Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Strindberg und Ein Traumspiel
2.1 historischer Kontext
2.1.1 Biographie Strindbergs
2.1.2 das Drama um 1900
2.2 die Besonderheit des Strindberg‘schen Stationendramas
2.2.1 Struktur
2.2.2 Fabel
2.2.3 Raum
2.2.4 Zeit
2.2.5 Personen
2.2.6 Symbol und Bild
3. Strindbergs Bedeutung für die weitere Literaturgeschichte
Bibliographie
1. Einleitung
„Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich“ schrieb August Strindberg 1902 in der Vorbemerkung zu seinem Drama Ein Traumspiel (St1, S. 3). Auch wenn dieser Satz zunächst nur auf das Stück an sich bezogen ist, so kann er doch programmatisch stehen für das, was Strindberg in seinem Leben für das Theater geschaffen hat: Während Ibsen durch seine ohne Zweifel in die Moderne weisenden analytischen Stücke dem naturalistischen Theater seiner Zeit den „letzten Schliff“ gegeben hat, probte Strindberg den Aufstand und den Bruch mit allen damaligen Gesetzmäßigkeiten der Bühne. In vielerlei Hinsicht nimmt er in seinen Dramen bereits vorweg, was erst Jahrzehnte später im Expressionismus oder im Absurden Theater programmatisiert wird und heute gängige Theaterkonvention ist. In Ein Traumspiel , nach Nach Damaskus sein zweites „von ihm selbst am höchsten geschätzte[s]“2 Stationendrama, finden sich diese richtungsweisenden Neuerungen beinahe schon manifestartig versammelt und heraus destilliert. Die vorliegende Arbeit möchte ein Schlaglicht auf den zeitgeschichtlichen Rahmen rund um Ein Traumspiel werfen und herausstellen, was dieses Stück im Besonderen und Strindbergs Arbeit im Allgemeinen so wichtig für den Weg des Dramas in die Moderne macht.
2. Strindberg und Ein Traumspiel
2.1 historischer Kontext
2.1.1 Kurzbiographie Strindbergs
Strindberg wird am 22. Januar 1849 in Stockholm3 in eine solide bürgerliche Familie hineingeboren. Nach unauffälligem Schulbesuch will ihm ein Studium nicht glücken, Laufbahnen als Hauslehrer und Schauspieler bricht er frühzeitig ab. Von Anstellung zu Anstellung ziehend, gelingt ihm mit dem Roman Das rote Zimmer 1879 der literarische Durchbruch. Zwei Jahre zuvor hat er Siri von Essen, eine angehende Schauspielerin, geheiratet. Die merkwürdige Hassliebe zu ihr, die 1891 nach drei Kindern in einer Scheidung endet, und zu Harriet Bosse, ebenfalls Schauspielerin, spiegelt sich in zahlreichen Frauenfiguren seiner Werke wieder, so etwa auch in der Viktoria aus Ein Traumspiel , der Schauspielerin, auf die der Offizier vergeblich am Eingang zum Theater wartet. Strindbergs desolate finanzielle und künstlerische Situation gipfelt schließlich 1895 in der berühmten Inferno-Krise, aus der er wie gewandelt hervorgeht: Nach langen Jahren des realistisch-naturalistischen Schreibens erscheint 1898 mit Nach Damaskus sein erstes Stationendrama. Im November 1901 stellet er Ein Traumspiel fertig, jedoch erregt keines dieser Dramen die Aufmerksamkeit wie 1904 der Roman Die Gotischen Zimmer , der eine Fortsetzung des Buches Das rote Zimmer darstellt. 1910 schließt er mit Die gro ß e Landstra ß e , einem weiteren Stationendrama, sein dramatisches Schaffen ab. Erst spät durch sein literarisches Schaffen zu Reichtum gekommen, abwechselnd von den Schweden gehasst und hoch verehrt, stirbt Strindberg schließlich am 14. Mai 1912.
2.1.2 Das Drama um 1900
Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geht literatur- und kunstgeschichtlich einher mit einem tiefgreifenden Wandel im Verständnis, was Kunst eigentlich ausmacht. Das klassische geschlossene Drama, dessen Form seit der Renaissance normativ für die Dramaturgie eines „guten“ Stückes ist, verkommt zusehends zur „pièce bien faite“, das den Inhalt der vollendeten Form nach tradierten Regeln unterordnet, und auch der Naturalismus, inhaltlich revolutionär, bleibt formal erschreckend konservativ und alten Richtlinien verhaftet.4 Peter Szondi konstatiert eine regelrechte Krise des Dramas, ausgelöst durch „die Diskrepanz zwischen der übernommenen und der durch die Thematik geforderten Form“.5 Die althergebrachte Dramenform der aristotelischen Poetik genügt den neuen Themen nicht mehr und versagt darum als Medium, um diese darzustellen, „weil sie zu sehr einer klassisch- harmonischen Weltauffassung verhaftet ist.“ 6 Obschon sich diese Erkenntnis relativ früh durchsetzt (Hermann Bahr veröffentlich schon 1891 eine Aufsatzsammlung mit dem Titel Ü berwindung des Naturalismus ), vergehen noch Jahrzehnte, bis nach der Lyrik und dem Roman auch das Drama für seine neuen Themen neue Formen findet. Bereits im Spätwerk Ibsens und Hauptmanns stoßen diese beiden großen Naturalisten an die Grenzen des Genres und nehmen zunehmend Tendenzen auf, die über den Naturalismus hinaus weisen, so etwa Ibsen in Die Frau vom Meer und Hauptmann in Hannele . Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich verstehen, welche Vorreiterrolle August Strindberg mit seinen Stationen- und Wanderdramen in dieser Zeit des Umbruchs eigentlich eingenommen hat.
