„Gewalt in der Schule“ ist, glaubt man den Berichten der Presse, eine typische Erscheinung unserer Zeit. Einhellig ist die Meinung darüber, dass die Gewalt zugenommen hat. Die Schuld für dieses Phänomen wird abwechselnd den schlecht ausgebildeten Lehrern, den „unerzogenen“ Jugendlichen oder den verantwortungslosen Eltern zugeschoben. Wie immer bei komplexen Problemen wird der Versuch einer sachlich geführten Debatte durch den ungeduldigen Ruf nach schnellen Patentlösungen untergraben: Verschärfung des Waffengesetzes, mehr Autorität für die Lehrer, etc. Unabhängig von der Effektivität derartiger Maßnahmen ist es aber zunächst notwendig die Vermeidung von Gewalt als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen. Die Institution Schule ist keine abgeschlossene Welt für sich, sondern vielmehr ein Kulminationspunkt der Ansprüche der Eltern, der Kinder und der Lehrer, wobei letztere wiederum auch die Ansprüche des Staates repräsentieren. Schule steht allgemeinhin für den individuellen aber auch sozialen Wunsch nach einer besseren Welt, dem Streben nach einer positiven Entwicklung der Menschheit . Und sicherlich liegt es auch gerade daran, dass die jüngsten in Schulen passierten Gewaltverbrechen so sehr schockieren, weil sie der Gesellschaft den namentlichen „Spiegel“ vorhalten, der augenscheinlich keinen akzeptablen Zustand abbildet.
Wo sind die Ursachen aber nun zu suchen bzw. welche Schwierigkeiten gibt es bei ihrer Erfassung? Und welche Konfliktlösungswege bieten sich an? Die Arbeit setzt sich im Folgenden mit den Aussagen des Artikels von BÜTTNER (1993) auseinander, die vor dem Hintergrund eines kurzen Abrisses der aktuellen Forschung zum Thema reflektiert werden. Zur Darstellung letzterer wird im wesentlichen auf die aktuelle und sehr gründlich durchgeführte Zusammenfassung von SCHUBARTH (2000) zurückgegriffen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Bilanz der empirischen Gewaltforschung
2.1. Forschungsansatz und Methodik
2.2. Empirische Befunde zum Ausmaß, Erscheinungsformen und Entwicklung der Gewalt an Schulen
3. Theoretische Erklärungsansätze
3.1. Klassische psychologische Ansätze
3.2. Klassische soziologische Ansätze
3.3. Neuere psychologische Erklärungsansätze
3.4. Neuere soziologische Ansätze
3.5. Neuere kriminalsoziologische Ansätze
3.6. Integrative Erklärungsansätze
4. Konkrete Ursachen von Gewalt und Präventionsansätze
5. Die Position von Christian Büttner
6. Literatur
1. Einleitung
„Gewalt in der Schule“ ist, glaubt man den Berichten der Presse, eine typische Erscheinung unserer Zeit. Einhellig ist die Meinung darüber, dass die Gewalt zugenommen hat. Die Schuld für dieses Phänomen wird abwechselnd den schlecht ausgebildeten Lehrern, den „unerzogenen“ Jugendlichen oder den verantwortungslosen Eltern zugeschoben. Wie immer bei komplexen Problemen wird der Versuch einer sachlich geführten Debatte durch den ungeduldigen Ruf nach schnellen Patentlösungen untergraben: Verschärfung des Waffengesetzes, mehr Autorität für die Lehrer, etc. Unabhängig von der Effektivität derartiger Maßnahmen ist es aber zunächst notwendig die Vermeidung von Gewalt als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu verstehen. Die Institution Schule ist keine abgeschlossene Welt für sich, sondern vielmehr ein Kulminationspunkt der Ansprüche der Eltern, der Kinder und der Lehrer, wobei letztere wiederum auch die Ansprüche des Staates repräsentieren. Schule steht allgemeinhin für den individuellen aber auch sozialen Wunsch nach einer besseren Welt, dem Streben nach einer positiven Entwicklung der Menschheit . Und sicherlich liegt es auch gerade daran, dass die jüngsten in Schulen passierten Gewaltverbrechen so sehr schockieren, weil sie der Gesellschaft den namentlichen „Spiegel“ vorhalten, der augenscheinlich keinen akzeptablen Zustand abbildet.
