Der Lebensbereich Freizeit bei Menschen mit Lernschwierigkeiten

Barrieren und Möglichkeiten auf dem Weg zu einer inklusiven Gestaltung


Diplomarbeit, 2010

115 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Personenkreis
2.1 Definitionen
2.1.1 Behinderung laut WHO
2.1.2 Geistige Behinderung
2.1.3 Diskussion der Begrifflichkeit

3 Der Lebensbereich Freizeit
3.1 Erklärungsansätze und Definition
3.2 Historische Entwicklung des Freizeitverständnisses
3.2.1 Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert
3.2.2 Aktuelle Sichtweisen
3.2.3 Freizeitverhalten von Menschen mit Lernschwierigkeiten im historischen Kontext
3.3 Formen der Freizeitgestaltung
3.4 Der Lebensbereich Freizeit bei Menschen mit Lernschwierigkeiten
3.4.1 Einfluss des Freizeiterlebens auf die Lebensqualität
3.4.2 Bedürfnisse in der Freizeitgestaltung
3.4.3 Exkurs: Freizeitkompetenz als Voraussetzung
3.4.4 Determinanten der Freizeitgestaltung
3.4.5 Erschwernisse für die Freizeitgestaltung
3.4.6 Zur Situation der Freizeit von Menschen mit Lernschwierigkeiten
3.4.6.1 Empirische Studien in Deutschland
3.4.6.2 Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse

4 Inklusion
4.1 Definition
4.2 Wurzeln und Entwicklung des Inklusionsgedankens
4.2.1 Entstehung des Begriffs
4.2.3 Reflexion zur begrifflichen Verwendung
4.3 Aktuelle inklusive Tendenzen
4.3.1 International
4.3.2 National
4.3.2.1 Gesetzliche Regelungen
4.3.2.2 Entwicklungen in der Heilpädagogik
4.4 Voraussetzungen und Bedingungen
4.5 Zusammenfassung wesentlicher Aspekte

5 Der Inklusionsprozess im Lebensbereich Freizeit
5.1 Bedeutung heilpädagogischer Leitprinzipien
5.1.1 Selbstbestimmung
5.1.2 Partizipation und Teilhabe
5.1.3 Empowerment
5.1.4 Fazit
5.2 Gestaltungsmöglichkeiten auf verschiedenen Handlungsebenen
5.2.1 Subjektzentrierte Ebene
5.2.2 Gruppenbezogene Ebene
5.2.3 Institutionelle Ebene
5.2.4 Sozialpolitische Ebene
5.2.5 Fazit
5.3 Heilpädagogische Handlungsmöglichkeiten
5.3.1 Prozessgestaltung im Sinne heilpädagogischen Handelns
5.3.2 Reflexion - Chancen und Grenzen erfolgreicher Inklusion
5.4 Das Assistenzmodell als Handlungskonzept der Heilpädagogik
5.4.1 Assistenz als Dienstleistungsmodell
5.4.1.1 Hintergrund des Assistenzgedankens
5.4.1.2 Kritische Reflexion und Rolle des Heilpädagogen
5.4.2 Umsetzung im Lebensbereich Freizeit
5.4.3 Freizeitassistenz in der Praxis: IDEAL e. V
5.4.3.1 Die Arbeit des Vereins
5.4.3.2 Zusammenfassende Bemerkungen zu IDEAL e. V
5.4.4 Zusammenfassung und Reflexion

6 Resümee und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang I

Gesprächsprotokoll

1 Einleitung

"Wir sind alle Blätter an einem Baum, keins dem andernähnlich, das eine symmetrisch, das andere nicht, und doch alle gleich wichtig dem Ganzen". (Gotthold Ephraim Lessing)

Ich habe mich vor kurzem mit einem jungen Mann mit Lernschwierigkeiten unterhalten, den ich bei einem Besuch zum Arzt begleitete. Er lebt in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung und hatte gerade den zweiten Tag seiner Urlaubswoche begonnen. Das Gespräch ging in die Richtung, dass ich mich erkundigte, wie er denn die nun freie Zeit nutzen wolle und was er gerne in seiner Freizeit mache. Die spontane Antwort lau- tete: „Naja, nicht viel. Ich weiß nicht.“ Ich versuchte daraufhin nachzuha- ken, womit er denn sonst gerne Zeit verbringt und wo seine Interessen lie- gen. Es stellte sich heraus, dass er nie so richtig wisse, was er in seiner Frei- zeit machen könne, außer vorzugsweise viel Zeit am PC zu verbringen. Er konnte zum einen gar nicht richtig äußern, was er neben dem Genannten noch gern tut, zum anderen kam unterschwellig zum Ausdruck, dass er auch keine Lust habe immer mit anderen „Behinderten“ an irgendeiner angebote- nen Beschäftigung teilzunehmen.

In diesem Zusammenhang fiel mir auf, dass es sehr oft ausführliche und vertiefende Gedanken zu Modellen und aktuellen Entwicklungen in den Bereichen Wohnen und Arbeiten für Menschen mit spezifischen Lebenser- schwernissen gibt. Solch tiefgreifende Überlegungen wurden im Bereich der Freizeitgestaltung bisher seltener vorgenommen, auch wenn dieser Lebens- bereich immer mehr in die Diskussion kommt. Das Gespräch verdeutlicht außerdem exemplarisch, dass einerseits aufgrund fehlender inklusiv ausge- richteter Strukturen und Rahmenbedingungen mangelhafte Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen bestehen, an Freizeitaktivitäten im Ge- meinwesen und unmittelbaren Wohnumfeld teilzunehmen. Andererseits stehen durch diese oft einseitigen und nicht individuell abgestimmten Grup- penangebote, meist explizit für Menschen mit Behinderung, die eigenen Bedürfnisse und Interessen der jeweiligen Individuen nicht im Fokus oder sie sind dem Einzelnen gar nicht mehr bewusst.

In der vorliegenden Arbeit werde ich mich kritisch-konstruktiv mit der Fra- gestellung auseinandersetzen, inwieweit die Heilpädagogik durch die Um- setzung neuerer Konzepte einen wesentlichen Beitrag zur inklusiven Frei- zeitgestaltung von Menschen mit Lernschwierigkeiten beitragen kann. Da- bei soll eine Antwort darauf gefunden werden, welche Barrieren für die Teilhabe aktuell existieren. Weiterhin wird beleuchtet, welche Vorausset- zungen auf gesellschaftlicher und individueller Ebene geschaffen werden müssen, um eine aktive Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Men- schen mit speziellen Bedürfnissen, konkret im Lebensbereich Freizeit zu gewährleisten. Letztendlich ist zu resümieren, welche Zukunftsperspektiven sich daraus für Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen eröffnen.

