Psychoanalytische und systemische Familientherapie - Ein Vergleich


Mémoire de Maîtrise, 2003

79 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Psychoanalyse nach S. Freud
2.1 Die psychosexuelle Entwicklung
2.2 Zur Entstehung von Neurosen
2.2.1 Die Verdrängung
2.2.2 Fixierung und Regression
2.2.3 Die Symptombildung
2.3 Ergänzungen zu Freuds Ansatz

3. Psychoanalytische Familientherapie nach H. E. Richter
3.1 Übertragung und narzisstische Projektion
3.2 Rollentypen
3.2.1 Das Kind als Substitut für einen anderen Partner
3.2.1.1 Das Kind als Substitut für eine Elternfigur
3.2.1.2 Das Kind als Gatten-Substitut
3.2.1.3 Das Kind als Substitut für eine Geschwisterfigur
3.2.2 Das Kind als Substitut für einen Aspekt des eigenen Selbst
3.2.2.1 Das Kind als Abbild schlechthin
3.2.2.2 Das Kind als Substitut des idealen Selbst
3.2.2.3 Das Kind als Substitut der negativen Identität
3.2.3 Das Kind als umstrittener Bundesgenosse
3.3 Zusammenfassung

4. Systemische Familientherapie nach H. Stierlin
4.1 Die fünf Perspektiven der systemischen Familientherapie
4.1.1 Die bezogene Individuation
4.1.2 Die Interaktionsmodi von Bindung und Ausstoßung
4.1.3 Die Delegation
4.1.4 Die Mehrgenerationenperspektive von Vermächtnis und Verdienst
4.1.5 Der Status der Gegenseitigkeit
4.2 Innerer Besitz vs. äußeres Eigentum
4.3 Ein Beispiel

5. Der Vergleich
5.1 Psychoanalyse und psychoanalytische Familientherapie
5.2 Psychoanalyse und systemische Familientherapie
5.3 Psychoanalytische und systemische Familientherapie

6. Erziehung und Neurosen

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Lebenslauf

1. Einleitung

Die Familientherapie ist ein noch recht junges Anwendungsgebiet der Psychologie. Auch wenn Sigmund Freud bereits Anfang des 20. Jahrhunderts im Rahmen seiner Psychoanalyse einen Zusammenhang zwischen der Eltern-Kind-Beziehung und der Entwicklung des Kindes erklären konnte, entstanden Konzepte, welche gezielt ganze Familien untersuchen und behandeln, erst später. So veröffentlichte Horst-Eberhard Richter 1963 sein Werk „Eltern, Kind und Neurose“, in welchem er sein, auf eigenen Untersuchungen basierendes Konzept über neurosefördernde Elterneinflüsse auf das Kind vorstellte. Im Mittelpunkt dieses Modells, welches im Allgemeinen den psychoanalytischen Familientherapien zugeordnet wird, steht eine von Richter entwickelte Rollentheorie, welche das Eltern-Kind-Verhältnis beschreibt. Als weitere wichtige Persönlichkeit ist Helm Stierlin zu nennen, der mit seinem familientherapeutischen Ansatz die systemischen Familientherapien vertritt. Stierlin hat in seinem 1975 erschienenen Buch „Von der Psychoanalyse zur Familientherapie“ und anderen Werken ebenfalls einen Ansatz entworfen, mit dem sich problematische Familienbeziehungen untersuchen und therapieren lassen. Interessanterweise haben sich beide familientherapeutische Konzepte aus der Psychoanalyse, welche sich auf das seelische Leben und Erleben eines Individuums konzentriert, entwickelt.

Daraus ergeben sich nun verschiedene Fragen: Welche Verbindung besteht zwischen den beiden Formen der Familientherapie und der Psychoanalyse? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich beim Vergleich der beiden familientherapeutischen Konzepte feststellen? Wie beschreiben die einzelnen Ansätze den Einfluss der Eltern-Kind-Beziehung auf die Entwicklung des Kindes? Welche Formen des elterlichen Verhaltens können zu einer Neurose beim Kind führen? Kann die Entstehung einer Neurose dementsprechend auch durch die Erziehung verhindert werden?

Um diese Fragen zu beantworten wird zunächst die Psychoanalyse grundlegend vorgestellt. Dabei wird der Schwerpunkt auf der psychosexuellen Entwicklung des Kindes und der Entstehung von Neurosen liegen. Im Anschluss daran werden die beiden familientherapeutischen Modelle vorgestellt und sowohl mit der Psychoanalyse als auch untereinander verglichen. Abgerundet wird diese Arbeit durch einige allgemeinere Überlegungen über neurosefördernde bzw. -verhindernde Elterneinflüsse und die Konsequenzen, die diese Kenntnisse für die Erziehung eines Kindes haben sollten.

2. Die Psychoanalyse nach S. Freud

Wenn man sich mit Aufzeichnungen über die Lebensgeschichte von Freud auseinandersetzt, stößt man auf einen immer wiederkehrenden Wechsel, welcher das Leben dieses Mannes durchzog. Es ist die Rede von einem Wechsel von Zukunftsgewissheit und Todesfurcht, von Liebe und Hass, von Offenheit und Distanz, von Arbeitswut und Genuss des Lebens – ein ständiger Wechsel zwischen sich scheinbar ausschließenden Zuständen. Diese ständigen Wechsel, diese sich wiederholenden Ambivalenzen, welche Freuds Leben kennzeichneten, scheinen sich in einem Charakteristikum der Freudschen Psychologie zu spiegeln: dem Dualismus. (vgl. Salber 1999: 8f)