2.2 Die Besonderheit des Strindberg‘schen Stationendramas
Strindberg hat das Stationendrama an sich nicht erfunden; entsprechende Formen existieren in unterschiedlicher Ausprägung bereits seit den Passionsspielen und Märtyrerdramen des Mittelalters und der frühen Neuzeit.7 Die besondere Leistung Strindbergs auf diesem Gebiet liegt nicht in der musealen Präparation einer historischen Dramenform, sondern dass er das Schema des Stationendramas wieder entdeckt, um damit den Themen seiner Gegenwart eine angemessene dramatische Erzählstruktur zu geben. Während die klassische Dramenform spätestens seit Hegels Definition eher für die Darstellung zweier antagonistisch gegenüber stehenden Ideen bzw. die Kollision der Charaktere geeignet ist, ein Prinzip, dass man bis zu einem gewissen Grad noch in Ibsens Nora. Ein Puppenheim erkennen kann, entspricht das Stationendrama durch seine ausgeprägte Fixierung auf eine zentrale Hauptperson, die die Stationen eines Weges abschreitet, der Darstellung von Vereinzelung und Anonymisierung in der Gesellschaft sowie der Auflösung kausaler Zusammenhänge, alles Themen, die zu Strindbergs Lebzeiten dringlicher wurden, sehr viel eher. Dieser und weitere Aspekte sollen im Folgenden näher analysiert werden.
2.2.1 Struktur
Der geregelten Struktur des klassischen Dramas, wie sie noch 1863 durch Gustav Freytag proklamiert8 und auch im naturalistischen Drama weiterhin bindend war, steht die zwar nicht völlig aufgegebene, aber dennoch gerade durch die Dominanz der Station weniger sichtbare Strukturierung in Ein Traumspiel gegenüber. Für gewöhnlich enthalten heute vorliegende Theatertexte des Traumspiels keine Angaben von Akt oder Szenen., die Reclam-Ausgabe, die hier als Zitiervorlage dient, gibt lediglich drei Akte an. Ursprünglich bestand das Drama tatsächlich aus drei Akten, deren Positionierung Strindberg jedoch bereits in der Entwurfphase wieder entfernte.9 Müssener stellt in seiner Strukturanalyse fest, dass man sogar von vier Akten ausgehen kann, die auch inhaltlich relativ deckungsgleich mit der überlieferten Dramenform ausfallen:
„Man könnte hier sogar von einer Entsprechung zur überlieferten Form des Dramas sprechen, bei dem der erste Akt die Exposition (bis zur Fingalsgrotte I) enthält und der zweite die Steigerung der Verwicklung (bis Fagervik bzw. Am Mittelmeer). Im dritten fallen der Höhepunkt (die Auseinandersetzung mit dem Dichter in Fingalsgrotte II) und die Peripetie (am Ende des Theater-Korridors II) zusammen, während der letzte Akt [...] die Lösung [...] bringt.“10
[...]
1 = Strindberg, August: Ein Traumspiel. Stuttgart 1957 (UB 6017).
2 Bernhardt, Rüdiger: August Strindberg. München 1999, S. 130.
3 basierend auf Bernhard.
4 Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas 1880 - 1950. Frankfurt a. Main 1965, S. 41
5 Szondi., S. 21.
6 Evelein, Johannes F.: August Strindberg und das expressionistische Stationendrama. Eine Formstudie. New York u. a 1996 (= „Studies of themes and motifs in literature“, Bd. 13), S. 17.
7 Spörl, Uwe: Basislexikon Literaturwissenschaft. 2. Aufl. Paderborn u. a. 2006 (UTB 2585), S. 230 f.
8 Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. 6. Aufl. Stuttgart u. Weimar 2004, S. 48.
9 Müssener, Helmut: August Strindberg „Ein Traumspiel. Struktur- und Stilstudien. Meisenheim am Glan 1965 (= Deutsche Studien, Bd. 4), S. 30.
10 ebd. S. 60.