Nach einer kurzen Einführung des Personenkreises wird dargelegt, welche Bedeutung Freizeit im täglichen Leben von Erwachsenen mit Lernschwie- rigkeiten hat. Außerdem soll hervorgehoben werden, welche Besonderheiten bzw. Einschränkungen sich für den Personenkreis ergeben, und ein kurzer Abriss der momentanen Freizeitsituation von Menschen mit Lernschwierig- keiten gegeben werden. Danach wird das Wesen des Inklusionsgedankens dargelegt und davon ausgehend erörtert, was eine inklusive Gestaltung von Freizeitangeboten für alle bedeutet. Unter anderem wird auch darauf einge- gangen, welche strukturellen Voraussetzungen damit verbunden sind, der Vision einer inklusiven Bürgergesellschaft ein Stück näher zu kommen. In dem Zusammenhang werden aktuelle Barrieren für die Teilhabe aller an Freizeitangeboten im Gemeinwesen deutlich. Exemplarisch folgt die Erörte- rung einer Möglichkeit und den damit verbundenen Voraussetzungen, wie durch die Freizeitassistenz als ein angemessenes Angebot und Begleitungs- modell ein Beitrag in Richtung Inklusion geleistet werden kann. Denn da- durch kann der Mensch entsprechend den tatsächlich vorhandenen eigenen Bedürfnissen und Interessen Angebote wählen und seine Freizeit mit be- darfsorientierter Assistenz gestalten. Im Abschluss der Arbeit werden Schlussfolgerungen für die Heilpädagogik und Handlungsmöglichkeiten in diesem Zusammenhang abgeleitet.

Aufgrund der flüssigeren Lesbarkeit benenne ich jeweils nur die männliche oder weibliche Sprachform, wobei dies keinesfalls das andere Geschlecht ausschließt. Ich las einmal folgenden Satz von dem Paartherapeuten Jürg Willi: „Wenn man/ frau mit seiner/ ihrer Partner/ in zusammenleben will, so wird er/ sie ihr/ ihm in ihre/ seine oder sie/ er in seine/ ihre Wohnung zie- hen“[1]. Dies verdeutlicht meiner Meinung nach, dass die korrekte Ansprache beider Geschlechter auch sehr unübersichtlich werden kann und eine flüssi- ge Lesbarkeit verhindert. Ich hoffe auf Verständnis meiner Wahl der einfa- cheren Formulierung.

2 Personenkreis

Die Ausführungen dieser Arbeit beziehen sich auf den Personenkreis der erwachsenen Menschen mit Lernschwierigkeiten - meist als geistig behin- dert bezeichnet. Da in der Literatur und in Fachkreisen Diskussionen auf- tauchen, wie denn „geistige Behinderung“ oder ähnliche Begrifflichkeiten zu verwenden sind, ohne eine Stigmatisierung und Ausgrenzung dieser Menschen vorzunehmen, folgt eine kurze Definition und Stellungnahme zur Benutzung des Terminus, welcher in der vorliegenden Arbeit verwendet wird.

2.1 Definitionen

Bevor konkret auf die geistige Behinderung eingegangen wird, folgt die allgemeine Definition von Behinderung nach der Weltgesundheitsorganisa- tion (WHO). Darin wird der Mensch in seinen ganzheitlichen Bezügen ge- sehen und die Behinderung als Ergebnis eines Wechselwirkungsgefüges anstatt eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs verstanden. Die Verfasse- rin wählt diese Sichtweise auf Behinderung, da das Hauptaugenmerk dieser Arbeit auf den Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderung liegt.

2.1.1 Behinderung laut WHO

Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO sieht die Behinderung eines Menschen „( ) in der Störung der gesellschaftlichen Teilhabe der Person ( )“ (Dieckmann 2009, S. 40). Sie wird ( ) als eine Abweichung von einem normativ erwarteten Zustand der funktionalen Gesundheit aufgefasst. Ein Gesundheitsproblem ( ) kann in Wechselwirkung mit Umweltbedingungen und personenbezogenen Faktoren auf der organismischen Ebe- ne zu Schädigungen von Körperfunktionen und -strukturen, auf der individuellen Ebene zu Beeinträchtigungen bei der eigenständigen Ausführung von Aktivitäten und auf der gesellschaftlichen Ebene zu Einschränkungen der Teilhabe am gesell- schaftlichen Leben, an materiellen und immateriellen Gütern führen (ebd., S. 41).

„Behinderungen sind über Schädigungen im Zusammenwirken mit Beein- trächtigungen der Aktivität und Teilhabe zu betrachten“ (Biewer 2009, S. 72). Grundsätzlich können mit der ICF jedoch alle mit Gesundheit in Zu- sammenhang stehenden Zustände dargestellt werden (vgl. WHO 2005, S. 13).

Der Aspekt der Teilhabe wird laut der WHO in Bezug auf alle Lebensberei- che und für den Menschen bedeutenden Aktivitäten gesehen (vgl. Dieck- mann 2009, S. 41). Da demzufolge auch der Freizeitbereich dazu gehört, ist diese Betrachtungsweise von Behinderung in folgender Arbeit von Bedeu- tung.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass laut der WHO die Teil- habe an der Gesellschaft aufgrund einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren (Körperfunktionen, Aktivität, Partizipation, Umwelt- und personenbezogene Faktoren[2] ) beeinträchtigt wird. Es handelt sich um ein bio-psycho-soziales Modell, aufgrund dessen Behinderung klassifiziert werden kann. Letztend- lich bedeutet es für die Heilpädagogik auch, dass durch diese Klassifikation ihre Zielstellung die „( ) gleichwertige Partizipation an dem in einer Ge- sellschaft üblichen und bedeutenden Aktivitäten und Lebensbereichen ( )“ (ebd., S. 40) sein muss. Diese allgemeine Zielstellung schließt den Lebens- bereich Freizeit als Gegenstand dieser Arbeit ein.

2.1.2 Geistige Behinderung

Die Bezeichnung „geistige Behinderung“ festigte sich erst in den 1950er Jahren im deutschen Sprachgebrauch und löste zu diesem Zeitpunkt vorher verwendete Benennungen wie unter anderem „Oligophrenie“, „Schwach- sinn“ oder „Idiotie“ ab. Sie war von der Elterninitiative „Lebenshilfe“ nach dem Vorbild der englischsprachigen Begrifflichkeit „mental retardation“ gefestigt worden (vgl. Hülshoff 2005, S. 306). Verschiedene Definitionen beziehen den Terminus beispielsweise auf bestimmte Abstufungen der Intel- ligenzminderung oder auch auf die Interaktionsfähigkeit des Menschen in Bezug auf seine Umwelt. In der Medizin zum Beispiel ist eine geistige Be- hinderung „( ) ein durch das Symptom Intelligenzminderung charakteri- siertes Syndrom, das aber nicht selten mit anderen Symptomen einhergeht (körperliche Auffälligkeiten und Anomalien, Sinnesstörungen)“ (Neuhäuser 2000, S. 32).