Es mag auf den ersten Blick fraglich erscheinen, ob tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Freuds Leben und seiner psychologischen Konzeption besteht. Betrachtet man die Lebensgeschichte Freuds jedoch genauer, so offenbart sich, dass gerade das Erleben dieser Wechsel und dieser Widersprüchlichkeiten den Weg für Freuds Verständnis von Vorgängen wie Produktion oder Genese – im psychologischen Sinne – geebnet hat. Durch die Betrachtung seiner Lebensgestaltung entdeckte Freud „das seelische »Band« zwischen der Sehnsucht nach seligen Zuständen und Töten, Schuld, Opfer, Arbeit. In seinen Produktionen [verfolgte – Anm. d. Verf.] er den Zusammenhang zwischen dem Entsetzen bei Verlust oder Tod und produktiven Wiederauferstehungen, wenn der eine Zustand wieder seinem Gegenspieler weichen muß.“ (Salber 1999: 13f)

Aus diesem Zitat geht hervor, dass nach Freud das Seelische keine passive, statische Einheit ist, sondern vielmehr durch heftige, dynamische Bewegungen gekennzeichnet ist, welche sich mit Begriffen wie „Prozess“, „Wandlung“, „Konflikt“ oder „Gestaltung“ charakterisieren lassen. Scheinbar gegensätzliche Zustände, Empfindungen oder Bedürfnisse sind nicht nur durch einen Zusammenhang verbunden, sondern treiben sogar die Umgestaltung, die Weiterentwicklung an. Doch wie ist der Zusammenhang beschaffen, der diese Widersprüchlichkeiten verbindet und letztlich zu einer Gestaltung der seelischen Prozesse führt? Welche Kräfte sind es, die das Seelische in Bewegung versetzen und halten? Welcher Zusammenhang besteht zwischen seelischen Prozessen und den Taten oder Leiden eines Menschen, in welchen diese Prozesse zum Ausdruck kommen?

Freud beschäftigte sich im Laufe seiner Forschungen u. a. ausführlich mit dem angesprochenen Problem der Ausdrucksbildung. Körperliche Phänomene, wie z. B. Weinen, Toben oder Lachen, sind häufig Ausdruck seelischer Vorgänge.[1] Normalerweise weiß ein Mensch, welche Eindrücke oder Gedanken der Grund für die entsprechende körperliche Erscheinung sind. Es gibt jedoch psychische Erkrankungen, bei denen die Erkrankten die verschiedensten körperlichen Phänomene zeigen, ohne dass sie sagen könnten, was sie zu diesem Verhalten veranlasst. „»Das Band des Zusammenhangs« umschlingt nicht mehr alle seelischen Prozesse.“ (Salber 1999: 39) Es existieren also unbewusste Seelenprozesse, die sich körperlich äußern können, ohne dass das bewusste »Ich« den Sinn dieser Äußerungen kennt. Daraus folgt, dass es zwei verschiedene seelische Zustände gibt, die voneinander abgespalten sein können, ohne voneinander zu wissen. Des Weiteren folgt daraus, dass verdrängte, „unbewusst gemachte“ seelische Inhalte nicht endgültig abgestorben sind, sondern wiederbelebt werden können und durch Verwandlungen in Symptomen oder Symbolen ihren Ausdruck finden. Somit ist das Seelische nicht nur durch Bewegungen gekennzeichnet, sondern es macht etwas, „es nimmt Leibliches zum Ausdruck für Inhalte und Probleme.“ (Salber 1999: 40) Das Seelische ist demnach ein Symbolisierungsbetrieb; es kann seine Arbeiten symbolisch weiterführen. Kann sich ein Interesse nicht angemessen äußern, sucht es sich einen entsprechenden Ersatz. Somit können seelische Prozesse und Inhalte in den verschiedensten Symbolen zum Ausdruck kommen. Nach Freud sind diese Symbolisierungen, wie alle seelischen Abläufe, sinnbestimmt, d. h. auch die scheinbar sinnlosen Symptome einer psychischen Erkrankung stehen doch in einem sinnvollen seelischen Zusammenhang. (vgl. Salber 1999: 39ff)

Aus den bisherigen Ausführungen ist hervorgegangen, dass das seelische Geschehen keineswegs statisch, sondern durch ständige Bewegung gekennzeichnet ist. Wo eine Bewegung festzustellen ist, muss auch von einer Kraft ausgegangen werden, welche diese hervorruft. Die Tatsache, dass seelische Prozesse nicht grundsätzlich ihr Interesse angemessen äußern können, sondern unter Umständen den „Umweg“ über die Symbolisierung gehen müssen, weist darauf hin, dass im seelischen Betrieb mehr als eine Kraft am Werk sein muss.

Freud entdeckte während seiner Arbeit, wie in scheinbar sinnlosen Produktionen zwei Kräfte gegeneinander wirken. Das Leben eines Menschen scheint sich geradezu auf zwei Schauplätzen abzuspielen:

„Auf dem einen spielt sich ein Kultivierungsprozeß ab, der andere hat mehr mit Genuß, mit Lust, mit Leidenschaft zu tun. Mal zieht uns der eine an, mal der andere; der Kultivierungsprozeß ist uns vertraut, die Gegenkräfte sind uns zwar eigen, doch zugleich auch fremd.“ (Salber 1999: 45)

Freud sprach in diesem Zusammenhang auch von einem System das drängt und einem System das abwehrt bzw. gestaltet. Diese Systeme existieren jedoch nicht schon von Geburt an in ihrer endgültigen Form, sondern organisieren sich erst im Laufe der Zeit. Das Seelenleben eines Menschen ist demnach nicht von Anfang an fertig, sondern bildet sich in einem Entwicklungsprozess. (vgl. Salber 1999: 52)