Wo sind die Ursachen aber nun zu suchen bzw. welche Schwierigkeiten gibt es bei ihrer Erfassung? Und welche Konfliktlösungswege bieten sich an? Die Arbeit setzt sich im Folgenden mit den Aussagen des Artikels von Büttner (1993) auseinander, die vor dem Hintergrund eines kurzen Abrisses der aktuellen Forschung zum Thema reflektiert werden. Zur Darstellung letzterer wird im wesentlichen auf die aktuelle und sehr gründlich durchgeführte Zusammenfassung von Schubarth (2000) zurückgegriffen.
2. Bilanz der empirischen Gewaltforschung
Bevor die Gründe für die an Schulen auftretende Gewalt untersucht werden können, müssen zwei Aspekte hinreichend geklärt werden. Zum einen gibt es die Frage, welche aktuelle Formen der Gewaltanwendung an der Schule überhaupt zu beobachten sind? Und zum anderen, ob sich das Gewaltpotential und dessen Umsetzung in den letzten Jahrzehnten verändert, d. h. vor allem tatsächlich zugenommen hat.
2.1. Forschungsansatz und Methodik
Die Zahl der zum Thema Gewalt in Schulen und allgemeiner Gewalt bei Jugendlichen angefertigten Untersuchungen ist beträchtlich. Schubarth (2000) nennt allein 91 (!) im Zeitraum von 1973-1999 durchgeführte empirische Studien. Auffällig dabei ist, dass die wenigsten aus den siebziger und achtziger Jahren stammen. Vielmehr wurden seit 1990 mehr als viermal so viele wie in den vorherigen Jahrzehnten verfasst. Schubarth (1999) begründet den in Relation zum real exitierenden Ausmaß der Gewalttätigkeit unverhältnismäßigen Anstieg hauptsächlich mit dem Einfluß der Medien: „Insofern war der Forschungsboom an Studien weniger auf den fachwissenschaftlichen Diskurs oder durch die Problemdefinition durch Sozialforscher zurückzuführen, sondern in erster Linie auf die Thematisierung, Dramatisierung und Skandalisierung von Gewalt durch die Massenmedien und den dadurch indizierten öffentlichen Druck.“ Als weitere Gründe für das Interesse am Thema „Schule und Gewalt“ benennt Schubarth (2000) das Bestreben der Wissenschaftler die Forschungslücke (s.o.) zu schließen und die Alltagserfahrung von Lehrern, Erziehern und Eltern, dass die Gewalt unter Jugendlichen im Vergleich zu früher zugenommen hat. Gerade für den letzten, empirisch schwer nachweisbaren Aspekt konstatiert er jedoch, dass „(...) im Schul- und Erziehungsalltag wahrgenommene ‚Gewaltproblem‘ (...) allerdings erst durch die Thematisierung in den Massenmedien zu einem ‚besonderen sozialen Problem‘ (wurde)“ (Schubarth 1999). Drei Zielsetzungen lassen sich den Studien entnehmen: Das Ausmaß der Erscheinungsformen von Gewalt zu ermitteln, die Analyse der Ursachen der Gewalt und die Erarbeitung präventiver Maßnahmen. Schubarth (2000) weist allerdings eindringlich darauf hin, dass ein Großteil der Untersuchungen eklatante Fehler im theoretischen Ansatz und der Methodik enthält (hierzu zählen: keine nachprüfbaren Hypothesen; keine Einbeziehungen bereits vorliegender Studien, wodurch keine Vergleichbarkeit gegeben ist; unsaubere statistische Verfahren; nur wenige multivariate Statistikanalysen; mangelnde theoretische Begründung des Zugangs), so dass nur wenige ihrem Anspruch an Objektivität und Repräsentativität gerecht werden.
