorie, die zwischen dem unterscheidet was mit dem Menschen geschieht und dem, wie er damit umgeht. Mit dem Terminus des damit Umgehens ist eine biographische Lebensbewältigung im Sinne des Strebens nach psychosozialer Handlungsfähigkeit gemeint. Zum anderen ist das Individuum existenziell auf soziale Zugehörigkeit angewiesen, weshalb neue Formen sozialer Integration gesucht werden. Dies bildet den gesellschaftlichen Bezugspunkt seiner These. „Zum Dritten ist [...] in der Sozialpädagogik und Sozialarbeit von Bedeutung, dass, im Gefolge des Strukturwandels der Arbeitsgesellschaft, der Verknappung der Erwerbsarbeit und einer beschleunigten gesellschaftlichen Individualisierung, Tendenzen der sozialen Segmentierung entstehen.“ (Böhnisch 2008, 32) Vormals durchlässige Schichtgefüge werden entstrukturiert und soziale Ungleichheit wird biographisiert. Die segmentierte Arbeitsgesellschaft, die sich aufgrund des neuen Ungleichgewichts von Kapital und Arbeit herausgebildet hat ist nun auch lebensweltlich durch Ein- und Ausschließungen geprägt. Durch die Individualisierung und Pluralisierung von Lebensverhältnissen wird die soziale Welt zufällig, weswegen die multiple Suche nach biographischer Handlungsfähigkeit im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit psychosozialen Problemen und sozialen Konflikten steht. Es kann eine Spezies der Überflüssigen entstehen, die sich aufgrund des digitalen Kapitalismus mit seinen Entbettungs- und Segmentierungstendenzen nicht um diejenigen kümmert, die herausfallen. Bewältigungskonstellationen werden sozial freigesetzt und erscheinen biographisch als kritische Lebenssituation. Da Lebensläufe immer weniger durch einen verlässlichen Rahmen, beispielsweise einer Normalarbeitsbiographie, geprägt sind, sind viele Lebensläufe inzwischen entgrenzt und soziale Verlässlichkeiten verschwimmen. Da in dieser Dynamik immer wieder neue, wie kritische Lebensereignisse freigesetzt werden, können Biographien quasi als eine Aufschichtung von Bewältigungserfahrungen gesehen werden, (vgl. Böhnisch 2008, 31 ff) In extremen Fällen der Nichtbewältigung von kritischen Lebensereignissen kann dies zu Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit führen.

Lothar Böhnisch thematisiert im Zusammenhang mit der sich individualisierenden Gesellschaft auch das Geschlechterverhältnis. Auf diesen Aspekt werde ich in Punkt 3 näher eingehen.

Wie dargestellt bergen die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sowohl Chancen für diejenigen, die Autonomie und Selbstthematisierung positiv konnotieren und umsetzen können, als auch Risiken in sich, die bis zu einer Spezies der Überflüssigen führen können.

2 Wohnungslosigkeit und Wohnungslosenhilfe

Im folgenden Kapitel soll der erste Teilgegenstand dieser Arbeit näher erläutert und definiert werden. Der erste Teilabschnitt wird sich mit Wohnungslosen als Subjekte beschäftigen, der zweite mit dem Hilfesystem für eben diese Personengruppe.

2.1 Beqrifflichkeiten und Fallzahlen von Wohnungslosigkeit

Gesellschaftspolitische Entwicklungen und sozialrechtliche Veränderungen haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Arbeitsfelder und Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit. Die Bundesrepublik nimmt spätestens seit der Hartz-IV- Gesetzgebung Abstand vom Sozialstaat alter Prägung. Es geht nicht mehr um die Sicherung eines erreichten Lebensstandards, sondern es wurde eine monetäre Untergrenze geschaffen, die niemand unterschreiten soll. Das Prinzip der Bedarfsdeckung wurde von dem der Grundversorgung abgelöst. Der vormalige aktive Sozialstaat weicht dem aktivierenden, wessen Grundprämisse .Arbeit um jeden Preis’ lautet, wobei die Schlagworte .fördern und fordern’ im Vordergrund stehen. Materielle Absicherung wird nur unter der Pflicht der Gegenleistung gewährleistet. Gemäß Sozialgesetzbuch (SGB) I sind die Ziele aller Sozialgesetze die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit sowie die Sicherung eines menschenwürdigen Daseins. Im SGB XII wird dieser Idee noch Folge geleistet, denn dort ist zu lesen, dass es Aufgabe der Sozialhilfe ist dem Leistungsberechtigten die Führung eines menschenwürdigen Lebens zu ermöglichen. Gesicherte Rechtsansprüche sind die Voraussetzung zur sozialen Absicherung und gesellschaftlichen Reintegration, (vgl. Gillich/Nagel 2010, 8 ff)

