Leseprobe
Humboldt-Universität zu Berlin
Wintersemester 09/10
HS „Politik und Kultur in der SBZ/DDR 1945-1990“
Thomas Schulze
21.11.2009
Auswirkungen des XX. Parteitages der KPdSU – Debatten um Entstalinisierung
Zwischen Reformierung und Revisionismus
Der Traum einer künstlerischen und wissenschaftlichen Liberalisierung in der DDR endete im Winter des Jahres 1956. Wolfgang Harich, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, wird als Folge der Veröffentlichung und Versendung der „Plattform eines besonderen deutschen Weges zum Sozialismus“ verhaftet. Im Zuge seiner Verhaftung werden alle Hoffnungen auf politische und soziale Reformen zerstört. Wie konnte es trotz der positiven politischen Zeichen Anfang des Jahres 1956 zu einer solchen Entwicklung kommen?
Im Kern dieses Essays soll folglich die Frage stehen, inwieweit die Folgen des XX. Parteitages der KPdSU im kulturellen Bereich als Prozess der Entstalinisierung bzw. Liberalisierung bezeichnet werden können und welche Chancen und Reformen sich die Intellektuellen und Künstler der DDR vom Parteitag der KPdSU versprachen. Dabei stehen zunächst die Entwicklungen in der DDR bis 1956 im Vordergrund. Kernpunkt der Betrachtung stellen der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen für die Kulturpolitik der DDR dar.
DDR-Kulturpolitik seit 1953 und der XX. Parteitag der KPdSU
Bereits nach dem folgenreichen 17. Juni 1953 entwickelte sich in der DDR eine Reformdiskussion innerhalb der Partei. Im Kern beinhaltete diese Diskussion die Themen Innenpolitik, Deutschlandpolitik und die Parteipolitik der SED. Besonders Wilhelm Zaisser (ab 1950 Minister für Staatssicherheit) und Rudolf Herrnstadt (ab 1950 Chefredakteur des Neuen Deutschland und Mitglied im Zentralkomitee der SED) arbeiteten konkrete Vorschläge in diese Richtung aus. Eine Politbürositzung Anfang Juni 1953 geriet zu einer Abrechnung mit Walter Ulbricht, Generalsekretär des ZKs der SED. Auch dem 1954 zum Kulturminister der DDR ernannten Johannes R. Becher schien der 17. Juni 1953 Recht zu geben. Becher kritisierte die Moskauer Methode, „literarische oder wissenschaftliche Kritik mit einer geheimpolizeilichen Anklage zu koppeln“[1]. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer ergänzt dazu: „An literarische Kritik, die solchen Namen verdienen mochte, war nicht zu denken. Wer hätte es wagen können, den roten Kitsch als solchen zu denunzieren?“[2]. Dennoch sieht auch Mayer den Beginn des „Tauwetters“ in der DDR vor allem seit dem Tod Stalins im Jahr 1953[3]. Im Jahr 1956 wurde diesen reformpolitischen Ansätzen durch den XX. Parteitag der KPdSU weiterer Raum zur Entfaltung geöffnet.
Der erste Parteitag der KPdSU nach dem Tod Josef Stalins 1953 sollte eine erdbebenhafte Wirkung für die politische Stimmung der Sowjetunion und DDR haben. Als Nikita Sergejewitsch Chruschtschow am 25. Februar 1956 seine Rede „Über den Personenkult und seine Folgen“ verlas, wurde dies die erste Abrechnung mit dem System Stalin. Chruschtschow benannte zum ersten Mal offiziell die millionenfachen Verhaftungen und Verfolgungen unter Stalins Herrschaft, benannte dessen tiefe Schuld an der Krise der Landwirtschaft sowie der Entstehung des Personenkults um Stalin. Es sei dem Geiste des Marxismus-Leninismus fremd gewesen eine Person herauszuheben und „sie in eine Art Übermensch mit übernatürlichen, gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln“[4]. Doch obwohl die Einsicht, Stalin als Despoten zu klassifizieren und das um ihn entstandene System zu kritisieren zunächst eindimensional blieb, sollte die Rede nachhaltige Wirkung haben. Der Parteitag hatte in der DDR, nach dem ersten Schock, auflockernde Wirkung und innerhalb der SED entwickelte sich eine offenere politische Diskussion. Walter Ulbricht konstatierte bereits einen Monat nach dem Parteitag der KPdSU, es sei notwendig, die eigene Parteiarbeit zu überprüfen[5]. Auch der Philosoph und Zeitzeuge Ernst Bloch versprach sich von den Ereignissen des XX. Parteitages der KPdSU Ergebnisse für die Kultur- und Parteitagpolitik der DDR. Bloch spricht dabei von der Aufhebung des Trugschlusses, die Partei habe immer Recht und erkennt im Parteitag den Arbeitsauftrag zur offenen Fehlerdiskussion[6]. Doch genauso wie Ulbrichts Versprechung leer blieb, so sollten auch Blochs Hoffnungen auf die Entstehung einer vermeintlich offeneren Diskussionsplattform innerhalb des Staates und der SED unerfüllt bleiben.
