PISA aus Stanford Sicht


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2003

21 Pages, Note: 1,9


Extrait


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Theorie der Weltgesellschaft

III. PISA als Kapitel eines globalen Bildungs-skripts
1. Was ist PISA?
2. Versuch einer allgemeinen analytischen Anwendung
3. Versuch einer diskursanalytischen Annäherung an PISA
a) Fortschritt und Gerechtigkeit
b) Das selbständige Individuum
c) Rationalität und Steuerbarkeit
d) Verantwortung und Politik

IV. Fazit

V Literatur
1. Theorie
2. PISA
3. Sekundärliteratur

I. Einleitung

Eine als seriös geltende internationale Organisation lässt eine enorme Anzahl 15jährige Schülerinnen[1] einige Leistungstests durchführen, und in einem Land, in dem man besseres von den eigenen Sprösslingen erwartet hatte, läuten plötzlich sehr laut die Alarmglocken, in Feuilletons, Kantinen, und politischen Grundsatzpapieren. Eine überzogene Reaktion? Wieso gelingt kein Schulterzucken? Weshalb kann man die Ergebnisse nicht einfach annehmen und die eigene Gesellschaft hinfort weniger überschätzen? Warum glaubt man handeln zu müssen?

Ein Erklärungsangebot lässt sich aus der von John Meyer und seinen Mitarbeitern entwickelten Weltgesellschaftstheorie ableiten. PISA ist demnach nicht lediglich eine Studie, die eine internationale Organisation durchgeführt hat und bei der “Deutschland” - nun ja - versagt hat. Die Bedeutung von PISA liegt an anderer Stelle. In PISA und den deutschen Reaktionen darauf kommen weltweite (oder zumindest OECD-weite, damit aber schon supranationale) Orientierungen zum Ausdruck, an PISA lassen sich Normen und Werte, Vorstellungen des Gewussten, Möglichen und Notwendigen ablesen, die unabhängig von nationalen Kulturen sind und mit der sich die jeweiligen Gesellschaften auseinandersetzen müssen. PISA ist in dieser Perspektive Teil eines Prozesses, der als Versuch betrachtet werden kann, einem transnationalen kulturellen, auf Bildung bezogenen Skript[2] zu folgen. Dieses Skript hat, wie aus der Theorie deutlich werden wird, die Eigenheiten, sich zum einen zu wandeln und zum anderen nirgends fixiert zu sein. Deshalb möchte ich PISA als ein Phänomen behandeln, das man zur Annäherung an dieses Skript benutzen kann; ich möchte PISA als Ausdruck dieses Skripts interpretieren.

Es geht in dieser Arbeit nicht darum, Theorieentwicklung zu betreiben. Ich möchte nicht versuchen, eventuelle immanente Widersprüche von Meyers Theorie aufzudecken oder anhand von PISA Gegenargumente zu entwickeln. Dafür ist der Rahmen dieser Arbeit zu klein und würde meine Methode eine andere sein. Mein Erkenntnisinteresse in dieser Arbeit beschränkt sich darauf anzutesten, ob PISA als Phänomen unter der Meyerschen Makroperspektive betrachtet werden kann. Meine Fragestellung lautet also: Was spricht dafür, am Gesamtphänomen PISA das Wirken eines weltweiten Bildungsskripts festzumachen und wie drückt sich dies in Teilen des PISA-Diskurses aus? Mich interessieren dabei nicht die Inhalte der Reformvorschläge, sondern die Begründungen für ihre Notwendigkeit.

Ich werde zunächst die Theorie der Weltgesellschaft von John W. Meyer et al. umreißen und zentrale Befunde der empirischen, bildungssoziologischen, Arbeit ansprechen (II). Im zweiten Teil versuche ich, die Stanforder Perspektive auf PISA als Gesamtphänomen anzuwenden, um zu sehen, ob sich PISA „an sich“ in die Vorstellung der Existenz von Skripten einordnen lässt. (3.2) Wenn ja, wie lässt sich dieses Skript in den Aussagen der PISA-Entwicklerinnen und im Diskurs darüber erhaschen (3.3)?

