Bildungsgeschichte. Von Wilhelm von Humboldt nach Bologna. Ein Paradigmenwechsel?


Bachelor Thesis, 2011

82 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Die Zukunft der Vergangenheit?

2. Die historische Ausgangssituation im beginnenden 19. Jahrhundert
2.1 Umbrüche in Europa und Preußen
2.1.1 Der Zusammenbruch Preußens
2.1.2 Die Preußischen Reformen
2.2 Bildungsinstitutionen und Bildungstheorien
2.2.1 Schule, Berufsbildung und Universität
2.2.2 Humanismus und Neuhumanismus
2.3 Zusammenfassung

3. Zur Person Wilhelm von Humboldts
3.1 Herkunft
3.2 Ausbildung
3.3 Amt und Stellung
3.4 Zusammenfassung

4. Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie und Bildungsreform
4.1 Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen
4.2 Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück.
4.3 Die Grundstruktur des von Humboldtschen Bildungsbegriffes
4.4 Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts
4.4.1 Die Reform des Bildungswesens als ein Teil der Preußischen Reformen
4.4.2 Der Königsberger und Litauische Schulplan
4.4.3 Die Bildungsreform am Beispiel der Universität
4.5 Das Scheitern der Bildungsreform Wilhelm von Humboldts
4.6 Zusammenfassung

5. Bologna
5.1 Der Bologna-Prozess
5.2 Der Bachelor in Deutschland
5.3 Die Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland
5.4 Der Bachelor als Berufsqualifikation in Deutschland
5.5 Zusammenfassung

6. Wilhelm von Humboldt und der Bachelor
6.1 Die europäische Universitätsidee versus einer Ökonomisierung der Bildung
6.2 Ein Vergleich des von Humboldtschen Bildungsbegriffes mit der Bologna-Reform
6.3 Zusammenfassung

7. Fazit und Ausblick

Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Die Zukunft der Vergangenheit?

Wilhelm von Humboldt, der Klassiker der deutschen Bildungstheorien, und der Bologna-Prozess der europäischen Bildungsminister: Schlagworte, die in aller Munde sind und oft unpräzise und unreflektiert gebraucht werden. Doch was steckt genau dahinter? Wer war Wilhelm von Humboldt? Was waren seine Bildungstheorien? Und was ist der Bologna-Prozess genau? Wie wirkt er sich auf die deutsche Hochschullandschaft aus? Hat von Wilhelm von Humboldts Bildungstheorien nach Bologna ein Paradigmenwechsel in der Bildungsgeschichte stattgefunden?

Wilhelm von Humboldts 200 Jahre alte Bildungstheorien prägen bis heute unser Bild von Bildung. Das Lernen zu lernen war seine Haupterwartung an die Schule. Die Fähigkeit, sein Leben selbstmotiviert und reflektiert zu gestalten sowie sich gescheit zu verhalten, war sein Anspruch an das gebildete Individuum. Den Menschen geschützte Entwicklungsräume zu ermöglichen war seine Forderung an einen sich aber dennoch inhaltlich nicht in die Erziehung einmischenden Staat. Spannende Gedankenansätze, die auch nach zwei Jahrhunderten noch aktuell klingen.

Forschungsfrage und somit auch das Ziel dieser Arbeit ist es, herauszuarbeiten, ob der Bologna-Prozess dem neuhumanistischen Bildungsideal Wilhelm von Humboldts gerecht wird.

Dazu ist es zunächst nötig, sich mit der Zeitgeschichte auseinander zu setzen, in der von Humboldts Theorien und Reformideen entstanden sind. Bei der Betrachtung der historischen Ausgangssituation im beginnenden 19. Jahrhundert wird der Schwerpunkt auf die Entwicklungen in den Jahren bis 1809/1810 gelegt. In den Jahren 1809 bis 1810 war Wilhelm von Humboldt für 16 Monate als Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Inneren für die Bildungspolitik (Bildungsreform) Preußens zuständig. Durch die Skizzierung der Umbrüche in Europa und Preußen sowie die Darstellung der Bildungsinstitutionen und Bildungstheorien im endenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird der Kontext zwischen der allgemeinen gesellschaftlichen Situation und der Arbeit von Wilhelm von Humboldt dargestellt. Wilhelm von Humboldt hat seine Ansprüche an Bildung im Zusammenhang mit Gesellschaft und Staat formuliert. Weder sein Leben noch seine Bildungsreform lassen sich losgelöst aus dem Kontext seiner Lebens- und Wirkensepoche adäquat betrachten. Der Darstellung der historischen Ausgangssituation im beginnenden 19. Jahrhundert folgt daher eine Biographie Wilhelm von Humboldts. Zentrale Inhalte sind hierbei seine Herkunft, seine Ausbildung und seine beruflichen Tätigkeiten. Denn Wilhelm von Humboldt, der heute vor allem auf Grund seiner Bemühungen im Rahmen der allgemeinen Preußischen Reformen mit den Bildungsreformen bekannt ist, war weit mehr als nur ein Bildungsreformer: Wilhelm von Humboldt war unter anderem Privatgelehrter, Diplomat und Sprachtheoretiker. Von Humboldts Bildungstheorie wird anhand zweier Schriften dargestellt Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792) und Theorie der Bildung des Menschen (1793/1794). Zudem wird die Grundstruktur des von Humboldtschen Bildungsbegriffes (Universalität, Individualität und Totalität) erläutert. Das Unterkapitel Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts behandelt die Reform des Bildungswesens als einen Teil der allgemeinen Preußischen Reformen nach dem Frieden von Tilsit und dem Zusammenbruch des alten Preußischen Reiches 1806/1807. Dabei wird neben der geplanten Bildungsreform Wilhelm von Humboldts auch auf den Königsberger und Litauischen Schulplan (1809) eingegangen. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Organisation des Bildungswesens nach Wilhelm von Humboldt (Elementarschule, Gymnasium, Universität) und die geplante Umsetzung der Bildungsreform am Beispiel der Universität. Anschließend werden Gründe für das damalige Scheitern der Bildungsreform Wilhelm von Humboldts genannt.