Für die Intellektuellen und Studenten der DDR stellte der XX. Parteitag der KPdSU vor allem eine Chance auf mehr Freiheiten dar. Der sowjetische Parteitag schien neue sozialistische Reformen realisierbar zu machen und eine andere Politik der SED zu erlauben. Viele Künstler hofften sogar auf die Aufhebung der auf dem 8. Parteitag des Zentralkomitees der SED 1951 getroffenen Limitierungen der literarischen Kunst. In der Tat rehabilitierte die SED-Führung nach dem XX. Parteitag der KPdSU 691 ehemalige Sozialdemokraten und entließ fast 12000 Häftlinge[7] aufgrund veränderter politischer Bedingungen. Die im Juli 1956 stattfindende 28. Plenartagung des ZK der SED erwirkte außerdem die politische Rehabilitierung des SED-Funktionärs Franz Dahlem. All diese positiven Zeichen musste zweifelsohne erhebliche Wirkung auf die Intellektuellen der DDR gehabt haben. Mit Einsatz des „Tauwetters“ schienen sie sich immer größere Handlungsspielräume zurückerobern zu können. Besonders der vom eingangs erwähnten Wolfgang Harich veröffentlichte Text „Plattform eines besonderen deutschen Weges zum Sozialismus“ ist Ausdruck dieses wiedergewonnen künstlerischen Mutes. Die politische Denkschrift, von Harich 1956 veröffentlicht und an führende SED-Mitglieder, darunter Walter Ulbricht, versandt, forderte die Umgestaltung der SED und eine Befreiung der Partei von Dogmatisierungen[8]. Im Bereich der Kultur forderte Harich die Auflösung der Ministerien für Kultur und Volksbildung sowie des Amtes für Literatur- und Verlagswesens und sprach sich unmissverständlich für eine maximale Dezentralisierung der Kultur der DDR aus. Doch Harichs Forderungen stießen in der SED-Führung rund um Walter Ulbricht auf wenig Gegenliebe und im Angesicht des Ungarn-Aufstandes im November 1956 wurden die eigentlichen Reformisten wie Bloch und Harich zu Revisionisten erklärt.
So viel sich die Intellektuellen der DDR vom Ereignis des XX. Parteitages der KPdSU versprachen, so wenig war die DDR-Führung bereit diesen Forderungen mit Zugeständnissen entgegenzukommen. Der Begeisterung des Zeitzeugen Ralph Giordano über den „Kongreß Junger Künstler“ und der dort getroffenen Feststellung, Künstler in der DDR seien zu entpersönlichten Wesen geworden[9], steht die Linientreue der DDR-Regierung gegenüber. Innerhalb der SED entwickelte sich nach dem XX. Parteitag eine heftige Diskussion darüber, inwieweit die Rede Chruschtschows Folgen für die ostdeutsche Innenpolitik haben müsse. Ulbricht war bestrebt reformistische Züge wenn möglich zu verhindern, sie in jedem Falle aber hinauszuzögern. Zu groß war die Angst nach einer erneuten Welle der Kritik wie sie der 17. Juni 1953 in Form einer Reaktion der Arbeiterschaft erzeugt hatte. Spätestens mit der bereits erwähnten Verhaftung Wolfgang Harichs im Oktober 1956, der Verhaftung der „Harich-Gruppe“ zwischen November 1956 und März 1957 und der Zwangsemeritierung Ernst Blochs 1957 wurden die Hoffnungen auf eine reformorientierte Liberalisierung der Künste und Wissenschaften zerstört.
Entstalinisierung, Konsolidierung und Inhaftierungen
Es bleibt die Frage, inwieweit die Prozesse ab dem März 1956 als Prozess der „Entstalinisierung“ bezeichnet werden können. Zum einen erleichterte der XX. Parteitag den Umgang mit der Thematik Stalin in der DDR und eröffnete einen begrenzten offenen Austausch im Rahmen der sowjetischen Geschichte. Wie die Haftentlassungen 1956 als Reaktion auf Chruschtschows erstmaliger Kritik am Despoten zeigten, konnten ehemalige „Trotzkisten“ mühelos innerhalb kürzester Zeit rehabilitiert werden. In dem Moment in dem das Diktum Stalins gebrochen war, wurde Manöverkritik nicht mehr mit dem Zuchthaus bestraft, sondern quasi legalisiert. Dieser Prozess kann also im Sinne einer „Entstalinisierung“ als solche bezeichnet werden, wenn damit das Ende der Tabuisierung der Kritik an Stalin gemeint ist. Zum anderen ist der Begriff der „Entstalinisierung“ vor allem in Hinblick auf die Liberalisierungsversuche der Jahre 1956/1957 gebräuchlich. In diesem Falle ist allerdings terminologische Kritik notwendig. Denn wie bereits erwähnt, stellte der XX. Parteitag der KPdSU lediglich eine Chance, nicht aber den von Intellektuellen erhofften Neuanfang im Umgang mit Meinungspluralität dar.
[...]
[1] Mayer, Hans: Ein Tauwetter, das keines war, S. 438.
[2] Ebd. S. 434.
[3] Vgl. ebd., S. 436.
[4] Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch: Über den Personenkult und seine Folgen. Rede vom 25. Februar 1956, in: Gabert, Josef/Prieß, Lutz (Hrsg.): SED und Stalinismus, S. 8.
[5] Vgl. Diskussionsrede Walter Ulbrichts auf der Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz der SED vom 17. März 1956, zitiert nach: Gabert, Josef/Prieß Lutz (Hrsg.): SED und Stalinismus, S. 127.
[6] Vgl. Bloch, Ernst: Über die Bedeutung des XX. Parteitages, in: Crusius, Reinhard/Wilke, Manfred (Hrsg.): Entstalinisierung, S. 424; S. 430.
[7] Vgl. Kieslich, Lothar: Kommunisten gegen Kommunisten, S. 28.
[8] Vgl. Kieslich, Lothar: Kommunisten gegen Kommunisten, S. 48.
[9] Vgl. Giordano, Ralph: Die Partei hat immer Recht, S. 196-197.