Mein Vorgehen kann dabei nur eine Annäherung sein. Ich kann in dieser Arbeit die Debatte um PISA nicht vollständig und systematisch untersuchen, und beschränke mich zudem auf Fachkreise. Dies hat zwei erkenntnistheoretische Grenzen: erstens finde ich nicht heraus, wie sich die öffentliche Diskussion von der der Fachwelt unterscheidet. Zum zweiten lässt sich nicht bestimmen, ob im Phänomen PISA auch eine spezifisch „deutsche“ Kultur zum Ausdruck kommt, denkbar wären: eine spezifisch deutsche Empiriegläubigkeit oder –skepsis, eine spezifisch deutsche Versagensangst oder Charakteristika deutschen agenda-settings. Wollte man Weltkultur dingfest machen – und ich will mich nur annähern - wäre es nötig, auch Diskurse in anderen Ländern unter dem Stanforder Blickwinkel zu interpretieren.[3]

Es gibt noch eine dritte Grenze, sie ist identisch mit der Grenze der Reichweite der PISA-Studie. Länder der sogenannten Dritten Welt haben daran nicht teilgenommen. Definiert man Weltgesellschaft tatsächlich als ausnahmslos alle Länder betreffend (siehe II), so müsste man auch ihre bildungspolitischen Orientierungen in die Analyse einbeziehen.

II. Theorie der Weltgesellschaft

Die Theorie von John Meyer und seinen Mitarbeitern kann im Rahmen dieser Arbeit natürlich nicht umfassend dargestellt werden; ich beschränke mich auf einige Grundzüge. Meyer spricht ursprünglich von World Polity, später von World Society. Im Deutschen scheint die Verwendung der Begriffe Weltgesellschaft und Weltkultur angemessen, wobei m. E. der erste Begriff eher den Ort und der zweite stärker den Inhalt des gleichen Phänomens bezeichnet. Ich verwende beide Begriffe meist synonym.

Besonders Kultur im weiten Sinne, d.h. wenn sie Sozialisationsinhalte (Regeln, Normen und Deutungsmuster), nicht aber Kulturgüter meint, wird vielfach mit Gesellschaft, und deshalb mit Nationalstaaten oder analogen Einheiten assoziiert. Menschen interessieren sich für die französische oder baskische Kultur, Ethnologinnen untersuchen die Kultur en der afrikanischen Westküste oder indischen Vergangenheit. Kultur meint in diesem Sinne stets etwas, wodurch sich räumlich und zeitlich bestimmte Bevölkerungen voneinander unterscheiden - Kultur im weiten Sinn ist ein Begriff, der den Unterschied zwischen Gruppen impliziert und das partikulare Verbindende der Mitglieder dieser Gruppen voraussetzt.

John Meyer und seiner Forschungsgruppe geht es nicht um den Unterschied, sondern um das Gemeinsame. Sie etablieren in ihrer Theorie eine zusätzliche, bisher vernachlässigte Ebene von „Kultur“, eine, die weltweit gilt. Die Weltkultur ist allerdings keine bloße Addition „nationaler” Kulturen, oder der kleinste gemeinsame kulturelle Nenner aller existenten Gesellschaften, sondern kann zu diesen in Widerspruch geraten. Sie ist eigenständig, hat ihre eigene Logik und Wirkung (Wobbe 2000, S. 10, 13), insbesondere auf Nationalstaaten als Akteure:

„Many features of the contemporary nation-state derive from worldwide models constructed and propagated through global cultural and associational processes. These models and the purposes they reflect (e.g. equality, socio-economic progress, human development) are highly rationalized, articulated, and often surprisingly consensual.” (Meyer et al. 1997, S. 144f)