Aus psychologischer Sichtweise lässt sich zusammenfassend feststellen, dass sich die Bezeichnung „( ) auf Merkmale von Menschen (bezieht), die einhergehend mit eingeschränkter intellektueller Leistungsfähigkeit Proble- me haben, ihren Lebensalltag selbständig zu meistern“ (Steinebach 2000, S. 41). Es gibt demzufolge abhängig von der Betrachtungsweise und Professi- on verschiedene Ansätze, geistige Behinderung zu definieren. Dies zeigt, dass eine eindeutige und richtige Definition nicht existiert.

Erklärungen mit eben benanntem Fokus auf das „Fehlende“ stellen jedoch die Behinderung eines Menschen vor den Menschen an sich mit seiner ein- zigartigen Persönlichkeit in den Mittelpunkt. Diese Sichtweise zeichnet sich durch Defizitorientierung aus. Dadurch wird diese Bezeichnung zur Stigma- tisierung. Es kann zu eingeschränkter Teilhabe an verschiedenen Lebensbe- reichen kommen, was wiederum ein Indiz für das Bewusstsein von Behinde- rung ist. Da diese Problematik den Betroffenen, (heil-/pädagogischen) Fachkreisen und auch der interessierten Öffentlichkeit bewusst ist, gibt es eine Diskussion über die Verwendung der Begrifflichkeit, welche im fol- genden Abschnitt erläutert wird.

2.1.3 Diskussion der Begrifflichkeit

Die allgemeine Bezeichnung der Behinderung ist unklar und nicht als Be- griff einfach hinzunehmen. Eher kann man die Haltungen gegenüber soge- nannten Behinderungen eingrenzen und definieren. Es lässt sich die „defektologische Haltung“ der „dialogischen Haltung“ (Hinz 2000, S. 70) gegenüberstellen. Wie der Begriff schon sagt, bezieht sich die defektologische Haltung auf das Negative und Fehlende einer Person und bemüht sich um Behebung und Kompensation dieser sogenannten Fehler. Der Mensch wird dadurch als nicht eigenständig handelndes Objekt ver- standen und mit diesem Stigma der Behinderung versehen. Das Haupt- merkmal der dialogischen Haltung hingegen ist der Blick auf die Fähigkei- ten einer Person. Davon ausgehend wird der Mensch unter Wahrung von Selbstbestimmung und Kompetenzorientierung in seiner Weiterentwicklung unterstützt. Diese Haltungen finden sich unbewusst in der Begegnung mit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen wieder (vgl. Hinz 2000, S. 70).

Aufgrund des Bewusstseins der Stigmatisierung Betroffener durch die Be- zeichnung „geistig behindert“ tauchen in der Literatur Vorschläge für Alter- nativen auf. Es wird unter anderem davon ausgegangen, dass Behinderung als solche nicht existiert, sondern von der Gesellschaft produziert wird. So proklamiert Feuser (2000): „Geistigbehinderte gibt es nicht!“ (S. 162).

Wenn man von der Theorie der geistigen Behinderung in Abhängigkeit der Intelligenzminderung ausgeht, stellt sich die Frage, ob Intelligenz tatsäch- lich in bestimmten Tests aus der Summe verschiedener kognitiver Kompe- tenzen gemessen werden kann (vgl. Hülshoff 2005, S. 307). Diese Klassifi- kation stellt eher eine bewertende subjektive Sichtweise dar, die mit einer von der Gesellschaft festgelegten Norm verglichen wird und sich negativ auf das Bild dieser Person auswirkt. Solche Tests geben nach Ansicht der Verfasserin nicht alle Aspekte einer Persönlichkeit wieder und minimieren die Person somit auf bestimmte normierte und punktuelle Aspekte, die das Gesamtbild der Person einschränken. Damit diese als wesentlich negative Eigenschaft einer Person nicht ausschließlich als Etikett gesehen wird, ist man auf der Suche nach weniger stigmatisierenden Bezeichnungen. Da- durch soll „( ) der Blick für ein (pädagogisches) Denken und Handeln ge- öffnet (werden), das auch Kompetenzen, positive Fähigkeiten, individuelle Bedürfnisse und Potentiale von Menschen, die als geistig behindert be- zeichnet werden, zu würdigen weiß“ (Theunissen 2002, S. 97).

Als alternative Bezeichnung taucht unter anderem „Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung“ auf. Diese verdeutlicht nach Aussage von Befürwortern „( ) den qualitativen Unterschied zwischen Geist und Gehirn ( )“ (Wikipedia 2010, S. 13). Kritisch betrachtet, deckt dieser Begriff jedoch wieder nur einen Aspekt der Persönlichkeit des Menschen ab und vermindert die stigmatisierende Wirkung keinesfalls.

Auch „Menschen mit besonderen Fähigkeiten“ taucht als bevorzugte alter- native Benennung für „geistig Behinderte“ auf (vgl. ebd., S. 14), welche definitiv positiv formuliert und stärkenorientiert ausgerichtet ist. Diese Be- zeichnung ist jedoch einerseits noch nicht weit verbreitet und könnte ande- rerseits den Trugschluss zulassen, dass es sich um Menschen mit „Hochbe- gabungen“ handelt.

Es besteht bei der Suche nach Alternativbezeichnungen allgemein die Ge- fahr, sich in Wortklaubereien und Synonymen zu verlieren, die sich augen- scheinlich von der stigmatisierenden Bezeichnung entfernen wollen, jedoch letztendlich keine tiefgreifende Änderung der Sichtweise in den eingefahre- nen Denkweisen der Gesellschaft erreichen. Es ist ein langwieriger Prozess der Aufklärungsarbeit und Sensibilisierung, der einen Wandel bewirken kann. Nicht allein die Umbenennung von „geistiger Behinderung“ in ein Äquivalent kann dies von heute auf morgen erzielen. Eine alternative Be- zeichnung könnte diesem Prozess jedoch förderlich sein.

Es gibt auf der anderen Seite auch die fachwissenschaftlichen Personen- gruppen, die „( ) zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Verständigung halber und aus politischen Gründen ( ) am Leitbegriff geistige Behinderung noch fest(halten)“ (Theunissen 2002, S. 96). Diese vertreten ihre Meinung unter anderem damit, dass im interdisziplinären Kontext noch keine einheitliche alternative Bezeichnung vorhanden ist. Damit jedoch alle Beteiligten wis- sen, um welchen Sachverhalt es geht, wird der altbekannte Terminus bevor- zugt, wobei jede Fachrichtung wieder ihre eigene Definition und Sichtweise darauf hat.