2.1 Die psychosexuelle Entwicklung

Nach Freud wird der Mensch durch eine Unruhe angetrieben, sozusagen von einem „Trieb an sich.“ (Salber 1999: 65) Die menschliche Sexualität ist hierbei von besonderer Bedeutung, ohne jedoch der ganze seelische Apparat zu sein. Dennoch ist Sexualität der Prozess, „der insbesondere im Suchen und Finden von Zusammenhängen am Werk ist.“ (Salber 1999: 53)

Man darf sich jedoch nicht dazu verleiten lassen, Freuds Begriff von Sexualität mit dem gleichzusetzen, was heutzutage gemeinhin unter Sexualität verstanden wird. Es würde Freuds Verständnis von diesem Begriff ebenso wenig gerecht werden, wenn man „Sexualität“ ausschließlich mit „die Fortpflanzung betreffend“ übersetzen würde. Nach Freud ist die menschliche Sexualität zweiteilig und zweizeitig, da „das Seelische in jeder Zeit tätig ist.“ (Salber 1999: 52) Dabei lässt sich zwischen einer infantilen und einer erwachsenen (kultivierten) Sexualität unterscheiden. Die Existenz einer infantilen Sexualität weist darauf hin, dass Kinder keineswegs asexuelle Wesen sind, deren Sexualleben erst mit Beginn der Pubertät erwacht. Schon ein Säugling verfügt über einen Sexualtrieb, dessen Kraft Freud als Libido bezeichnet. Man kann die infantile Sexualität jedoch keineswegs mit der erwachsenen Sexualität gleichsetzen oder sie angemessen aus einer „erwachsenen“ Perspektive deuten. (vgl. Salber 1999: 52; Freud 2000: 290ff)

Die Vorstellung, dass bereits Kleinkinder ein reges Sexualleben haben, mag befremdlich erscheinen, dennoch führt bereits der Säugling Handlungen aus, die nichts anderem als dem Lustgewinn dienen. Im Säuglingsalter ist das Hauptinteresse des Kindes auf die Nahrungsaufnahme gerichtet. Es lässt sich jedoch feststellen, dass ein Säugling auch dann das Bedürfnis zeigt, an der Brust der Mutter zu saugen, wenn er nicht unter dem Antrieb des Hungers steht. Gleichwohl zeigt er nach dieser Tätigkeit eine ähnliche Befriedigung, als wenn er tatsächlich Nahrung aufgenommen hätte. Es ist anzunehmen, dass der Säugling diese Form des Lustgewinns anfänglich während der Nahrungsaufnahme erfahren hat, aber gelernt hat, sie von dieser Bedingung zu trennen. Somit dient diese Tätigkeit ausschließlich dem reinen Lustgewinn. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass er die lustvolle Tätigkeit des Lutschens auch nach Beendigung der Stillzeit fortsetzt – er saugt und lutscht nun an seinem Daumen, seinen Zehen oder an seiner eigenen Zunge.[2] Dadurch macht er sich auch von der Zustimmung der Außenwelt zu seinem Lustgewinn unabhängig. Diese Phase der psychosexuellen Entwicklung wird als orale Phase bezeichnet und erstreckt sich über das erste Lebensjahr. (vgl. Freud 2000: 300f)

An dieser Betrachtung lassen sich bereits zwei bedeutende Charakteristiken der infantilen Sexualität erkennen: „Sie erscheint in Anlehnung an die Befriedigung der großen organischen Bedürfnisse, und sie benimmt sich autoerotisch, das heißt, sie sucht und findet ihre Objekte am eigenen Körper.“ (Freud 2000: 301)

Diese Charakteristiken werden auch beibehalten, wenn das Kleinkind in einer späteren Phase, der so genannten anal-sadistischen Phase, Lustgewinn durch Tätigkeiten der Ausscheidung erlebt. Das Kind erlebt Lustempfindungen bei der Ausscheidung von Harn und Kot und lernt diese Tätigkeiten derart zu steuern, dass es ihm einen möglichst großen Lustgewinn bringt. In dieser Phase, die sich ungefähr über das zweite und dritte Lebensjahr erstreckt, wird das Kind auch erstmals mit der Außenwelt als hemmende, das Luststreben einschränkende Macht konfrontiert. Die Reinlichkeitserziehung fordert vom Kind, dass es seine Exkremente nicht dann von sich gibt, wenn es ihm danach beliebt, sondern dann, wenn andere Personen es bestimmen. (vgl. Freud 2000: 301)

Schon aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass die infantile Sexualität nicht mit einer erwachsenen Sexualität vergleichbar ist. Freud sagt in diesem Zusammenhang, dass das Sexualleben des Kindes, wenn überhaupt existent, von perverser Art sein muss, „denn dem Kinde fehlt noch bis auf wenige dunkle Andeutungen, was die Sexualität zur Fortpflanzungsfunktion macht.“ (Freud 2000: 302) Eine Sexualbetätigung ist in diesem Sinne also pervers, wenn sie das Fortpflanzungsziel aufgegeben und als einziges Ziel den Lustgewinn hat. D. h., dass das Sexualleben eines Menschen erst im Laufe der Entwicklung den Absichten der Fortpflanzung untergeordnet wird. Diese Unterordnung stellt einen Bruch und Wendepunkt der Entwicklung des Sexuallebens dar: „Alles was vor dieser Wendung vorfällt […] wird mit dem nicht ehrenvollen Namen des »Perversen« belegt und als solches geächtet.“ (Freud 2000: 303)

