Hannah Arendt, Carl Schmitt und die Theorie der Politik

Vom Primat der Politik über die Ökonomie


Master's Thesis, 2011

96 Pages, Grade: 2,0 (CH: 5,0)


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Schmitts Theorie der Politik
2.1 Schmitts Politikverständnis
2.1.1 Unterscheidung zwischen Freund und Feind
2.1.2 Anthropologie, Staat und Politik
2.1.3 Internationale Ordnung
2.1.4 Souveränität und Dezisionismus
2.2 Schmitts Liberalismuskritik
2.2.1 Theorie der Zentralgebiete und deren Neutralisierungen
2.2.2 Die Auflösung des Politischen
2.2.3 Demokratie, Parlamentarismus und Diktatur
2.2.4 Schmitts Leviathan
2.3 Fazit

3 Arendts Theorie der Politik
3.1 Arendts Politikverständnis
3.1.1 Wasist Politik (nicht)?
3.1.2 Vorurteil und Urteil
3.1.3 Die Kriegsfrage und die Rolle von Macht und Gewalt in der Politik
3.1.4 Revolution und Rätesystem
3.2 Arendts Liberalismuskritik
3.2.1 (Markt-)Liberaler Imperialismus
3.2.2 Arendts Kritik an Hobbes’ politischer Theorie
3.2.3 Kapital und Mob und der Charakter des Imperialismus
3.2.4 Revolution, die soziale Frage und das öffentliche Glück
3.3 Fazit

4 Schlussfolgerungen

5 Bibliographie
5.1 Gedruckte Quellen
5.2 Internetressourcen
5.3 Sekundärliteratur

6 Anhang
6.1 Abkürzungsverzeichnis
6.2 Tabellenverzeichnis
6.3 Abbildung

1 Einleitung

Als während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 eine Vielzahl von Banken kolla­bierte, wurden Zweifel über die Verlässlichkeit und die Nachhaltigkeit des gegenwärtigen kapitalistischen Systems laut. Im Zentrum stand eine Debatte über die Rolle des Staates und dessen Pflicht, marode oder bankrotte Finanzinstitute vor dem Untergang zu retten. Die ge­genseitige Abhängigkeit von Politik und Ökonomie auf nationaler und internationaler Ebene wurde klar, als grosse Banken sich in einem solchen Masse als volkswirtschaftlich relevant erwiesen, dass deren Kollaps schwerwiegende Konsequenzen für Arbeitnehmende und Staatskassen nach sich gezogen hätte. Den Regierungen blieb also gar nichts anderes übrig, als jene Banken, die “too big to fail” waren, vor dem Bankrott zu bewahren und staatliche Gelder zur Verfügung zu stellen. Kritisiert wurde dabei, dass die vor der Krise erzielten Ge­winne in private Hände geflossen waren, während die Öffentlichkeit danach für den Schaden aufkommen musste und die Verluste sozialisiert wurden. Nach den Erfahrungen der Weltwirt­schaftskrise von 1929 war für Hans Morgenthau, den Theoretiker des Realismus in den Inter­nationalen Beziehungen, ein solcher Vorgang undenkbar gewesen, weswegen er in seinem Werk Politics among Nations konstatierte, dass ”historical evidence points to the primacy of politics over economics, and ‘the rule of the financier ... over international politics’ is indeed, in the words of Professor Schumpeter, ‘a newspaper fairytale, almost ludicrously at variance with facts’” (Morgenthau 2006: 62f.). Was offenbar auch für den bei Morgenthau zitierten Ökonomen Joseph Schumpeter nicht denkbar schien, wurde spätestens mit dem Vormarsch der neoliberalen Doktrin in der Wirtschaft möglich, obwohl das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft diesbezüglich bereits im 19. Jahrhundert kritisiert wurde. Erst die jüngste Fi­nanzkrise rief einer breiten Öffentlichkeit wieder ins Bewusstsein, welche Risiken in der libe­ralen Ökonomie liegen und was ihre Dominanz über die Politik bedeuten kann: Im Verlauf dieser Krise gingen mehr als dreissig Millionen Arbeitsplätze verloren (ILO 2010: 9f.) und die Regierungen stellten insgesamt mehr als 4,9 Billionen US$ zur Verfügung, um Finanzin­stitute zu retten (Sinn 2010: 266). In der Schweiz wurde nach der Finanzkrise eine Experten­kommission zusammengestellt, welche erörtern sollte, wie die sog. systemischen Risiken mi­nimiert werden können und über wieviel Eigenkapital die Banken in Zukunft verfügen müs­sen, damit sie geschäftsfähig bleiben und im Krisenfall nicht mehr auf die finanzielle Hilfe des Staates angewiesen sind. Ein Indiz für den Primat der Ökonomie über die Politik, ist al­leine schon die Zusammensetzung dieser Expertenkommission, die mehrheitlich aus Vertre­tern der Finanzbranche besteht und nicht aus Politikern. Jene, welche die Politik vertreten sollten, waren dazu auch noch auf die eine oder andere Weise mit der Wirtschaft verbunden.

Nachdem sich die Finanzbranche und die Wirtschaftsverbände hinter den Bericht der Exper­tenkommission stellten, wurde von der parlamentarischen Wirtschaftskommission ein Geset­zesentwurf für ein neues Bankengesetz ausgearbeitet. Als der Entwurf publik wurde, bemän­gelten die Wirtschaftsakteure, dass er in bestimmten Punkten nicht mit dem Expertenbericht übereinstimmen würde und deshalb angepasst werden müsse - ein weiterer Versuch der Öko­nomie an zentraler Stelle auf die Politik Einfluss zu nehmen (Hanimann/Surber 2011: 15f.). Nachdem hier kurz aufgezeigt werden konnte, dass in weiten Teilen der gegenwärtigen Welt­öffentlichkeit ein Primat der Ökonomie über die Politik herrscht und dieser Zustand vermut­lich zweifelhaft ist, stellt sich die Frage, ob es stattdessen normative Rechtfertigungsgründe für einen Primat der Politik über die Ökonomie gibt. Aus dieser Frage und der oben beschrie­benen Problematik leitet sich denn auch das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit ab. Dieses soll - wegen ihrer dezidierten Kritik am Liberalismus - anhand der politischen Theo­rien von Carl Schmitt (1888-1985) und Hannah Arendt (1906-1975) untersucht werden, wo­bei folgende Fragestellung im Zentrum steht: Welche Argumente in den politischen Theorien von Arendt und Schmitt lassen sich für die Legitimation eines Primats der Politik vor der Ökonomie fruchtbar machen?

Das Ziel dieser Arbeit ist nicht der Gewinn einer Synthese der politischen Philosophien von Arendt und Schmitt, sondern eine Nebeneinanderstellung und Untersuchung deren Ar­gumente. Zu unterschiedlich sind die beiden Personen in Bezug auf ihre Biographie und ihre politischen Theorien. Deshalb sollen in den nächsten zwei Kapiteln in ähnlicher Struktur zu­erst die zentralen Aussagen von Schmitts, dann von Arendts Politikverständnis dargestellt werden. Der zweite Teil dieser beiden Kapitel widmet sich dannjeweils der Kritik, welche die beiden Autoren am Liberalismus üben. Im letzten Kapitel werden die Argumente verglichen und analysiert, so dass schliesslich die Fragestellung beantwortet werden kann.

2 Schmitts Theorie der Politik

Carl Schmitt ist einer der einflussreichsten und kontroversesten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Politisiert durch die Ereignisse des Ersten Weltkriegs, schrieb Schmitt - ein ausgebildeter Jurist - während den 1920er Jahren gegen die Weimarer Verfassung, den Gen­fer Völkerbund und den Versailler Vertrag an.[1] Dabei legte er seine Argumente insbesondere gegen den seiner Meinung nach herrschenden Rechtspositivismus, den Normativismus und die aus dem 19. Jahrhundert übernommenen liberalen Prinzipien in der Politik dar (Müller 2007: 30f., 37-39). Trotz seiner zunächst kritischen Haltung gegenüber dem Nationalsozia­lismus trat Schmitt 1933 der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) bei und schritt mit seinen Texten zur Rechtfertigung der Diktatur Adolf Hitlers über. Als Tief­punkt kann dabei der unrühmliche Aufsatz Der Führer schützt das Recht bezeichnet werden, „einer der beschämendsten Texte, die je ein bedeutender Kopf geschrieben hat“ (Hösle 2001: 140). Darin rechtfertigt und verteidigt Schmitt die Morde, welche im Zuge des Röhm-Put- sches im Sommer 1934 begangen wurden: Hitler sei berechtigt gewesen über das Schicksal der Führungsriege der Sturmabteilung (SA) um Ernst Röhm selber zu entscheiden, denn „[a]us dem Führertum fließt das Richtertum“, d.h., „[d]er wahre Führer ist immer auch Richter“ (Schmitt 1940: 200). Solche und andere Rechtfertigungsakte des Naziregimes und ihrer Verbrechen brachten Schmitt ausserhalb Deutschlands alsbald die Bezeichnung „Kronjurist des Dritten Reichs“ (Müller 2007: 50) ein. Trotz diesen unverzeihlichen Entgleisungen und Schmitts „amoralische[r] Philosophie“ (Hösle 2001: 139) insgesamt, ändert sich nichts daran, dass Schmitt einige für die politische Philosophie wichtige Texte verfasst hat, die auch für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind. Insbesondere sollen hier die Politische Theologie I (1922), Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), Der Begriff des Politischen (1932) und Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938) be­rücksichtigt werden.

