Während des Spätwilhelminismus war das Deutsche Kaiserreich ein durch polykratisches Chaos geprägter ungeordneter Machtapparat, der versuchte, die konstitutionelle Monarchie mit autokratischen Befehlsstrukturen gegen jedwede Demokratisierungstendenzen zu verteidigen. Diese strukturelle Krise manifestierte sich mit dem Ende des Bülow-Blocks 1909. Daraus resultierten Einflussmöglichkeiten für antidemokratisch und radikalnationalistisch gesinnte Gruppen, verstärkt durch die schwächelenden Parteien im rechten Lager. Zu diesem Themenfeld besteht noch viel Klärungsbedarf.
Als Heinrich Claß Anfang 1908 den Vorsitz vom verstorbenen Ernst Hasse im wirkungsmächtigsten Agitationsverband des wilhelminischen Kaiserreichs, dem Alldeutschen Verband, übernahm vollzog sich im Verband ein für viele der Mitglieder erforderlicher ideologischer Wechsel. Eine direkte Zusammenarbeit mit der Regierung des Reichskanzlers von Bülow hatte keine positiven Ergebnisse erbracht, sondern den ADV öffentlich bloß gestellt. Neben der Radikalisierung des Verbandsprogramms sollte deshalb eine personelle Distanz zur Regierung aufgebaut werden, ohne alle Kontakte abzubrechen. Dieser Schritt war für die Regierung fatal und für den Verband zugleich ideal, wie es die Untersuchung der Vorgänge vor und während der 2. Marokkokrise in der vorliegenden Arbeit herausarbeiten möchte.
Es sollte dabei erwähnt werden, dass der ADV schon zuvor bei einigen wichtigen Entscheidungen in Außen- und Innenpolitik der Ära von Bülows Einfluss besaß. Es fragt sich, ob die nachfolgende Regierung unter Bethmann Hollweg gegenüber nationalen Agitationsverbände wie dem ADV und deren politischen Vorstellungen weniger immun war. D.h., waren diese Vereine nicht ein Instrument der Reichsleitung zur Kaschierung der bereits genannten Krise, indem der Öffentlichkeit ein außenpolitisches machtvolles Deutschland suggeriert werden sollte?
Der Verfasser möchte in dieser Arbeit einer der Folgen dieser strukturellen Krise auf den Grund gehen: Der verstärkten Ausbreitung des organisierten Nationalismus und deren Bedeutung für das Vorgehen der herrschenden Machteliten. Exemplarisch diente hierfür der ADV als Vertreter des organisierten Nationalismus, weil er als eine Art “holding company“ der “neuen Rechten“ verstanden werden kann und somit ihre Ideologie und politischen Ziele am effizientesten nach außen zu vertreten verstand.
Inhaltsverzeichnis
- 1. In der selbstverschuldeten Sackgasse: Die außenpolitische Situation des Reiches vor der zweiten Marokkokrise
- 1.1. Das schwere Erbe von Bülows
- 1.2. Innenpolitische Determinanten begrenzen außenpolitischen Aktionsradius
- 1.3. Von der "Auskreisung" in die "Einkreisung"
- 1.4. Die Resonanz des Weltmachtstrebens in der spätwilhelminischen Gesellschaft
- 2. Die Konstruktion des radikalnationalistischen Weltbildes der Alldeutschen
- 2.1. Entstehungsgeschichte des Verbandes
- 2.2. Deutsche Nationalismen und ihre historische Anwendung
- 2.3. Preußische Machstaatsideologie und Konservative Kulturkritik: Die ideologischen Wurzeln des alldeutschen Radikalnationalismus
- 2.4. Der "Organisierte Nationalismus" des ADV als bewusster Gegensatz zur deutschen Nationalbewegung
- 2.5. Die Genese geopolitischer Deutungsmuster im ADV und deren Bedeutung für die Konfrontationsstrategie ab 1908
- 2.6. Die Zielutopie von der radikalen Expansionspolitik
- 2.7. Weltmacht oder Untergang: Die alldeutsche Zuspitzung bis zum "Daseinskampf des deutschen Volkes" in der Kolonialpolitik
- 3. Die Vorgeschichte der Agadirkrise und die regelmäßigen Treffen
- 3.1. Marokko als Zankapfel der europäischen Großmächte
- 3.2. Erste Kontaktaufnahme durch den Staatssekretär
- 3.3. 25.2.1911: Beginn der substanziellen Mitteilungen
- 3.4. Frankreich verstößt gegen geltende Vereinbarungen - Kiderlens Risikostrategie
- 3.5. Das Treffen in Mannheim und die erste Marokkodenkschrift Kiderlens
- 3.6. Paris lenkt nicht ein - Die zweite Marokkodenkschrift stellt die Weichen
- 4. "Jetzt platzt die Bombe": Der Panthersprung nach Agadir am 1.7.