Die erwachsene Sexualität geht also aus etwas hervor, was bereits vor ihr bestanden hat. Am Wendepunkt der sexuellen Entwicklung werden einzelne Züge des bisherigen Sexuallebens als unbrauchbar abgelehnt, während die anderen zusammengefasst und dem Fortpflanzungsziel zugeordnet werden. Auf diesem Wege erhält die erwachsene Sexualität eine Organisation, wie sie bei der infantilen Sexualität nicht vorhanden ist. Die erwachsene Sexualität ist gewissermaßen zentriert, da alles Tun zu einem Ziel drängt. Auch wenn das angestrebte Ziel nicht immer dem Fortpflanzungsziel entsprechen muss, so herrscht doch eine Organisation, bei der ein Partialtrieb die Oberhand hat. Die infantile Sexualität hingegen besitzt keine derartige Organisation und keine Zentrierung auf ein Ziel hin. Hier existieren die einzelnen Partialtriebe gleichberechtigt nebeneinander und drängen auf eigene Faust zum Lustgewinn. (vgl. Freud 2000: 309)

Die psychosexuelle Entwicklung des Kindes setzt sich im Anschluss an die anal-sadistische Phase mit der prägenitalen Phase fort. Als zeitlicher Anhaltspunkt kann hier das dritte bis fünfte Lebensjahr des Kindes genannt werden. In dieser Phase beginnen Prozesse der Objektfindung, die zwei Ziele haben: Erstens sollen der Autoerotismus verlassen und zweitens die einzelnen Triebe auf ein Objekt zentriert werden. Sowohl in der späten oralen, als auch in der anal-sadistischen Phase sind die Triebe autoerotisch. Durch den Entwicklungsprozess erlangt das Kind die Fähigkeit, „das Objekt am eigenen Körper wiederum gegen ein fremdes Objekt zu vertauschen.“ (Freud 2000: 315) Das auf diesem Wege erste gefundene Objekt entspricht dem, auf das sich die ersten Lusttriebe des Kindes im übertragenen Sinne richteten – die Mutter. Die Wahl der Mutter zum ersten Liebesobjekt zieht nun den so genannten Öpiduskomplex nach sich, welcher erheblichen Einfluss auf die Strukturierung des Seelenlebens hat. (vgl. Freud 2000: 315)

Der Ödipuskomplex trägt seinen Namen in Anlehnung an eine Sage des griechischen Dichters Sophokles. Diese Sage handelt von einem König namens Ödipus, dessen Schicksal es ist, seinen Vater zu ermorden und die eigene Mutter zur Frau zu nehmen. Vor einem psychoanalytischen Hintergrund beschreibt der Ödipuskomplex einen Entwicklungsprozess, während dem der kleine Junge nicht nur die Mutter als erstes Liebesobjekt wählt, sondern auch den Vater als störend empfindet und an dessen Stelle an die Seite der Mutter treten möchte.[3] Der Junge zeigt deutlich, dass er die Mutter für sich alleine haben möchte, versucht Zärtlichkeiten des Vaters gegenüber der Mutter zu stören und freut sich, wenn der Vater abwesend ist. Es ist in dieser Phase auch nicht ungewöhnlich, dass der kleine Junge seine Gefühle offen ausspricht und seiner Mutter verspricht, dass er sie heiraten werde. Das Bemerkenswerte hierbei ist, dass das Kind gleichzeitig starke Gefühle für den Vater hegen kann, welche es bei anderen Gelegenheiten auch durchaus äußert. Allein diese ambivalenten Gefühlsregungen würden bei einem Erwachsenen schon zum Konflikt führen, während sie beim Kind eine Zeit lang recht gut nebeneinander existieren können. (vgl. Freud 2000: 318)

Angesichts der Darstellung des Ödipuskomplexes könnte man auch meinen, dass das Verhalten des kleinen Jungen auf egoistischen Motiven und nicht auf einer erotischen Neigung beruht. Dagegen spricht jedoch, dass das Kind, würde es aufgrund egoistischer Motive handeln, auch eine ständige Anwesenheit und Bereitschaft des Vaters wünschen würde, anstatt sich über seine Abwesenheit zu freuen. Aber selbst wenn der Vater sich angestrengt um den Jungen bemüht, wird es ihm doch nicht gelingen, die gleiche Bedeutung wie die Mutter zu erlangen. Letztlich lassen auch verschiedene Verhaltenszüge des Jungen auf das Vorhandensein einer erotischen Strebung schließen, sei es, dass er nachts bei der Mutter im Bett schlafen möchte oder dass er gar Verführungsversuche unternimmt. Daraus folgt, dass diese spezielle Bindung, die der Junge zu seiner Mutter hat, nicht von egoistischen Motiven geleitet wird, da definitiv eine geschlechtliche Bevorzugung festzustellen ist. (vgl. Freud 2000: 315ff)

Bei einem kleinen Mädchen stellt sich der Ödipuskomplex recht ähnlich dar. Hier lässt sich eine deutliche Bevorzugung des Vaters und der Wunsch, die Mutter zu ersetzen, beobachten. Selbst wenn die Mutter dieselbe Fürsorge für ihre Tochter aufbringt wie für einen Sohn, wird sie doch nicht dieselbe Wirkung erzielen. (vgl. Freud 2000: 318)

