Leseprobe
Inhalt
1. Der symbolische Interaktionismus
2. Die Identitätstheorie nach Georg Herbert Mead
2.1. Vom Kind zum gesellschaftlich moralischen Wesen
2.2. Von der Geste zur Sprache
2.3. Die Identität bei Mead
3. Die Identitätstheorie nach Erving Goffman
3.1. Die Rolle und die Darstellungen
3.2. Die Ensemble-Darstellung
3.3. Funktionen der Vorder- und Hinterbühnen und ihrer Geheimnisse
3.4. Kommunikation
4. Kritik und Stellenwert
4.1. Fazit der Mead´schen Identitätstheorie
4.2. Fazit der Goffman´schen Identitätstheorie
5. Literaturverzeichnis
1. Der symbolische Interaktionismus
Der Begriff des symbolischen Interaktionismus beschreibt einen sozialwissenschaftlichen Ansatz zur Analyse menschlichen Verhaltens. Dieser geht davon aus, dass Personen handeln, in dem sie sich und Anderen die Bedeutung ihres Handelns anzeigen (Thomas, 1928, S. 114). Innerhalb von Interaktionen nutzt der Mensch Zeichen und Symbole, die in das menschliche Handeln einfließen. Die Schule des symbolischen Interaktionismus (oder auch Chicago School) wurde von Georg Herbert Mead (1863-1931) gegründet. Mead war geprägt vom Pragmatismus und vom Behaviorismus. Er geht also davon aus, dass sich menschliches Verhalten an der gegebenen Umwelt orientiert (Pragmatismus) und das als Wahr erachtet, was der gegebenen Situation dienlich ist. Somit stellt Mead, nach dem Vorbild Nietzsches, Handeln über Denken. Weiterhin unterstellt Mead, dass menschliches Verhalten mit naturwissenschaftlichen Methoden messbar ist. Innerhalb jeder Interaktion werden Reize übermittelt, die im Empfänger bestimmte Reaktionen auslösen, und somit zu messbaren Konsequenzen führen. Der behavioristische Ansatz stützt sich auf Forschungsarbeiten I.P. Pawlows. Dieser konditionierte seine Hunde, indem er jeweils auf denselben Reiz dieselbe Reaktion ablaufen ließ (Glocke läuten – Fressen). Fazit des Experimentes war, das beim Läuten der Glocke ein erhöhter Speichelfluss bei den Hunden auftrat, da diese nun ihr Futter erwarteten. Somit beruht, in behavioristischen Theorien, das Verhalten auf Erfahrung und unterstellt eine Selbstkonditionierung des Organismus. Jedoch lässt der Behaviorismus als einzig objektive Methode nur die Beobachtung des Verhaltens zu. Private, also dem Individuum selbst gehörende Erfahrungen bleiben also subjektiv und können über den Behaviorismus nicht weiter analysiert werden. G.H.Mead und später auch E. Goffman (1922-1982) greifen genau diesen Aspekt auf und beschreiben die Notwendigkeit der Analyse bewussten menschlichen Handelns, welcher letztendlich zur Ausbildung von Identitäten führt. Beide gehen davon aus, dass Identität nur innerhalb des gesellschaftlichen Interaktionsprozesses entstehen kann und somit an die Übermittlung und Interpretation von Gesten, Symbolen und Sprache gebunden ist. Goffman geht noch einen Schritt weiter und beschreibt Identität als einen Entwurf der dramaturgisch aufrecht erhalten werden muss. Sie ist ständig der Gefahr ausgesetzt, von anderen in Frage gestellt, entlarvt oder gar zerstört zu werden. Wie genau Identität innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes entstehen kann, welche Mechanismen sich Menschen innerhalb der täglichen Interaktion zu Nutze machen, um die erworbene Identität zu wahren und welchen Stellenwert diese theoretischen Ansätze in der heutigen Zeit noch beanspruchen, soll Bestandteil dieser Arbeit sein. Hierzu möchte ich anfangs die Identitätstheorie nach Mead und anschließend jene nach Goffman darlegen und analysieren. Abschließend soll Kritik an beiden Theorien formuliert werden, aus der sich der jeweilige Stellenwert für die soziologische, psychologische und auch pädagogische Praxis ergibt.