2.1 Schmitts Politikverständnis

2.1.1 Unterscheidung zwischen Freund und Feind

In seinem bekanntesten Werk Der Begriff des Politischen, das 1927 erstmals erschien und 1932, 1933 und 1963 in neuen Fassungen herausgegeben wurde, legt Schmitt sein Ver­ständnis des Politikbegriffs dar (Mehring 2007: 511). Zunächst unterscheidet er zwischen dem Staat und dem Politischen, zwei Begriffe, die seiner Meinung nach zu oft miteinander ver­mengt werden. Obwohl Schmitt die beiden Begriffe nicht gleichsetzt, sieht er sie in einer ge­genseitigen Abhängigkeit, denn ,,[d]er Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“ (Schmitt 2009a: 19). Der Staat als „ein besonders gearteter Zustand eines Volkes“ (Schmitt 2009a: 19) erhält sein Wesensmerkmal nur durch ein klares Verständnis des Politi­schen. Damit dieses bestimmt werden kann, bedarf es der Festlegung von „spezifisch politi­schen Kategorien“ (Schmitt 2009a: 25), die eine Unterscheidung zulassen, auf die politische Inhalte zurückgeführt werden können. Diese Unterscheidung sieht Schmitt in der Differenzie­rung zwischen Freund und Feind, die er als „eine Begriffsbestimmung im Sinne eines Kriteri­ums, nicht als erschöpfende Definition oder Inhaltsangabe“ (Schmitt 2009a: 25) betrachtet. Wie sich noch zeigen wird, handelt es sich beim Freund-Feind-Gegensatz aber trotzdem um eine Art Hauptmerkmal von Politik, da sich viele weitere Differenzierungen aus diesem Ge­gensatz ableiten lassen. Seinen Sinn erhält das Freund-Feind-Begriffspaar dadurch, dass eine „reale Möglichkeit der physischen Tötung“ (Schmitt 2009a: 31) besteht, denn der Begriff des Feindes ergibt sich aus der „im Bereich des Realen liegenden Eventualität des Kampfes“ (Schmitt 2009a: 31). Der Feind ist dadurch charakterisiert, „daß er in einem besonders inten­siven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind“ (Schmitt 2009a: 26). Eine Folge der Feindschaft kann, aber muss nicht, der Krieg sein, welcher „nur die äußerste Realisierung der Feindschaft“ (Schmitt 2009a: 31) ist. In dieser Logik wird jeder konkrete Gegensatz für Schmitt umso politischer, je stärker er sich dem Freund-Feind-Gegensatz nähert. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil ihm zufolge in jedem politischen Begriff ein polemischer Sinn innewohnt. Aus der Begriffsbedeutung des pólemos (Auseinandersetzung, Streit, Krieg) bzw. polémios (Feind im Krieg) ergibt sich so das Feindbild gegen das man sich selber abgrenzen kann. Nicht zu verwechseln ist derpolé- mios aber mit dem echthrós (Feind): Dieser auf Platon[2] zurückzuführende Unterschied zeigt gem. Schmitt auf, dass der Feind nicht mit einem privaten Gegner oder Konkurrenten, den zu töten man kein Recht hat, zu verwechseln sei (Schmitt 2009a: 27-29). Den Feind zu töten kann jedoch legitim sein, nicht aber aufgrund einer privaten, sondern einer politischen Ent­scheidung - und diese Entscheidungsgewalt liegt beim „Staat als einer wesentlich politischen Einheit“ (Schmitt 2009a: 42). Weil der Staat über das ius belli (Kriegsrecht) verfügt, hat er die Befugnis „von Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft zu verlangen“ (Schmitt 2009a: 43). Nur der Staat als politische Einheit hat also das Recht über Leben und Tod zu entscheiden, weshalb der Feind immer ein öffentlicher und nie ein privater ist (Schmitt 2009a: 27). Problematisch an Schmitts Argumentation ist aber folgender Wider­spruch: Wenn im Fall des Feindbildes öffentlich mit staatlich gleichgesetzt wird, so scheitert Schmitts Politikbegriff, der sich ja explizit darauf beruft, dass der Staat und das Politische unterschieden werden müssen. Andernfalls wird das Politische immer erst durch die Feind­schaft zwischen den Völkern ermöglicht (Marti 2008b: 186).

Wenn wir von diesem Widerspruch vorerst absehen, dann erhält Schmitts Argument mit der Unterscheidung zwischen Innen und Aussen eine weitere Dimension. Diese Differenzie­rung rührt für Schmitt daher, dass in seiner Gegenwart der Begriff politisch oft mit parteipoli­tisch gleichgesetzt wird. Dass Parteipolitik mit Politik verwechselt wird, ist für Schmitt nur deshalb möglich, weil innerstaatliche Gegensätze stärker geworden sind als der Fokus auf den gemeinsamen Feind ausserhalb des Staates. In diesem Fall kann auch nicht mehr von Krieg gesprochen werden, sondern lediglich von Bürgerkrieg, den Schmitt jedoch als problematisch bewertet (Schmitt 2009a: 30f.). Aus seiner persönlichen Perspektive betrachtet mag dies ver­ständlich sein, da Schmitt sich im Frühling 1919 in München selbst in einem Bürgerkrieg wiederfand nachdem kommunistische Revolutionäre dort die Räterepublik ausgerufen hatten (Müller 2007: 31). Allerdings rechtfertigt Schmitt den Bürgerkrieg auch als Mittel um den Staat im Innern zu befrieden. Dabei bestimmt „der Staat als politische Einheit von sich aus, solange er besteht, auch den ,innern Feind’“ (Schmitt 2009a: 43), wobei der Bürgerkrieg dann über „das weitere Schicksal dieser Einheit“ (Schmitt 2009a: 44) entscheidet. Diese Formulie­rung wirkt wie ein Fanal für die Juden und die ideologisch-politische Opposition des Natio­nalsozialismus, welche im Dritten Reich schon bald darauf zu „inneren Feinden“ erklärt und später im Verlauf des Zweiten Weltkriegs dann auch physisch vernichtet wurden (vgl. Hobs- bawm 2007: 192f.). Schmitts Sichtweise auf den äusseren, d.h. den „echten“ Feind ist jedoch ritterlicher: So widersetzt er sich Kriegen, die über das Politische hinausgehen und „den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen“ (Schmitt 2009a: 35), denn diese Kriege sind in besonderem Masse unmenschlich, da sie auf die Ächtung und infolgedessen auf die Annihilation des Feindes hinauslaufen. Die Ächtung des Feindes kannjedoch nicht in Schmitts Interesse liegen, da dies gleichzeitig eine Delegitimation der eigenen Kriegsführung und schliesslich auch des Begriffs des Politischen bedeuten würde. Im Vorwort des Begriff des Politischen von 1963 betont Schmitt, dass, indem das Recht zum Krieg (ins ad bellum) anerkannt werde, auch der Feind als „gerechter Feind“ (Schmitt 2009a: 11) anerkannt wird, denn „[a]uch der Feind hat einen Status; er ist kein Verbrecher“ (Schmitt 2009a: 11) und genauso verhält es sich e contrario mit dem Freund.