Der Ödipuskomplex ist von erheblicher Bedeutung für die Entwicklung des Seelenlebens: „Er strukturiert die Welt durch einen Entwurf, der sich nicht durchführen läßt.“ (Salber 1999: 52) Aus diesem Grund wirkt der Ödipuskomplex auf das ganze Leben, da der Mensch immer wieder auf „undurchführbare Entwürfe“ stößt, die umgewandelt werden müssen. An den kleinen Jungen stellt er die Aufgabe, seine libidinösen Wünsche von der Mutter zu lösen, um sie später für ein neues, fremdes Liebesobjekt nutzen zu können. Gleichzeitig muss er versuchen, sich wieder mit seinem Vater zu versöhnen und zu identifizieren. (vgl. Freud 2000: 322)

Im Anschluss an die prägenitale Phase durchlebt das Kind die so genannte Latenzzeit. Sie findet ungefähr zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr des Kindes statt. Kennzeichnend dafür ist ein Stillstand oder Rückgang der Sexualentwicklung und der Sexualinteressen. Die Latenzzeit kann jedoch auch völlig entfallen und somit keinen Einfluss auf die Sexualinteressen haben. Unabhängig davon wie ausgeprägt die Latenzzeit erlebt wird, muss festgehalten werden, dass die meisten Erlebnisse und seelischen Regungen vor dem Eintritt in die Latenzphase einer „infantilen Amnesie“ verfallen und entsprechend „vergessen“ werden. Es liegt jedoch nahe, dass diese seelischen Regungen nicht einfach vergessen werden, sondern die infantile Amnesie die Folge eines Verdrängungsprozesses ist, der sich aufgrund der Inhalte der frühen Regungen ergeben hat. (vgl. Freud 2000: 312)

Die hier angesprochenen Entwicklungsphasen lassen vermuten, welch enormen Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien schon das seelische Leben eines Säuglings beleben. Diese Wünsche und Bedürfnisse kommen (nicht nur) in den lustvollen Betätigungen des Kindes zum Ausdruck. So hat schon der Säugling Wünsche nach einer Einheit mit der Mutter, nach einer „Einverleibung“ des geliebten Objekts und verleiht diesen u. a. durch sein lustvolles Lutschen an der Brust der Mutter einen Ausdruck. Das Kind nimmt die Mutter anfangs noch als ein Teil seiner selbst wahr, da es noch nicht zwischen Selbst und anderen unterscheiden kann. Daraus erwachsen Allmachtsphantasien, da das Kind praktisch „alles hat.“ Schließlich ist Nahrung ständig und in unbegrenzter Menge vorhanden und der Säugling ist bei seinen lustvollen Betätigungen nicht auf die Unterstützung anderen angewiesen, da sein Sexualleben autoerotischer Natur ist. Der Säugling hat an sich selbst Genüge. (vgl. Mertens 1992 : 48, 87)

Mit dem Fortschreiten der psychosexuellen Entwicklung verändern sich auch die Wünsche und Phantasien, die im seelischen Leben des Kindes im Vordergrund stehen. In der anal-sadistischen Phase zeigen sich nun z. B. Wünsche nach Bemächtigung, Ablösung oder auch Schaulust und Zerstörungswut. Dies kommt u. a. im kontrollierten Ausscheiden und Zurückhalten des Kots zum Ausdruck. Das Kind empfindet zu Beginn noch keinen Ekel vor seinem Kot, sondern schätzt ihn als Teil seines Körpers und nutzt ihn gar als „Geschenk“ für wichtige Personen. Erst die Reinlichkeitserziehung entfremdet das Kind von seinem Verhältnis zu den eigenen Exkrementen und konfrontiert es mit den hemmenden Kräften der Außenwelt. Dennoch setzt das Kind auch nach erfolgter Reinlichkeitserziehung die Wertschätzung des Kotes auf das „Geschenk“ und später auch auf das „Geld“ fort. Somit beeinflusst die Art der Reinlichkeitserziehung und der Ablauf der damit verbundenen ersten Konflikte mit den Eltern u. a. das Verhältnis, welches das Kind später zu Dingen wie „Geschenken“, „Besitz“ und „Geld“ hat. (vgl. Freud 2000: 301; Amelang/Bartussek 1997: 410)

In der prägenitalen Phase kommen nicht minder radikale Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck. Hier spielen Beseitigungs-, Rache- und Todeswünsche eine Rolle. Der Ödipuskomplex verbindet diese Wünsche zu dem Bedürfnis, die Mutter bzw. den Vater alleine für sich zu besitzen und den störenden anderen Elternteil zu ersetzen.

„Angesichts der sich ändernden Wirklichkeit drängt das Seelische auf Einheiten von Lieben und Geliebtwerden. [...] Bei der infantilen Sexualität sieht das, zu unserem Erschrecken, so aus, daß wir die Mutter zu dieser Einheit verführen und alles Störende dabei beseitigen wollen.“ (Salber 1999: 53)

Der Ödipuskomplex ist von besonderer Bedeutung, da er aufgrund seiner Undurchführbarkeit das Seelenleben strukturiert. Durch ihn wird die seelische Entwicklung einem unmöglichen Begehren unterworfen und der Mensch dazu gezwungen, mit diesem Begehren zurechtzukommen. Auch wenn er gelöst wird, so wird er doch niemals völlig überwunden: „Was hier an Liebessehnsucht und Haß produziert wurde, blieb notwendig unvollkommen – das bestimmte die Struktur des Seelenbetriebes im ganzen.“ (Salber 1999: 65)

Die verschiedenen Wünsche und Bedürfnisse, welche das infantile Seelenleben bevölkern, kommen nicht nur in den hier dargestellten entwicklungstypischen Verhaltensweisen, sondern auch in alltäglichen Situationen zum Ausdruck. Man stelle sich eine Situation mit zwei spielenden Kindern vor. Das eine Kind stößt das andere weg, um das Spielzeug für sich alleine haben zu können. Auch in solch einer Situation kommen Todes- und Beseitigungswünsche zum Ausdruck – der störende Konkurrent soll verschwinden.