2. Die Identitätstheorie nach Georg Herbert Mead
Mead kritisiert Sozialtheorien, welche Geist und Identität als gegeben hinnehmen und somit keinen Mechanismus von Geist und Identität herausarbeiten. Geist und Identität sind keine gesellschaftlichen Phänomene, sondern unterliegen dem Mechanismus der Sprache, genauer dem der vokalen Geste, welche Geist und Identität auftreten lässt. Oder, wie es Charles W. Morris, einleitend zum Buch „Geist, Identität und Gesellschaft“ (1968), formuliert: „Meiner Meinung nach hat Mead diese Aufgabe erfolgreich gelöst, besonders in der Isolierung des Sprachmechanismus, durch den sich Geist gesellschaftlich konstituiert und durch den die ihrer selbst bewusste Identität als ein Objekt auftritt.“ (Mead, 1968, S. 17) Sprache ist ein objektives Phänomen des Zusammenspiels einer gesellschaftlichen Gruppe. Mit jedem gesendeten Reiz gestaltet der Organismus seine Umwelt und die Umwelt beeinflusst wiederrum den Organismus. Legt man diesen Sachverhalt zugrunde, wird deutlich das ein Organismus auch nur im Kontext zu seiner Umwelt definiert werden kann. Die Interaktion im gesellschaftlichen Kontext erfolgt über signifikante Symbole, welche im Verlauf der Entwicklung eines Individuums zur Sprache wird. Signifikante Symbole werden eingesetzt um Verhalten zu kontrollieren und setzen beim Sender reflexives Denken voraus. Da der menschliche Organismus also in der Lage ist selbst Signale zu senden und nicht nur auf ebensolche zu reagieren, kann vom Geist eines Individuums gesprochen werden. Das Individuum hat die gesellschaftliche Handlung inkorporiert und ist somit fähig sich innerhalb der Gesellschaft zu etablieren.
2.1. Vom Kind zum gesellschaftlich moralischen Wesen
Identität entsteht, so Mead, innerhalb des gesellschaftlichen Interaktionsprozesses. Wie bereits beschrieben, ist die Voraussetzung hierfür das Bestehen signifikanter Symbole, die derart geartet sind, das sie sowohl beim Sender als auch beim Empfänger die gleichen Reaktionen hervorrufen. Einfache Gesten müssen erst zu signifikanten Symbolen werden, damit Interaktion stattfinden kann. Somit wird deutlich, dass ein neugeborenes Kind keine eigene Identität aufweisen kann. Das Kind ist lediglich fähig Bedürfnisse über Laute zu äußern, worauf die Mutter intuitiv reagiert. Identität entwickelt sich innerhalb zweier kindlicher Entwicklungsphasen: dem kindliche Spiel („play“) und dem Wettkampf („game“). Im „play“ übernimmt das Kind erste Rollen der mit ihm verbunden, beobachtbaren Individuen (bspw. Eltern). Hierbei übernimmt es die Haltungen der Anderen und regt somit, selbstinitiiert, den Gebrauch von vokalen Gesten an. Es ist im Begriff eine eigene Identität zu entwickeln. Im „game“ identifiziert sich das Kind mit allen an der jeweiligen Aktion beteiligten Personen und übernimmt deren Rollen. Um ebendiese Rolle ausfüllen zu können, muss die gesamte organisierte Tätigkeit in der eigenen Identität organisiert werden. Da es jedoch unmöglich ist alle Identitäten zu internalisieren, bildet das Kind ein „verallgemeinertes Anderes“, in dem es bekannte Identitäten vergleicht und abstrahiert. Alle bekannten Haltungen anderer Menschen werden im ICH, wie es Mead beschreibt, gespeichert. So erlernt das Kind über Nachahmung und Beobachtung verschiedene Rollen und deren Haltungen zu übernehmen, welche es im ICH speichert und, wenn erforderlich, über das Ich, als konkrete Position, anzuwenden vermag. Gleichzeitig ist es in der Lage, da es die Haltungen der Anderen in sich trägt, die Reaktionen auf den von ihm gesendeten Reiz, bereits im Vorfeld abzuschätzen. Dieses rationale Verhalten bildet die Grundlage zur Entstehung von Identität („self“): die Fähigkeit des denkenden Organismus sich selbst zum Objekt zu werden, also reflexiv zu denken und zu handeln. Das „Self“ ist damit die Symbiose aus ICH und Ich. Es muss somit ein logisches Universum gemeinsamer gesellschaftlicher Bedeutungen geben, so dass Denken in Allgemeinbegriffen stattfinden kann. Oder anders formuliert: es besteht ein Parallelismus zwischen den wahrgenommenen Objekten und den bestehenden Erfahrungen. Voraussetzung hierfür bleibt allerdings die Universalität der Symbolisation zwischen Gesten und Objekten als funktionale Beziehung. Nur wenn unter einer Geste das Gleiche verstanden wird, kann eben über diese Geste die gewünschte Reaktion hervorgerufen werden. Das „Self“ ist somit nicht von Geburt an vorhanden, sondern entwickelt sich über die Wechselwirkung aus gesellschaftlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Verhalten und damit der Inkorporation der bekannten Haltungen. Erst die Interpretation einer Reaktion gibt ihr Inhalt, was impliziert, dass vergangene Erfahrungen in der gegenwärtigen Situation wiedererkannt werden müssen, um einen Vergleich anstellen zu können.