Die Stigmatisierung des geistig Behinderten ist jedenfalls so allgegenwärtig, dass auch die Betroffenen selbst dies als Abgrenzung wahrnehmen und sich aus dieser einseitigen Betrachtungsweise befreien wollen. Hierzu ein Bei- spiel:

Ein junger Mann, der aufgrund einer spastischen Lähmung im Rollstuhl sitzt, kann sich nur unter großer Anstrengung lautsprachlich verständigen. Dieser fühlt sich je- des Mal sehr gekränkt, wenn ihn fremde Personen als „behindert“ - Menschen ohne Kenntnisse in diesem Bereich sogar oft als „geistig behindert“ - einstufen und dem- entsprechend entmündigend behandeln. Er ist kognitiv nicht mehr beeinträchtigt als manch andere Person ohne bestimmte Beeinträchtigung. Selbst sagt er von sich, er sei eben eine Person im Rollstuhl, die gewisse Erschwernisse zu meistern hat. Er wünscht sich, dass andere Menschen ihm ohne Vorurteile entgegengehen.

Auch Selbstvertretungsorganisationen wie „Mensch zuerst - Netzwerk People First“ wollen sich von der stigmatisierenden Bezeichnung der geisti- gen Behinderung entfernen und fordern: „Wir wollen den Begriff „geistig behindert“ abschaffen. Wir finden den Begriff „Menschen mit Lernschwie- rigkeiten“ besser“ (Mensch zuerst 2008, S. 1). Dieser verdeutlicht in jedem Fall den Aspekt der Schwierigkeiten im Bereich des Lernens. Diese Be- zeichnung bringt meines Erachtens die Problematik am deutlichsten zum Ausdruck, auch wenn es bei dieser Begrifflichkeit ebenso noch ein längerer Weg bis zur vollständigen Akzeptanz ist. Aufgrund dessen und der Aussage von Experten in eigener Sache wird die Verfasserin dieser Aufforderung nachkommen und in dieser Arbeit vom Personenkreis der Menschen mit Lernschwierigkeiten sprechen.

3 Der Lebensbereich Freizeit

Der Lebensbereich Freizeit wird im allgemeinen Sprachgebrauch oft als derjenige bezeichnet, der frei von Arbeit und Verpflichtungen ist. Für den Großteil der Bevölkerung ist es diejenige Zeit , die jeder einzelne zur frei en Verfügung hat, um sie für unterhaltsame Zerstreuung, Geselligkeit oder Weiterbildung nach eigenem Ermessen zu nutzen. Assoziationen mit dem Begriff sind zumeist positiv, es können jedoch auch negative Gedanken da- mit einhergehen (vgl. Markowetz 2009, S.176). Weiterhin spielt Freizeit eine große Rolle bei der Selbstverwirklichung und ist „Ausdruck von Le- bensqualität, sozialer Anerkennung und des Integriert-Seins“ (ebd., S. 177). Im folgenden Abschnitt folgt der Versuch einer Definition des Begriffs Freizeit und es werden die wesentlichen Aspekte erläutert. Weiterhin wird es in diesem Teil einen kurzen historischen Abriss über das Freizeitver- ständnis verschiedener Zeiten geben sowie die Übertragung auf die Bedeu- tung des Lebensbereichs Freizeit bei Menschen mit Lernschwierigkeiten.

3.1 Erklärungsansätze und Definition

Eine allgemein akzeptierte und normierte Definition von Freizeit gibt es nicht. Im Brockhaus (2006) ist folgende Definition zu lesen: „Der (im Einzelnen unterschiedlich definierte) Teil der menschl. Lebenszeit, der nicht durch die Erfüllung berufl. oder berufsähnl. Verpflichtungen und physiol. Grundbedürfnisse (Ernährung, Schlaf, Körperpflege) gebunden ist und dem Menschen zur freien Verfügung offen steht“ (S. 741). Sogar dort wird auf unterschiedliche Betrachtungsweisen verwiesen.

Auch inhaltlich versteht jeder Mensch etwas anderes unter einer zufrieden- stellenden Freizeitgestaltung. Eine Tätigkeit, die dem Einen größte Freude und Erfüllung bereitet, kann für den Anderen große Anstrengung, Lange- weile oder Stress bedeuten. Aus diesem Grund ist inhaltlich schon einmal keine allgemeine Definition von optimaler oder positiver Freizeitgestaltung festzuhalten, da diese subjektiv sehr verschieden sein kann. Hofmann (1995) führt an, dass (e)ine Freizeitgestaltung dann als positiv anzusehen (ist), wenn für den einzelnen / die einzelne dabei Erholung und Entspannung, Ablenkung und Zerstreuung, Lernen und Weiterbildung, Selbstbesinnung und Selbstfindung, Mitteilung und Partner- schaft, Beteiligung und Engagement, Sozialorientierung und gemeinsame Lernerfah- rung sowie kulturelle Selbstentfaltung und Kreativität erreichbar sind (S. 109).

Im Bereich der Freizeitforschung gibt es verschiedene Ansätze zur Erklärung des Verhaltens in der Freizeit. Der Freizeitforscher Opaschowski (1987) listet folgende auf:

- Erholungstheorie (Erholung als zentrale Funktion der Freizeit)
- Kompensationstheorie (Freizeit als Ausgleich von Mängeln und Versagun- gen)
- Katharsistheorie (Freizeit als Befreiungselement für unterdrückte Emotio- nen)
- Ventiltheorie (Freizeit als Ventil zum Abreagieren überschüssiger Ener- gien)
- Konsumtheorie (Freizeit als Mittel des Verbrauchs und Verschleißes)
- Kontrasttheorie (Freizeit als deutlicher Gegensatz zur Arbeit)
- Kongruenztheorie (Freizeit als arbeitsähnlicher Lebensbereich)
- Absorptionstheorie (Freizeit als Aufsaug- und Kanalisationsinstrument für Arbeitsunzufriedenheit)
- Selektionstheorie (Freizeit als Ausleseprodukt von biographischer Entwick- lung und Lebensgeschichte)
- Sozialisationstheorie (Freizeit als abhängiger Faktor von Bildungs- und Er- ziehungsprozessen) (S. 82 -83)