2.2 Zur Entstehung von Neurosen

Die seelische Entwicklung durchläuft also verschiedene Phasen bis es zu einer Strukturierung des Seelenlebens kommt. In Bezug auf die Libidofunktion wäre das - nach Freud „normale“ - Ziel dieser Entwicklung, dass sich die Sexualstrebungen dem Fortpflanzungsziel unterordnen. Diese verschiedenen vorbereitenden Phasen werden jedoch nicht stets gleich gut durchlaufen und überwunden. Durch eine unangemessene Triebbefriedigung oder durch traumatische Ereignisse kann es dazu kommen, dass Anteile der Libidofunktion auf diesen frühen Stufen zurückgehalten werden. Diese Tatsache spielt eine erhebliche Rolle für die Entstehung von Neurosen. (vgl. Freud 2000: 324)

Nach Freud ist es möglich, dass von jeder einzelnen Sexualstrebung Anteile auf einer früheren Entwicklungsstufe zurückgeblieben sind, während andere Anteile das Endziel erreicht haben. Dieses „Verbleiben einer Partialstrebung auf einer früheren Stufe“ (Freud 2000: 325) bezeichnet man als eine Fixierung. Des Weiteren besteht bei solch einer stufenweisen Entwicklung die Gefahr, dass auch jene Anteile, die es in der Entwicklung weiter gebracht haben, leicht wieder auf eine dieser früheren Stufen zurückkehren können. Dies nennt man Regression. Es kann dann zu einer Regression kommen, wenn die weiterentwickelte Strebung durch äußere Hindernisse an der Erreichung ihres Befriedigungszieles gehindert wird. Die Gefahr einer Regression ist umso größer, je stärker die Fixierung auf einer früheren Stufe des Entwicklungswegs ausgeprägt ist. (vgl. Freud 2000: 325)

Die Vorgänge der Regression und der Fixierung spielen also eine Rolle bei der Entstehung von Neurosen. An diesem Prozess ist jedoch noch ein anderer Vorgang beteiligt, den man als Verdrängung bezeichnet.

2.2.1 Die Verdrängung

Die Verdrängung ist ein seelischer Vorgang, der eine erhebliche Rolle bei der Entstehung von psychischen Störungen spielt – sie ist „die Vorbedingung der Symptombildung.“ (Freud 2000: 282)

Wie bereits erwähnt, existieren neben den bewussten Seelenvorgängen auch solche, die als unbewusst bezeichnet werden können. Die Unbewusstheit eines seelischen Vorganges ist jedoch „nur eine Eigenschaft desselben und nicht notwendig eine unzweideutige.“ (Freud 2000: 282) Dennoch bedeutet „unbewusst“, „daß wir wirklich nicht wissen, was sich bei uns seelisch abspielt.“ (Salber 1999: 55)

Jeder seelischer Vorgang existiert zunächst in einem unbewussten Stadium. Aus diesem Stadium kann jeder einzelne Vorgang unter gewissen Umständen in eine bewusste Phase übergehen. Dies muss jedoch nicht zwangsläufig der Fall sein. Um sich den Prozess der Verdrängung besser veranschaulichen zu können, stelle man sich das Unbewusste als einen großen Vorraum vor, in welchem sich die verschiedenen seelischen Regungen aufhalten. Dieser Vorraum grenzt an einen weiteren, kleineren Raum, in welchem sich das Bewusstsein „aufhält“. Die Tür zwischen diesen beiden Räumen wird von einem Wächter bewacht, welcher die einzelnen, unbewussten Regungen begutachtet und ihnen den Zutritt zum nächsten Raum verwehrt, falls sie sein Missfallen erregt haben. Es ist sowohl möglich, dass dieser Wächter eine unliebsame Regung schon an der Tür zurückweist, als auch, dass er eine bereits eingetretene Regung wieder durch die Tür zurückschickt. (vgl. Freud 2000: 283)

Anhand dieser Darstellung kann leicht nachvollzogen werden, dass die seelischen Regungen im Vorraum zunächst unbewusst bleiben müssen, da sie den Blicken des Bewusstseins entzogen sind. Gelingt es einer Regung den Wächter zu passieren und in den nächsten Raum zu gelangen, muss sie dadurch jedoch nicht unbedingt bewusst werden. Man bezeichnet sie dann zunächst als bewusstseinsfähig. Sie wird erst dann bewusst, wenn es ihr gelingt, die Aufmerksamkeit des Bewusstseins auf sich zu lenken. Aus diesem Grund wird dieser zweite, kleinere Raum nicht analog zum Vorraum als Bewusstsein bezeichnet, sondern als das System des Vorbewussten, da die Regungen die in ihn gelangen nicht zwangsläufig bewusst werden müssen. Man spricht nun von einer Verdrängung, wenn eine bewusstseinsfähige, also eine dem System des Vorbewussten angehörige Regung, wieder unbewusst gemacht, also ins System des Unbewussten zurückgeschoben wird. Diese Regung bezeichnet man dann als bewusstseinsunfähig. Man bezeichnet es ebenfalls als Verdrängung, wenn eine Regung bereits an der Tür zum Vorbewusstsein zurückgewiesen wird und erst gar nicht in das nächste System gelangt. (vgl. Freud 2000: 283f)

Die Verdrängung lässt sich u. a. auf Kräfte des Ichs - bekannte und latente Charaktereigenschaften – zurückführen. Sie ist jedoch nur eine Vorbedingung der Symptombildung – sie führt nicht zwangsläufig zu einer psychischen Erkrankung. In diesem Sinne ist ein Symptom „ein Ersatz für etwas, was durch die Verdrängung verhindert wurde.“ (Freud 2000: 285)