Haltungen sind in diesem Zusammenhang als Anfänge von Handlungen zu erachten, welche alle möglichen Reaktionen hervorrufen können. Sie werden nach Mead definiert als die Zuschreibung von Werten an bestimmte Objekte. Der Wert eines Objektes variiert je nach zukünftiger Beschaffenheit dieses Gegenstands, insoweit er unsere Handlungen ihm gegenüber bestimmt. Somit werden Handlungen durch internalisierte Haltungen organisiert und erleichtern damit die Kontrolle des Interaktionsprozesses im gesellschaftlichen Handeln, woraus letztendlich das Bewusstsein entsteht. Sprache stellt in diesem Zusammenhang eine Kontrollinstanz über die Organisation der Handlungen dar. Das Verhalten einer Person entspringt aus den ihr bekannten Empfindungen und Erinnerungen, die es durch seine Aufmerksamkeit der Gesellschaft gegenüber gesammelt hat. Gesten erzeugen, ob nun bewusst oder unbewusst, immer Aufmerksamkeit, dies uns ermöglicht, „jenen Bereich zu organisieren, in dem wir handeln werden.“ … “Er (der Organismus, Anm. d. Verf.) besteht nicht nur aus einer Anzahl passiver Sinnesorgane, auf die die von außen kommenden Reize einwirken, sondern er wendet sich nach Außen und bestimmt, worauf er reagieren wird“ (Mead, 1968, S. 64) Alle Erfahrungen eines Organismus, ganz gleich ob bewusst oder unbewusst aufgenommen, werden über das Bewusstsein selektiert und gespeichert. Bewusstsein ist hierbei ein mehrdeutiger Begriff und auch nur unter bestimmten Voraussetzungen gegeben. So haben Menschen bspw. kein Bewusstsein über die motorischen Abläufe, welche jedoch vom Bewusstsein ausgelöst werden. Das Bewusstsein über eine beginnende Handlung jedoch, beschreibt Mead als den Willen zur Handlung. Gleichzeitig ist es in der Lage die Wahrnehmung bei Irrtümern zu modifizieren. Dies bringt eine gewisse Sicherheit über die eigenen Verhaltensprozesse mit sich, was jedoch bleibt ist die Unsicherheit über die Reaktion der Anderen. Diese Unsicherheit wird dadurch gemildert, dass es einen Parallelismus in der Definition von Objekten gibt. Diese werden von der eigenen Erfahrung bestimmt, welche bei allen Individuen unterschiedlich sind, wenngleich alle Menschen den gleichen strukturierten Organismus aufweisen und auch die einfließenden Reize gleich geartet sind. Dennoch erhalten Objekte bei unterschiedlichen Individuen die gleiche Definition, welche sich auf deren Zugänglichkeit oder auch deren Inhalt selbst beziehen. Innerhalb des Sozialisationsprozesses werden die gleichen Bedeutungen von Gesten internalisiert. Sprache wird also über Nachahmung erlernt, wobei Nachahmung nur dann erfolgt, wenn im Individuum eine Handlung angelegt ist, die der eines Anderen gleicht. Wie bereits erwähnt, findet diese Form der Nachahmung vorrangig im Bereich der Sprache oder auch dem Kleidungsstil statt: es wird im Anderen die gleiche Reaktion wie in uns selbst initiiert und somit die Haltung eines Anderen übernommen, was wiederrum von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung von Identität und Bewusstsein ist. Signifikanz liegt hier vor, wenn der gesetzte Reiz gleichzeitig die Reaktion impliziert, und damit die Sinnhaftigkeit der Handlung gegeben ist. „Wenn wir von Sinn unserer Tätigkeit sprechen, setzen wir selbst jene Reaktion, die wir als Reiz für unsere Handlung gerade durchzuführen beginnen. Sie wird zu einem Reiz für ein späteres Stadium der Handlung, das vom Standpunkt dieser bestimmten Reaktion aus stattfinden soll.“ (Mead, 1968, S. 112) Dies ist es was Mead als Denken beschreibt. Die eigene Handlung wird zu einem Reiz für weitere Handlungen, so dass die Handlung zu sinnvollen Verhalten wird. Die Kontrolle über die eigene Handlung erfolgt über die Reaktion der Anderen. War die Rollenübernahme erfolgreich, so wird das Verhalten des Rolleninhabers anerkannt.