Um die Ausgangsfrage der Vereinbarung des von Humboldtschen Bildungsideals mit den durch den Reformprozess von Bologna veränderten Hochschulbedingungen beantworten zu können, ist es notwendig sich neben dem Leben und Wirken Wilhelm von Humboldts mit dem sogenannten Bologna-Prozess auseinander zu setzen. Dazu wird zunächst eine Begriffsdefinition vorgenommen und der Bologna-Prozess in Entstehung und Zielsetzung betrachtet. Anschließend wird ein Überblick über den aktuellen Stand des Bachelors in Deutschland (unter anderem Zweite Nationale Bologna-Konferenz im Mai 2011) sowie die Akkreditierung von Studiengängen in Deutschland und die Absicht, den Bachelor als berufsqualifizierenden Abschluss einzurichten, gegeben. Bei der Diskussion der europäischen Universitätsidee versus einer Ökonomisierung der Bildung werden aktuelle Ansätze (Nida-Rümelin 2006, Krautz 2007 und Brändle 2010) vorgestellt. Anschließend folgt ein systematischer Vergleich des von Humboldtschen Bildungsbegriffes mit der Umsetzung der Bologna-Reform in Deutschland.

Ein Paradigma ist ein „Denkmuster, das das wissenschaftliche Weltbild, die Weltsicht einer Zeit prägt“ (Duden 2001, S. 726). Demnach ist ein Paradigmenwechsel ein „Wechsel von einer wissenschaftlichen Grundauffassung zu einer anderen“ (Duden 2001, S. 726). Ein Beispiel für einen Paradigmenwechsel ist der Wechsel vom mittelalterlichen Bildungsparadigma mit seiner theokratischen Sicht und der Ständegesellschaft (Bildung, um die Befolgung von Regeln zu erlernen) hin zu dem Bildungsparadigma nach der Aufklärung (Bildung um Individualität und Menschlichkeit zu erreichen).

Auf Grundlage der in dieser Arbeit dargestellten Theorien werden im Fazit abschließende Schlussfolgerungen gezogen und ein Ausblick gegeben. Dabei wird untersucht, ob es von Wilhelm von Humboldt nach Bologna einen Paradigmenwechsel in der Bildungsgeschichte gegeben hat. Baut Bologna auf Wilhelm von Humboldts Bildungsideen auf oder ist es etwas gänzlich Neues, Anderes, schwer zu Vereinbarendes? Hierbei geht es um eine isolierte Betrachtung der beiden genannten Epochen; die Zeit zwischen Wilhelm von Humboldt und Bologna wird dabei vernachlässigt, denn es geht in dieser Arbeit nicht um eine Darstellung der Entwicklung der Bildungssysteme und Bildungsparadigmen, sondern um einen punktuellen Vergleich des von Humboldtschen Bildungsideals mit dem deutschen Bachelor-Modell. Daher entfällt auch eine Darstellung und Auseinandersetzung von und mit anderen potenziell stattgefundenen Paradigmenwechseln. Auch soll mit dieser Arbeit keine (abschließende) Bewertung des Bologna-Prozesses an sich vorgenommen werden.

Der besseren Lesbarkeit halber wurde im vorliegenden Text immer nur die weibliche oder männliche Form eines Wortes gewählt; auch wenn in dem verwendeten Kontext ebenso oder zusätzlich die männliche/weibliche Form hätte verwendet werden können. Eine wie auch immer geartete Diskriminierung ist damit nicht beabsichtigt.

Wo immer möglich wurde bei der Erstellung dieser Arbeit auf Primärquellen zurückgegriffen (Beispiel: Aufsätze und Briefe von von Humboldt, Bologna-Dokumente, ...). Die Auswahl der Sekundärliteratur wurde im Hinblick auf Relevanz und jüngsten Forschungsstand getroffen.

Verwendete Zitate sind hinsichtlich Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung ausnahmslos im Originalzustand verblieben. Sie wurden nicht der aktuell gültigen Rechtschreibung angepasst. Auch die in einigen Zitaten verwendete Schreibweise „Humboldt“ (statt „von Humboldt“) wurde entsprechend dem Original übernommen.

Fachtermini wurden in der vorgelegten Arbeit so verwendet, wie sie im Großteil der Fachliteratur geschrieben werden (Beispiel: Preußische Reformen als Eigenbegriff mit großem P).

2. Die historische Ausgangssituation im beginnenden 19. Jahrhundert

Kapitel 2 umreißt die historische Ausgangssituation im beginnenden 19. Jahrhundert. Diese Erkenntnisse dienen zum Einfinden in das Thema für die spätere Untersuchung des potenziell stattgefundenen Paradigmenwechsels. Durch die Skizzierung der Umbrüche in Europa und Preußen sowie die Darstellung der Bildungsinstitutionen und Bildungstheorien im endenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts wird der Kontext zwischen der allgemeinen, gesellschaftlichen Situation und der Arbeit von Wilhelm von Humboldt dargestellt. Dieser hat seine Ansprüche an Bildung im Zusammenhang mit Gesellschaft und Staat formuliert. Zum besseren Verständnis seiner Bildungstheorien ist es nötig, diese im Kontext von Wilhelm von Humboldts Lebens- und Wirkensepoche zu betrachten. Dabei wird hier der Schwerpunkt auf die Jahre bis 1809/1810 gelegt, also die Zeit, in der von Humboldt für 16 Monate als Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Inneren für die Bildungspolitik/Bildungsreformen Preußens zuständig war.

2.1 Umbrüche in Europa und Preußen

Nach der Französischen Revolution im Jahr 1789 herrschte in Europa eine Umbruchstimmung. Die Folgen der Revolution wirkten sich indirekt (ideell) und direkt auf viele europä­ische Staaten und das Gesamtgefüge in Europa aus. Ab 1792 drangen Revolutionsheere in die Nachbarstaaten Frankreichs vor; so kam es beispielsweise in den Niederlanden (Batavische Republik, 1795–1806) und in der Schweiz (Helvetische Republik, 1798–1803) mit der Gründung von Tochterrepubliken zu einem direkten Revolutionsexport.

2.1.1 Der Zusammenbruch Preußens

Nach der Französischen Revolution von 1789 eroberte Frankreich bis 1795 alle deutschen Gebiete bis zum Rhein.

Wegen der Aufteilung Polens entstanden während der Koalitionskriege gegen Frankreich Spannungen zwischen den Koalitionspartnern Russland, Preußen und Österreich. Im Frieden von Basel erkannte Preußen im Jahr 1795 den Rhein als die Grenze Frankreichs an und schied aus der Kriegskoalition (Russland, Preußen, Österreich, England) gegen Frankreich aus.

1801 musste Österreich die Rheingrenze anerkennen. In Deutschland hatten viele Fürsten ihr linksrheinisch gelegenes Territorium durch die Koalitionskriege gegen Frankreich verloren.