In einer Zeit, in der Armut immer weitere Teile der Bevölkerung erfasst oder bedroht und in der immer mehr Menschen von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt sind, ist das Thema Wohnungslosigkeit aktueller denn je.

Definition der Begrifflichkeiten

Gemäß der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) wird zwischen wohnungslosen Personen in Mehrpersonenhaushalten, alleinstehenden Wohnungslosen und wohnungslosen Aussiedlern in Übergangsunterkünften unterschieden. Des Weiteren findet eine Differenzierung zwischen Wohnungslosen und Wohnungsnotfällen statt.

Eine Person ist ein Wohnungsnotfall, wenn sie wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht ist oder in unzumutbaren Wohnverhältnissen lebt. Wenn der Verlust der derzeitigen Wohnung wegen Kündigung von Seiten der Vermieterin oder des Vermieters, einer Räumungsklage, wegen einer Zwangsräumung oder aufgrund anderer zwingender Gründe unmittelbar bevorsteht spricht man von einem Wohnungsnotfall. (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2008a) „Wohnungslos [hingegen, J.S.] ist, wer nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt.“ (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2008a) Im ordnungsrechtlichen Sektor bedeutet dies, dass aktuell von Wohnungslosigkeit betroffene Personen jene sind, welche aufgrund ordnungsrechtlicher Maßnahmen ohne Mietvertrag untergebracht sind was bedeutet, dass lediglich eine Einweisung in Wohnraum mit Nutzungsvertrag stattfand oder sie in Notunterkünften wohnen. Im sozialhilferechtlichen Sektor sind dies Menschen, die ohne Mietvertrag untergebracht sind, wobei die Kosten nach Sozialgesetzbuch II oder XII übernommen werden, sowie Betroffene, die sich in Heimen oder Notübernachtungen aufhalten, da keine Wohnung zur Verfügung steht. Des Weiteren gelten im sozialhilferechtlichen Sektor Personen als wohnungslos, die als Selbstzahler in Billigpensionen leben, sich vorübergehend bei Bekannten oder Verwandten aufhalten oder denen jegliche Unterkunft fehlt und die deshalb Platte machen. Aussiedler, die noch keinen Mietwohnraum gefunden haben und in Aussiedlerunterkünften untergebracht sind, gelten als wohnungslos im Sinne des Zuwanderungssektors, (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2008a)

Die AG Definition der BAG W erweiterte diese Definition um ehemals von Wohnungslosigkeit betroffene oder bedrohte Personen, die nun mit Normalwohnraum versorgt wurden und auf Unterstützung zur Prävention von erneutem Wohnungsverlust angewiesen sind. Dies kann im Rahmen eines Betreuten Wohnens institutionell geschehen oder aber auch ohne eine institutionell geregelte Nachbetreuung jedoch mit besonderer punktueller und partieller oder umfassender Unterstützung zur dauerhaften Wohnraumerhaltung. Mit diesem Vorschlag wird verdeutlicht wie wichtig Nachsorge ist, um die Ergebnisse eines erfolgreichen Hilfeprozesses nicht zu gefährden. Diese Fallgruppe unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass die akuten Wohnungsnotprobleme zwar gelöst sind, dass aber zur Stabilisierung der Wiedereingliederung in normale Wohnverhältnisse spezifische Nachbetreuung andauert bzw. dass wohnergänzende Unterstützung bei Bedarf über einen längeren Zeitraum verfügbar sein muss. (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2010a) Bis dato ist der Bereich der präventiven Hilfen in der Wohnungsnotfallhilfe noch randständig. Lediglich 1% der Hilfeangebote sind eigenständige präventive Angebote. Um wie dargestellt nachsorgend unterstützen zu können und um positive Ergebnisse des Hilfeprozesses nicht zunichte zu machen, müssen Angebote dieser Art ausgebaut werden, (vgl. Rosenke 2010) Des Weiteren regte die AG Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft Anfang dieses Jahres an, den Wohnungsnotfallbegriff als einen der Grundbegriffe zur Beschreibung der Lebenslage der Klientel der Wohnungslosenhilfe zu verwenden. Ebenfalls wird der Terminus .Personen in besonderen sozialen Schwierigkeiten’ als weiterer Grundbegriff zur allgemeinen Beschreibung der Lebenslage gesehen. Dieser ist nicht notwendig deckungsgleich mit dem Rechtsbegriff des § 67 SGB XII, welcher von Personen ausgeht, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind. (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2010a) Die gegenwärtigen und zukünftigen Adressatinnen und Adressaten des Hilfesystems können so auf einer allgemeinen Ebene sinnvoll beschrieben werden. Präventionsbemühungen und Integrationsleistungen der Wohnungslosenhilfe, die mit 1200 Diensten bundesweit Hilfen zur Überwindung von Armut und Wohnungslosigkeit anbietet, leisten einen entscheidenden Beitrag zu den bis vor zwei Jahren rückläufigen Wohnungslosenzahlen. (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2009)