- 4.1. Der "Panthersprung" bringt den Stein ins Rollen
- 4.2. Die Pressekampagne des ADV für Gebietesansprüche in West-Marokko
- 4.3. Kritik an der Flugschrift von Claß: Keine Gebietsansprüche und Kontaktabbruch
- 4.4. Die Mansion House Rede von David Lloyd George
- 4.5. Kaiser und Kanzler wollen eine Verhandlungslösung: Kiderlen reduziert seine Forderungen
- 4.6. Die Risikostrategie ist gescheitert: Schwierige Verhandlungen unter kritischer Begutachtung des ADV
- 5. Der lange Weg zum Frieden und die Folgen: Der Marokko-Kongo-Vertrag, die Hetzkampagne des ADV und der Kurswechsel der alten Rechten
- 5.1. Minimaler Kolonialerwerb mit desaströsen Folgen - Die alldeutsche Reaktion
- 5.2. Die Reichstagsdebatten zu Marokko: Der ADV und die Erklärungen der Regierung
- 5.3. Regierung in der Sackgasse: Die Reichstagswahlen im Januar 1912
- 5.4. Die "Neue Rechte" auf dem Vormarsch: Die "nationale" Ideologie wird zur politischen Kraft
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die geheime Kooperation zwischen Alfred von Kiderlen-Wächter und dem Alldeutschen Verband vor der zweiten Marokkokrise und deren weitreichende Folgen. Im Mittelpunkt steht die Analyse des Einflusses des organisierten Nationalismus, repräsentiert durch den ADV, auf die außenpolitische Entscheidungsfindung des Deutschen Kaiserreichs. Die Arbeit beleuchtet die Wechselwirkungen zwischen innen- und außenpolitischen Faktoren und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der "neuen Rechten".
- Die außenpolitische Situation des Deutschen Kaiserreichs vor der zweiten Marokkokrise
- Die Ideologie und Ziele des Alldeutschen Verbandes (ADV)
- Die geheime Kooperation zwischen Kiderlen-Wächter und dem ADV
- Der Verlauf der zweiten Marokkokrise und die Rolle des ADV
- Die Folgen der Krise für die politische Entwicklung im Kaiserreich
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel 1 beschreibt die schwierige außenpolitische Lage des Deutschen Reichs vor der zweiten Marokkokrise, geprägt vom Erbe Bülows und innenpolitischen Spannungen. Kapitel 2 analysiert die Entstehung und Ideologie des Alldeutschen Verbandes (ADV) und dessen radikalnationalistisches Weltbild. Kapitel 3 beleuchtet die Vorgeschichte der Agadirkrise und die ersten Kontakte zwischen Kiderlen-Wächter und dem ADV. Kapitel 4 beschreibt den "Panthersprung" nach Agadir und die darauf folgende Pressekampagne des ADV, sowie die Reaktionen der beteiligten Mächte. Kapitel 5 behandelt den Marokko-Kongo-Vertrag und die Folgen der Krise für die politische Entwicklung im Kaiserreich, inklusive der Reaktion des ADV und den Aufstieg der "Neuen Rechten".
Schlüsselwörter
Alfred von Kiderlen-Wächter, Alldeutscher Verband (ADV), Zweite Marokkokrise, organisierter Nationalismus, radikale Nationalismus, Außenpolitik, Innenpolitik, Deutsches Kaiserreich, wilhelminische Ära, Bethmann Hollweg, Heinrich Claß, Geopolitik, Kolonialpolitik.
- Quote paper
- Ivo Jarowinsky (Author), 2008, Alfred von Kiderlen-Wächter und der Alldeutsche Verband vor der zweiten Marokkokrise. Die geheime Kooperation und ihre weitreichenden Folgen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/182739