Die Vorstellung, der Nationalstaat sei die beste Organisationsform für Gesellschaften bzw. Menschengruppen, ist dabei selbst Teil der Weltkultur. Weltkultur geht über den National-staat hinaus, ihm sogar voraus. ”The result is nation-states that are more isomorphic than most theories would predict and change more uniformly than is commonly recognized.” (S. 173) Vor allem Theorien der Internationalen Beziehungen (Neorealismus, Weltsystem-Ansatz, ebd., S. 146f; Marxismus, Institutionalismus, Krücken 2003, S. 12; Rational Choice, Wobbe 2000, S. 27) können für die strukturellen Ähnlichkeiten (Isomorphien), die sich trotz aller Unterschiede feststellen lassen (Meyer et al. 1997, S. 153f) keine Erklärung liefern.

Die von Meyer beschriebene, und empirisch u.a. für das Bildungssystem belegte (Meyer et al. 1992), Standardisierung der Organisation verschiedener Lebensbereiche und die Universalisierbarkeit bestimmter Konzepte, d.h. ihre überkulturelle Anschlussfähigkeit, soweit sie nicht auf Hegemonie und funktionaler Logik beruhen (Meyer et al. 1997, S. 145), erfordern eine andere theoretische Blickrichtung, denn „[t]hese approaches miss the essential elements of the cultural dimension of world society - the cognitive and ontological models of reality that specify the nature, purposes, technology, sovereignity, control, and resources of nation states and other actors.” (ebd., S. 149)

In diesem Zitat wird deutlich, dass Kultur in Meyers Konzept für das Unhinterfragte, für das Selbstverständliche steht, das alle (oder denkbar: mehrere) Gesellschaften oder deren Mitglieder teilen, also für Werte und Normen wie sie z. B. in nicht hinterfragten Zielformulierungen zum Ausdruck kommen, mehr noch für Deutungsmuster und Wissensannahmen (Krücken 2003, S.13).

„Definitionen, Prinzipien und Handlungsschemata [werden] kognitiv auf der gesamten Welt in ähnlichen Formen erzeugt. (...) [D]iese Schemata [sind] hinreichend abstrakt, um sie überall auf der Welt anzuwenden und ihnen universelle Geltung zu unterstellen” (Wobbe 2000, S. 36).

Meyers Konzept von Weltgesellschaft beinhaltet aber nicht nur diese Ebene der Ideen und ihrer Reproduktion, sondern mehr noch ihre Institutionalisierungen und Organisationsformen (Wobbe 2000, S. 9, 13), wobei er an Max Weber anknüpft (Krücken 2003, S. 11). Gerade an der Ausdehnung dieser materiellen Ebene der internationalen Organisationen und Verträge nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich die Verdichtung der Weltgesellschaft ablesen (Meyer et al. 1997, S. 146). Dies heißt jedoch nicht, dass die Bedeutung der Nationalstaaten abnähme. Die Weltgesellschaft bestärkt und konstruiert sie als kollektive Akteure.

„The enormous expansion of nation-state structures, bureaucracies, agendas, revenues and regulatory capacities since World War II indicates that something is very wrong with analyses asserting that globalization diminishes the ‘sovereignity’ of the nation-state. (…) Globalization certainly poses new problems for states, but it also strengthens the world-cultural principle that nation-states are the primary actors charged with identifying and managing those problems on behalf of their societies.” (ebd., S. 157)

Auf weltgesellschaftlicher Ebene werden Ziele für Nationalstaaten formuliert und soziale Gegebenheiten als Probleme thematisiert. Dort werden Lösungs- und Organisationsmodelle (“Skripte[n], de[r]en Anweisungen auf globaler Ebene formuliert werden,” Ramirez 2001, S. 357) zur Imitation und routinierten Ausführung angeboten. Auf globaler Ebene schließlich wird Legitimität für staatliches und institutionelles Handeln auf der Basis von Legitimitätsmythen eingefordert. Die prominentesten dieser Mythen sind die Vorstellungen von Fortschritt und Entwicklung sowie von Gerechtigkeit.