Der Begriff der seelischen (Wunsch-) Regung ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der psychoanalytischen Theorie, da „der Kern unseres Wesens aus unbewußten Wunschregungen“ (Freud 1972: 573) besteht. Mit anderen Worten: Sowohl das seelische Alltagsleben des Menschen als auch seine allgemeinen Lebensentwürfe werden ständig von Wunschregungen beherrscht, die alle – unabhängig davon, ob sie tatsächlich eingestanden oder tatsächlich ausgelebt werden – auf Realisierung angelegt sind. „Alles derartig seelisch Zustandegekommene läßt sich also aufzeigen als Resultat unseres selbständig gestalteten Umgangs mit unseren Wunschregungen…“ (Baßler 1993: 116)

Der Begriff des „Wünschens“ ist also von erheblicher Bedeutung für das gesamte menschliche Seelenleben. Im seelischen Leben bedeutet „Wünschen“ das Herstellen einer seelisch befriedigenden Situation. Es bleibt jedoch die Frage offen, mit welcher Art von Wünschen man es hier zu tun hat und was diese zum Inhalt haben. Handelt es sich dabei z. B. um alltägliche Wünsche nach einem neuen Spielzeug, nach einem neuen Auto oder nach Wohlstand? Oder spielen hier Wünsche eine Rolle, die sich aufgrund ihrer Tragweite und ihres Inhaltes überhaupt nicht mit jenen alltäglichen verglichen werden können? Tatsächlich handelt es sich hierbei um unsterbliche, titanenhafte, archaische, infantile Wünsche, welche weit über harmlose Kinderwünsche nach einem neuen Spielzeug hinausgehen (vgl. Baßler 1993: 116f):

„Hier finden sich Wünsche nach »Größensucht«, »Beseitigungswünsche«, »Rache- und Todeswünsche«, »Inzestwünsche«, »Wünsche, den Vater bzw. die Mutter voll für sich zu besitzen«(Ödipus), exhibitionistische und voyeuristische »Schau- und Zeigelust«, Wünsche nach sadistischer und masochistischer Machtausübung.“ (Baßler 1993: 117)

Diese Wünsche sind gewissermaßen noch ungehemmte Bestrebungen, die im noch unorganisierten Seelenleben des Kindes erste Formen bilden und sich u. a. als »Extremisierungen«, »Trennungen«, »Idealisierungen« und »radikale Bindungs- und Lösungsformen« darstellen. (vgl. Baßler 1993: 117)

2.2.2 Fixierung und Regression

So wie die Verdrängung nur eine Vorbedingung der Symptombildung ist, führt auch der Prozess der Regression nicht zwangsläufig zu einer Neurose. „Regression der Libido ohne Verdrängung würde nie eine Neurose ergeben, sondern in eine Perversion auslaufen.“ (Freud 2000: 329)

Man kann zwischen zwei Arten von Regressionen unterscheiden: „Rückkehr zu den ersten von der Libido besetzten Objekten, die bekanntlich inzestuöser Natur sind, und Rückkehr der gesamten Sexualorganisation zu früheren Stufen.“ (Freud 2000: 326) Dabei darf man jedoch nicht Regression und Verdrängung, welche schließlich auch als eine Rückkehr zu einer tieferen Stufe in der Entwicklung eines psychischen Aktes betrachtet werden kann, miteinander verwechseln. Während Regression ausschließlich die Rückkehr der Libido zu früheren Entwicklungsstadien bezeichnet, haftet dem Prozess der Verdrängung keine Verbindung zur Sexualität an. (vgl. Freud 2000: 326)

Unter welchen Umständen führt nun eine Regression zu einer Neurose und welche Rolle spielt der Prozess der Verdrängung dabei? Salber hat diesen Zusammenhang in wenigen Sätzen zusammengefasst:

„In seinen »Abhandlungen« zur Sexualität entdeckt er [Freud – Anm. d. Verf.], wie sich unsere kultivierten Produktionen von unseren infantilen Tätigkeiten abwenden, weil sie »stinken«. Wenn die gesäuberten Produktionen allerdings »versagen«, ziehen wir unsere Befriedigung wieder aus den einfachen Vorformen. Vom Standpunkt unserer Kultivierung aus erscheint uns das dann als eine »Perversion«; unterdrücken wir deren Angebot zur Befriedigung, handeln wir uns eine Neurose ein.“ (Salber 1999: 64)

Aus diesem Zitat geht hervor, dass eine bloße Regression der Libido ohne eine Verdrängung zwar zu einer Perversion, nicht aber zu einer Neurose führen würde. Es lässt sich also zunächst festhalten, dass eine Versagung der libidinösen Befriedigung eine der Ursachen für eine neurotische Erkrankung ist und dass die Symptome den Ersatz für diese versagte Befriedigung darstellen. Auch wenn sich solch ein Moment der Versagung in der Entwicklungsgeschichte jeder Neurose auffinden lässt, heißt dies nicht, dass jede Versagung zwangsläufig zu einer Erkrankung führen muss. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass ein Mensch zwar unter einer Versagung der libidinösen Befriedigung leidet, aber nicht an ihr erkrankt. Des Weiteren sind die libidinösen Regungen recht flexibel, d. h. sie haben u. a. die Fähigkeit das Objekt zu wechseln oder ihre Energie über den Prozess der Sublimierung auf andere, z. B. soziale anstatt sexuelle Ziele, zu richten. Dennoch sind diese Gegenmittel in der Regel nicht ausreichend, da ein Mensch nur ein gewisses Maß an unbefriedigter Libido ohne Schaden ertragen kann. Auch die Beweglichkeit der libidinösen Regungen und die Fähigkeit zur Sublimierung können nur einen gewissen Teil der Versagung ausgleichen, wobei diese Fähigkeiten nicht bei allen Menschen gleich stark ausgeprägt sind. Der Mangel an Beweglichkeit steht wiederum im Zusammenhang mit dem bereits erläuterten Vorgang der Fixierung. Somit ist die Libidofixierung neben der Versagung der libidinösen Befriedigung als zweite wichtige Ursache einer neurotischen Erkrankung zu nennen. (vgl. Freud 2000: 331) So lässt sich festhalten, „daß die Libidofixierung den disponierenden, internen, die Versagung den akzidentellen, externen Faktor der Neurosenätiologie repräsentiert.“ (Freud 2000: 331)