In dieser Gegenläufigkeit liegt für den Historiker und Schmitt-Schüler Reinhart Kosel- leck denn auch die Leistung des Freund-Feind-Begriffs. Er spricht bei solchen Begriffspaaren von sog. Gegenbegriffen, welche eine Wertung der eigenen sozialen und politischen Position vornehmen und damit gleichzeitig Aussenstehende ausgrenzen. Dies geschieht durch den Ausschluss gegenseitiger Anerkennung, woraus diese asymmetrischen Gegenbegriffe auch ihre Schlagkraft schöpfen (Koselleck 1989: 212f., 215). Als historisch bedeutsame Beispiele nennt Koselleck die Begriffspaare Hellenen-Barbaren, Christen-Heiden und Mensch-Un­mensch bzw. Übermensch-Untermensch, die „auf ungleiche Weise konträr“ (Koselleck 1989: 213), eben asymmetrisch sind. Nun soll es Schmitts „wissenschaftliche Leistung“ (Koselleck 1989: 258) gewesen sein, dass er erstmals diese Gegenüberstellungen so formalisierte, „daß nur die Grundstruktur möglicher Gegensätze sichtbar wurde“ (Koselleck 1989: 258). Wegen dieser Formalisierung handelt es sich beim Freund-Feind-Gegensatz „erstmals um rein sym­metrische Gegenbegriffe, da für Freund und Feind eine Selbst- bzw. Fremdbestimmung vor­liegt, die von beiden Seiten gegenläufig verwendbar ist“[3], so Koselleck (1989: 258). Der Freund-Feind-Gegensatz sei denn auch „als Bedingung möglicher Politik nicht überholbar“ (Koselleck 1989: 258f.), denn bei Schmitts Theorie handle es sich um einen Begriff des Poli­tischen und nicht der Politik selbst. Die Differenzierung zwischen dem Politischen und der Politik istjedoch nicht weiterführend, da sie nicht hilft die Widersprüche in der Freund-Feind­Unterscheidung aufzulösen. So mag Schmitt die bereits erwähnte Verwechslung von Politik mit Parteipolitik beklagen und dabei von einem „,Primat der Innenpolitik’“ (Schmitt 2009a: 31) sprechen, was den Eindruck erweckt, dass er persönlich den „Primat der Aussenpolitik“ bevorzugen würde. Indem bei Schmitt „öffentlich“ aber „staatlich“ bedeutet, verschwimmt die Grenze zwischen „innen“ und „aussen“ im selben Moment. Damit wird zugleich auch die Unterscheidung zwischen Innen- und Aussenpolitik verwischt.

2.1.2 Anthropologie, Staat und Politik

Obwohl die Freund-Feind-Unterscheidung von Schmitt selbst als der „Kern alles Politi­schen“ (Schmitt 2009a: 32) bezeichnet wird, so kann sein Politikverständnis und seine Theo­rie nicht alleine auf diesen Gegensatz reduziert werden (vgl. Mehring 2007: 511). Wie bereits ausgeführt, betrachtet Schmitt den Staat als die wesentliche politische Einheit, obwohl diese Übereinstimmung von Staat und Politik durch die Demokratisierungsprozesse immer proble­matischer geworden ist (Marti 2008b: 185). Zunächst betrachtet Schmitt die Anthropologie, welche den politischen Theorien innewohnt (Schmitt 2009a: 55). Dabei legt er Wert darauf, dass die zu untersuchenden menschlichen Kategorien „gut“ und „böse“ durchwegs „summa­risch und nicht in einem speziell moralischen oder ethischen Sinne zu nehmen“ (Schmitt 2009a: 55) sind. Bei der Bewertung dieser Dichotomie bezieht sich Schmitt auf die Natur­rechtstheorien aus dem 17. Jahrhundert und kommt alsbald zum Schluss, „daß alle echten politischen Theorien den Menschen als ,böse’ voraussetzen“ (Schmitt 2009a: 57), während die nicht-anarchistischen Theorien, „die den Menschen [...] als ,gut’ voraussetzen, [...] libe­ral und in polemischer Weise gegen die Einmischung des Staates gerichtet“ (Schmitt 2009a: 56) sind. Es ist letztlich nur konsequent, dass Schmitt von einem negativen Menschenbild ausgeht, da der Feind als politisches Merkmal unter lauter Gutmenschen nicht mehr identifi­zierbar wäre und das Politische dadurch aufgehoben werden würde (vgl. Schmitt 2009a: 59). Daraus lässt sich für Schmitt denn auch folgende Kausalität ableiten: „Der staatsfeindliche Radikalismus wächst in dem Grade wie der Glaube an das radikal Gute der menschlichen Natur“ (Schmitt 2009a: 57) wächst. Dem Liberalismus spricht Schmitt politische Radikalität ab, da dieser den Staat nicht negiere, andererseits aber auch keine eigene politische Theorie hervorgebracht hätte (Schmitt 2009a: 57). Das Staatsfeindliche und damit den eigentlichen Skandal sieht Schmitt anderswo: Es ist die Politisierung des Ökonomischen im 19. Jahrhun­dert, das „Politisch-Werden des bisher Unpolitischen und rein ,Sachlichen’“ (Schmitt 2009a: 58). So wie sich jeder denkbare Gegensatz in einen „politischen Gegensatz“ (Schmitt 2009a: 35) verwandelt, sobald der Unterschied zwischen Freund und Feind sichtbar wird, so geschah dies auch mit der Ökonomie durch den Marx’schen Klassenkampf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schmitt 2009a: 35). Schmitt legt seine Betonung dabei auf Kampf, der die politische Dimension im Begriff des 'Klassenkampfes bereits sichtbar mache. Damit war nicht mehr das Staatliche das einzig Politische, sondern eben auch das Ökonomische und es war das Proletariat, welches diesen Klassenkampf führte und sich damit über den Staat gestellt hatte.

2.1.3 Internationale Ordnung

Währenddem Schmitt einen innerstaatlichen Pluralismus - verstanden als mehrere ne­beneinander bestehende Antagonismen, die zu einer Politisierung verschiedener Interessen führen - ablehnt, lässt sich aus seinem Politikverständnis ein „Pluralismus der Staatenwelt“ (Schmitt 2009a: 50) ableiten. Solange der Staat an sich besteht, wird es seiner Auffassung nach auch immer eine Staatenvielfalt, jedoch nie einen den ganzen Globus „umfassenden Welt,staat’ geben“ (Schmitt 2009a: 50). Die Ablehnung einer globalen politischen Einheit ist der Kulminationspunkt, an dem sich zeigt, dass sich Schmitts Theorie und Immanuel Kants Konzept des ewigen Friedens diametral gegenüberliegen. Nicht nur, dass Kant (2008: 20) von der „positiven Idee einer Weltrepublik“ spricht, unterstreicht dies, sondern auch die un­terschiedlichen Auffassungen über die Herstellung bzw. Erhaltung einer politischen Ordnung auf internationaler Ebene: Während Kant (2008: 18f.) die Überwindung des Kriegszustandes und den Frieden als Grundvoraussetzungen für eine globale politische Ordnung betrachtet, ist für Schmitt die - wenn nötig kriegerische - Auseinandersetzung mit dem Feind essentiell, sofern das Politische überhaupt weiter Bestand haben soll. Diese Vielfalt politischer Einheiten nennt Schmitt (2009a: 50) „ein Pluriversum“, das als Gegenentwurf zum politischen Univer­sum zu verstehen ist. Nicht ins Konzept des Pluriversums gehört der Begriff der einen Menschheit, denn dieser „schließt den Begriff des Feindes aus, weil auch der Feind nicht auf­hört, Mensch zu sein und darin keine spezifische Unterscheidung liegt“ (Schmitt 2009a: 51). Die Menschheit als Ganzes könnte lediglich extraterrestrische Feinde bekämpfen, was von Schmitt jedoch nicht weiter erörtert wird, würde seine Theorie damit doch groteske Züge an­nehmen. Stattdessen ist Schmitt davon überzeugt, dass die Kriegsführung im Namen der Menschheit v.a. ein politisches Mittel ist um eigene nationale Interessen vor anderen Staaten zu rechtfertigen. Dabei ist der Begriff der Menschheit „ein besonders brauchbares ideologi­sches Instrument imperialistischer Expansionen und in ihrer ethisch-humanitären Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus“, so Schmitt (2009a: 51). Inbegriff dieses Imperialismus sind für ihn die USA, welche mit der Monroedoktrin von 1823 „ein völ­kerrechtliches Instrument der Hegemonie [...] über den grossen amerikanischen Kontinent“ (Schmitt 1994: 187), d.h. die westliche Hemisphäre, entwickelt haben. Die ökonomische Di­mension dieses Imperialismus lässt sich aus der Differenz zwischen der intervenierenden Macht und der Zielregion der Intervention herleiten: Während bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen christlichen und nicht-christlichen Völkern unterschieden wurde, so wurde diese Unterscheidung später säkularisiert und neu zwischen zivilisierten und nicht-zi­vilisierten Völkern differenziert. Die USA führten das Verhältnis zwischen Kolonisten und Kolonien dann auf eine neue Stufe, indem sie begannen zwischen Gläubigern und Schuldnern zu unterscheiden (Schmitt 1994: 185f.). Diese Entwicklungen sieht Schmitt v.a. im Licht der schlechten politischen und wirtschaftlichen Situation Deutschlands in den 1920er Jahren, wel­che durch den Versailler Vertrag verursacht und danach vom Völkerbund verwaltet wurde. Er stimmt mit Bernhard Wilhelm von Bülow, dem späteren Staatssekretär des Auswärtigen Amts (AA) von 1930 bis 1936 (AA 2011), überein, dass der Völkerbund „nur eine Fortsetzung des gegen Deutschland gerichteten Bundes der alliierten Mächte“ (Schmitt 2005: 8) ist. In diesem Kontext ist auch Schmitts Befürchtung zu verstehen, dass es „vielleicht [...] eines Tages so­gar [genügt], daß ein Volk seine Schulden nicht bezahlen kann“ (Schmitt 2009a: 52) um ge­ächtet zu werden. Nach dem Ersten Weltkrieg war eindeutig Deutschland in der Rolle des Gläubigers und die Alliierten, allen voran die USA, in der Rolle des Schuldners. Es waren in Schmitts Augen denn auch die USA, welche die von ihm kritisierte ,,,Ächtung des Krieges’“ (Schmitt 1994: 199) mit dem Kellogg-Briand-Pakt von 1928 formalisiert haben. Mit der Äch­tung des Krieges geht die Ächtung des Feindes einher und damit wird auch die Verwendung des Begriffs der Menschheit für Schmitt zum Betrug (Schmitt 2009a: 51). Dieser liegt darin, dass eben nicht der Krieg geächtet werden kann, „sondern nur bestimmte Menschen, Völker, Staaten, Klassen, Religionen usw., die durch eine ,Ächtung’ zum Feind erklärt werden sollen“ (Schmitt 2009a: 48). Findet der Begriff der Menschheit im 18. Jahrhundert also noch seine Berechtigung als Gegensatz zur ständischen Ordnung, gewissermassen als Konkretisierung des Freund-Feind-Gegensatzes im Schmitt’schen Sinne, so wird dieser Begriff später durch die „naturrechtlichen und liberal-individualistischen Doktrinen“ (Schmitt 2009a: 52) miss­braucht und es handelt sich lediglich noch um eine „alle Menschen der Erde umfassende sozi­ale Idealkonstruktion“ (Schmitt 2009a: 52). Hinter dem „Betrug“ der amerikanischen Imperia­listen, welche offenbar die Deutungshoheit über solche sozialen Konstruktionen besitzen, sieht Schmitt jedoch auch echte Werte: „Es ist ein Ausdruck echter, politischer Macht, wenn ein großes Volk die Redeweise und sogar die Denkweise anderer Völker [...] von sich aus bestimmt“ (Schmitt 1994: 202). Währenddem die USA also über echte politische Macht ver­fügen ist Deutschland in einer misslichen Lage: „Wir sind als Deutsche freilich in einer trau­rigen politischen Ohnmacht [...] und als Deutscher kann ich bei diesen Ausführungen über den amerikanischen Imperialismus nur das Gefühl haben, wie ein Bettler in Lumpen über die Reichtümer und Schätze von Fremden zu sprechen“ (Schmitt 1994: 202). Diese Passage zeigt deutlich, dass Schmitt den ökonomischen und machtpolitischen Imperialismus nicht per se verurteilt - die Macht befindet sich aus seiner Perspektive lediglich in falschen Händen. Revi­sionismus und Ressentiments gegenüber den Siegermächten des Ersten Weltkriegs bestimmen Schmitts Theoriebildung im Bereich der Internationalen Beziehungen massgeblich. Dazu ge­hört auch die pauschale Behauptung Schmitts, dass bisher „meistens im Völkerrecht, England der Nutznießer“ (Schmitt 2005: 14) gewesen sei. So spricht Schmitt anfangs der 1930er Jahre nirgends von einer Schuld Deutschlands an den Vorgängen der internationalen Politik der jüngstenVergangenheit, wohl aber von der misslichen Lage in der sich sein Land befindet.