Frankreich, unter der Führung von Kaiser Napoleon, ordnete 1803 mit dem Reichsdeputationshauptschluss die Besitztümer anders und teilte das Reich rechts des Rheins neu auf. Bischöfe und Äbte verloren dabei im Rahmen der Säkularisierung ihre Stellung als Reichsfürsten, ihre Länder gingen an weltliche Fürsten. Jahrhundertealte Staatengebilde wurden beseitigt, die Kleinstaaterei wurde eingeschränkt. Eine übersichtliche Zahl deutscher Mittel­staaten wurde dank der Flurbereinigung durch Landgewinne gestärkt. Preußen bekam für seine links­rheinischen Verluste in Norddeutschland Gebiete hinzu. Die entstandenen mittel­großen Staaten waren ausreichend stark genug um Frankreich zu unterstützen, aber zu schwach um Frankreich schlagen zu können.

Doch dem alten Deutschen Reich fehlte es an innerer Einheit. Im Juli 1806 gründeten 16 Reichsfürsten, darunter Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Darmstadt und Nassau, mit Unterzeichnung der Rheinbundakte in Paris den Rheinbund, als dessen Protektor Napoleon fungierte. Am 1. August 1806 erklärten sie ihren Austritt aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dem jahrhundertealten Herrschaftsbereich der römisch-deutschen Kaiser (1806 ist dies – der seit 1804 zugleich österreichische Kaiser – Franz II.). Der Rheinbund besiegelte somit das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.

Im Herbst 1806 erklärte der preußische König Friedrich Wilhelm III. Frankreich den Krieg. Preußen unterlag im Oktober 1806 Frankreich. Französische Truppen zogen in Berlin ein; das alte Preußen brach zusammen. Im Juli 1807 musste Preußen Napoleons Friedensbedingungen annehmen (Friede von Tilsit): alle Besitzungen westlich der Elbe gingen als Königreich Westfalen an Napoleons Bruder; Preußens Gebiete im Osten gingen als Großherzogtum Warschau an den König von Sachsen. Neben diesem Verlust des halben Gebietes musste Preußen zudem hohe Kriegsentschädigungen zahlen und sein Heer dauerhaft verkleinern. Dafür zog Frankreich seine Truppen im Dezember 1807 aus Preußen ab (vgl. Conze et al. 1967, S. 84–90).

2.1.2 Die Preußischen Reformen

Durch die Kriegsniederlage Preußens 1806 und die Friedensbedingungen Napoleons 1807 brach das alte Preußen zusammen. Um die materiellen und personellen Verluste zu kompensieren, musste sich der preußische Staat grundlegend reformieren. König Friedrich Wilhelm III. forderte, dass verlorene materielle Macht durch geistige Kräfte ersetzt werden sollte. Die Preußischen Reformen betrafen daher – neben dem Heer – die Verwaltung, die Gesellschaftsordnung und schließlich auch das Bildungswesen. Mit dieser Erneuerung des preußischen Staats beauftragte der König 1807 hauptverantwortlich Carl August Freiherr von Hardenberg (1750–1822)­ und Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757–1831); Letzteren als „Ersten Minister“ (Conze et al. 1967, S. 92). Die Begriffe Steinsche Reformen und Preußische Reformen werden daher synonym verwendet. August Wilhelm Antonius Graf Neidhardt von Gneisenau (1760–1831), preußischer Generalfeldmarschall, war gemeinsam mit Gerhard von Scharnhorst (1755–1813) in der Militärreorganisations-Kommission für die Reform des Heeres zuständig. Es sollte eine Reform des Bestehenden werden, zwar kein revolutionärer Umsturz, wohl aber eine „Revolution von oben“ (Conze et al. 1967, S. 92). Mit der Bauernbefreiung (Aufhebung der Erbuntertänigkeit) von 1807 wurde das Ende des Feudalstaats besiegelt. Von Hardenberg führte die Gewerbefreiheit (Gewerbeschein) ein und von Stein die Selbstverwaltung in den Städten (Städteordnung, November 1808). Erst ab 1809 wurde unter Wilhelm von Humboldt das Bildungswesen reformiert. Die Preußischen Reformen wurden teilweise gegen den Widerstand des Adels und unter den misstrauischen Augen der napoleonischen Herrschaft durchgeführt. Nicht alle Reformvorstellungen konnten umgesetzt werden, dennoch trugen die Reformen entschieden dazu bei, dass aus den preußischen Untertanen mitverantwortliche Staatsbürger werden konnten (vgl. Conze et al. 1967, S. 92–95).

2.2 Bildungsinstitutionen und Bildungstheorien

Das Wissen um Bildungsinstitutionen und Bildungstheorien im endenden 18. und frühen 19. Jahrhundert ist nötig, um die Arbeit von Wilhelm von Humboldt, insbesondere in seiner Zeit als Leiter der preußischen Bildungsreformen, besser verstehen und einordnen zu können. Bei der Betrachtung der Bildungsinstitutionen und Bildungstheorien wird sich schwerpunktmäßig auf den Zeitraum bis 1809/1810 beschränkt. Auch die dargestellten Institutionen und Theorien sind lediglich Ausschnitte, so wird beispielsweise auf Hofmeister/Hauslehrer, auf die Elementarpädagogik von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) oder auf den Philanthropismus von Johann Bernhard Basedow (1724–1790) und Joachim Heinrich Campe (1746–1818) nicht eingegangen.

2.2.1 Schule, Berufsbildung und Universität

Im Jahr 1717 wurde in Preußen, relativ spät im Vergleich zu anderen deutschen Ländern, die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Dies geschah mit der vielsagenden Einschränkung: „Wo Schulen sind“ (Konrad 2007, S. 63). Schulen und Unterricht waren teuer und die absolu­tistischen Herrscher waren nicht immer bereit über die Absichtserklärung der Schulpflicht hinaus in ein allgemein öffentliches Elementarschulwesen zu investieren. Im Jahr 1763 wurde das preußische General-Landschulreglement eingeführt. In ihm waren für den Elementarschulunterricht die tägliche Unterrichtsdauer sowie die zu vermittelnden Unterrichtsinhalte festgelegt. Zudem sollten nur noch Lehrer unterrichten dürfen, die „im kurmärkischen Küster- und Schulseminario in Berlin eine zeitlang gewesen und darinnen … [sic!] die eingeführte Methode des Schulhaltens“ (Konrad 2007, S. 72f.) gelernt hatten. Im Januar 1787 wurde das „Ober-Schulcollegium“ als zentrale staatliche preußische Schulaufsichtsbehörde eingerichtet (Herrlitz et al. 2005, S. 271). 1794 wurde im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten verfügt, dass Schulen und Universitäten „Veranstaltungen des Staates“ seien (vgl. Konrad 2007, S. 63). Ein wichtiger Beweggrund für die Tätigkeiten des preußischen Staates zu Gunsten des niederen Schulwesens war die Stärkung der allgemeinen religiösen Volksbildung (Konrad 2007, S. 63f.).