Die soziale Situation von Wohnungslosen ist geprägt von Langzeitarbeitslosigkeit, Entwertung beruflicher Qualifikationen, prekären Beschäftigungsverhältnissen, Armut, schlechtem Gesundheitszustand und allzu oft auch durch Vertreibung in andere Gemeinden und aus dem öffentlichen Raum. „Wohnungslosigkeit wurde immer mehr in engem Zusammenhang mit Armut und Wohnungsnot diskutiert und somit als Ausdruck einer sozialen Lage interpretiert, die von struktureller Ausgrenzung, Stigmatisierung und Unterversorgung charakterisiert ist.“ (Titus / Simon 2007, 8)

Fallzahlen der von Wohnungslosigkeit bedrohten und betroffenen Personen

In Deutschland gibt es keine bundesweite Wohnungsnotfallberichterstattung, weshalb die Zahl der Wohnungslosen und Wohnungsnotfälle geschätzt wird. Zuletzt forderte daher die BAG W in einer Presseerklärung am 30.09.2010 die Einführung einer bundesweiten Wohnungsnotfallstatistik, was die Bundesregierung jedoch weiterhin ablehnt. Eine bundesweite und einheitliche Statistik ist Planungsgrundlage für Bund, Länder und Gemeinden und Bestandteil der Armutsberichterstattung. Seit 2009 ist ein Anstieg der Zahl der Wohnungslosen und der von Wohnungslosigkeit bedrohten Haushalte zu verzeichnen. Für das Jahr 2010 erwartet die Bundesarbeitsgemeinschaft einen noch höheren Anstieg. Die unzureichende Anpassung des Regelsatzes und die vielen Streichungen und Kürzungen im sozialen Bereich werden das Risiko in Deutschland wohnungslos zu werden drastisch erhöhen.

Im Jahr 2008 betrug die Zahl der Wohnungsnotfälle insgesamt ungefähr 330.000. Davon gehörten 227.000 zu den wohnungslosen, 103.000 zu den von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen. Zu viele Menschen sind von Wohnungslosigkeit unmittelbar bedroht. Von den eben aufgeführten 103.000 Personen wurden ungefähr 30.000 von den Freien Trägern der Wohnungsnotfallhilfe betreut. Die Gesamtzahl der in Deutschland wohnungslos gewordenen Menschen war jahrelang leicht rückläufig, jedoch leben auch heute noch schätzungsweise 20.000 Menschen in Deutschland ohne jede Unterkunft auf der Straße, (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2008a)

Die Präventionsbemühungen der Wohnungsnotfallhilfe zeigen Wirkung. Mit Ausnahme der Ballungszentren sank die Zahl wohnungsloser Menschen bis 2008. Andererseits hat diese Zielgruppe immer weniger Chancen auf eine dauerhafte Verbesserung der Situation und wird vom aktivierenden Sozialstaat systematisch überfordert. 2009 kam es das erste Mal seit Jahren wieder zu einem Anstieg der Zahl der Wohnungslosen und der von Wohnungslosigkeit Bedrohten. Die vormals rückläufige Entwicklung bei Menschen ohne Wohnung ist auf einen Wohnungsmarkt zurückzuführen, auf dem aufgrund stagnierender Bevölkerungsentwicklung weniger Nachfrager auftreten. Jedoch nimmt vor allem im Bereich der Kleinraumwohnungen die Nachfrage aufgrund der fortlaufend steigenden Zahl von Einzel- und Paarhaushalten zu und führt in großstädtischen Regionen zu Engpässen.