2.2. Von der Geste zur Sprache
Zur Erläuterung der Entstehung von signifikanten Symbolen, also Sprache, bezieht sich Mead auf den von Wundt geprägten Begriff der Geste. Demnach stellt jede Geste ein Symbol dar, welches den Beginn einer Handlung initiiert. Die Handlung wiederrum bildet einen Reiz, welcher in der anderen Person eine Reaktion hervorruft und damit die Handlung verändert. Gesten sind Anfänge gesellschaftlicher Handlungen, die als Reize für die Reaktionen Anderer dienen und somit auch immer für bestimmte Haltungen oder Ideen stehen. Wird über diese Geste die gleiche Idee beim Empfänger ausgelöst, wie sie der Sender beinhaltete und enthält sie Informationen über die Identität des Senders, so wird diese Geste zu einem signifikanten Symbol. „Wenn nun eine solche Geste die dahinterstehende Idee ausdrückt und diese Idee im anderen Menschen auslöst, so haben wir ein signifikantes Symbol.“…“An dem Punkt an dem die Geste einen solchen Zustand erreicht, wird sie zu dem was wir `Sprache´ nennen. Sie ist nun ein signifikantes Symbol und bezeichnet eine bestimmte Bedeutung.“ (Mead, 1922, S. 157ff) Im Gegensatz zu der nicht-signifikanten Geste ermöglicht die Signifikante eine ständige Anpassung an die Umgebung. Voraussetzung hierbei ist allerdings die Fähigkeit sich in Andere hineinversetzen zu können und so die Wirkung seiner Gesten im Vorfeld abschätzen zu können. Solch reflexives Verhalten ermöglicht die Entstehung von Geist und Intelligenz. Die Übermittlung von Gesten bedeutet jedoch nicht automatisch eine Übertragung von Ideen. Sie stellt lediglich die Basis für die Entstehung von Geist und Identität dar, welche auf Interaktion und Kommunikation (also der Gestenübermittlung) beruht.
Wenn das Kind nun über Nachahmung Sprache erlernt, bedeutet dies, dass es bestimmte (instinktive) Reaktionen mit bestimmten Reizen assoziiert. Erst wenn diese Gesten für alle möglichen Empfänger das gleiche bedeuten, wird Kommunikation möglich. Ergo wird das Kind auf bestimmte Bedeutungen von Gesten hin konditioniert, in dem bestimmte Reize mit bestimmten Ideen verbunden werden. „`Nachahmung´ hängt davon ab, dass sich ein Wesen selbst so wie Andere beeinflusst, so dass es nicht nur unter dem Einfluss des anderen steht, sondern auch unter dem eigenen Einfluss, insoweit es sich der gleichen vokalen Geste bedient.“ (Mead, 1968, S. 105) Wobei Nachahmung hier nicht die bloße Wiederholung einer Handlung meint, sonder vielmehr eine komplexe gesellschaftliche Reaktion darstellt. Gleichzeitig besitzt das Individuum eher Kontrolle über die vokale Geste als über das eigene Minenspiel. Somit ist die oberste Prämisse einer ehrlichen Interaktion die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, da, bei mangelnder Übereinstimmung von Geste, Minenspiel und erwarteter Reaktion, die Fassade der Darstellung als Bluff erkannt werden könnte. Eine Interaktion wird also erst dann möglich wenn ein permanentes Wechselspiel von Aktion und Reaktion vorliegt. Menschen passen sich, über Kommunikation innerhalb menschlich-gesellschaftlicher Prozesse, einander an. Dazu ist es allerdings notwendig, dass die verwendete Geste Sinn hat und dieser den Mitgliedern einer Organisation mitgeteilt wird. Aus dieser Prämisse ergibt sich, nach Mead, die dreiseitige Beziehung des Sinns. Zum einen steht der Sinn einer Geste in einer Beziehung zum ersten Organismus, welche die Geste sendet. Gleichzeitig besteht auch eine Beziehung zum zweiten Organismus, aus dem sich die Resultante der Geste ergibt, also die Reaktion des Anderen. Schlussendlich ergibt sich eine Beziehung zwischen der Geste und der anschließenden Phase der gesellschaftlichen Handlung, was Anpassung überhaupt erst ermöglicht. Die dreiseitige Beziehung des Sinns ermöglicht die Aufnahme neuer Erfahrungen in den Organismus. Mead setzt an dieser Stelle voraus, das der Sinn bereits im gesellschaftlichen Verhalten gegeben ist und die Sinnhaftigkeit damit über Teilnahme und Mittelbarkeit am gesellschaftlichen Prozess entsteht.
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