Diese Theorien beachten jedoch jeweils nur einen Einflussfaktor auf diesen Lebensbereich und vernachlässigen den Gesamtzusammenhang. In den meisten Ansätzen spielt die Freizeit als Gegenpol der Arbeit eine Rolle, was die Freizeit von der Arbeit determiniert und damit einen negativen Freizeit- begriff zur Folge hat (vgl. ebd., S. 84). Opaschowski (1987) vertritt selbst die Auffassung, dass es sich um einen „ positiven Freizeitbegriff “ (S. 85) handelt, weil jedem Menschen in diesem Zeitabschnitt „freie Wahlmöglich- keiten, bewußte (sic!) Eigenentscheidung und soziales Handeln“ (ebd.) er- öffnet werden. Er äußert ebenfalls, dass die berufliche Verpflichtung eines Menschen zwar zu den verschiedenen Tätigkeitsbereichen gehört und auch wichtig ist, jedoch nur einen Teil dieser ausmacht (vgl. ebd., S. 86). Hierzu führt Markowetz (2009) aus:

Statt von Arbeit und von Freizeit spricht Opaschowski von ‚Lebenszeit, die durch mehr oder minder große Dispositionsfreiheit und Entscheidungskompetenz charakterisiert ist. Je nach vorhandenem Grad an freier Verfügbarkeit über Zeit und entsprechender Wahl-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit lässt sich die gesamte Lebenszeit als Einheit von drei Zeitabschnitten kennzeichnen:

1. Der frei verfügbaren, einteilbaren und selbstbestimmbaren Dispositionszeit (= ‚Freie Zeit‘ - Hauptkennzeichen: Selbstbestimmung)
2. Der verpflichtenden, bindenden und verbindlichen Obligationszeit (= ‚Gebundene Zeit‘ - Hauptkennzeichen: Zweckbestimmung)
3. Der festgelegten, fremdbestimmten und abhängigen Determinationszeit (= ‚Abhängige Zeit‘ - Hauptkennzeichen: Fremdbestimmung)‘ (S. 176-177).

Dieser positive Freizeitbegriff ist ausnahmslos auf alle Personen der Bevölkerung übertragbar, gilt deshalb auch uneingeschränkt für Menschen mit spezifischen Lernschwierigkeiten (vgl. Opaschowski 1987, S. 86).

3.2 Historische Entwicklung des Freizeitverständnisses

Die Sichtweise auf die Freizeit war im Laufe der Geschichte einer Entwick- lung unterzogen, sodass sich deren Verständnis immer wieder wandelte, abhängig vom Zeitgeist und der aktuell vorherrschenden gesellschaftlichen Situation. Es folgt nun ein kurzer Abriss zur Entwicklung des Freizeitden- kens.

3.2.1 Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert

Ein Wandel des Verständnisses von Freizeit und das auch heute nicht ein- heitliche Verstehen der Bezeichnung lässt sich eher nachvollziehen, wenn man die Entwicklung des Freizeitgedankens anhand der exemplarisch aus- gewählten, unterschiedlichen Auffassungen im Laufe der Zeit betrachtet.

Anfang des 19. Jahrhunderts wurde vor allem in der Pädagogik von Freizeit gesprochen, wenn die Kinder Zeit für Dinge des Vergnügens und der freien Beschäftigung hatten, welche außerhalb des Lernens lagen. Im 20. Jahrhun- dert entwickelte Nahrstedt ein Freizeitverständnis, welches auf die Annah- men aus der Zeit der Aufklärung aufbaute. Seine Kernaussage lautet, dass diese Zeit frei von Fremdbestimmung ist. Marx hingegen legte den Fokus darauf, inwieweit Freizeit die Produktivität des Staats anregen kann. Da die Zeit eben frei von Arbeit und damit positiv für die Erholung und Selbstent- faltung eines Menschen ist, wirkt sie sich indirekt positiv auf die Produktivität des Einzelnen aus (vgl. Markowetz 2000b, S. 9-10).

Es lässt sich außerdem eine stetig wandelnde Hauptcharakteristik von Frei- zeit seit den 50er Jahren bis heute feststellen. Damals galt diese Zeit vor allem zur Erholung von der Arbeitstätigkeit. Zum Ende dieses Jahrzehnts lag der Fokus hauptsächlich auf der Familie als Raum für Freizeitbeschäfti- gung. Durch das Aufkommen unter anderem des Fernsehers wandelte sich seit den 60er Jahren bis in die 70er Jahre das Interessenspektrum vor allem hinsichtlich Konsumorientierung, besonders von den Medien. In den 80er Jahren wurde die Freizeit vor allem für gemeinsame Erlebnisse genutzt. Die Bedeutung der Ruhe und das Nutzen der Zeit für Entspannung nahm dann in den 90er Jahren zu. Außerdem kommen Freizeitmedien elektronischer Art hinzu (vgl. Brumberg 2010, S. 3).

Da auch innerhalb der jeweiligen Jahrhunderte bzw. Jahrzehnte unterschiedliche Gedankenströmungen und Ansichten vorherrschten, ist diese Zusammenfassung nur ein Anriss des Freizeitverständnisses und soll verdeutlichen, dass die Wahrnehmung des Bereichs Freizeit auch in der Geschichte schon sehr verschieden war.

3.2.2 Aktuelle Sichtweisen

Auch die aktuellen Forschungen und Definitionen dieses Bereichs des menschlichen Lebens sind, wie schon erwähnt, keineswegs strukturierterer oder einheitlicher. Man kann vor allem zwei unterschiedliche Gedanken- gänge herauskristallisieren. Zum einen bestand die Ansicht von Freizeit als Gegensatz zur Arbeitszeit, als solche, die zur freien Verfügung steht. Zum anderen wurde sie als Lebensbereich neben anderen Bereichen wie unter anderem Wohnen und Arbeit gesehen (vgl. Markowetz 2000b, S. 10). Empi- rische Studien belegen, dass die Wahrnehmung von Freizeit in der Gesell- schaft nicht mehr ausschließlich als abgetrennter Bereich zu verstehen ist, sondern sich in den verschiedensten Lebensbereichen auch Aspekte der Freizeit finden lassen. Diese subjektive Wahrnehmung ist jedoch individuell sehr verschieden.

Den positiven Freizeitbegriff nach Opaschowski hat die Verfasserin beim Versuch der Definition und Konkretisierung näher ausgeführt. Wenn im Folgenden jedoch vom Bereich Freizeit geredet wird, ist dieser im Sinne des „ganzheitlichen Lebenskonzept“ (Opaschowski 1994, zitiert nach Marko- wetz 2000b, S. 11) als eigenständiger Lebensbereich eines jeden Menschen zu verstehen. Für die Verfasserin bedeutet Freizeit demnach auch, dass in diesem essentiell wichtigen Bereich des menschlichen Lebens Zeit für selbstbestimmte und frei gewählte Handlungen sein sollte und die äußeren Einflüsse so gering wie möglich, beziehungsweise so positiv beeinflusst wie das jeweilige Individuum es wünscht, sein sollten.

