Zeitarrangement(s) und Wirkpotenz, untersucht am Roman "Vater Goriot" von Honoré de Balzac


Dossier / Travail, 2001

23 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gliederung des Romans

3. Elemente der Erzählstruktur im Expositions- und Handlungsteil
3.1 Zäsuren als bewußte Form der Zeitangabe
3.2 Zeit der Erzählung
3.2.1 Zeitenwechsel Gegenwart – Vergangenheit
3.3 Anachronien der Erzählung
3.3.1 Prolepse
3.3.2 Analepse oder Retrospektion
3.3.2.1 Analepse in der Analepse
3.3.2.2 Zeitüberlagerung
3.4 Dauer einer erzählten Geschichte
3.4.1 Isochronie
3.4.2 Anisochronie
3.4.2.1 Summary und Szene
3.4.2.2 Pause oder Zeitdehnung
3.4.2.3 Zeitliche Ellipse
3.5 Wiederholungsbeziehungen

4. Schlußbemerkung

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Eine Geschichte kann man ohne weiteres erzählen, ohne genau anzugeben, an welchem Ort sie spielt oder ob dieser Ort mehr oder weniger weit von dem Ort entfernt ist, wo man sie erzählt; während es so gut wie unmöglich ist, sie nicht zeitlich in Bezug zu dem narrativen Akt zu situieren, da man sie notwendigerweise in einer Zeitform der Gegenwart, der Vergangenheit oder der Zukunft erzählen muss.“[1] Doch nicht nur diese Zeit der Narration spielt eine wichtige Rolle, sondern auch die gesamte zeitliche Organisation. Sie gilt als ein wesentlicher Teil der Textstruktur. Gérard Genette hat 1972 in seinem Buch „Die Erzählung“ ein Analyseinstrumentarium entwickelt, das geeignet ist, die „äußerst komplexen Strukturen der Zeitkonstitution zu erfassen“.[2]

Robert Petsch (1934) erkannte die Zeitstruktur als eine unerläßliche Dimension im Text. Bahnbrechend waren die Feststellungen, dass bestimmte Formen der Zeitbehandlung ein Organisationsprinzip par excellence narrativer Texte seien und dass sie nicht nur eine handlungsbezogene Funktion hätten, sondern zugleich eine Bedeutung in Bezug auf den Leser. Die Zeitbehandlung wird also als Wirkinstrument entdeckt. Die temporale Struktur ist zum Beispiel Träger einer „Botschaft“, aber auch eine wichtige strukturierende Instanz und ein verbindendes Element zwischen Erzähler und Leser.

In meiner Hausarbeit möchte ich mich mit dem Thema „Zeitarrangement und Wirkpotenz“ am Beispiel von Honoré de Balzacs Roman „Vater Goriot“ beschäftigen. In meiner Analyse werde ich mich vor allem auf das Werk von Genette beziehen, in welchem er zwischen den Organisationsprinzipien ‚ordre‘, ‚durée‘ und ‚fréquence‘[3] unterscheidet – mit der Absicht, die Rezeption des Lesers stärker zu lenken.

Honoré de Balzac ist am 20. Mai 1799 in Tours geboren und am 18. August 1850 in Paris gestorben. In nur 40 Tagen hat er den Roman „Vater Goriot“, mit dem er eine der ergreifendsten Gestalten seiner Menschlichen Komödie geschaffen hat, fertiggestellt. Es ist ein Meisterwerk der „Scènes de la vie privée“, wo er die Spezies Mensch als gesellschaftliches Wesen mit naturwissenschaftlicher Methode darzustellen versucht. Balzac zeigt kraftvolle Charaktere, die sich gegen die herrschende Gesellschaft auflehnen. „Seine Geschöpfe, mögen sie noch so bizarr erscheinen, leben und sind wirklicher als die Wirklichkeit. Es sind Prototypen, die einen Stand, einen Charakter, eine Eigenschaft in übertriebener Weise vertreten: [...] Vater Goriot die Vaterliebe, Baron von Nucingen die Finanz [...].“[4]

Wie bei den Charakterstudien verwendet Balzac die gleiche Sorgfalt auf die genaue zeitliche Abmessung seiner Romanhandlung. In dem Roman sind die Episoden, die – chronologisch geordnet – die Fabel ergeben, nur zum Teil linear aneinandergereiht. Die Haupthandlungszeit wird durch Rückblenden überlagert, das Erzähltempus ist ungleichmäßig. Und die von Balzac dramatisch inszenierten Dialogszenen, die im Text einen breiten Raum einnehmen und dem Leser erlauben, das Leben der Figuren eine Stunde, einen Tag oder auch mehrere Tage lang kontinuierlich zu verfolgen, wechseln mit zeitraffenden Hinweisen auf Zeiträume, über die nur kurz referiert oder auch gar nichts erzählt wird.