2.2. Empirische Befunde zum Ausmaß, Erscheinungsformen und Entwicklung der Gewalt an Schulen
Die in jüngerer Zeit durchgeführten Studien zeigen alle ein ähnliches Bild: Es gibt Gewalt an den Schulen, die sich, wie Scherer (1996, S. 122) bemerkt, als „facettenreiches Erscheinungsbild schulischer Aggression und Konflikthaftigkeit“ darstellt. Die real zu beobachtende Gewalt sei aber in keiner Weise über einzubringen mit der sensationslüsternen, dramatischen Berichterstattung in den Medien. Die Autoren plädieren dafür weder eine Bagatellisierung noch Dramatisierung des Themas herbeiführen. Die Schwierigkeiten bei der Bewertung der Untersuchungsergebnisse sind leicht darzulegen. Zum einen, weil „Es keine objektiven Maßstäbe dafür gibt, ab wann eine Gewaltsituation als ‚gravierend‘ oder ‚besorgniserregend‘ zu bezeichnen ist. Das kann höchstens im Vergleich zu etwas anderem, z. B. zu anderen Schulen, zu anderen Ländern oder zu unterschiedlichen Situationen im Zeitverlauf beurteilt werden.“ wie Schubarth (2000) feststellt. Und zum anderen, weil genau diese Vergleichsdaten nur in geringem Umfang vorhanden sind oder sich aufgrund mangelnder Standardisierung der Erhebungsmethoden kaum vergleichen lassen. Am ehesten lassen sich die bundesdeutschen Ergebnisse noch an Arbeiten aus dem Ausland (Amerika, Japan, Norwegen) messen, die in der Regel höhere Gewaltquoten nachgewiesen haben. Zieht man lediglich die subjektive Wahrnehmungen von Lehrern, Schulleitern und Schülern heran, scheint die Gewalt tendenziell zugenommen zu haben wenn auch in geringem Maße. Eine objektiver Beleg steht hierfür allerdings aufgrund fehlender früherer Studien aus. Einhellig sind die Studien auch der Ansicht, dass die meisten Schüler nicht (potentiell) gewalttätig sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es enge Wechselbeziehungen zwischen den Opfern und den Tätern zu scheinen gibt. So treten viele der Opfer zu einem anderen Zeitpunkt auch als Täter auf. Melzer & Rostampour (1995) nennen beispielsweise eine Zahl von ca. 66%. Weiterhin besteht Konsens darüber, dass das Geschlecht, die Schulform und die Alterstufe eine maßgebliche Rolle spielen. So neigen Jungen erwartungsgemäß eher zur Gewaltanwendung und billigen diese auch eher als probates Mittel zur Durchsetzung von Interessen als Mädchen. Von den Schulen sind ebenfalls nicht besonders verwunderlich die Förder/Sonderschulen und die Hauptschulen in besonderem Maße mit körperlich ausgetragenen Gewaltproblemen konfrontiert. An den Gymnasien treten solche Fälle eher selten auf, dafür wird hier verbal „gekämpft“. Die größte Gewaltbereitschaft liegt zudem in der Pubertätsphase (ca. 12-15 Jahre). Sowohl davor als auch danach ist eine deutlich geringere Gewaltquote zu beobachten.
3. Theoretische Erklärungsansätze
Zunächst soll eine Übersicht gegeben werden über die Erklärungsansätze, die vor allem die Psychologie und Soziologie anbieten.
3.1. Klassische psychologische Ansätze
Hierunter müssen zunächst die ursprünglich in der Verhaltensforschung (Konrad Lorenz) aber auch in ähnlicher Form bei Sigmund Freuds Psychoanalyse entwickelten „Triebtheorien“ erwähnt werden. Beide Vertreter gehen davon aus, dass der Mensch von Trieben (nicht nur Aggressions- sondern auch Sozial-, Elterntrieb usw.) geprägt ist, die genetisch verankert sind und durch Erziehung lediglich positiv oder negativ modifiziert werden können. Aggressionen sind grundsätzlich vorhanden und gehören zum Verhaltensrepertoire des Menschen wie „positiver“ besetzte Gefühle wie z. B. Nächstenliebe. Sie können nicht „ausgeschaltet“ werden, sondern unterscheiden sich lediglich in ihrer sozial verträglicheren oder unverträglicheren Erscheinungsform.
Die „Frustrationstheorie“ geht nicht davon aus, dass Aggressionen von vorneherein vorhanden sind, sondern nimmt an, dass diese immer erst durch negative Erfahrungen mit der Umwelt geschürt werden. Da Schule in vielerlei Hinsicht ein Ort von frustrierenden Erlebnissen für die Schüler sein kann (schlechte Zensuren, Konflikte mit den Mitschülern, etc.), bietet die Theorie einen wichtigen Ansatzpunkt für einen besseren, nämlich „frustrationsarmen“ mitmenschlichem Umgang in der Schule.
Bei den „Lerntheorien“ steht die Vorstellung im Mittelpunkt, dass die Verhaltensweisen von Menschen aufgrund von erlernten Verhaltensschemata erfolgen. Aggressive Menschen haben demnach ihre gewaltträchtigen Handlungen erlernt, z. B. weil sie ihnen Vorteile wie Macht, Stärke verschafft haben. Die Lerntheorien betonen damit auch die Bedeutung der Gesellschaft als gewaltfördernder Sozialisationsfaktor.
