Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Theodizee von Leibniz
2.1 Einführung und Hintergrund
2.2 Die beste aller möglichen Welten
2.3 Unterscheidung zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten
2.4 Die Zielgerichtetheit Gottes
2.5 Das metaphysische Übel
2.6 Die Freiheit des menschlichen Willens
2.7 Zusammenfassungen der Argumente
3. Grundlegende Kritik an Leibniz’ Lehre
3.1 Vorwurf der „petitio principii“
3.2 Die Absurdität einer „bestmöglichen Welt“
3.2.1 Journet I: Unmöglichkeit einer bestmöglichen Welt
3.2.2 Journet II: Unendl. Vollkommenheit vs. endliche Schöpfung
3.2.3 Russel: Die Welt im natürlichen Untergang
4. Die These von der „privatio boni“
4.1 Erklärung der Privationsthese
4.2 Kritik an der Privationsthese
5. Die These von der „reductio in mysterium“
5.1 Erklärung und Vergleich mit Leibniz
5.2 Kritik an Leibniz’ Variation der „reductio in mysterium“
6. Das Argument der Willensfreiheit
6.1 Aufbau des Arguments
6.2 Die Definition der Willensfreiheit
6.3 Die Leugnung der Willensfreiheit
6.4 Die Leugnung des Werts der Freiheit
6.5 Die Leugnung der Möglichkeit leidverursachender Freiheit
6.6 Die Leugnung des notwendigen Freiheitsmissbrauchs
6.7 Eine kurze Zusammenfassung
7. Das Allmachtsparadoxon
7.1 Allmacht und Willensfreiheit
7.2 Der ohnmächtige Gott
8. Das Problem der Allwissenheit
8.1 Klassische Lösungen
8.2 Die Lösung durch das Vorherwissen aller Möglichkeiten
9. Die natürlichen Übel
9.1 Naturgesetze als Ursache der Übel
10. Abschließende Gedanken
11. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Für das moderne Bewusstsein ist es „kaum noch des Denkens und Sagens wert: dass überhaupt kein Gott ist, weder ein glaubwürdiger, noch ein denkwürdiger, noch ein ab- wesender“1 - solche Aussagen sind angesichts des Leids in der Welt durchaus häufig und nachvollziehbar. Wie kann ein gütiger Gott all die Übel zulassen? Ist nicht die ein- zig vernünftige Antwort „Es ist kein Gott“? In der Theodizee-Debatte wurde vieles be- hauptet, kritisiert und versucht, um Gott zu rechtfertigen. Diese Arbeit behandelt die Lehre Leibniz’, die die faktische als die bestmögliche, von Gott geschaffene Welt be- schreibt.
Die Wahl des Themas fiel auf Leibniz, da dieser in herausragender Stellung den Über- gang in der Theodizee vom traditionellen zum neuzeitlichen Denken vollzieht. Trotz heftigster Kritik zeigt sich seine Lehre als überaus plausibel mit Argumenten, die auch in modernen Betrachtungen weiterhin benutzt und diskutiert werden. Gerade deswegen bietet sich Leibniz an, um, auf seinen speziellen Thesen aufbauend, allgemeine Lö- sungs- und Widerlegungsversuche zu diskutieren. Die Möglichkeit dieser Arbeit erwei- tert sich dadurch, um nicht nur aufzuzeigen, welchen Wert Leibniz’ Lehre hat, sondern darüber hinaus auch aktuell relevante Diskussionen darzustellen und deren Stichhaltig- keit zu prüfen. Zudem besteht das Anliegen, die Aussage, dass die Theorie Leibniz’ nicht mehr wiederholbar ist2, als unbegründet zurückzuweisen.