Es gibt wie dargestellt Unterschiede zwischen den Termini .Wohnungslose’ und ,von Wohnungslosigkeit Bedrohte’ / .Wohnungsnotfall’. Ich werde sie im Folgenden jedoch synonym verwenden. Ich halte eine weitere Differenzierung für nicht notwendig, da die Übergänge, vor allem in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen fließend sind.

Wohnungslose Männer in der Statistik

Ungefähr drei Viertel der Betroffenen sind Männer. Erhebungen, die systematisch Geschlecht in diesem scheinmaskulinen System thematisieren stehen aus. Die Wohnungslosenforschung ist implizit auf die Situation von Männern fokussiert, macht jedoch Geschlecht nicht zum Thema. „Das Feld ist geprägt durch eine Forschungstradition, die als geschlechtsblinde Männerforschung bezeichnet werden könnte. Männer mögen die Wohnungslosenhilfe dominieren, Männlichkeit als Erkenntnisperspektive bleibt darin aber meist heimatlos.“ (Fichtner 2009, 49) Typische sichtbare Wohnungslosigkeit ist männlich, während verdeckte Wohnungslosigkeit stärkerweiblich ist, weswegen das Bild des wohnungslosen Mannes dominiert. Detailliertere Daten mit einem geschlechterdifferenzierten Blick in der

Wohnungslosenstatistik liegen durch den Datensatz der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. aus dem Jahr 2006 und von der evangelischen Obdachlosenhilfe (GOE-Studie) vor.

Die Studien weisen zum Teil erhebliche Unterschiede auf, stimmen jedoch beispielsweise bei den rein rechtlichen Gründen für die Wohnungslosigkeit von Männern überein. Hier zeigt sich, dass eine Kündigung durch Vermieterin oder Vermieter oder eine Räumung wegen unterschiedlicher Probleme zwar eine maßgebliche Rolle spielt, jedoch die Kündigung durch den Betroffenen selbst oder dessen Auszug ohne Kündigung zusammen mindestens genauso gewichtige Gründe darstellen, (vgl. Nothbaum / Kämper/ Lübker2004, 12 ff)

Beim Anlass des Wohnungsverlustes sind vor allem Mietschulden, Ortswechsel und Partnertrennungen wichtige Auslöser, (vgl. Fichtner 2007, 70 f) Partnerschaftsbedingte Wohnungsverluste treten allerdings wesentlich seltener auf als bei Frauen.

Obwohl Wohnungsnot vor allem mit Einkommensarmut verbunden ist, liegen belastbare Daten zur Einkommenssituation von (männlichen) Wohnungslosen kaum vor. Es wird geschätzt, dass wohnungslose Männer etwas häufiger als Frauen in der gleichen Situation über gar kein Einkommen verfügen. Für annähernd die Hälfte der Befragten stellen im Jahr 2006 Arbeitslosengeld I und II die maßgebliche Einkommensquellen dar, ein Zehntel lebt von Sozialhilfe. Viele der Betroffenen sind verschuldet, (vgl. Fichtner2009, 50)

Angaben zum Bildungsniveau und zur Berufsausbildung von Männern im Wohnungsnotfall liegen aus beiden Studien vor. „Rund zwei Drittel gaben bis zum Jahr 2004 eine Berufsausbildung an, in den neueren Zahlen sind es nur noch gut die Hälfte. Hierbei liegen sie aber deutlich höher, als die vergleichbaren Frauen. Umgekehrt war das Bildungsniveau der Männer im Jahr 2006 im Schnitt niedriger als bei den Frauen, fast vier von fünf Männern verfügten nur über einen niedrigeren Bildungsabschluss.“ (Fichtner 2009, 51)