Dieser Sachverhalt wirft die Frage auf, ob Neurosen nun exogene oder endogene Krankheiten sind. Ist eine Neurose die notwendige Folge einer gewissen individuellen Disposition oder wird sie durch schädigende Lebenseindrücke hervorgerufen? Stellt das Vorhandensein einer Libidofixierung die ausschlaggebende Ursache dar oder der Druck der erlebten Versagung?

Diese Fragen können nicht eindeutig beantwortet werden, da beide Bedingungen für das Entstehen einer Neurose unentbehrlich sind. Es gibt Menschen, die schon alleine aufgrund ihrer Libidoentwicklung erkrankt wären, ebenso wie es Menschen gibt, die niemals erkrankt wären, hätten sie nicht mit extrem widrigen Lebensumständen zu kämpfen gehabt. In den meisten Fällen ist jedoch davon auszugehen, dass sich diese beiden Voraussetzungen mehr oder weniger die Waage halten. Es gibt jedoch noch ein weiteres Element, welches für die Entstehung von Neurosen von notwendiger Bedeutung ist und regelmäßig bei neurotischen Personen festzustellen ist: der psychische Konflikt. Der psychische Konflikt ist ein notwendiger Faktor der Neurosenätiologie: „Ohne solchen Konflikt gibt es keine Neurose.“ (Freud 2000: 334) Es muss sich hierbei jedoch um einen besonderen psychischen Konflikt handeln, damit er eine pathogene Wirkung haben kann. Schließlich wird der Mensch in seinem seelischen Alltagsleben ständig mit Konflikten konfrontiert, die er auf die eine oder andere Weise lösen muss. Dies gelingt ihm auch, ohne dass dadurch eine neurotische Erkrankung hervorgerufen würde. Es stellt sich also die Frage, wie ein psychischer Konflikt beschaffen sein muss, um pathogen zu wirken und welches Verhältnis er zu den anderen Bedingungen der Neurosenentwicklung hat. (vgl. Freud 2000: 332ff)

Zunächst kann festgehalten werden, dass der Konflikt durch die äußere Versagung hervorgerufen wird. Die Libido wird durch die Versagung dazu gezwungen, sich andere Wege und Objekte zu suchen, um die angestrebte Befriedigung zu erlangen. Der dadurch verursachte Konflikt wirkt aber erst dann pathogen, wenn „diese anderen Wege und Objekte bei einem Anteil der Persönlichkeit ein Mißfallen erwecken, so daß ein Veto erfolgt, welches die neue Weise der Befriedigung zunächst unmöglich macht.“ (Freud 2000: 334) In Folge dessen versucht die Libido sich über Umwege doch noch durchzusetzen. Dies gelingt ihr jedoch nur unter Berücksichtigung gewisser Entstellungen und Milderungen der ursprünglichen Strebung. Diese Umwege können demnach als die Wege der Symptombildung bezeichnet werden, während die daraus folgende neue oder Ersatzbefriedigung das Symptom darstellt. (vgl. Freud 2000: 334)

[...]


[1] Durch die Einschränkung dieser Aussage soll darauf hingewiesen werden, dass körperliche Phänomene - wie die aufgeführten - nicht grundsätzlich Ausdruck seelischer Prozesse sein müssen. So beruht z. B. das Weinen, welches durch das Schneiden einer Zwiebel ausgelöst werden kann, auf einem körperlichen Reflex, nicht aber auf einem der seelischen Prozesse, von denen hier die Rede ist.

[2] Wenn hier vom Stillen die Rede ist, soll dies nicht heißen, dass sich die Aussagen nur auf Säuglinge beziehen, die tatsächlich von ihrer Mutter (oder einer anderen Person) gestillt werden. Auch Kinder die mit der Flasche ernährt werden, erleben einen Lustgewinn durch die Tätigkeit des Saugens und Lutschens.

[3] Auch wenn hier nur von der Beziehung des Jungen zu seinen Eltern die Rede ist, gestaltet sich der Ödipuskomplex für das kleine Mädchen, mit Berücksichtigung der notwendigen Abänderungen, ähnlich. (vgl. Freud 2000: 319)

Fin de l'extrait de 79 pages

Résumé des informations

Titre
Psychoanalytische und systemische Familientherapie - Ein Vergleich
Université
University of Bonn  (Erziehungswissenschaftliches Institut)
Note
1,7
Auteur
Année
2003
Pages
79
N° de catalogue
V18089
ISBN (ebook)
9783638225045
Taille d'un fichier
792 KB
Langue
allemand
Mots clés
Psychoanalytische, Familientherapie, Vergleich
Citation du texte
André Heimerl (Auteur), 2003, Psychoanalytische und systemische Familientherapie - Ein Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18089

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