2.1.4 Souveränität und Dezisionismus

In Schmitts Theorie nimmt der Begriff der Souveränität eine zentrale Stellung ein. In seiner Schrift Politische Theologie I legt er seine - so der Untertitel - Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität dar. Dort stellt er folgende Definition von Souveränität an den Anfang: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt 2009b: 13). Souveräni­tät, verstanden als „höchste, nicht abgeleitete Herrschermacht“ (Schmitt 2009b: 13) ist für Schmitt ein „Begriff der äußersten Sphäre“ (Schmitt 2009b: 13), womit er unterstreichen will, dass seine Definition der Souveränität nicht „an den Normalfall, sondern an einen Grenzfall“ (Schmitt 2009b: 13) anknüpfen will. Was diesen (politischen) Grenzfall, den Schmitt auch Notfall nennt, so aussergewöhnlich macht, ist, dass „weder mit subsumierbarer Klarheit ange­geben werden [kann], wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt werden, was in einem solchen Fall geschehen darf, wenn es sich wirklich um den extremen Notfall und um seine Beseitigung handelt“ (Schmitt 2009b: 14). Daraus folgt in logischer Konsequenz, dass „[i]m rechtsstaatlichen Sinne [...] überhaupt keine Kompetenz vor[liegt]“ (Schmitt 2009b: 14) und die Zuständigkeit in dieser Sache bei einer entscheidenden Persönlichkeit liegt. Die einzige verfassungsrechtliche Kompetenz ist demnach die vorgängige Bestimmung, „wer in einem solchen Falle handeln darf“ (Schmitt 2009b: 14). Gegenüber „der Praxis der rechts­staatlichen Verfassung“ (Schmitt 2009b: 14) weist diese Art von Souveränität für Schmitt einen entscheidenden Vorteil auf, nämlich absolute Klarheit. Es finden keine Einschränkun­gen durch irgendeine Art von Gewaltenteilung statt und es steht nie zur Debatte, ob der Aus­nahmezustand eingetroffen ist und wer darüber wie zu entscheiden hat. Der liberale Rechts­staat kann für Schmitt (2009b: 14) deshalb keine politische Organisationsform sein, weil er „den Souverän in diesem Sinne zu beseitigen“ gedenkt. Die monokratische Herrschaftsform hat für Schmitt (2009b: 19) hingegen den Vorteil, dass der Souverän, indem er über ein „Ent­scheidungsmonopol“ verfügt, „die Situation als Ganzes in ihrer Totalität“ garantiert. Überdies hinweg tritt im Ausnahmefall „das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten“ (Schmitt 2009b: 19)hervor.

Schmitt bezieht sich bei der Bestimmung des Souveränitätsbegriffs auf Jean Bodin, der im 16. Jahrhundert die Herrschermacht des Monarchen zu begründen suchte. Dem bis anhin gültigen Souveränitätsbegriff kommt mit Bodins Theorie eine neue Bedeutung zu, nämlich jene der Kompetenzkompetenz (Marti 2008b: 70f.). Diese besitzt gem. Bodin nur, wer Gott als einzigen über sich Stehenden anerkennt und folglich auch nur göttlichem jedoch nicht positi­vem, irdischem Recht untersteht (Bodin 1981: 207; Marti 2008b: 72). Für Schmitt ist ent­scheidend, dass der Fürst zwar im Normalfall seinen Versprechungen gemäss handeln muss, im Ausnahmefall jedoch in jeglicher Hinsicht davon befreit ist (Schmitt 2009b: 15). Der Be­griff der Kompetenzkompetenz ist damit verbunden, dass es innerhalb der politischen Einheit eine letztentscheidende Instanz, oder in den Worten des Philosophen M. M. Goldsmith (1999: 30), einen “final decider” gibt. Die Entscheidung (oder auch Dezision) ist für Schmitt deshalb ein Erkennungsmerkmal der Souveränität und er sieht Bodins „wissenschaftliche Leistung [...] darin, daß er die Dezision in den Souveränitätsbegriff hineingetragen hat“ (Schmitt 2009b: 15). Bei der staatlichen Souveränität handelt es sich für Schmitt (2009b: 19) daher auch nicht um ein „Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern [um ein] Entscheidungsmo­nopol“. Mit seinem Dezisionismus stellt sich Schmitt (2009b: 16) auch gegen die Normativi­tät des Rechts und stellt fest, dass letztlich „[a]uch die Rechtsordnung, wiejede Ordnung, [...] auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm“ beruht. Diese Feststellung verdichtet sich bei der Betrachtung der „äußerste[n] Realisierung der Feindschaft“ (Schmitt 2009a: 31), dem Krieg: Dieser hat für Schmitt (2009a: 46) „keinen normativen, sondern nur einen existenziel­len Sinn“, denn „[e]s gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, [...] die es rechtfertigen könnte, daß Menschen sich gegenseitig [...] töten“ und „[a]uch mit ethischen undjuristischen Normen kann man keinen Krieg begründen.“ Hierin liegt die eigentliche Pro­vokation in Schmitts These, dass sich Kriege weder rechtlich noch moralisch rechtfertigen lassen und die Freund-Feind-Beziehung der rationalen Sphäre entzogen wird, wenn es zum Äussersten, dem Kampf, kommt. Obwohl Schmitt (2009a: 65) die Moral, neben der Ökono­mie, als Eckpunkt des Liberalismus betrachtet und diese aus der Entscheidung des Souveräns raushalten möchte, ist er auch hier nicht restlos konsequent. Wenn es um den bereits ausge­führten Status des Feindes geht, so verurteilt er die Verwendung bestimmter sozialwissen­schaftlicher und juristischer Begriffe zu politischen Zwecken, „um klares politisches Denken zu verhindern, die eigenen politischen Bestrebungen zu legitimieren und den Gegner zu dis­qualifizieren oder zu demoralisieren“[4] (Schmitt 2009a: 61). Hier zeigt sich, dass Schmitt, in­dem er sich gegen eine Demoralisierung des Feindes stellt, offenbar doch eine gewisse Rolle der Moral in der Politik anerkennt, obwohl er den Liberalismus genau in dem Punkt kritisiert, dass er ethische Grundsätze in die Politik miteinbringen würde (vgl. Kap. 2.2.2).