Vorliegende statistische Daten erlauben die Bestimmung einiger weniger Merkmale sozialer Netze, wenn sie auch keine Aussagen über deren Qualität und Reichweite zulassen können. Männer sind in dieser Situation mit 70% wesentlich häufiger ledig als Frauen. Mehr als ein Fünftel gab an gar keine sozialen Beziehungen zu haben. Auch im Bezug auf Verheiratete besteht eine erhebliche Geschlechterdifferenz: Wohnungslose Frauen sind wesentlich öfter verheiratet als Männer in Wohnungsnot, (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2008, 165 ff) Männern stehen also weniger partnerschaftliche Netzwerkressourcen zur Verfügung. Grundsätzlich leben männliche von Wohnungslosigkeit Bedrohte und Wohnungslose deutlich häufiger ohne Partnerschaft und Kinder als Frauen in vergleichbarer Situation. Entsprechend der Daten der GOE-Studie haben allerdings ein Drittel der Männer Kinder, zu denen sie zum Großteil jedoch keinen regelmäßigen oder gar keinen Kontakt haben. Frauen scheinen über ausgeprägtere außerinstitutionelle Netzwerke zu verfügen. Weitere Unterschiede zuungunsten männlicher Betroffener ergeben sich hinsichtlich der Kontakte zur Herkunftsfamilie und sonstigen Verwandten. Männer orientieren sich eher an Kontakten innerhalb der Szene und diesen kommt eine größere Bedeutung zu. (vgl. Fichtner 2007, 73)

Beide Studien berichten von einem hohen Maß an akuten und chronischen Erkrankungen und auch von einem beträchtlichen Anteil von Schwerbehinderten unter wohnungslosen Männern. Die Selbsteinschätzung der Betroffenen ist jedoch gegensätzlich. Von besonderer Bedeutung sind Suchterkrankungen, insbesondere Alkoholabhängigkeit, aber auch sonstige psychische Beeinträchtigungen. Bei wohnungslosen Männern ist darüber hinaus ein höherer Pflegebedarf im Alter festzustellen, (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. 2008b, 30) Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich wohnungslose Männer in der Hinsicht von Frauen unterscheiden, da sie älter sind, seltener verheiratet oder verwitwet, aktuell weder Partnerin oder Partner noch Kinder haben und geringere soziale Netzwerke. Sie verfügen durchschnittlich über ein geringeres formales Bildungsniveau, haben aber häufiger eine Berufsausbildung abgeschlossen und waren erwerbstätig. Männer sind eher langfristig wohnungslos und haben wiederholte Wohnungsverluste. Außerdem werden männliche Betroffene seltener als Frauen in Wohnraum vermittelt. Die materiellen Startbedingungen für wohnungslose Männer scheinen häufig besser zu sein, jedoch verarmen sie stärker insbesondere in Bezug auf ihr soziales Kapital, weswegen sie auch auf höhere subjektive und objektive Hürden stoßen, ihre Wohnungslosigkeit wieder zu beenden. Wohnungslose Männer scheinen gegen das gesellschaftlich vorgegebene Männerbild zu verstoßen und sind somit im Sinne Connells (Kapitel 3.2.3) als marginalisierte Männer zu bezeichnen. Gleichzeitig lassen sich jedoch auch hegemoniale Männlichkeitsmuster erkennen: Zum einen in der Gewaltförmigkeit männlicher Lebenszusammenhänge, zum anderen in einem kleinbürgerlich-konservativen Frauenbild als Aufstiegsphantasie. Dies könnte den defizitorientierten Blick hin zu den Stärken dieser Männer lenken.

2.2 Wohnungslosenhilfe

Die Wohnungsnotfallhilfe hat den Auftrag ein gesellschaftliches Problem zu bearbeiten, das entscheidend durch die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt wird. „Wohnungslosigkeit ist die individuelle sich ausprägende Folge struktureller Armut und Unterversorgung.“ (Gillich / Nagel 2010, 8)

Die Armenfürsorge hat eine Tradition, die bis in das Mittelalter reicht. Ich werde auf die Historie nicht weiter eingehen und bei der heutigen Zeit und den Angeboten der Wohnungsnotfallhilfe ansetzen.