Die religiöse Erziehung zum Obrigkeitsgehorsam wollte der Staat in den politisch und geistig unruhigen Zeiten für sich nutzen; getreut der Prämisse im Brief des Paulus an die Römer: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet“ (EKD 1984, S. 185). Der wachsende Staatseinfluss im Schulwesen mit der Förderung des Religionsunterrichtes kann also als gezieltes staatliches Handeln zur Schaffung gesellschaftlicher Stabilisatoren gesehen werden, in dem sich der Staat selbst zu legitimieren suchte.

Ein weiterer wichtiger Grund die Schulpflicht einzuführen, durchzusetzen und Schulen zu errichten war, dass es im Merkantilismus (1700–1900) als sehr wirtschaftlich angesehen wurde, die Ausgaben für die allgemeine Volksbildung zu erhöhen, da diese die menschliche Arbeit schlussendlich produktiver macht. Die angestrebte allgemeine Volksbildung war also wirtschaftspolitisches Kalkül. Der dritte Grund für das staatliche Handeln war, dass es bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts viele territoriale Neugliederungen gab. Um unter allen Menschen des Reiches ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen und die neuen Territorien in das alte Gebiet zu integrieren, sollte ein einheitliches, ideologisches, sozialdisziplinierendes Schul­wesen behilflich sein (vgl. Konrad 2007, S. 65–66).

Die meisten Eltern der ersten Generation von Kindern, die von der einzuführenden Schulpflicht betroffen waren, hatten selbst keine Schule besucht, sondern „allenfalls eine religiös- katechetische Unterweisung erhalten“ (Benner 1990, S. 182). Daher konnten sie weder rechnen, schreiben noch lesen. Dies machte die Umsetzung der Schulpflicht, und damit die Alphabetisierung Preußens, schwierig. Oft regte sich in den Familien Widerstand gegen die Schulpflicht, weil den Eltern die Einsicht für den Bildungsbedarf fehlte und vor allem, weil die Kinder als Arbeitskräfte benötigt wurden. Zudem fehlten zu Beginn des 19. Jahrhunderts außerhalb der Schule „Anlässe und Gelegenheiten, die elementaren Techniken des Lesens, Schreibens und Rechnens zu verwenden und zu gebrauchen“ (Benner 1990, S. 182). Zwischen Stadt und Land hat sich eine „kulturelle Kluft“ (Osterhammel 2010, S. 1120) gebildet. Auch die Lehrer waren nur mangelhaft ausgebildet und hatten oftmals selbst nur schlechte Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen (vgl. Benner 1990, S. 182).

Im höheren Schulwesen waren die Klosterschulen bis zur „großen Säkularisierung von 1803“ (Konrad 2007, S. 75) prägend. 1788 wurde in Preußen ein reglementierendes, normierendes, staatliches Prüfungswesen geschaffen: das Abiturexamen („Reglement für die Prüfung an den Gelehrten Schulen und an den Universitäten“, Herrlitz et al. 2005, S. 271). Von nun an bestand erstmals eine Art Zugangsprüfung zur Universität, zunächst allerdings nur für die Kinder armer Leute, welche ein Stipendium benötigten (Konrad 2007, S. 76). Das Interesse des Staates an den höheren Schulen (Gymnasium und Kollegien) lag darin begründet, dass diese auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch immer stark theologisch geprägt waren und als „Vorbereitungsanstalten auf das geistliche Amt“ (Konrad 2007, S. 77) dienten. Diese Ausrichtung nützte aber den zukünftigen Beamten, Medizinern und Kaufleuten wenig, so dass es am Staat lag, hier im 19. Jahrhundert regulierend einzugreifen.

Als Frühform der geregelten Berufsbildung galt das Zunftwesen. Bei einem Meister konnte eine handwerkliche Lehre durchlaufen werden. Damit unterschieden sich die Handwerker von den einfachen, ungelernten Arbeitern (vgl. Osterhammel 2010, S. 975). Denn die meisten Jungen wurden nicht außerhalb ihres Elternhauses ausgebildet, sondern wuchsen von Kindheit an in die Arbeit hinein und arbeiteten selbstverständlich mit. Auch die Leibeigenschaft, die die Bauern örtlich an das Gut ihres Herren band, existierte um 1800 noch (vgl. Osterhammel 2010, S. 994); sie endete in Preußen erst 1807.

Als praktisch orientierte Schulbildung, hauptsächlich für angehende Kaufleute und Gewerbetreibende, entstanden ab 1705 erste Realschulen. Nach Vorbild einer bereits 1705 in Halle gegründeten Realschule wurde im Jahr 1746/1747 in Berlin die erste ökonomisch-mathematische Realschule eröffnet. Hier stand das „im Berufs- und Wirtschaftsleben Nützliche“ im Mittelpunkt. Dieser neue Schultypus wurde insbesondere von Menschen aus dem gewerb­lichen Bürgertum gefördert. Diese Bürger wollten ihren Söhnen eine zwar qualitativ gute, jedoch praktisch orientierte Schulbildung zukommen lassen, keine gelehrte. Daher wurden auch Fächer wie Mechanik und Landwirtschaft gelehrt. Ihren eigentlichen Durchbruch erlebte die Realschule dennoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vgl. Konrad 2007, S. 82).

Als erste Universität in Europa wird die Universität Bologna bezeichnet; ihr Gründungsjahr wird auf 1088 datiert (vgl. Università di Bologna 2011). Der Tätigkeitsschwerpunkt der Universitäten im 17. und 18. Jahrhundert liegt im Sammeln, Ordnen und Vermitteln von Wissen, nicht in der Forschung. Durch den Philanthropismus wird harsche Kritik an den bestehenden Universitäten mit ihrer seit dem Mittelalter üblichen Scholastik geübt. Das unverbindliche „Vielwissen sollte durch ein begründetes Spezialwissen abgelöst werden“ (Röhrs 1987, S. 13). Von 1770–1800 entstanden als Folge daraus viele Fachhochschulen; etliche bestehende Universitäten schlossen. In den Fachhochschulen wurde „profundes Fachwissen zum Nutzen der Gesellschaft“ (Röhrs 1987, S. 14) vermittelt. Gegen diesen Utilitarismus kam nun Kritik von den Idealisten, zuerst 1789 von Friedrich von Schiller. Dem „Brotstudium“ stellte er das „Philosophieren als eine[...] originäre[...] akademische[...] Geisteshaltung“ (Röhrs 1987, S. 14) entgegen.