Dass Schmitt die Entscheidungsgewalt im Ausnahmefall ins Zentrum seiner Überlegun­gen zur Souveränität rückt, hat für ihn auch etwas mit dem Forschungsinteresse und der Be­weiskraft seiner Theorie zu tun, wohl aber auch mit der Anziehungskraft des Irrationalen: So wäre es für ihn „konsequenter Rationalismus, zu sagen, daß die Ausnahme nichts beweist und nur das Normale Gegenstand wissenschaftlichen Interesses sein kann“ (Schmitt 2009b: 20). Dieser Rationalismus hat für Schmittjedoch keine Gültigkeit und das Gegenteil trifft zu: „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Aus­nähme“ (Schmitt 2009b: 21). Was den Dezisionismus betrifft, so ist Thomas Hobbes für Schmitt (2009b: 39) der „klassische Vertreter“ dessen. Seine bekannte Formel ,,,sed auctori- tas, non veritas, facit legem’ (,aber eine Autorität, nicht die Wahrheit macht das Gesetz’)“ (zit. in Höffe 2010: 160), die Hobbes in der lateinischen Fassung seines Werks Leviathan dar­stellt, trifft für Schmitt den Kern der Sache. In der Politik ist für ihn nicht die Wahrheit, wel­che er mit dem demokratischen Prinzip der Mehrheit gleichsetzt, entscheidend, sondern die Kompetenz Entscheidungen zu treffen, kurz: „Autorität, nicht Majorität“ (Schmitt 2009b: 39), ist massgebend. Bei Schmitt (2009b: 40) kommt es „für die Wirklichkeit des Rechtslebens darauf an, wer entscheidet“, denn „[n]eben der Frage nach der inhaltlichen Richtigkeit steht die Frage nach der Zuständigkeit“, welche für ihn zweifelsohne die wichtigere zu sein scheint. Materielles Recht wird bei Schmitt gänzlich von der personellen Frage abgetrennt. So entgeg­net er John Locke und seinem Diktum “The Law gives authority” (Schmitt 2009b: 38), ent­nervt: „Kompetenzfragen damit zu beantworten, daß auf das materielle hingewiesen wird, heißt, einen zum Narren halten“ (Schmitt 2009b: 38f.), denn Locke „sieht nicht, daß das Ge­setz nicht sagt, wem es Autorität gibt“ (Schmitt 2009b: 38). Hobbes hingegen hat für Schmitt (2009b: 39) „ein entscheidendes Argument vorgebracht, welches den Zusammenhang dieses Dezisionismus mit dem Personalismus enthält und alle Versuche, an die Stelle der konkreten Staatssouveränität eine abstrakt geltende Ordnung zu setzen, abgelehnt.“ Leider erläutert Schmitt an dieser Stelle nicht, weshalb es grundsätzlich nicht möglich sein soll, dass gesetzli­che Vorschriften den (oder die) Inhaber der Souveränität benennen. Die Weimarer Verfassung von 1919, welche Schmitt zwar gerade wegen der Volkssouveränität, aber auch aus anderen Gründen ablehnt (vgl. Kap. 2.2.3), hält in Art. 1 klar fest: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Franz 1975: 192). Dem Reichspräsidenten wurde überdies in Art. 48 Abs. 2 die Befug­nis erteilt, bestimmte Grundrechte temporär ausser Kraft zu setzen, sofern es „zur Wiederher­stellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ (Franz 1975: 201) unabdingbar war. Dies scheint durchaus in Lockes Sinn zu sein, spricht er sich doch nicht gegen die Prärogative als solche aus, sondern hält es lediglich für notwendig, „die Prärogative in den Punkten, wo es [das Volk] Nachteil von ihr erfuhr, durch ausdrückliche positive Gesetze einzuschränken“ (Locke 1977: 303, § 162). Dass dies wiederum nicht im Sinne Schmitts ist, der sich gegen jegliche Einschränkung der Souveränität des “final decider” ausspricht, scheint hingegen klar zu sein.

2.2 Schmitts Liberalismuskritik

2.2.1 Theorie der Zentralgebiete und deren Neutralisierungen

Vor der Betrachtung und Analyse von Schmitts Liberalismuskritik, soll hier kurz Schmitts Geschichtsbild und das Verständnis seiner eigenen Gegenwart, der Ära der Weima­rer Republik, betrachtet werden. In der Ausgabe von 1932 ist nach Schmitts Text Der Begriff des Politischen ein Aufsatz mit dem Titel Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpoliti­sierungen beigefügt, der auf einer Rede Schmitts basiert und den er wegen seiner „histori­schen Interpretation der Moderne“ (Müller 2007: 46) gerne in einen direkten Zusammenhang zum Begriff des Politischen stellte. Dieser Aufsatz widerspiegelt Schmitts Sicht auf die Lage Deutschlands Ende der 1920er Jahre und gibt einen kurzen Abriss seines Verständnisses von Geschichte, den er mit einer Betrachtung Russlands beginnt. „Wir in Mitteleuropa leben sous l’œil des Russes“ (Schmitt 2009a: 73), so seine einleitende Bemerkung. Russland hätte - wohl v.a. im Gegensatz zu Deutschland, obwohl er explizit nur von „Europa“ oder „Mitteleuropa“, in Abgrenzung gegenüber der restlichen Welt, spricht - die historischen Entwicklungen er­kannt und daraus die richtigen Schlüsse gezogen. Für Deutschland (und Europa), „das noch in einer Periode der Ermüdung und der Restaurationsversuche“ (Schmitt 2009a: 73) lebt, hat das Konsequenzen, denn „[m]an lebt immer unter dem Blick des radikaleren Bruders, der einen zwingt, die praktische Konklusion zu Ende zu führen“ (Schmitt 2009a: 74). Konkret heisst das, dass Schmitt die jüngsten Entwicklungen in Russland auch mit einem gewissen Neid betrachtet hat, denn dort entstand ein Staat, „der mehr und intensiver staatlich ist als jemals ein Staat des absolutesten Fürsten“ (Schmitt 2009a: 74). Der Bolschewismus mag für Schmitt vielleicht nicht der passende ideologische Ansatz gewesen sein, wohl aber die „Staatlichkeit“ selber, d.h. die totalitäre Diktatur, welche durch den de facto Alleinherrscher Josef Stalin er­richtet wurde. In Russland, so schien es für Schmitt, war die staatliche Souveränität im Ge­gensatz zu Deutschland wieder hergestellt worden. Schliesslich zeigten die Entwicklungen in Russland seit dem 19. Jahrhundert damit „in einer enormen Steigerung den Kern der moder­nen Geschichte Europas“ (Schmitt 2009a: 74).

Die europäische Geschichte seit dem 16. Jahrhundert zeichnet Schmitt als eine Abfolge von verschiedenen Stufen: „Es sind vier große, einfache, säkulare Schritte. Sie entsprechen den vier Jahrhunderten und gehen vom Theologischen zum Metaphysischen, von dort zum Humanitär-Moralischen und schließlich zum Ökonomischen“ (Schmitt 2009a: 74). Im Zu­sammenhang mit dieser Abfolge spricht Schmitt von sog. Zentralgebieten, welche bei seiner Beurteilung der Geschichte Europas massgebend sind. So erhalten „die spezifischen Begriffe der einzelnen Jahrhunderte [...] ihren charakteristischen Sinn von dem jeweiligen Zentralge­biet des Jahrhunderts. [...] Ist ein Gebiet einmal zum Zentralgebiet geworden, so werden die Probleme der anderen Gebiete von dort aus gelöst und gelten nur noch als Probleme zweiten Ranges, deren Lösung sich von selber ergibt, wenn nur die Probleme des Zentralgebiets gelöst sind“ (Schmitt 2009a: 78). Deshalb erhält alles „seinen konkreten geschichtlichen Inhalt von der Lage des Zentralgebietes und ist nur von dort aus zu begreifen“ (Schmitt 2009a: 79). Die Zentralgebiete entsprechen also den vier oben erwähnten Schritten, wobei für das 20. Jahr­hundert die Technik im Zentrum steht. Für den Staat sind die Zentralgebiete essentiell, denn dieser nimmt „seine Wirklichkeit und Kraft aus dem jeweiligen Zentralgebiet, weil die maß­gebenden Streitthemen der Freund-Feindgruppierungen sich ebenfalls nach dem maßgeben­den Sachgebiet bestimmen“ (Schmitt 2009a: 79f.). D.h., dass die Zentralgebiete eine politisie­rende Wirkung haben und ein Staat, der nicht ein „um die eigene Zeit- und Kulturlage wis­sender Staat“ (Schmitt 2009a: 80) ist, verzichtet damit auf seinen Herrschaftsanspruch, weil er „sich gegenüber den politischen Fragen und Entscheidungen für neutral erklären“ (Schmitt 2009a: 80) muss. Der Staat ist bei Schmitt also ein Objekt, welches die Geschichte vor sich hertreibt, wobei für den Staat keine Wahlfreiheit besteht, will er sein Monopol auf das Politi­sche nicht verlieren; der Staat agiert nicht, er reagiert auf geschichtliche Vorgänge. Was die moderne europäische Geschichte hingegen auszeichne, sei „das Streben nach einer neutralen Sphäre“ (Schmitt 2009a: 81), d.h., dass „die europäische Menschheit ein neutrales Gebiet [suchte], in welchem der Streit aufhörte, und wo man sich verständigen, einigen und gegen­seitig überzeugen konnte“ (Schmitt 2009a: 81). An dieser Stelle spricht Schmitt von der Menschheit, statt vom Staat. Wie in Kapitel 2.1.3 erwähnt, schliesst der Begriff der Mensch­heit aber die Deklaration des Feindes und damit auch den Begriff der Politik aus. Der Versuch der Entpolitisierung kann allerdings nicht gelingen und „es gehört zur Dialektik einer solchen Entwicklung, daß man gerade durch die Verlagerung des Zentralgebiets stets ein neues Kampfgebiet schafft“ (Schmitt 2009a: 82). Die Neutralisierung eines Zentralgebiets und die damit einhergehende Entpolitisierung wird also immer durch die Schaffung eines neuen Zent­ralgebiets abgelöst, wodurch das Politische weiterhin bestehen bleibt.