3.2.3 Freizeitverhalten von Menschen mit Lernschwierigkeiten im historischen Kontext

In der Literatur finden sich wenig Informationen über den Lebensbereich Freizeit bei Menschen mit Lernschwierigkeiten in früheren Kontexten. Da historisch gesehen diesen Menschen bis vor einigen Jahrzehnten noch aus- schließlich mit der defektologischen Haltung begegnet wurde, hatten sie zumeist keine Entscheidungs- oder Wahlfreiheit über eventuell freie Zeit. Wenn man die Sichtweisen im Laufe der Geschichte betrachtet, wurde den Menschen Freizeit oft als Erholung zur Arbeitstätigkeit zugestanden, zur Kraftschöpfung für neue Produktivität oder auch zum Beispiel zur kollekti- ven Gemeinschaftsbildung, Weiterentwicklung und Bildungsmöglichkeit wie im Sinne der Aufklärung. Da den Menschen mit Lernschwierigkeiten diese Fähigkeit zur Weiterbildung und Weiterentwicklung oder auch pro- duktiver Tätigkeit in früheren Zeiten vollständig abgesprochen wurde, ist die Schlussfolgerung daraus, dass der Freizeit dieser Menschen laut diesem Verständnis keine besondere Beachtung geschenkt wurde.

So kann man lesen, dass in den 60er Jahren Anstrengungen der Sonderpä- dagogik fast nur in den Bereichen Schule, Arbeit und beruflicher Bildung unternommen wurden (vgl. Ebert 2000b, S. 43). Begriffe die eher in diesen historischen Kontext passen, sind die der Institutionalisierung und Fremdbe- stimmung. Aus dieser Sichtweise lässt sich demnach schließen, dass Fremd- bestimmung und Verwahrung handlungsleitende Prinzipien waren. Ohne die Beachtung von Rechten wie Selbstbestimmung und Teilhabe spielte auch die Freizeitgestaltung nach dem positiven Freizeitbegriff keine Rolle.

In den 70er und 80er Jahren erfasste schließlich der Rehabilitationsgedanke der Pädagogik auch den Freizeitbereich von Menschen mit Lernschwierig- keiten. Allmählich wuchs das Bewusstsein, dass jeder Mensch sein Leben lang lernfähig ist. Es wurden jedoch explizit für „Lernbehinderte“ oder „Verhaltensauffällige“ Freizeitmaßnahmen initiiert. Ebert (2000b) schreibt, dass „( ) die Frage nach den pädagogischen Zielen im Mittelpunkt (stand)“ (S.103). Der Grundgedanke dabei lautete, dass diese Personen durch den gezielten Erwerb von Freizeitkompetenzen darauf vorbereitet werden müs- sen, ihre Freizeit zu gestalten. „Bis weit in die 80er Jahre wurden Ein- schränkungen der Freizeit von Menschen mit geistiger Behinderung häufig als unmittelbare Auswirkung der geistigen Behinderung verstanden“ (ebd., S. 106).

Diese Vorstellung hält in manchen pädagogischen Kreisen bis heute an. Auch in der Heilpädagogik kamen erst ab den 90er Jahren zielgerichtet Ge- danken „( ) zur Emanzipation, zur subjektiv empfundenen Lebensqualität und zum Recht auf Selbstbestimmung in der Freizeit ( )“ (ebd., S. 104) auf.

3.3 Formen der Freizeitgestaltung

Um im Folgenden auch festzustellen, welche Form der Freizeitgestaltung für Menschen mit Lernschwierigkeiten zum einen attraktiv und gewünscht und zum anderen auch unter gegebenen Umständen zu gestalten ist, muss zuerst einmal festgehalten werden, welche Möglichkeiten der Freizeitgestaltung sich unterscheiden lassen. Es gibt verschiedene Unterteilungen, nach denen der Lebensbereich Freizeit eingeordnet werden kann.

Die Freizeitgestaltung kann zum Beispiel in die familiäre und außerfamiliä- re Beschäftigung eingeteilt werden (vgl. Markowetz 2000b, S. 27). Wie die Bezeichnung erahnen lässt, handelt es sich beim familiären Freizeitverhalten um die Gestaltung der Freizeit im Kreise der Familie beziehungsweise in deren Umfeld. Die Familie ist unmittelbar oder teilweise involviert, eine sowohl räumliche als auch konzeptionelle Trennung vom gewohnten häusli- chen Umfeld wird nicht hergestellt. Bei der außerfamiliären Freizeitgestal- tung, die sich außerhalb des häuslichen Umfelds, jedoch nicht zwingend ohne familiäre Beteiligung abspielt, handelt es sich unter anderem um Akti- vitäten wie die einer Vereinsteilnahme oder die Wahrnehmung von ver- schiedenen Kultur- und Sportveranstaltungen. Auch alle konsumorientierten Freizeitangebote wie Kino und der Besuch unterschiedlicher Erlebniswelten (z. B. Freizeitparks, Volksfeste usw.) lassen sich in diesen Bereich einord- nen.

Andere Bereiche der Freizeitgestaltung, die man konkret in Hinblick auf Menschen mit Lernschwierigkeiten betrachten könnte, sind die „Freizeitsi- tuation in Wohneinrichtungen und Heimen“ sowie „Erwachsenenbildungs- angebote für Menschen mit Behinderung“ und „Reisen, Urlaub und Touris- mus“ (Markowetz 2009, S. 178). Es ließen sich noch viele weitere Untertei- lungen und Kategorisierungen vornehmen, so gibt es beispielsweise Men- schen, die eher naturbezogene Freizeitgestaltung vorziehen oder gruppenbe- zogene Angebote bevorzugen. Die Bedeutung der verschiedenen Formen der Freizeitgestaltung wird im Laufe der Arbeit noch verdeutlicht werden. Es wird sich herausstellen, welche Formen weniger und welche mehr Hemmnisse und äußerliche Barrieren für die Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten beinhalten und in welchen Bereichen durch erschwerte Teilhabemöglichkeit mehr (heilpädagogische) Unterstützung für eine inklu- sive Freizeitgestaltung notwendig ist.