Einen weiteren, weniger die Ursachen als vielmehr den Handlungsablauf von Aggressionen beschreibenden Ansatz bietet die „kognitive Motivationstheorie“. Sie unterscheidet verschiedene Aggressionsprozesse, die differenzieren helfen lernen können bei akuten Gewaltproblemen.
Weniger situativ, sondern stets die gesamte Persönlichkeit umfassend sind erwartungsgemäß die „psychoanlaytisch orientierten Theorien“. Sie sehen in einer aggressiven Handlung eine Störung der „Ich-Struktur“, also eine fundamentale Ursache. „Die Kernthese, dass mangelndes Selbstwerterleben zu Aggression und Gewalt führt, ist für eine entsprechende schulische Präventionsarbeit überaus produktiv. Sie führt zu einer Reihe von pädagogischen Handlungsansätzen, z. B. hinsichtlich der Gestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehungen (...)“ (Schubarth 2000, S. 25).
Durch die modernen Forschungsmethoden und dem daraus folgernden besseren Verständnis der biologischen Grundlagen des Menschen haben in de letzten Jahren die „biologischen Erklärungsmodelle“ (soziobiologisch, physiologisch) erneut an Einfluß gewonnen. Das es Zusammenhänge zwischen Prozessen im Körper bzw. aufgrund soziobiologischer Verhaltensweisen zwischen den Menschen und Aggressionen gibt ist unumstritten. Jedoch gibt es zur zeit keine befriedigenden Antwort auf den moralisch-ethische Diskurs, der sich an derartige Erkenntnisse anschließt.[1]
3.2. Klassische soziologische Ansätze
Soziologische Ansätze suchen im Gegensatz zu den psychologischen die Ursachen für Gewalt nicht in den individuellen, sondern in den sozialen Bedingungen.
Einen wichtigen Erklärungsansatz bietet die „Anomietheorie“, die davon ausgeht, dass von der „Norm“ abweichendes Verhalten oder anders ausgedrückt „soziale Desintegration“ vor allem von dem sozialen Umfeld bestimmt wird. „Die Ursachen für Gewalt unter Schülern bzw. an Schulen sind demnach weniger beim Schüler selbst, sondern eher in seinen Lebensumständen, einschließlich den schulischen Bedingungen zu suchen“ (Schubarth 2000, S. 29). Ihre inhaltliche Nähe zu klassischen psychologischen Erklärungsansätzen liegt auf der Hand: „Der Verweis auf das Bestehen von sozialen Ungerechtigkeiten und auf daraus resultierende Frustrationen, (...) macht die Anomietheorie anschlussfähig an die Frustrations-Aggressionstheorie und an psychoanalytische Theorien“ (Schubarth 2000, ebd.). Die Anomietheorie bildet die theoretische Grundlage für die Bekämpfung der „sozialen Ungerechtigkeit“ und die z. B. im Strafvollzug angewandte Methode der Reintegration von Gewaltverbrechern. Eine Form der sozialen Desintegration, nämlich die der Abgrenzung durch „Gang“-Bildung, beschreibt die „Subkulturtheorie“, die ihrem Wesen nach aber zu der Anomietheorie gerechnet werden kann.
Ebenso wie bei den klassisch psychologischen Ansätzen gibt es auch bei den soziologischen solche („Theorien des differentiellen Lernens“), die davon ausgehen, dass Aggression erlernt wird. Demnach ist wie bei der Anomietheorie das soziale Umfeld und hier besonders persönliche Bezugspersonen verantwortlich für die Entstehung von Aggression. Durch das Durchbrechen der eingeschleiften Handlungsmuster und Vorleben positiver Umgangsweisen können aggressionshemmende Verhaltensweisen erlernt werden (Stichwort: Mediation).
Ein weiterer Ansatz, die „Theorien des Labeling Approach“ konzentrieren sich auf die gesellschaftlichen Etikettierungen von Personen, die aufgrund der sozialdeterminierten Normsetzung festgelegt werden. Diese Etikettierungen (wie z. B. „gewaltbereit“ oder „asozial“) können den Handlungsspielraum stark einschränken und zu sozialen Spannungen führen.