2.2.2 Humanismus und Neuhumanismus

Als Humanismus wird eine geistige Bewegung bezeichnet, die ihren Ursprung am Ende des 14. Jahrhunderts im spätmittelalterlichen Italien hatte (Renaissance-Humanismus) und sich von dort in ganz Europa ausbreitete. Der Humanismus hat die menschliche, antike Bildung zum Inhalt. Humanus bedeutet zum Menschen gehörig; der Humanismus beruht auf Grundüberzeugungen (Freiheit, Glück und Wohlergehen für alle, Bildungspotenzial des Einzelnen, Respektierung des Lebens und der einzelnen Persönlichkeit, …), die der Humanitas, also der Menschenwürde, entsprechen. Für die Humanisten hat das Studium der antiken Schriften griechischer und römischer Autoren eine besondere Bedeutung; sie sehen die Antike als Wurzel der Kultur und damit als Vorbild. Daraus folgt, dass klassische Sprachen (Latein und Alt­griechisch) im Humanismus eine große Bedeutung haben. Sprache wird als das Wesentliche eines Gebildeten verstanden. Der Humanismus forderte daher eine sprachlich-kritische Bildung.

Zum Neuhumanismus zählt die Zeit ab Mitte des 18. Jahrhunderts. In dieser Zeit kam es zu einer Abwendung von der aufklärerischen, einseitigen Verstandeskultur. Der Neuhumanismus blieb weitestgehend auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Die humanistische Bildungstheorie stellt den Menschen in den Mittelpunkt (Menschenbildung). Durch Bildung sollen Denken, Wissen und Erkenntnis ausgebaut werden. Das Ideal ist die reflexive, allgemeine Selbstbildung des Einzelnen. Auf Freiheit und Individualität wird großen Wert gelegt. Der gebildete Mensch ist sich seiner Individualität, also der Unterschiedenheit von anderen Menschen, bewusst. Das Bewusstsein der Individualität muss zunächst erworben und dann auch gepflegt werden. Der Mensch ist das Werk seiner selbst. Durch Bildung wird neben Individualität auch Menschlichkeit erreicht (vgl. Vallentin 1999, S. 87ff.).

Zu den wichtigsten Vertretern des Neuhumanismus werden Wilhelm von Humboldt (1767–1835), Friedrich Daniel Schleiermacher (1768–1834), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Johann Friedrich Herbart (1776–1841) gezählt.

2.3 Zusammenfassung

Nach der Französischen Revolution von 1789 eroberte Frankreich bis 1795 alle deutschen Gebiete bis zum Rhein. Nach dem Preußisch-Französischen Krieg 1806 besetzten französische Truppen Berlin; Preußen brach zusammen. 1807 musste Preußen Frankreichs Friedensbedingungen annehmen, die einen eklatanten Verlust von Territorium bedeuteten. König Friedrich Wilhelm III. forderte, dass verlorene materielle Macht durch geistige Kräfte ersetzt werden sollte; es kam zu den Preußischen Reformen unter von Stein, die eine Revolution von oben werden sollten.

Im niederen Schulwesen betrieben die Behörden im 18. Jahrhundert aus selbstlegitimierenden, merkantilistisch-wirtschaftlichen sowie ideologisch-inkludierenden Gründen eine aktive Schulgründungspolitik, setzten die Schulpflicht mehr oder weniger gründlich durch und erließen Schulordnungen. Die höheren Schulen im ausgehenden 18. Jahrhundert waren in ihren Lehrinhalten noch immer darauf ausgerichtet, zukünftige Geistliche auf das nachfolgende Theologie-Studium vorzubereiten. Als praktisch orientierte Schulbildung für angehende Kaufleute und Gewerbetreibende entstanden ab 1705 erste Realschulen, die jedoch ihren eigentlichen Durchbruch erst im späteren 19. Jahrhundert hatten. Die meisten Heranwachsenden erhielten keine Berufsbildung. Die durch das Zunftwesen in den Genuss einer Ausbildung gekommenen Handwerker unterschieden sich in ihrem Status streng von den ungelernten Arbeitern.

Die Universitäten befanden sich um die Wende des 17./18. Jahrhunderts in einem schlechten Zustand. Sie standen in der allgemeinen Kritik; es gab sowohl Stimmen für die Abschaffung der als theorielastig bezeichneten Universitäten zugunsten von Fachhochschulen als auch den Ruf nach einer Neubegründung der Universitäten.

Ab dem 14. Jahrhundert griff der Humanismus auf die Inhalte der antiken Bildung zurück, die zur Menschenwürde führen sollte. Der darauf aufbauende Neuhumanismus ab Mitte des 18. Jahrhunderts stellte in seiner humanistischen Bildungstheorie den Menschen in den Mittelpunkt (Menschenbildung). Durch Bildung sollten Denken, Wissen und Erkenntnis ausgebaut werden.

3. Zur Person Wilhelm von Humboldts

Der Darstellung der historischen Ausgangssituation im beginnenden 19. Jahrhundert folgt – ebenfalls zur besseren Einordnung seiner Theorien – eine Biographie Wilhelm von Humboldts. Zentrale Punkte sind dabei seine Herkunft, seine Ausbildung und seine beruflichen Tätigkeiten. Sowohl im Bereich der Ausbildung als auch im Bereich der beruflichen Tätigkeiten sind viele seiner Entscheidungen und Lebensstationen nur verständlich, wenn zudem das persönliche, familiäre Umfeld Wilhelm von Humboldts mitbetrachtet wird. Daher erfolgt keine isolierte Darstellung beruflicher Stationen, sondern eine Mitbetrachtung seiner persönlichen, familiären Lebensumstände, welche mittelbar und unmittelbar Einfluss nahmen.

Wilhelm von Humboldt ist heute vor allem aufgrund seiner Arbeit an den Preußischen Bildungsreformen bekannt – dabei war er weit mehr als nur ein Bildungsreformer; unter anderem war er Privatgelehrter, Diplomat und Sprachtheoretiker.

3.1 Herkunft

Die Familie des Vaters stammte ursprünglich aus Pommern. Bereits seit dem 16. Jahrhundert dienten die Familienmitglieder als Beamte und Offiziere für die brandenburgischen Kurfürsten und die preußischen Könige. Wilhelm von Humboldts Großvater, der Offizier und Veteran Johann Paul (von) Humboldt (1684–1740), wurde auf eigenes Gesuch hin 1738 vom König Friedrich Wilhelm I. geadelt. Wilhelm von Humboldts Vater, Major Alexander Georg von Humboldt (1720–1779) war zunächst ebenfalls Offizier und später von 1765–1769 Kammerherr bei der Gemahlin des Thronfolgers. Von nun an gehörte er zum engeren Freundeskreis des späteren Königs Friedrich Wilhelm II.