Die Anpassungsleistungen an sozialpolitische Modernisierungsprozesse sind eine Renaissance sozialstaatlicher Zwangs-, Disziplinierungs- und Sanktionsmaßnahmen nach alter Unterscheidung zwischen arbeitswilligen und arbeitsunwilligen Armen und Arbeitslosen aus dem 19. Jahrhundert. Soziale Arbeit im Bereich der Wohnungslosenhilfe muss wieder sozialpolitischer werden und sich aktiv in (lokal-) politische Diskurse und Entscheidungen einmischen. Mit der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit ist auch die Würde und Individualität der Menschen bedroht, die arm, exkludiert und hilfebedürftig sind. (vgl. Malyssek / Storch 2009, 211 f) Die Wohnungslosenhilfe hat sich in den letzten Jahrzehnten von einem eher traditionell und fürsorglich agierenden Hilfesystem zu einer modernen Dienstleistung gewandelt, die in sehr differenzierten Leistungstypen wohnungslosen Menschen Angebote zur Bewältigung ihrer Probleme und Konflikte stellt. Das Verständnis der oder des Wohnungslosen als mündige Bürgerin oder mündiger Bürger hat veraltete und zum Teil stigmatisierende Begriffe abgelöst. Das in der Vergangenheit stark medizinisch, defizitär und psychopatologisch geprägte und individualisierte Bild wurde durch neue Zugänge allmählich abgelöst, (vgl. Titus / Simon 2007, 59 ff)

Menschen, die ihre Wohnung verlieren oder denen entsprechender Verlust droht, können sobald sie diese Notlage bei den kommunalen Behörden anzeigen nach geltendem Recht auf Interventionsmöglichkeiten hoffen. Zum einen sind Kommunen nach Ordnungsrecht dazu verpflichtet Wohnungsnot zu beseitigen, zum anderen können betroffene Personen weitergehende persönliche Hilfen zur Überwindung ihrer besonderen sozialen Schwierigkeiten gemäß §§ 67-69 SGB XII beanspruchen. Stationäre Einrichtungen waren lange Zeit die Basis der Hilfen für Wohnungslose und wurden ab den 1970er Jahren durch spezialisierte und vor allem ambulante Angebote ergänzt. In stationären Einrichtungen kann über einen direkteren und auch täglichen Zugang der Menschen zur Sozialen Arbeit unter Umständen eine intensivere und auch längerfristige Arbeit an den Problemlagen und eine Suche nach Lösungen ermöglicht werden. Schritte zur Wiedereingliederung per Hilfeplan in einem stationären Setting sind nur indiziert, wenn die Möglichkeiten einer ambulanten Betreuung erschöpft sind. Diese Art der Hilfe ist sehr hochschwellig und eine Erreichbarkeit stationärer Hilfe stellt Männer womöglich vor die Schwierigkeit ihre Schwellenangst überwinden zu müssen, weswegen ich im Verlauf dieser Arbeit von einem ambulanten Setting ausgehe. Ambulante Angebote haben Vorrang vor den Stationären und sollen den Betroffenen das alltägliche Leben erleichtern und ihnen Unterstützung bei der Strukturierung des Alltags geben, sowie vor allem Beratungsleistungen von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern zur Verfügung stellen. Ambulante und auch stationäre Hilfen sind miteinander und interdisziplinär vernetzt, (vgl. Titus / Simon 2007, 92 ff)

Gesetzlich verankerte Hilfe nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch kann per se nicht jeder von Wohnungslosigkeit bedrohte oder betroffene Mensch in Anspruch nehmen, wobei Wohnungsnot natürlich ein wichtiger Indikator ist, denn mit dem Verlust der Wohnung gehen häufig weitere Prozesse der Ausgrenzung und Unterversorgung einher. Für eine Wiedereingliederungsmaßnahme nach §§ 67 ff SGB XII müssen weitergehende besondere soziale Schwierigkeiten vorliegen, die einen sozialarbeiterischen Bedarf erkennbar werden lassen. Erst dann ist ambulante oder stationäre Hilfe im Rahmen der organisierten Wohnungsnotfallhilfe möglich. Diese besonderen Lebensverhältnisse können als eine Mangelsituation begriffen werden. Den Betroffenen fehlen also materielle und / oder immaterielle Güter und Kompetenzen, um ein selbständiges Leben führen zu können. Diese Unterversorgung wird vor allem deutlich durch fehlenden oder mangelhaften Wohnraum, ungesicherte wirtschaftliche Lebensverhältnisse, Arbeitslosigkeit und einem Mangel an sozialer Teilhabe. (vgl. Titus / Simon 2007, 94 f)