„Models and measures of such national goals as economic progress and social justice are readily available and morally compelling. Also available are model social problems, defined as the failure to realize these goals, that make it easy to identify and decry such failures as inefficient production methods or violations of rights.” (Meyer et al. 1997, S. 151)

Dass erst eingefordert werden kann, was als Problem benennbar ist, und dass diese Benennungen zugenommen haben, betont beispielhaft Francisco O. Ramirez bei seiner Analyse weltkultureller Einflüsse auf die Konstruktion von Frauenbewegungen: “Je stärker egalitäre Prinzipien institutionalisiert sind, desto eher werden (alte oder neue) Ungleichheiten wahrgenommen und als Ungerechtigkeiten interpretiert.” (Ramirez 2001, S. 359)

Partielles Scheitern beim Problemlösen ist weltgesellschaftlich eingebaut und wird unter dem Begriff der losen Kopplung oder Entkoppelung behandelt (Meyer et al. 1997, S. 154, Ramirez 2001, S. 359). Dieses Scheitern hat verschiedene Gründe: Zum einen sind Organisationen in ihrer internen Strukturierung stärker an Legitimität als an Funktionalität interessiert (Wobbe, S. 31). Zweitens können extern formulierte Skripten niemals wirklich passen (Meyer et al. 1997, S. 154). Drittens sind weltkulturelle Ansprüche selbst oft widerstreitend (Ramirez 2001, S. 359), z. B. Freiheit und Gerechtigkeit scheinen häufig nicht vereinbar. Die Weltkultur ist nicht einheitlich und nicht statisch, (Wobbe, S. 11, Meyer et al. 1997, S. 159), und gerade weil sich weltweit heterogene Akteurinnen (Staaten, Organisationen, Individuen) auf sie beziehen (Wobbe, S. 35), bleibt sie in Bewegung. Permanent wird – weitestgehend unbewusst und im Dienste von „Wahrheit“ und Gesellschaft - an neuen und verbesserten Skripten gefeilt, denn der Glaube an Fortschritt, Entwicklung, Rationalität und Handlungsfähigkeit produziert Expertinnen. Ironisch fasst Meyer deshalb die grundlegende weltgesellschaftliche Überzeugung zusammen. Es ist der Glaube,

„among almost all elites that salvation lies in rationalized structures grounded in scientific and technical knowledge – states, school, firms, voluntary associations, and the like. The new religious elites are the professionals, researchers, scientists, and intellectuals who write secularised and unconditionally universalistic versions of the salvation story, along with managers, legislators, and policymakers who believe the story fervently and pursue it relentlessly. This believe is worldwide and structures the organization of social life almost everywhere. ” (Meyer et al. 1997, S. 174).

[...]


[1] Anmerkung: In dieser Arbeit wird i.d.R. für Berufs-, Rollen-, und ähnliche Personenbezeichnungen die weibliche Form verwendet (Ausnahme: konkrete Gruppen ohne eine Frau). Männer und Intersexuelle sind selbstverständlich mitgemeint.

[2] Die Rede von Skripten ist metaphorisch gemeint.

[3] Dies wirkt zunächst als beweise es, was es voraussetzt. Doch: sucht man das Gemeinsame (siehe II) braucht man immer noch diskrete Vergleichseinheiten.

Fin de l'extrait de 21 pages

Résumé des informations

Titre
PISA aus Stanford Sicht
Université
University of Leipzig  (Institut für Kulturwissenschaften)
Cours
Seminar Globalisierung von Kultur
Note
1,9
Auteur
Année
2003
Pages
21
N° de catalogue
V18099
ISBN (ebook)
9783638225120
Taille d'un fichier
548 KB
Langue
allemand
Mots clés
PISA, Stanford, Sicht, Seminar, Globalisierung, Kultur
Citation du texte
M.A. Annett Rischbieter (Auteur), 2003, PISA aus Stanford Sicht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18099

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