2. Gliederung des Romans

Der klassische Roman „Vater Goriot“ ist durch eine berichtende Erzählung gekennzeichnet. Ein auktorialer und damit allwissender bzw. teilwissender Erzähler beschreibt auf 308 Seiten[5] das Verhalten der Romanfiguren, ihre Behausung und ihren Lebensstil und zugleich auch ihren gesellschaftlichen Werdegang und ihren Lebensweg in aller Ausführlichkeit und unter Einsatz eines breitgefächerten Arsenals an sprachlichen und romankompositorischen Mitteln. Der Erzähler greift in seine Geschichte auch als der ordnende Lenker ein und tut sich durch Einmengungen, Kommentare und Zwischenreden hervor. „Die Erzählung ist streng gegliedert in einen statischen Expositionsteil und in einen dynamischen Handlungsteil.“[6] Auf das Ende der verhältnismäßig langen Exposition, die sich in der deutschen Ausgabe auf 93 Seiten erstreckt, also auf Seite 103 endet, weist der Erzähler ausdrücklich hin: „Hier endet die Vorgeschichte dieser ebenso unbekannten wie schrecklichen Pariser Tragödie“.[7] Damit signalisiert er dem Leser, dass er keine Verselbstständigung des einleitenden Teils zu befürchten habe und die Handlung jetzt endlich beginnt. Auf Grund des Wortes ‚tragédie‘ kann der Leser sofort erahnen, dass sich noch einige dramatische und tragische Dinge ereignen werden. Drei von insgesamt acht Kapiteln, in die sich der Roman untergliedern läßt, bilden den statischen Expositionsteil. Dieser kann modellhaft für die typische Balzacsche Beschreibungstechnik stehen: bevor die eigentliche Geschichte in Gang kommt, werden Schauplatz und Romanfiguren ausführlich vorgestellt.

Dabei kann man als aufmerksamer Leser beobachten, dass der Erzähler am Anfang im Präsens zu erzählen beginnt und allein im ersten Abschnitt drei Punkte anspricht, auf die er im Laufe des ersten Kapitels von Abschnitt zu Abschnitt immer tiefgründiger eingeht, er dringt immer mehr zu der Persönlichkeit der wichtigsten Figuren vor, indem der Erzähler stets etwas für den Leser Neues hinzufügt. Eine gewisse Chronologie wird angeschnitten und dann noch einmal aufgenommen:

1. „Madame Vauquer, geborene Conflans, ist eine alte Frau, die seit vierzig Jahren in Paris in der Rue Neuve-Sainte-Geneviève zwischen dem Quartier Latin und dem Faubourg Saint-Marceau eine gutbürgerliche Pension führt.“[8] Das ist der erste Satz auf der ersten Seite. Schon auf der nächsten Seite und was sich bis auf Seite 16 fortsetzt (nachdem der Erzähler einige weitere Anmerkungen gemacht hat), werden die Umgebung des Hauses, dann das Haus selbst und anschließend dessen Aufteilung und die Zimmer genau beschrieben. Und zum Schluß erfährt der Leser persönliches über die Dame des Hauses: „Ungefähr fünfzig Jahre alt, gleicht Madame Vauquer all den Frauen, die Unglück gehabt haben. [...] da sie, wie sie sagte, selbst alles gelitten habe, was nur irgend zu erleiden möglich sei.“
2. „Diese Pension, die unter dem Namen ‚Haus Vauquer‘ bekannt ist, nimmt Männer und Frauen, junge und alte Leute auf, ohne dass jemals die Moral jenes achtbaren Hauses angezweifelt worden wäre.“ Auf den Seiten 16 bis 26 werden nun die Pension beschrieben und die Menschen charakterisiert, sie bewohnen. Und je nach ihrer Wichtigkeit für die Geschichte räumt ihnen der Erzähler mehr oder weniger Platz ein. Ab Seite 32 bis zum Ende des ersten Kapitels (Seite 42) wird noch einmal auf die beiden Personen Goriot und Rastignac eingegangen. Das Porträt Goriots erhält dabei ein stärkeres Relief, weil die häufigen Frauenbesuche, deren Gründe der Erzähler zunächst verheimlicht, den alten Mann mit der Aura eines Lebemannes umgeben.
3. Der letzte Satz des ersten Abschnittes lautet wie folgt: „Aber man hatte auch seit dreißig Jahren kein junges Mädchen dort erblickt, und wenn sich ein junger Mann hier einmietete, so musste er schon einen recht mageren Wechsel haben. Dennoch befand sich im Jahre 1819, zur Zeit, als das Drama, das ich hier erzählen will, begann, ein armes junges Mädchen dort.“ Mit dem jungen Mädchen ist Victorine Taillefer gemeint. Doch darum geht es nicht, sondern zum einen um die Ankündigung „Drama“ (das Wort, das die Geschichte näher charakterisiert), zum anderen um die sofortige zeitliche Einordnung. Ab Seite 26, wo zuerst noch ein Rückblick auf vergangene Zeiten gegeben wird, hat man den Eindruck, die „richtige“ Handlung beginnt bereits, und nicht erst auf Seite 103.