Wesentlich für den Hilfeprozess ist zum einen, dass die Hilfen lediglich einen Angebotcharakter besitzen, zum anderen, dass die Unterstützungsmaßnahmen mit den Betroffenen gemeinsam erarbeitet werden. Hierdurch kommt der Respekt vor der Freiheit und Würde des hilfeberechtigten Menschen zum Ausdruck. Bevormundende Festlegungen gilt es zu vermeiden, der Hilfeprozess in der Wohnungslosenhilfe muss menschlicher Vielfalt gerecht werden. Das Wohnungslosenhilfesystem soll Unterstützung zur adäquateren Lebensbewältigung liefern, da dies den Betroffenen aus eigener Kraft oftmals nicht möglich ist. „Lebensbewältigung meint dabei die Aktivierung von Kompetenzen und Fähigkeiten, existenzielle, institutioneile und persönliche Hilfen für sich selbst zu nutzen, um den eigenen Lebensentwurf neu ausrichten und praktizieren zu können.“ (Titus / Simon 2007, 102)

Oftmals wird im System der Wohnungsnotfallhilfe mit dem Schlagwort .Wiedereingliederung’ als Zielformulierung agiert. Zum einen sind wohnungslose Menschen Teil der Gesellschaft, zum anderen ist dieser Terminus unbestimmt und schwer präzise zu definieren. Hilfe sollte Normalität zum Ziel haben, jedoch nicht im Sinne einer bloßen Anpassung an bestehende Normen, sondern mit dem Ziel den Adressatinnen oder Adressaten einen geltenderen Alltag zu ermöglichen. Die Kompetenzen des Hilfesuchenden müssen im Mittelpunkt der passgenauen ressourcenorientierten Hilfen stehen. Im entsprechenden Sozialgesetzbuch steht ebenfalls, dass die Verhinderung von Schlimmerem ein Ziel der Hilfe darstellt. Dies ist aber leider schwierig vor Kostenträgern zu rechtfertigen.

Es wird geschätzt, dass es zwischen 20 und 30 Prozent der Wohnungslosen mit Unterstützung der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und professioneller Sozialer Arbeit gelingt wieder einen menschenwürdigen Platz in geordneten Wohnverhältnissen zu finden und in die Gesellschaft zurückzukehren. Die Wohnungslosenhilfe sieht sich weiterhin angesichts gegenwärtiger sozialpolitischer Anforderungen damit konfrontiert die Effizienz und Effektivität ihrer Arbeit zu belegen. Da die Hilfe für Adressatinnen und Adressaten aufgrund massiver multipler Problemlagen selten weder effektiv noch effizient ist besteht die Gefahr, dass genau diese aus dem Hilfesystem verdrängt werden könnten. Es ist Aufgabe der Sozialen Arbeit in jedem Arbeitsfeld, besonders jedoch in der Wohnungsnotfallhilfe, eine Synthese zwischen den fortdauernden Grundaufgaben der Sozialarbeit, dem kritischen Blick auf die schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen und einem prozessorientierten Ansatz bei notwendigen Strukturveränderung herzustellen, (vgl. Malyssek / Storch 2009, 209 f)

2.3 Fazit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die Definitionen in den letzten Jahren zugunsten des Wohnungsnotfallbegriffs verschoben haben und hierdurch auch auf den gesellschaftlichen Wandel reagiert wird, wodurch das .abgehängt’ werden nicht mehr nur die prekarisiertesten Bevölkerungsschichten betrifft.

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Ende der Leseprobe aus 75 Seiten

Details

Titel
Geschlechtsbewusste Wohnungslosenhilfe als Arbeitsfeld Sozialer Arbeit
Untertitel
Männer in Wohnungnot
Hochschule
Hochschule Esslingen
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
75
Katalognummer
V177798
ISBN (eBook)
9783640997206
ISBN (Buch)
9783640997107
Dateigröße
781 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wohnungslos, männerspezifisch, geschelchtssensibel, Soziale Arbeit, Wohnungslosenhilfe
Arbeit zitieren
Julia Schlembach (Autor:in), 2011, Geschlechtsbewusste Wohnungslosenhilfe als Arbeitsfeld Sozialer Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/177798

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