Im Jahr 1766 heirateten von Humboldts Eltern, Alexander Georg von Humboldt und die deutlich jüngere Marie Elisabeth Colomb (1741–1796). Marie Elisabeth stammte von französischen Hugenotten ab. Als Witwe Freifrau von Hollwede brachte Marie Elisabeth aus ihrer ersten Ehe unter anderem das Schloss und Gut Tegel (bis 1920 ist Tegel stadtrechtlich eigenständig und noch nicht zur Stadt Berlin gehörend) mit in die Ehe. Bereits am 22. Juni 1767 wurde Sohn Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von Humboldt, genannt Wilhelm von Humboldt, in Potsdam bei Berlin geboren. König Friedrich Wilhelm II. übernahm als Freund von Humboldts Vater Alexander Georg die Patenschaft für den erstgeborenen Sohn Wilhelm. Im September 1769 wurde der zweite Sohn der Familie, Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt, genannt Alexander von Humboldt, geboren. Wilhelm und sein Bruder Alexander verbrachten ihre Kinderjahre im Schloss Tegel (vgl. Borsche 1990, S. 19–21). Zudem lebte der Halbbruder Heinrich Friedrich Ludwig Ferdinand von Hollwede (1762–1817), der Sohn aus der ersten Ehe der Mutter, in der Familie.

3.2 Ausbildung

Alexander und Wilhelm von Humboldt besuchten selbst nie eine Schule sondern wurden von privaten Hofmeistern gelehrt, betreut und erzogen. In den Jahren 1769 bis 1773 sowie 1775 oblag diese Aufgabe dem nachmals berühmten Philanthropen Joachim Heinrich Campe (1746–1818) (vgl. Benner 2003, S. 145). Seit 1777 war der spätere preußische Staatsrat Gottlob Johann Christian Kunth (1757–1829) der Hauslehrer der Brüder. Er unterrichtete unter „strenger Aufsicht […] Mathematik, Deutsch, Latein, Griechisch, Französisch und Geschichte“ (Borsche 1990, S. 21). Bereits im Jahr 1779, als Wilhelm von Humboldt zwölf Jahre alt war, starb der Vater Alexander Georg von Humboldt. Hofmeister Kunth, ein enger Vertrauter des Vaters, übernahm nun zusätzlich zur Erziehung der Brüder auch die Guts- und Vermögensverwaltung und fungierte als Berater der Mutter.

Ab dem Jahr 1785 erhielten die Brüder bei hochrangigen Gelehrten Privatunterricht in National­ökonomie, Statistik, Naturrecht und Philosophie (vgl. Borsche 1990, S. 21). Im Jahr 1787 verließ Wilhelm von Humboldt als Zwanzigjähriger das erste Mal die Berliner Region. Er ging, zusammen mit seinem Bruder Alexander und dem gemeinsamen Erzieher Kunth, nach Frankfurt an der Oder und schrieb sich zum Wintersemester für juristische Fachstudien ein. Doch bereits zum Sommersemester 1788 wechselte Wilhelm von Humboldt, nun allein, ohne Bruder und Erzieher, an die damals renommierte Universität Göttingen. Dort hörte er bei dem Mathematiker, Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) experimentelle Physik sowie im Sommersemester 1789 eine Vorlesung über Licht, Feuer, Elektrizität und Magnetismus. Zudem hörte er vom Sommersemester 1788 bis einschließlich des Sommersemesters 1789 Vorlesungen über Universal-Geschichte, alte Sprachen und Literatur bei verschiedenen anderen Professoren. Nebenher studierte Wilhelm von Humboldt selbsttätig die kritische Philosophie Immanuel Kants. Im Sommer 1788 lernte er Carolina Friederica von Dacheroeden (1766–1829), genannt Caroline, kennen. Nach nur vier Studiensemestern, davon ein Fachsemester und drei allgemein bildende Semester, endete Wilhelm von Humboldts Studienzeit im Juli 1789 (vgl. Borsche 1990, S. 22–24).

Im August 1789 reiste er mit seinem ehemaligen Hauslehrer Campe „nach Paris um als ,Zuschauer‘ am historischen Ereignis der Epoche, der Französischen Revolution, teilzunehmen“ (Benner 2003, S. 145). Campes Euphorie bezüglich der Revolution teilte er jedoch nicht.

Auf der Rückreise von Paris nach Berlin verlobte er sich am 17. Dezember 1789 in Erfurt mit der hochgebildeten Caroline von Dacheroeden. Sie war die Tochter des preußischen Kammerpräsidenten Freiherr Karl Friedrich von Dacheroeden (1732–1809). Carolines Familie war, gleich der Familie von Humboldt, adelig und begütert und gehörte zum angesehenen oberen Bürgertum. Wilhelm von Humboldt und Caroline waren ein modernes Paar, „wahlverwandt und ebenbürtig“ (Rosenstrauch 2009); die hohe Bildung Carolines war in der damaligen Zeit für eine Frau eine absolute Seltenheit. Durch die Vielzahl der erhaltenen Briefe Carolines an ihren Mann ist belegt, wie sehr sie sein Denken und Arbeiten zeitlebens beeinflusste.

3.3 Amt und Stellung

Im Februar 1790 wurde Wilhelm von Humboldt am Stadtgericht Berlin angestellt, im Juli folgte die Referendarsprüfung und bereits im September 1790 die „Bestallung als Referendar am Hof- und Kammergericht, dann am Oberappelationsgericht, dann auch am kurmärkischen Pupillenkollegium; gleichzeitig Tätigkeit unter Graf Hertzberg im auswärtigen Departement, die Wilhelm im Juni 1790 den Titel eines Legationsrats einträgt“ (Borsche 1990, S. 24f.). Doch er unterbrach die Staatskarriere freiwillig und bat im Mai 1791 um Entlassung aus dem juristischen Staatsdienst und ließ sich vom Auswärtigen Dienst beurlauben.