Schmitts grobe Skizzierung der europäischen Geschichte, welche das Jahrhundert als kleinste Zeiteinheit anerkennt, hat für ihn den Vorteil, dass er vergangene Entwicklungen, welchen er feindselig gegenübersteht, leicht als unzeitgemäss diskreditieren kann, da es sich ja um bereits neutralisierte Zentralgebiete handelt. So ist es z.B. einfach mittels des Zentral­gebiets den zeitlichen Ort des Marxismus zu bestimmen und ihn damit nicht nur inhaltlich zu verunglimpfen, sondern auch als unzeitgemäss darzustellen: „Im ganzen will der Marxismus ökonomisch denken, und damit bleibt er im 19. Jahrhundert, das wesentlich ökonomisch ist“ (Schmitt 2009a: 77). Obwohl die Ökonomie deutlich ins 20. Jahrhundert hineinwirkt (vgl. Kap. 2.2.2), unterscheidet es sich aber grundlegend von den Jahrhunderten zuvor, denn ,,[d]er Prozeß fortwährender Neutralisierung der verschiedenen Gebiete des kulturellen Lebens ist an seinem Ende angelangt, weil er bei der Technik angelangt ist“ (Schmitt 2009a: 86). Die Tech­nik ist also das Zentralgebiet der Gegenwart Schmitts, aber es ist nicht neutralisierbar, weil ,,[d]ie Technik [...] immer nur Instrument und Waffe [ist], und eben weil sie jedem dient, ist sie nicht neutral“ (Schmitt 2009a: 83). Wohin die technische Entwicklung führen wird bleibt zunächst offen, denn ,,[d]er endgültige Sinn ergibt sich erst, wenn sich zeigt, welche Art von Politik stark genug ist, sich der neuen Technik zu bemächtigen, und welches die eigentlichen Freund- und Feindgruppierungen sind, die auf dem neuen Boden erwachsen“ (Schmitt 2009a: 86). Klar ist jedoch, dass alle Neutralisierungs- und Entpolitisierungsversuche in der Neuzeit gescheitert sind und das Politische weiterhin Bestand haben wird. Den Aufsatz schliesst Schmitt mit einem seiner Lieblingszitate ab: ,,[A]b integro nascitur ordo - aus dem Unver­sehrten entsteht die Ordnung“ (Müller 2007: 89). Schmitt (2009a: 87) unterstreicht mit die­sem Zitat aus der Vierten Ekloge Vergils (vgl. Kap. 3.2.4), dass „aus der Kraft eines integren Wissens [...] die Ordnung der menschlichen Dinge“ entsteht, und dieses integre Wissen lässt sich für ihn aus der Erkenntnis gewinnen, dass die Politik nur auf einem Gegensatz von Freund und Feind basieren kann: „Geist kämpft gegen Geist, Leben gegen Leben“ (Schmitt 2009a: 87). Damit betont Schmitt noch einmal, dass der Freund-Feind-Gegensatz einen zent­ralen Ort in seiner Theorie einnimmt.

2.2.2 Die Auflösung des Politischen

Im letzten Kapitel des Begriff des Politischen verknüpft Schmitt seine Kritik der Neut­ralisierungen und Entpolitisierungen mit seiner Kritik am Liberalismus. Einleitend hält er folgendes fest: „Als geschichtliche Wirklichkeit ist der Liberalismus dem Politischen so we­nig entgangen wie irgendeine bedeutende menschliche Bewegung, und auch seine Neutralisie­rungen und Entpolitisierungen (der Bildung, der Wirtschaft usw.) haben einen politischen Sinn“ (Schmitt 2009a: 63). Liberalismus ist für Schmitt (2009a: 64) ein Synonym für das Un­politische und es kann „keine liberale Politik schlechthin, sondern immer nur eine liberale Kritik der Politik“ geben. Dabei ist der liberale Individualismus Schmitt (2009a: 64) ein Dorn im Auge, da diesem die Verneinung des Politischen inhärent sei und stattdessen „zu einer politischen Praxis des Mißtrauens“ führe. Das Unpolitische rührt daher, dass „[a]lles liberale Pathos [...] sich gegen Gewalt und Unfreiheit“ (Schmitt 2009a: 65) wendet, womit der krie­gerischen Auseinandersetzung zwischen Freund und Feind der Boden entzogen wird. Ausser­dem sei zu beachten, „daß diese liberalen Begriffe sich in einer typischen Weise zwischen Ethik (,Geistigkeiť) und Ökonomik (Geschäft) bewegen und von diesen polaren Seiten her das Politische als eine Sphäre der ,erobernden Gewalt’ zu annihilieren suchen“ (Schmitt 2009a: 65). Neben Moral und Wirtschaft umfassen die im Liberalismus des 19. Jahrhunderts auftretenden sog. autonomen Sachgebiete, die zuvor noch neutral waren und nun im Gegen­satz zur Politik stehen, gem. Schmitt (2009a: 23) namentlich Religion, Kultur, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Soziales und Bildung. Wenig erstaunlich ist in Anbetracht von Schmitts Geschichtstheorie, dass sich die Wirtschaft „[a]ls weitaus wichtigster Fall eines autonomen Sachgebiets [...] in unbeirrter Sicherheit“ (Schmitt 2009a: 66) durchzusetzen vermochte. Ob­wohl das Ökonomische - wenn man Schmitts Theorie folgt - ins 19. Jahrhundert gehört, so wirkt es zu seinem Leidwesen bis ins 20. Jahrhundert in aller Deutlichkeit nach (vgl. Schmitt 2009a: 70). Als Paradebeispiel dienen ihm die Reparationszahlungen, welche Deutschland für die im Ersten Weltkrieg angerichteten Schäden an die Alliierten entrichten müssen. So ist es „[d]ie ideologische Struktur des Vertrags von Versailles[, welche] genau dieser Polarität von ethischem Pathos und wirtschaftlicher Berechnung“ (Schmitt 2009a: 67) entspricht. Beweis dafür ist Art. 231 des Versailler Vertrags[5] wo die „Schuldfrage“ geregelt ist und Deutschland seine Reparationspflichten anerkennt. Moral und ökonomisches Kalkül sind hier in einem Satz miteinander vereint. Schmitts Kritik richtet sich dabei v.a. auf die Macht des Ökonomi­schen, da es „als eines der wenigen wirklich undiskutierbaren, unbezweifelbaren Dogmen dieses liberalen Zeitalters“ (Schmitt 2009a: 66f.) galt, dass die Wirtschaft weder von der Mo­ral noch von der Politik gelenkt werden kann.