3.3. Neuere psychologische Erklärungsansätze
Hierzu zählt Schubarth (2000) drei Erklärungsansätze, die Aspekte der vormals genannten klassischen Theorien aufgreifen und weiterentwickeln oder spezifizieren. Von Bedeutung sind beispielsweise entwicklungspsychologische Konzepte wie sie Piaget (1954) oder Kohlberg (1976) aufgebaut haben. Sie beleuchten die Persönlichkeitsentwicklung insbesondere das Erlernen von prosozialem moralischen Verhalten im Kindes- und Jugendalter und geben damit Aufschluss über den Zusammenhang von Identitätsbildung und soziokultureller Umgebung.
Eine andere Herangehensweise bietet Tedeschi (1983), der versucht die Motivkonstellationen die einer Gewalthandlung vorausgehen zu konkretisieren. Nach ihm ist aggressives Verhalten als Sonderfall der Entscheidungstheorie zu sehen.
Im dritten Ansatz wird die Rolle der Schule bei der Entwicklung eines stabilen Selbst aus psychoanalytischer Sicht hinterfragt. Gewalt entsteht demnach als Folge gescheiterter schulischer Anerkennungsversuche. „Für die Gewaltprävention bedeutet dies, dass dem ‚Sozialen‘ innerhalb und im Umfeld der Schule weitaus größere Beachtung zu schenken ist. (...). Ins Blickfeld rücken insbesondere die Anerkennungsverhältnisse in der Schule.“ (Schubarth 2000).
3.4. Neuere soziologische Ansätze
Schubarth (2000) führt zwei Theorien an von denen diejenige, die „Gewalt als Folge von Modernisierung und Individualisierung“ ansieht, in der gegenwärtigen Diskussion eine der populärsten sein dürfte. Dieser z. B. bei heitmeyer et al. (1995) beschriebene Ansatz betont die Bedeutung der sozialen Wandlungsprozesse und der damit verbundenen möglichen Desintegration des Individuums als Ursache von Gewalt. Zu diesem Phänomen gehören Begriffe wie ‚Verlust traditioneller Sicherheiten‘, ‚Herauslösung aus den bisherigen Sozialstrukturen‘, ‚Auflösung des Wertekonsens‘, etc., die beispielsweise öfter im Zusammenhang mit der sozialen Umstrukturierung der ehemaligen DDR und den dort auftretenden Gewaltverbrechen in der rechtsextremen Szene erwähnt werden[2].
Eine Weiterentwicklung des anomietheoretischen Ansatzes hin zum konkreten Schulbezug favorisiert Böhnisch (1993). Aufbauend auf der Annahme der Anomietheorie, dass Gewalt aufgrund der Diskrepanz zwischen der erlebten Sozialstruktur und den gesellschaftlichen Normen entsteht, erklärt sie, dass Gewalt an den Schulen „(...) als Anpassungsverhalten an die anomische Struktur der Schule zu verstehen sei.“ (Schubarth 2000). Für diesen seit Bestehen der Institution Schule an sich immer schon vorhandenen Zustand sieht Böhnisch (1994) eine aktuell besondere Brisanz[3]: „(...) die gegenwärtig mehr denn je in ihren inneren Gegensätzlichkeiten aufbricht und von Schülern, Lehrern und Eltern individuell ausgehalten, ausbalanciert werden muss“.
3.5. Neuere kriminalsoziologische Ansätze
Schubarth (2000) schreibt den kriminalsoziologischen Herangehensweisen einen Perspektivenwechsel zu: „Während bei den klassischen Theorien der Fokus auf der Tat und den Tätern lag, geht es bei den neueren Theorien vorwiegend um Prozesse der sozialen Kontrolle bzw. der sozialen Reaktionen.“
Dabei räumen zwei der drei genannten Theorien („handlungstheoretischer Ansatz“ nach Haferkamp, „Konzept der Selbstkontrolle“ nach Gottfredson/Hirschi) dem Individuum einen weiten Handlungsspielraum ein. Haferkamp legt hierbei die Betonung stärker auf Gewalt als Reaktion auf soziale Ungerechtigkeiten, wobei „(...) deviante Handlungen (...) als spezifische Formen sozialen Handelns innerhalb eines Kontinuums, das sich von individuell abweichenden Verhaltensweisen bis hin zur organisierten Kriminalität zieht, verstanden werden.“ (Schubarth 2000).