3.4 Der Lebensbereich Freizeit bei Menschen mit Lern- schwierigkeiten

Neben den Bereichen Wohnen und Arbeit gehört Freizeit zum allgemeinen Bestandteil des Lebens und ist damit wesentlich für das subjektive Wohlbe- finden des Menschen. Dies ist bei allen Personen ähnlich, wobei die einen dem Arbeiten, die anderen dem Bereich Freizeit mehr Bedeutung zukom- men lassen. Die Gründe können sehr verschieden und abhängig von unter- schiedlichen Lebensentwürfen sein. „Die konkrete Freizeitgestaltung und das Freizeitverhalten aller Menschen wird vor allem durch deren konkrete Lebenslage bestimmt und geformt“ (Ebert 2000b, S. 152). Freizeitgestaltung als positive Assoziation kann mit der Suche nach Abwechslung einhergehen (vgl. Wilken 1990, S. 467), die von den sonstigen Verpflichtungen ablenkt. Fakt ist, dass sich jedoch grundsätzlich keine Unterscheidung zwischen dem Freizeitbereich der Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten treffen lässt. Die Menschen haben verschiedene Interessen und bestimmte Bedürf- nisse variieren individuell. Diese Aspekte sind jedoch bei allen Personen- gruppen unterschiedlich ausgeprägt. Welche Faktoren sowie Besonderhei- ten, die trotzdem für Menschen mit Lernschwierigkeiten in diesem Lebens- bereich bestehen, das Freizeitverhalten beeinflussen, wird in den folgenden Kapiteln deutlich werden.

3.4.1 Einfluss des Freizeiterlebens auf die Lebensqualität

Grundsätzlich ist der Lebensbereich Freizeit für alle Menschen von Bedeu- tung. Welchen Stellenwert er für jeden Einzelnen hat, ist individuell ver- schieden und kann unterschiedliche Ursachen haben. Grundsätzlich unter- scheiden sich die Bedürfnisse von Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht von denen anderer Menschen (vgl. Markowetz 2000b, S. 12), weshalb der Stellenwert von Freizeit nicht allein an dieser Unterscheidung festgehalten werden kann. „Lebensqualität in der Freizeit umschreibt ein positives Le- bensgefühl, das für die meisten Menschen wünschens- und erstrebenswert ist“ (Opaschowski 2006, S. 289).

Festzustellen ist jedoch, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten oft in institutionellen oder anderen fremdbestimmten Kontexten leben. Demzufolge sind sie auf die Ansicht anderer, wie Freizeitbedürfnisse ausgelebt werden können, angewiesen. Festgelegte Freizeitangebote oder angeblich frei wählbare Angebote, die stark von pädagogischen Hintergrund- und Förderideen geprägt sind, gibt es zur Genüge. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese wirklich sinnerfüllend bzw. -erlebend sind.

Wie die historische Entwicklung gezeigt hat, sind noch Überzeugungen vorhanden, Menschen mit bestimmten Erschwernissen pädagogisch zu einer sinnvollen Freizeitgestaltung zu verhelfen. Dabei spielt auch die Ansicht eine Rolle, dass diese Menschen aufgrund ihrer Beeinträchtigung keine ei- genen Bedürfnisse entwickeln könnten. Deswegen werden unter anderem Maßnahmen zur Freizeitförderung und Beschäftigung angeboten. Aus sol- chen Sichtweisen ist ein fremdbestimmtes und sehr begrenztes Spektrum an Freizeitangeboten für Menschen mit Lernschwierigkeiten die logische Fol- ge. Dies grenzt wiederum die Teilhabemöglichkeiten und das „Recht auf Freizeit“ (Markowetz 2000b, S. 14) ein. Damit werden auch Wahlfreiheit und Persönlichkeitsentfaltung eines Menschen verletzt und die Lebensquali- tät[3] der Menschen leidet darunter. Es stellt sich dabei nämlich die Frage, ob solche Maßnahmen tatsächlich zur Sinnerfüllung und Lebensqualität bei Menschen mit Lernschwierigkeiten führen. Denn ein Merkmal der „( ) Lebensqualität in der Freizeit ( ) (ist) die Selbständigkeit, die persönliche Freiheit, die freiverfügbare Zeit selbst bestimmen und einteilen zu können“ (Opaschowski 2006, S. 290). Letztendlich muss jedoch erneut hervorgeho- ben werden, dass nicht ausschließlich eine körperliche oder geistige Beein- trächtigung für eingeschränkte Lebensqualität in der Freizeit verantwortlich sein muss. „Die Ursachen für Mängel in der Freizeitqualität können aber auch gesellschaftlich bedingt sein, wenn z. B. bestimmte Freizeitmöglichkeiten aus ökonomischen oder sozialen Gründen nicht für alle Bevölkerungsgruppen zugänglich oder regional und lokal (z. B. Stadt/Land) ungleich verteilt sind.“ (Opaschowski 2006, S. 292).

Da es sich um eine prozesshafte Entwicklung in diesem Lebensbereich han- delt und diese einer ständigen Weiterentwicklung unterworfen ist, kann Le- bensqualität in der Freizeit von jedem persönlich erfahren und entfaltet wer- den. Um dies zu erreichen, muss die Bedürfnisbefriedigung im Bereich Freizeit im Sinne einer selbstbestimmten Gestaltung, gegebenenfalls mit entsprechender Unterstützung, auf dialogischer Basis verfolgt werden. Um die wichtigsten Freizeitbedürfnisse eines Menschen soll es im folgenden Kapitel gehen.

3.4.2 Bedürfnisse in der Freizeitgestaltung

Unter anderem aufgrund verschiedener Wohn- und Lebenssituationen, des persönlichen Umfelds und der dadurch unterschiedlich starken Auswirkung der Erschwernisse, haben Menschen mit Lernschwierigkeiten unterschiedli- che Prioritäten in ihren Bedürfnissen in der Freizeit. Es lassen sich nach Opaschowski (1987) jedoch acht Grundbedürfnisse des Menschen festhal- ten, welche er in seiner Freizeit befriedigt wissen möchte: Rekreation, Kompensation, Edukation, Kontemplation, Kommunikation, Integration, Partizipation und Enkulturation (vgl. S. 92-94). Folgende Abbildung zeigt diese Bedürfnisse sowie die Anforderungen und Benachteiligungen, die sich für Menschen mit Lernschwierigkeiten ergeben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Einschränkungen der Freizeitbedürfnisse bei Menschen mit Lernschwierigkeiten (angelehnt an: Markowetz 2007, S. 262)

Diese Tabelle zeigt, dass sich einige Erschwernisse für Menschen mit Lern- schwierigkeiten in der Befriedigung ihrer Freizeitbedürfnisse ergeben. Da eine sinnstiftende und bedürfnisorientierte Freizeitgestaltung auf den Aus- gleich beziehungsweise die Verhinderung künftiger Bedürfnisdefizite ab- zielt, gilt es, die erschwerenden Besonderheiten in den Blick zu nehmen, um dort anzusetzen und der Benachteiligung entgegenzuwirken. Denn nach Stimmen aus den Reihen der Selbstvertretungsorganisationen, die Selbstbe- stimmung fordern, wollen Menschen mit Lernschwierigkeiten „( ) mitten im Leben stehen, als gleichberechtigte Bürger am gesellschaftlichen Leben teilhaben und vermehrt Einfluss auf ihre Lebenszeitgestaltung nehmen“ (Markowetz 2007, S. 268). Konkrete Erschwernisse und freizeitabhängige Determinanten werden in nachstehenden Abschnitten ausführlicher erörtert.