Am 29. Juni 1791 heiratete er Caroline von Dacheroeden. Gemeinsam hatten sie acht Kinder, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten. Nach der Hochzeit lebte das junge Ehepaar gemeinsam auf den Gütern von Wilhelm von Humboldts Schwiegervater, frei von jeglichen äußeren Verpflichtungen. Von Humboldt bezeichnete sich als Privatgelehrter und verbrachte die Zeit mit privaten Studien. Im Februar 1794 zog die junge Familie nach Jena. Seit Mai 1794 war auch Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759–1805) in Jena. Wilhelm von Humboldt und von Schiller trafen sich jeden Tag und arbeiteten gemeinsam an Schillers neuer Zeitschrift, den Horen. Caroline von Humboldt stellte den Kontakt zwischen ihrem Mann und Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in Weimar her. Kurze Zeit später vermittelte Wilhelm von Humboldt zwischen von Schiller und von Goethe (vgl. Borsche 1990, S. 26).

Bereits im Sommer 1795 musste Wilhelm von Humboldt nach Tegel zurückkehren, da seine Mutter erkrankte. Ihr Tod im November 1796 führte zu Problemen in der Erbregelung. Im November 1797 ging die Familie von Humboldt für vier Jahre nach Paris, wo sie ein reges, gesellschaftliches Leben führte. Zwei ausgedehnte Spanienreisen in dieser Zeit brachten den Anstoß zu Wilhelm von Humboldts lebenslangem Interesse an Sprachen. Im Sommer 1801 kehrten Wilhelm und Caroline von Humboldt mit den Kindern nach Berlin zurück. Von Humboldt bewarb sich im Auswärtigen Amt und trat 1802 die Stelle des Preußischen Residenten am Päpstlichen Stuhl in Rom an, da der erste Amtsinhaber, Johann Daniel Wilhelm Otto Uhden (1763–1835), „aus privaten Gründen um seine Ablösung bittet und sich kein anderer

Diplomat um die sonnige, aber unbedeutende Provinzstelle bemüht“ (Borsche 1990, S. 26). Bis 1808 blieb von Humboldt in Rom und bezeichnete diese als die glücklichsten Jahre seines Lebens; dies trotz des plötzlichen und sehr schmerzlichen Todes des ältesten Sohnes Wilhelm am 15. August 1803 (vgl. Rosenstrauch 2009, S. 170).

1806/1807 brach Preußen zusammen. Im Oktober 1808 reiste von Humboldt in Rom ab um nach Tegel zu reisen, dort war es in den Wirren zu Plünderungen gekommen. Auf der Rückreise von Rom erhielt Wilhelm von Humboldt in Erfurt die Mitteilung, dass er zum Leiter des preußischen Unterrichtswesens berufen werden sollte. Zunächst lehnte er ab; wurde am 15. Dezember 1808 aber durch Kabinettsordre berufen (Borsche 1990, S. 26f.). Am 20. Februar 1809 wurde von Humboldt mitgeteilt, dass er Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Inneren werden sollte (vgl. Rosen­strauch 2009, S. 171f.). In dieser Funktion leitete Wilhelm von Humboldt die Preußischen Bildungsreformen, die ein Teil der allgemeinen Reform des Preußischen Staats- und Verwaltungsapparates nach dem Zusammenbruch Alt-Preußens waren.

Schon nach nur 16 Monaten reichte Wilhelm von Humboldt am 29. April 1810 sein Abschiedsgesuch ein. Bereits „im verwichenen Herbst in Königsberg“ (von Humboldt 1810c/1964, S. 244) hatte er „mündlich“ den Wunsch geäußert „versetzt zu werden“, nun ist der „anvertraute Posten zu so etwas Anderem herunter[gesetzt]“ worden, dass es „mir unmöglich ist, ihn ferner beizubehalten“ (von Humboldt 1810c/1964, S. 248). Der König entsprach von Humboldts Wunsch Ende Mai 1810. Am 23. Juni 1810 übergab Wilhelm von Humboldt das Amt an seinen Nachfolger (vgl. Benner 1990, S. 172). In seiner Zeit als Sektionschef hatte Wilhelm von Humboldt, der selbst nie eine öffentliche Schule besucht hat, das gesamte preußische Schulwesen neu organisiert und die Berliner Universität gegründet.

Im Juni 1810 wurde ihm der Titel eines Staatsrates verliehen und Wilhelm von Humboldt wurde preußischer Gesandter in Wien. Dort war er einer der führenden Diplomaten am Kaiser­hof Franz I. (1768–1835). Von Humboldts jahrelange diplomatische Bemühungen (Beitritt Österreichs zu dem Bündnis Russland, Preußen und England) mündeten im Oktober 1813 mit der Niederlage Napoleons bei der Völkerschlacht bei Leipzig. Bei den Friedensverhandlungen mit Frankreich 1814 vertrat Wilhelm von Humboldt die preußischen Interessen.

Auf dem Wiener Kongress (1814–1815; Neuordnung Europas. Ziele: Restauration, Legitimität und Solidarität) und bei den Verhandlungen über den Deutschen Bund und die Frage einer Deutschen Verfassung (1815) agierte Wilhelm von Humboldt in tragender Funktion neben dem preußischen Staatskanzler Carl August Freiherr von Hardenberg (1750–1822). Seine Versetzung nach London (1817/1818) interpretierte von Humboldt als Versuch des Staatskanzlers, ihn aus dem Machtzentrum zu entfernen. Doch bereits im Januar 1819 wurde Wilhelm von Humboldt von König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) ins Kabinett berufen; als Minister für Ständische Angelegenheiten. Im Herbst 1819 legte er gegen die Karlsbader Beschlüsse (Zensur, Einschränkung der Pressefreiheit, Überwachung von Universitäten, Verbot der Burschenschaften) offiziellen Einspruch ein. Die Folge war seine Entlassung aus dem Staatsdienst am 31. Dezember 1819 (vgl. Borsche 1990, S. 26–28).

Von nun an lebte Wilhelm von Humboldt als Privatgelehrter in Tegel, führte eine beachtliche wissenschaftliche Korrespondenz und betrieb die bereits 1800 von ihm begonnenen Forschungen im Bereich der Sprachtheorie und -philosophie weiter (vgl. Benner 2003, S. 146). Zudem ließ er nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst das Schloss Tegel in den Jahren 1820 bis 1824 nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel im Stil des Klassizismus umbauen. Das Schloss hatte er nach dem Tod seiner Mutter Marie Elisabeth im Jahr 1797 übernommen.