Demgegenüber heben Gottfredson und Hirschi die Verantwortung des Individuums hervor, indem sie die Ursache für Gewaltverhalten nach lern- und verhaltenstheoretischem Verständnis in mangelnder Selbstkontrolle der egoistischen Motive sehen. Diese kombiniert mit fehlender Akzeptanz gesellschaftlicher Normen und moralischer Werte führe zu einem erhöhtem Kriminalitätsrisiko.[4] Die Schule stellt im Sinne der Autoren eine wichtige Instanz dar, die für das Zusammenleben der Menschen notwendigen Normen zu erlernen und zu trainieren.[5]
Die „materialistisch-interaktionistische Kriminologie“ von Smaus sieht die Ursachen in den gesellschaftlich-ökonomischen Strukturen, die durch ihre hierarchischen und etikettierenden Mechanismen Gewalthandlungen Einzelner unumgänglich werden lassen. Der Schule kommt so eine besondere Bedeutung bei der Demokratisierung der Machtverhältnisse zu, eine gänzliche Lösung des Problems kann aber auch nur über eine gesellschaftliche Neuordnung erreicht werden.
[...]
[1] Schubarth (2000, S. 26) ist hierbei allerdings nicht logisch stringent. Zunächst schreibt er: „Die Bewertung physiologischer Ansätze zur Erklärung von Aggression und Gewalt fällt nicht leicht, insbesondere dann nicht wenn man die Folgerungen bedenkt. Offenkundig ist, dass biologische Faktoren nicht ausgeblendet werden dürfen, was in der Forschungslandschaft hierzulande aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte z. T. geschehen ist.“ Um dann zu der persönlichen Einschätzung überzuleiten: “Für die Entwicklung von pädagogischen Konzepten gegen Aggression und Gewalt sind biologische Ansätze kaum geeignet. (...) So können biologische Theorien leicht zur Legitimation von Gewalt, für die Anwendung drastischer Strafen oder für die Begründung von Genmanipulationen herangezogen werden.“ Auch wenn gerade die zuletzt formulierte Sorge Schubarth’s zum Missbrauch nur berechtigt ist, ist nicht nachzuvollziehen, warum einerseits biologische Zusammenhänge existieren, diese andererseits aber keine pädagogische Bedeutung haben sollen. Eine Pädagogik, die bewusst Erkenntnisse ausschließt – und sei es aufgrund der äußerst schwierigen moralisch-ethischen Auswirkungen dieser Erkenntnisse – kann dem Anspruch, das Wesen des Menschen zu begreifen, zu akzeptieren und positiv zu entwickeln von vorneherein nicht mehr gerecht werden.
[2] Schubarth (2000) schreibt hier einige interessante Sätze zur Attraktivität von Gewalt als Problemlöser: „Die Attraktivität von Gewalt ist u.a. darin begründet, dass sie in unklaren und unübersichtlichen Situationen Eindeutigkeit schafft, dass sie (zumindest zeitweise) das Gefühl der Ohnmacht überwindet und Kontrolle wiederherstellt, dass sie Fremdwahrnehmung garantiert, die mit anderen Mitteln nicht mehr herstellbar war, dass sie (zumindest kurzfristig) partielle Solidarität im Gruppenzusammenhang schafft und dass sie die Rückgewinnung von körperlicher Sinnlichkeit für Jugendliche aus spezifischen Milieus (auch als Gegenerfahrung zu defizitären rationalen und sprachlich vermittelten Kompetenzen) gewährleistet.“
[3] Inwieweit Böhnisch (1994a) diese Annahme in den soziokulturellen Kontext stellt ist Schubarth (2000) allerdings nicht zu entnehmen.
[4] Gottfredson und Hirschi (in Schubarth 2000) meinen in diesem Zusammenhang, dass insbesondere die Ablehnung von Schule (z. B. die schlechten Schulleistungen, Geringschätzung der Lehrer, etc.) ein Prognosefaktor für kriminelle Handlungen sei.
[5] Die sehr funktionale Beschreibung des Zusammenhangs zwischen Kriminalität und Selbstkontrolle und die Schwerpunktlegung auf die „Erziehung“ des normativen Bewußtseins sind verschiedentlich kritisiert worden. Böhnisch (1998) schlug eine Verknüpfung des Ansatzes mit der Theorie des Selbst vor, um so von einem Selbst kontroll konzept zu einem Selbst kontrollkonzept zu gelangen, d. h. die Entwicklung des Selbstwertes gegnüber der erzwungenen Anpassung zu betonen.
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