Die Ökonomie ist dazu insbesondere mit der liberalen Ablehnung von Gewalt verbun­den. So stellt Schmitt (2009a: 69) den Krieg dem Handel gegenüber und konstatiert, dass ge­walttätige Auseinandersetzungen im Gegensatz zu wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht in der Lage sind, Wohlstand zu schaffen. Deswegen sei „der siegreiche Krieg [...] auch für den Sie­ger ein schlechtes Geschäft“ (Schmitt 2009a: 69). Diese Feststellung steht einerseits der Tat­sache entgegen, dass gerade nach dem Ersten Weltkrieg die Alliierten sich von Deutschland entschädigen lassen konnten, wie ja Schmitt selbst bemängelt. Andererseits stimmt es selbst aus heutiger Sicht nicht, dass Kriege ein schlechtes Geschäft sein müssen, da zumindest die Streitkräfte sowie die Rüstungsfirmen Leute beschäftigen und v.a. letztere dank Kriegen kräf­tige Umsätze erwirtschaften können. Inbegriff der Gegenüberstellung der gewaltvollen Politik mit der gewaltlosen Wirtschaft sind für Schmitt die Thesen des Soziologen und Ökonomen Franz Oppenheimer: „Sein Liberalismus ist so radikal, daß er den Staat nicht einmal mehr als bewaffneten Bürodiener gelten läßt“ (Schmitt 2009a: 70). Oppenheimer gehört für Schmitt (2009a: 37) wohl auch zu jenen, welche die Bedeutung wirtschaftlicher Verbände erkannten, überschätzten und dann „etwas voreilig den Tod und das Ende des Staates proklamiert“ hat­ten. Schmitt (2009a: 70) kritisiert, dass Oppenheimer den Staat mit dem Mittel der Politik gleichsetzen wolle, währendem er „der (wesentlich unpolitischen) Gesellschaft“ das Mittel der Wirtschaft zuschreibe. Die Eigenschaften der beiden Mittel würden dabei wie folgt defi­niert: „Das ökonomische Mittel ist der Tausch; [...] das politische Mittel dagegen ist er­obernde außerökonomische Gewalt’, Raub, Eroberung und Verbrechen aller Art“ (Schmitt 2009a: 70). Die Dialektik von Staat und Gesellschaft ist dieselbe wie in Schmitts Theorie, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, denn „die Gesellschaft steht als eine Sphäre der friedlichen Gerechtigkeit unendlich höher als der Staat, der zu einer Region gewalttätiger Immoralität degradiert wird“ (Schmitt 2009a: 70). Schmitt (2009a: 70) betrachtet diese Sichtweise als beliebig und meint, dass man „[m]it solchen Methoden [...] ebensogut umge­kehrt die Politik als die Sphäre des ehrlichen Kampfes, die Wirtschaft aber als eine Welt des Betruges definieren“ könnte. Beliebig sei dieses Verständnis von Politik und Gesellschaft, weil es sich moralischer Kategorien bediene und dabei Attribute, welche mit den einzelnen Bereichen in Verbindung gebracht werden können, selektiv in den Vordergrund rücke. Dar­über hinaus bemängelt Schmitt die fehlende Haftung in einem ökonomisierten Staat: „Eine auf ökonomischer Grundlage beruhende Herrschaft über Menschen muß gerade dann, wenn sie unpolitisch bleibt, indem sie sich jeder politischen Verantwortung und Sichtbarkeit ent­zieht, als ein furchtbarer Betrug erscheinen“ (Schmitt 2009a: 71). Allerdings führt die liberale Betrachtungsweise von Staat und Gesellschaft auch nicht dazu, dass die Welt entpolitisiert wird, denn „auch dieses angeblich unpolitische und scheinbar sogar antipolitische System dient entweder bestehenden oder führt zu neuen Freund- und Feindgruppierungen und vermag der Konsequenz des Politischen nicht zu entrinnen“ (Schmitt 2009a: 72). Dieser Satz ist gleichzeitig auch das Schlusswort des Begriff des Politischen und die für das liberale 19. Jahrhundert typischen Antagonismen, welche in Tabelle 1 dargestellt sind, bleiben für Schmitt auch während der Ära der Weimarer Republik weiterhin wirksam. Während konservative Prinzipien zusammen mit Schmitts Kategorien des Staates und der Politik in eine Diktatur zu münden scheinen, führen liberale Prinzipien in Einheit mit ökonomischen Kategorien offen­bar zu einem parlamentarischen Regierungssystem. Schmitts Kritik am liberalen Parlamenta­rismus soll aus diesem Grund nun näher betrachtet werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Schmitt 2009a: 69.

2.2.3 Demokratie, Parlamentarismus und Diktatur

Zunächst ist es wichtig zu erkennen, dass für Schmitt (1985: 37) „Diktatur nicht der Ge­gensatz zu Demokratie ist“, wie er in seinem Text über Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus schreibt. D.h., dass die Begriffe Demokratie und Parlamentaris­mus bei Schmitt nicht gleichgesetzt werden, obwohl es scheint, dass beide Prinzipien mitein­ander verbunden sind und das eine ohne das andere gar nicht existieren kann. Genau das ver­neint Schmitt (1985: 41) explizit, indem er sagt, dass es „eine Demokratie geben [kann] ohne das, was man modernen Parlamentarismus nennt und einen Parlamentarismus ohne Demokra­tie“. Nebst dem, dass das 19. Jahrhundert das Zeitalter des Liberalismus war, bahnte sich in ihm auch der „Siegeszug der Demokratie“ (Schmitt 1985: 30) an. Problematisch an der De­mokratie ist ihre inhaltliche Beliebigkeit und ihre Verwendung für alle möglichen politischen Ziele, denn „[w]enn alle politischen Richtungen sich der Demokratie bedienen konnten, so war erwiesen, daß sie keinen politischen Inhalt hatte und nur eine Organisationsform war“ (Schmitt 1985: 32f.). Dazu kommt die Ausdehnung des demokratischen Prinzips auf die Wirt­schaft, welche zu einer „wesentlichen Veränderung des Begriffes der Demokratie“ (Schmitt 1985: 33) führt. Obwohl die Demokratie keinen politischen Inhalt aufweist, so ist sie doch immerhin eine politische Organisationsform. Diese Eigenschaft geht mit der Ökonomisierung des demokratischen Prinzips aber verloren, denn „[e]ine politische Organisationsform hört [...] auf, politisch zu sein, wenn sie, wie die moderne Wirtschaft, auf privatrechtlicher Basis aufgebaut wird“ (Schmitt 1985: 33). Heterogenität ist also in jeder Hinsicht das Hauptmerk­mal der Demokratie und auch das scheinbar einheitliche Subjekt, das Volk, ist nur in abstrak­ter weise homogen: „Tn concreto sind die Massen soziologisch und psychologisch heterogen“, so Schmitt (1985: 34). Bemängelt wird von ihm insbesondere die Entscheidungsfindung, wel- che mit der Volkssouveränität einhergeht, wie auch der Umgang mit politischen Minderhei­ten. Theoretisch geht Schmitt (1985: 34) von Jean-Jacques Rousseaus volonté générale (Ge­meinwillen) aus, die das Gesetz ist und dieses „wiederum der Wille der freien Bürger“. Die Stimmabgabe sieht Schmitt als reine Alibiübung, die lediglich dazu dient, eine Kalkulations­masse zur Eruierung der volonté générale zu generieren. Darüber hinaus hat der Urnengang keinen weiteren Zweck, weil „der Bürger [...] eigentlich niemals einem konkreten Inhalt sei­ne Zustimmung [gibt], sondern [...] dem aus der Abstimmung sich ergebenden General­willen“ (Schmitt 1985: 34), wie er die volonté générale nennt. Hier verdreht Schmitt die Rich­tung der Kausalität, denn es ist ja nicht so, dass der Einzelne den determinierten Willen des Volkes mit der Stimmenabgabe nur noch amtlich machen müsste. Bei Rousseau stellt der Einzelne seine Dienste zwar unter die Leitung der volonté générale, ist deswegen aber nicht unfrei, weil er ein Teil des Souveräns ist, der die volonté générale mitgestaltet und verkörpert (Rousseau 1977: 18). Auch wenn der Urnengang als rein technischer Vorgang betrachtet wird, ist unbestritten, dass zuerst die Abgabe der Stimme erfolgt und dann die Auswertung des Resultats. Dass dieses variabel ist und von weiteren Faktoren - auf die teilweise weiter unten eingegangen wird - wie der persönlichen Meinungsbildung, den Medien, der Präsenz der Abstimmungsvorlage in der Öffentlichkeit u.a. abhängt, ist eine triviale Einsicht. Stattdes- sen spricht Schmitt (1985: 35) von einer „Jakobinerlogik“, die der Demokratie innewohnt und meint damit, dass ein an der Urne unterlegener Wähler zur Kenntnis zu nehmen hätte, „daß er sich über den Inhalt des Generalwillens geirrt hat“ (Schmitt 1985: 34) und er deshalb eben nicht frei war, weil nur die volonté générale „der wahren Freiheit entspricht“ (Schmitt 1985: 35). Darüber hinaus könne man mit dieser „Jakobinerlogik“ auch unter Verweis auf die De­mokratie gerade das Gegenteil legitimieren, nämlich „die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit“ (Schmitt 1985: 35). Ohne weiter darauf einzugehen, behauptet Schmitt (1985: 35), dass „[d]er Kern des demokratischen Prinzips [...] dabei gewahrt [bleiben würde], nämlich die Behauptung einer Identität von Gesetz und Volkswillen“. Einerseits scheint es heuchle­risch zu sein, wenn sich Schmitt bei der Beurteilung der Demokratie um (überstimmte) Min­derheiten kümmert, während er bei der Erörterung des eigenen Politikverständnisses kein ein­ziges Wort über diese verliert. Andererseits blendet Schmitt aus, dass die volonté générale bei Rousseau nicht mit der volonté de tous (Summe der Partikularinteressen) identisch ist. Letzte­re ist im Gegensatz zur volonté générale nicht unfehlbar und trotzdem räumt Rousseau sogar ein, dass das Volk auch sonst leicht zu täuschen ist. Er sieht die Bildung von Parteien deshalb als etwas Negatives an, weil damit Partikularinteressen leichter befördert werden können und nicht das Gemeinwohl im Vordergrund steht. An der Erfüllung der volonté générale hat aber jeder Einzelne auch ein Interesse, was nur durch die Schaffung von allgemein gültigen Rech­ten und Pflichten realisiert werden kann (Rousseau 1977: 30f.; Marti 2008b: 121). Dass der Rechtsstaat bei Schmittjedoch nicht im Zentrum steht, ist nicht weiter erstaunlich, ist er doch der Meinung, dass sich das Politische weder durch die Moral noch durch Normen, d.h. Recht legitimieren lasse.