Dadurch wird der Leser intensiv mit den Figuren und der Umgebung vertraut gemacht. Er hat sich wahrscheinlich im Kopf ein Bild zurechtgelegt und ist nun bereit, der Erzählung und ihrem tragischen Verlauf weiter zu folgen.

Das Ende des Expositionsteils bildet im Roman sozusagen den Nullpunkt, denn die anderen fünf Kapitel bilden den dynamischen Handlungsteil. „Insgesamt basiert die Dynamik der Handlungsstruktur im ‚Vater Goriot‘ auf der Verschränkung zweier, sich ergänzender Verfahren. Das eine besteht darin, innerhalb der einzelnen Romanteile mehr oder weniger kurzwellige Spannungsbögen mit Höhepunkten herzustellen, nach deren Auflösung sich das Interesse des Lesers einem neuen Aspekt des Geschehens zuwendet; das andere darin, das für den Leser recht bald als unvermeidlich durchschaute traurige Schicksal der Titelfigur linear zu einer größtmöglich tragischen Intensität aufzugipfeln.“[9] Die kontinuierlich sich verdichtende Tragik von Goriots Schicksal gebietet dem zum Erfolg beziehungsweise Aufstieg drängenden Rastignac zumindest temporär Einhalt und gibt dem Erzähler die Möglichkeit, einen durch Katharsis zu sympathischer Einfühlsamkeit geläuterten jugendlichen Helden zu präsentieren, der auf der letzten Seite des Buches im letzten Satz dem Sündenpfuhl Paris trotzig seine Herausforderung entgegen schleudert: „Jetzt zu uns beiden.“

3. Elemente der Erzählstruktur im Expositions- und im Handlungsteil

Das gesamte Werk ist, wie bereits erwähnt, durch eine berichtende Erzählung gekennzeichnet. Der auktoriale Erzähler bereitet das Geschehen für den Leser auf, löst das verzweigte Netz von Detailangaben zur Dingwelt und zu den Milieus auf. „Der Balzacsche Erzähler versteht sich als ‚Sekretär der menschlichen Gesellschaft‘, der aber mit Wertungen, Ableitungen von Gesetzmäßigkeiten, Typen und typischen Erscheinungen nicht spart.“[10] Balzac geht es in seinen Romanen nicht nur um die bloße Wiedergabe und Inventarisierung des Gesellschaftsganzen einer Generation; er betrachtet es auch als seine Aufgabe, dem geheimen Sinn in dieser riesigen Ansammlung von Gestalten, Leidenschaften und Geschehnissen auf die Spur zu kommen. Darüber hinaus will Balzac erzieherisch wirken.

[...]


[1] Vgl. Genette, Seite 153

[2] Vgl. de Toro, Vorwort (geschrieben von Herausgeber Karl Alfred Blüher)

[3] ordre = Kapitel 3.2 und 3.3, durée = Kapitel 3.4, fréquence = Kapitel 3.5

[4] Vgl. Theiser, Seite 220

[5] deutsche Ausgabe

[6] Vgl. Dehloff, Seite 126

[7] Doch obwohl er so direkt darauf aufmerksam macht, kann man meiner Meinung nach nicht sagen, dass sofort mit dem nächsten Satz der dynamische Handlungsteil beginnt. Dieser Übergang erfolgt eher unbemerkt. Für mich weist auch der, wie Dethloff sagt, statische Expositionsteil bereits eine gewisse Art von Dynamik auf, da schon dort verschiedene Handlungen ablaufen und Gespräche geführt werden.

[8] Vgl. „Vater Goriot“, Seite 9

[9] Vgl. Dethloff, Seite 54

[10] Vgl. Pollmann, Seite 396

Fin de l'extrait de 23 pages

Résumé des informations

Titre
Zeitarrangement(s) und Wirkpotenz, untersucht am Roman "Vater Goriot" von Honoré de Balzac
Université
University of Leipzig  (Înstitut für Romanistik)
Cours
Der französische Roman zwischen Romantik und Realismus. Erzählstragien im Vergleich.
Note
1,3
Auteur
Année
2001
Pages
23
N° de catalogue
V17922
ISBN (ebook)
9783638223645
ISBN (Livre)
9783638699969
Taille d'un fichier
539 KB
Langue
allemand
Mots clés
Zeitarrangement(s), Wirkpotenz, Roman, Vater, Goriot, Honoré, Balzac, Roman, Romantik, Realismus, Erzählstragien, Vergleich
Citation du texte
Susanne Richter (Auteur), 2001, Zeitarrangement(s) und Wirkpotenz, untersucht am Roman "Vater Goriot" von Honoré de Balzac, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17922

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