1825 wurde von Humboldt Vorsitzender eines Vereins, der Kunst und junge Künstler fördern wollte. 1829 wurde er zudem Vorsitzender einer Kommission, die sich mit der Einrichtung des ersten öffentlichen preußischen Kunstmuseums befasste. Am 26. März 1829 starb seine Frau Caroline. 1830 versöhnte er sich formell mit König Friedrich Wilhelm III. und wurde erneut in den Staatsrat, in ein politisch nicht einflussreiches Amt, berufen. Am 8. April 1835 starb Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von Humboldt im Alter von 67 Jahren in Tegel (vgl. Borsche 1990, S. 26–29). Am allgemein bekanntesten von Humboldts politischer Aktivität ist heute sein Beitrag zur Reform des Preußischen Bildungswesens.

3.4 Zusammenfassung

Wilhelm von Humboldt wurde 1767 als adeliger Offizierssohn in Potsdam geboren. Er und sein jüngerer Bruder Alexander wuchsen in privilegierten Verhältnissen auf. Die Kinder besuchten keine öffentlichen Schulen, sondern wurden von namhaften Hauslehrern unterrichtet. Von 1787 bis 1789 studierte Wilhelm von Humboldt zunächst ein Semester Jura in Frankfurt/Oder und danach drei Semester experimentelle Physik, Universal-Geschichte, alte Sprachen und Literatur in Göttingen. 1789 wohnte er mit einem seiner ehemaligen Hauslehrer, Joachim Heinrich Campe, der Französischen Revolution in Paris als Beobachter bei. Anfang 1790 begann Wilhelm von Humboldt seine Karriere beim juristischen Staatsdienst und dem auswärtigen Dienst. 1791 heiratete er seine Verlobte Caroline von Dacheroeden – gemeinsam hatten sie später acht Kinder. Ab 1794 arbeitete Wilhelm von Humboldt in Jena vor allem mit Friedrich von Schiller zusammen. Die Jahre 1797 bis 1801 verbrachte die Familie in Paris. Während dieser Zeit gaben zwei Spanienreisen den Anstoß zu von Humboldts lebenslang andauernden Interesse an Sprachen. Von 1802 bis 1808 war er Diplomat Preußens am Päpstlichen Stuhl in Rom.

1809 wurde Wilhelm von Humboldt in Preußen Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht im Ministerium des Inneren und leitete die Preußischen Bildungsreformen, die ein Teil der allgemeinen Reform des Preußischen Staats- und Verwaltungsapparates waren. Doch bereits im Juni 1810 wurde Wilhelm von Humboldt Diplomat am Kaiserhof in Wien. Auf dem Wiener Kongress 1814 vertrat er neben dem preußischen Staatskanzler Freiherr von Hardenberg die Interessen Preußens. Wilhelm von Humboldt war, seit Januar 1819, Minister für Ständische Angelegenheiten als er im Herbst 1819 gegen die Karlsbader Beschlüsse sein Veto einlegte und daraufhin zum Jahresende aus dem Staatsdienst entlassen wurde. Er zog sich auf Schloss Tegel zurück und widmete sich vor allem seinen sprachtheoretischen Studien. Am 26. März 1829 starb seine Frau Caroline. 1830 wurde Wilhelm von Humboldt erneut in den Staatsrat berufen. Im April 1835 starb Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von Humboldt im Alter von 67 Jahren in Tegel.

4. Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie und Bildungsreform

In diesem Kapitel wird Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie anhand zweier Schriften dargestellt (Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792) und Theorie der Bildung des Menschen (1793/1794). Zudem wird die Grundstruktur des von Humboldtschen Bildungsbegriffes (Universalität, Individualität und Totalität) erläutert. Das Unterkapitel Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts behandelt die Reform des Bildungswesens als ein Teil der allgemeinen Preußischen Reformen nach dem Frieden von Tilsit und dem Zusammenbruch des alten Preußischen Reiches 1806/1807. Dabei wird neben der geplanten Bildungsreform Wilhelm von Humboldts auf den Königsberger und den Litauischen Schulplan (1809) eingegangen. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Organisation des Bildungswesens nach Wilhelm von Humboldt (Elementarschule, Gymnasium, Universität) und die geplante Umsetzung der Bildungsreform am Beispiel der Universität. Anschließend werden Gründe für das damalige Scheitern der Bildungsreform Wilhelm von Humboldts genannt.

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Details

Title
Bildungsgeschichte. Von Wilhelm von Humboldt nach Bologna. Ein Paradigmenwechsel?
College
University of Hagen  (Kultur- und Sozialwissenschaften)
Course
Abschlussarbeit - Lehrgebiet Bildungstheorie und Medienpädagogik
Grade
1,3
Author
Year
2011
Pages
82
Catalog Number
V182332
ISBN (eBook)
9783656060031
ISBN (Book)
9783656060154
File size
3316 KB
Language
German
Notes
Zusammenfassung aus dem Gutachten: "Insgesamt ist die Arbeit sehr gut strukturiert, sie ist stringent, kritisch und kreativ durchgeführt. Die Autorin achtet auf plausible Kapitelüberleitungen und Gründe für Zuspitzungen und Engführungen, die dem Leser den Argumentationsgang nachvollziehbar werden lassen. (...) Der Fragestellung der Arbeit wurde konsequent und begründet von Beginn an bis zum Ende mit dem Ergebnis eines ertragreichen Vergleichs nachgegangen."
Keywords
Bildungswissenschaft, Bildungswissenschaftlerin, Bachelor, Bologna, Bildungsreform, Strukturreform, Bildungsstrukturreform, Humboldt, Von Humboldt, Wilhelm von Humboldt, Nida-Rümelin, Paradigma, Paradigmenwechsel, Bildungsgeschichte, Bildung, Bildungstheorie, Medienpädagogik, Hagen, Fernuni, Uni, Ökonomisierung, Bildungsökonomisierung, Reformen, Preußische Reformen, Litauischer Schulplan, Königsberger Schulplan, Versuch die Wirksamkeit der Grenzen des Staates zu bestimmen, Deutschland, Umsetzung, Universitätsidee, humboldtsche, Vergleich, Ausblick, Grundstruktur, 19. Jahrhundert, punktueller Vergleich, Fazit, Zusammenbruch Preußens, Friede von Tilsit, Napoleon, Rheinbund, Humanismus, Neuhumanismus, Schule, Berufsbildung, Ausbildung, Zusammenhang, Zusammenfassung, Abschluss, Abschlussarbeit, Bachelorarbeit, Einleitung, Zukunft, Vergangenheit, Forschungsfrage, Forschung, Staatsrat, Bildungsreformen, Bologna-System, Bürokratie, REgulierung, Überregulierung, Europa, Europäisierung
Quote paper
Bettina Rütten (Author), 2011, Bildungsgeschichte. Von Wilhelm von Humboldt nach Bologna. Ein Paradigmenwechsel?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/182332

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