Ein Potential zum Scheitern hat die Demokratie, wegen des Problems der Willensbil­dung. Weil der Wille keine feste Grösse ist, kann „das Volk [...] durch richtige Erziehung dahin gebracht werden, daß es seinen Willen richtig erkennt, richtig bildet und richtig äußert. [...] Die Konsequenz ist die Diktatur“ (Schmitt 1985: 37), obwohl, wie bereits erwähnt, die Diktatur nicht der Gegenpol der Demokratie ist. Vielmehr spielt Schmitt auf das jakobinische Terrorregime während der Französischen Revolution an, welches mittels des Wohlfahrtsaus­schusses und mit diktatorischer Gewalt versuchte die Revolution zu verteidigen (vgl. Kley 2004: 126, 128). Aus diesem Grund kämpft die Demokratie dauernd mit dem Problem der eigenen Auflösung, wobei die Sowjetunion für Schmitt (1985: 38) das passende Beispiel des „Betrug[s] eines falsch gebildeten Volkswillens [ist]; der Kommunismus soll erst die wahre Demokratie herbeiführen. Von der ökonomischen Begründung abgesehen, ist das in seiner Struktur das alte jakobinische Argument.“ Als Schmitt 1923 diese Worte schrieb, war es be­reits längst klar, dass die Demokratie in Russland noch vor der Gründung der Sowjetunion gescheitert war. Während es im Februar 1917 zunächst danach aussah, dass sich im Land eine parlamentarische Demokratie etablieren würde, beendete die Oktoberrevolution diese Hoff­nung im selben Jahr abrupt (Langewiesche 2003: 334f.). Insofern scheint Schmitt recht zu haben, allerdings konnte selbst von Februar bis Oktober 1917 nie die Rede von einer tatsäch­lichen Demokratie sein: Vielmehr war es die Bereitschaft der Bevölkerung für eine Revolu­tion, welche dafür sorgte, „daß sogar die Massen in Petrograd den Sturz des Zaren augen­blicklich mit der Proklamation von universeller Freiheit, Gleichheit und direkter Demokratie gleichsetzten“[6] (Hobsbawm 2007: 85). Es war also vielmehr das Gefühl, dass sich Russland in eine Demokratie wandeln könnte, als dass die tatsächlichen Umstände das belegt hätten. Die Sowjetunion wurde danach bereits als Einparteienstaat gegründet und „[d]ie bolschewistische Partei, die sich als Avantgarde der proletarischen Diktatur begriff, wurde von einem kleinen Führungsgremium diktatorisch geführt“ (Langewiesche 2003: 336). Von einer demokrati­schen Legitimation konnte keine Rede mehr sein. Trotzdem besteht Schmitt (1985: 39) dar­auf, dass lediglich „der italienische Fascismus“ so ehrlich sei und auf demokratische Legiti- mation verzichte, während sich diese im übrigen Europa des frühen 20. Jahrhundert durchge­setzt hätte.

Wenn Schmitt (1985: 41) revolutionäre Bestrebungen, Volkssouveränität und Demo­kratie praktisch gleichsetzt, ist seine Schlussfolgerung wenig erstaunlich, dass „der Glaube, daß alle Gewalt vom Volke kommt, [...] eine ähnliche Bedeutung [erhält] wie der Glaube, daß alle obrigkeitliche Gewalt von Gott kommt.“ An dieser Stelle verweist Schmitt auf seine Politische Theologie, wo er die Wende von der monarchistischen zur demokratischen Legiti­mation beschreibt. Dabei hebt er den katholischen Staatsphilosophen Juan Donoso Cortés aus Spanien hervor, der das Jahr 1848 richtig als das Ende des Royalismus erkannt hätte. In die­sem Jahr würde auch der Rechtspositivismus wurzeln, der sich entweder in Verlegenheit übe oder sich aber auf den Gedanken der Volkssouveränität beziehe. Richtigerweise aber hätte Donoso Cortés festgehalten, dass es ohne Könige keine (göttliche) Legitimation der Souverä­nität im traditionellen Sinn mehr gäbe und die Diktatur deshalb die letzte Konsequenz sei. Schliesslich handelt es sich hierbei um dieselbe dezisionistische Schlussfolgerung, die bereits Hobbes getroffen hat (Schmitt 2009b: 55). Weil aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts statt dem diktatorischen das liberale Zeitalter in Europa angebrochen war, vergleicht Schmitt die Volkssouveränität mit der göttlichen Legitimation der Monarchie und verabsolu­tiert dadurch die Demokratie.

Bevor Schmitt (1985: 41) zu seiner eigentlichen Kritik am Parlamentarismus übergeht, bemerkt er, dass „im 19. Jahrhundert Parlamentarismus und Demokratie derartig miteinander verbunden waren, daß sie als gleichbedeutend hingenommen wurden“ und die Ausführungen zur Demokratie deswegen als solche vorangestellt hätten werden müssen. Die Rechtfertigung des Parlamentarismus ist darum im Wesentlichen demokratisch, weil das Parlament als Volksausschuss und die Regierung als Parlamentsausschuss dargestellt würden. Statt als hori­zontale Gewaltenteilung stellt Schmitt das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative als eine hierarchische Beziehung dar. Dies ermöglicht ihm die Diktatur als eine Variante der „demokratischen“ Argumentation zum Parlamentarismus darzustellen, denn im Parlament ist ja nicht das Volk, sondern lediglich dessen Vertreter anwesend: „Wenn aus praktischen und technischen Gründen statt des Volkes Vertrauensleute des Volkes entscheiden, kann ja auch im Namen desselben Volkes ein einziger Vertrauensmann entscheiden, und die Argumenta­tion würde, ohne aufzuhören demokratisch zu sein, einen antiparlamentarischen Cäsarismus rechtfertigen“ (Schmitt 1985: 42). Daher kann die theoretische Begründung des Parlaments nicht in der Volksvertretung liegen, sondern lediglich in der Debatte.

[...]


[1] Dementsprechend benannte Schmitt eine 1940 veröffentlichte Textsammlung aus dieser Zeit Positionen und Begriffe im Kampfmit Weimar-Genf-Versailles 1923-1940 (Müller 2007: 36).

[2] Platon (1989: 207, 470b) unterscheidet in seinem Werk Der Staat (5. Buch) an der Stelle auf die Schmitt hin­weist zwischen Zwietracht und Krieg: „Für Feindschaft mit dem Befreundeten gilt nun der Name Zwietracht, für die mit dem Fremden aber Krieg.“ Die Kontrahenten einer Zwietracht sind also Gegner (Platon 1989: 208, 470e), während jene eines Krieges Feinde sind (Platon 1989: 208, 470c).

[3] Eigene Hervorhebung.

[4] Eigene Hervorhebung.

[5] Art. 231 des Versailler Vertrags von 1919: „Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutsch­land erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber aller Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben“ (ÖN 2011).

[6] Eigene Hervorhebung.

Excerpt out of 96 pages

Details

Title
Hannah Arendt, Carl Schmitt und die Theorie der Politik
Subtitle
Vom Primat der Politik über die Ökonomie
College
University of Zurich  (Institut für Politikwissenschaft)
Grade
2,0 (CH: 5,0)
Author
Year
2011
Pages
96
Catalog Number
V182716
ISBN (eBook)
9783656064442
ISBN (Book)
9783656064282
File size
2241 KB
Language
German
Keywords
Hannah Arendt, Carl Schmitt, Primat der Politik, Liberalismuskritik, Liberalismus, Ökonomie, Thomas Hobbes, Macht und Gewalt, Dezisionismus, Parlamentarismus, Demokratie, Freund-Feind-Unterscheidung, Leviathan, Räterepublik, Revolution, Imperialismus, Soziale Frage, Wirtschaftskrise
Quote paper
M.A. Manuel Irman (Author), 2011, Hannah Arendt, Carl Schmitt und die Theorie der Politik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/182716

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