3.4.3 Exkurs: Freizeitkompetenz als Voraussetzung

Wie schon an der einen oder anderen Stelle angeschnitten, tritt des Öfteren die Meinung auf, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten zuerst einmal bestimmte Kompetenzen erwerben müssen, ehe sie ihre Freizeit selbstbe- stimmt gestalten können. Diese Vorstellung verdichtet sich bei den Perso- nen mit vielfältigen Lebenserschwernissen und größerem Unterstützungsbe- darf. Wahrgenommene Initiativlosigkeit und weitestgehende Unselbstän- digkeit können aufgrund verschiedener Faktoren wie z. B. Erziehung, Lebensumfeld und Anregungspotenzial entstehen. Die Unterstützung in der Freizeit beziehungsweise zur Erlangung von bestimmten Freizeitkompetenzen kann durchaus eine persönlichkeitsfördernde Wirkung haben (vgl. Ebert 2000b, S. 152). Hierzu folgen einige Überlegungen.

Ebert (2000a) vertritt den Standpunkt, dass die „ Freizeitgestaltung “ ( ) eine an Lernen und kommunikatives Handeln gebundene, dem eigenen Vermögen zugleich entspringende und von ihm begrenzte Leistung des Menschen (ist)“ (S. 124). Daraus ergibt sich, dass die Kompetenz zur Frei- zeitgestaltung umso eingeschränkter ist, je weniger der Mensch selbststän- dig fähig ist zu kommunizieren und je mehr Schwierigkeiten im Lernen be- stehen. Da jeder Mensch jedoch lernfähig ist, und dies das ganze Leben lang, müsste demzufolge jede Person auch die Fähigkeit zur selbstständigen Freizeitgestaltung ausbilden können. Aus diesem Gedankengang lässt sich schlussfolgern, dass einige Personen Unterstützung und Anregungspotenzial benötigen, um zur Stufe der selbständigen und selbstbestimmten Entschei- dungs- und Umsetzungstätigkeit zu kommen. Wenn Personen aufgrund bis- heriger Bevormundung, Fremdbestimmung oder ähnlichen persönlichkeits- hemmenden Umständen bestimmte Fähigkeiten zur Klärung eigener Interes- sen, zum Äußern von Wünschen oder das Bedürfnis nach Aktivwerden nicht ausgebildet haben, ist heilpädagogischer Handlungsbedarf gegeben.

Unter anderem „( ) sollte durch vielfältige Angebote versucht werden, verschüttete Initiativen freizulegen, Neugierverhalten und Interessenbildung zu wecken oder wieder zu beleben“ (Wilken 1990, S. 467). Dies bedeutet jedoch meines Erachtens nicht, dass der Alltag des Menschen pädagogisiert werden soll. Es geht um Anregungen, damit der Mensch seine Freizeit sinn- erfüllt erleben kann (vgl. Ebert 2000b, S. 54). Die Aufgabe des Heilpädago- gen sollte darin bestehen], die betroffene Person von der reagierenden zur agierenden Persönlichkeit zu ermuntern.

3.4.4 Determinanten der Freizeitgestaltung

In Folgenden sollen jene Faktoren thematisiert werden, die das Freizeitverhalten eines Menschen determinieren. Zuallererst sind dies personenspezifische und allgemeine Faktoren wie:

− Lebensalter
− materielle / finanzielle Faktoren − Geschlecht
− Regionalfaktor − Wohnfaktor
− Schul-/ Berufsbildung − Jahreszeit
− Freizeittrends und Medienwirkung
− die Beeinträchtigung / Lernschwierigkeit
− familiäres Umfeld (vgl. Markowetz 2007, S. 265).

Die Aufzählung dieser Faktoren verdeutlicht, dass die Beeinträchtigung bzw. Lernschwierigkeit und damit einhergehende Lebenserschwernisse nur einer von vielen Einflüssen ist, welcher die Teilhabemöglichkeiten an Frei- zeitangeboten beeinflusst bzw. die Qualität des Freizeitverhaltens determi- niert. Da in den Punkten ‚Beeinträchtigung‘ und ‚familiäres Umfeld‘ meines Erachtens weitere wichtige freizeitabhängige Faktoren stecken, die einen wesentlichen Einfluss auf das Freizeitverhalten und die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung haben, werden diese noch etwas detaillierter aufgegriffen.

Die Tatsache der Lernschwierigkeit ist ein Einflussfaktor an sich, jedoch geht damit auch einher, wie hoch der Schweregrad ist, ob diese Beeinträch- tigung schon ein Leben lang besteht oder erworben wurde, inwieweit sie wahrnehmbar ist und welche Prognose des Verlaufs besteht.

[...]


[1] Quelle unbekannt

[2] Diese Faktoren sind noch einmal unterteilt in Funktionsfähigkeit und Behinderung sowie Kontextfaktoren. Dazu lassen sich in der ICF detaillierte Angaben finden. Zur intensiven Auseinandersetzung mit der ICF sei an dieser Stelle auf WHO (2005) und einer prägnan- ten Zusammenfassung in Schuntermann (2005) verwiesen.

[3] Lebensqualität ergibt sich aus subjektiven (beispielsweise die Befriedigung eigener Bedürfnisse und das gesellschaftliche Zugehörigkeitsgefühl) und objektiven (sozio- ökologische Voraussetzungen) Merkmalen (vgl. Dieckmann 2009, S. 51). In diesem Zusammenhang geht es vor allem um das Wohlbefinden, welches sich aus der subjektiven Lebensqualität ergibt. Anzumerken ist jedoch, dass auch die objektive immer im Blick bleiben muss, da „( ) eine geäußerte Zufriedenheit bei objektiv schlechten Lebensumständen Veränderungen verhindern kann“ (Seifert 2006b, S. 384).

Ende der Leseprobe aus 115 Seiten

Details

Titel
Der Lebensbereich Freizeit bei Menschen mit Lernschwierigkeiten
Untertitel
Barrieren und Möglichkeiten auf dem Weg zu einer inklusiven Gestaltung
Hochschule
Hochschule Zittau/Görlitz; Standort Görlitz
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
115
Katalognummer
V182412
ISBN (eBook)
9783656128946
ISBN (Buch)
9783656132400
Dateigröße
817 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Freizeit, Menschen mit Behinderung, Lernschwierigkeiten;, Inklusion, inklusive Freizeitgestaltung
Arbeit zitieren
Magdalena Beyrich (Autor:in), 2010, Der Lebensbereich Freizeit bei Menschen mit Lernschwierigkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/182412

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