Diese Arbeit soll sich also nicht allzu genau auf die Lehre der besten aller möglichen Welten beschränken, sondern greift sich die Grundargumente Leibniz’ heraus, um sie im Lichte neuzeitlicher Lösungsversuche neu zu betrachten und ihre Aktualität zu be- leuchten. Hierzu wird zuerst in Leibniz’ Lehre eingeführt, um die Grundlage für die fol- gende Diskussion zu gewährleisten. Darauf folgen generelle Einwände der Kritiker, die widerlegt werden sollen. Die anschließende Behandlung der privatio boni und redutio in mysterium wird den Bedarf zeigen, die Übel in der Welt auf eine andere Weise zu rechtfertigen. Dies geschieht vor allem in Bezug auf die im großen Maße theodizee- relevante Thematik der Willensfreiheit, weswegen ihr in dieser Arbeit ein herausragen- der Stellenwert zugesprochen wird. Es wird sich jedoch weiter zeigen, dass auch das Freiheitsargument für Leibniz’ Theodizee nicht ausreicht. Der Schluss dieser Arbeit bezieht sich deswegen, leider nur in kurzer Form, auf eine Diskussion der Naturgeset- ze.3
2. Die Theodizee von Leibniz
2.1 Einführung und Hintergrund
Die Theodizee von Leibniz stellt sich den durchaus neuzeitlichen Fragen um die Prob- lematik der Begriffe „Naturnotwendigkeit“, „Vorherbestimmung“ und „(Willens- )Freiheit“ sowie deren Verhältnis zueinander und will eine Aufklärung der „verwor- rene[n] Begriffe von der Freiheit, der Notwendigkeit und dem Schicksal“.4 Was Leibniz hierbei besonders von anderen Philosophen seiner Zeit abhebt, ist sein Bild des Men- schen. Gründend auf dem Standpunkt neuzeitlichen Denkens wird der Mensch wie kaum zuvor als ein freies Subjekt von Erkenntnis und Handeln gesehen, mit einem aus sich selbst heraus entwickelten Wesen. Und dies nicht etwa in einer abstrakten, sondern - wie zu zeigen sein wird - einer konkreten Form, seiner Individualität. Ebenso bemerkenswert ist, wie Leibniz die Frage nach der Ursache des Seins und die Beschreibung der Welt als durchgängigen Kausalzusammenhang in seine Lehre integriert. Er stellt sich damit den Aufgaben neuzeitlichen Philosophierens und will aufzeigen, dass die Begriffe der Freiheit und Notwendigkeit, so wie sie bis dahin oft interpretiert wurden, die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens zerstören,5 da sie eine „Erkenntnis des Wahren, Guten und Gerechten zunichtemachen“.6
So kritisiert Leibniz beispielsweise Descartes Vorstellung der Freiheit Gottes, die darin besteht, dass Gott alle Wahrheiten in der Welt, inklusive logischer Wahrheiten, durch seinen Willen festgelegt hat - wonach die Möglichkeit bestünde, Gott hätte ebenso be- stimmen können, zwei plus zwei ergäbe fünf. Mit dieser Vorstellung wäre „Freiheit nur dem Namen nach gerettet“7, denn zum einen besteht bei solchen notwenigen Wahrhei- ten keine freie Wahlmöglichkeit, zum anderen scheint Gottes Freiheit somit zu einer rein „blinden Macht“8 zu verkommen, die man nicht weiter beschreiben kann. Bezüglich eines willkürlich handelnden Gottes, wie vor allem Hobbes ihn postuliert, kritisiert Leibniz, dass damit jegliche göttliche Gerechtigkeit zunichte gemacht werden würde, da die Austeilung von Wohltaten und Strafen undurchschaubar, zufällig und unbegreiflich, weil eben willkürlich wäre. Mit solch einer Vorstellung müsste man Gott als Tyrannen, als bösen Dämon identifizieren. Folglich wäre der Gottesbegriff an sich zerstört, denn „ein Wille, der sich immer von dem Zufall treiben ließe, wäre für die Weltregierung kaum besser als das zufällige Zusammenwirken der Atome, ohne Exis- tenz irgendeiner Gottheit“.9
Solch eine göttliche Willkür ist nach Leibniz zudem identisch mit einem System der Notwendigkeit und scheint damit „weiter nichts als die blinde Natur der angehäuften materiellen Dinge zu sein, welche nach den mathematischen Gesetzen mit absoluter Notwendigkeit handeln, wie die Atome in Epikurs System“.10 Als Folge kann man dem Menschen kaum noch einen adäquaten Freiheitsbegriff zusprechen, da dieser im Wider- spruch zur blinden Notwendigkeit der Wirklichkeit steht, die den Menschen bestimmt.11 Für Leibniz stellen sich also diese und ähnliche Deutungen der Welt als System not- wendiger, zufälliger oder willkürlicher Ereignisse oder Prozesse in der Form dar, als dass sie dem Menschen gegenüber schlichtweg gleichgültig sind. Somit liegt das Hauptaugenmerk seiner Theodizee auf der Verteidigung eines adäquateren, positiveren Freiheitsbegriffs - sowohl für Gott, als auch für den Menschen - gegenüber der Not- wendigkeit und Willkür. Dieser angestrebte Begriff der Freiheit bedarf dementspre- chend noch einer genaueren Beschreibung und Rechtfertigung.12
2.2 Die beste aller möglichen Welten
Unsere Welt ist „die beste (optimum) aller möglichen Welten“13 - so lautet der zentrale und oft zitierte Satz aus Leibniz’ Lehre. Der damit vordergründig proklamierte Opti- mismus sah sich heftigster Kritik ausgesetzt. Beim Anblick der vorherrschenden Übel und Ungerechtigkeiten in der Welt ist es auch nicht verwunderlich, wenn solch eine Aussage als zynisch und anstößig angesehen wird. Doch Kritiker, die den scheinbaren „Alles ist gut“-Charakter der Theodizee Leibniz’ angreifen und von vornherein ableh- nen, machen es sich zu leicht, da zumindest philosophisch nichts bedenkenwertes darin liegt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Lehre und ihrer Problematik muss sich entsprechender Mittel der Analyse und Argumentation bedienen um philosophisch relevante Kritik üben zu können. Ein erster Schritt in diese Richtung soll die folgende Darstellung der Lehre von der besten aller möglichen Welten bieten.
Es hat sich nun bereits gezeigt, dass Leibniz’ Stellung gegen ein weltbeschreibendes System absoluter Notwendigkeit bzw. Willkür die Aufgabe stellt, die göttliche Freiheit von eben solch einer Notwendigkeit oder Willkür auszuschließen, da sonst (zumindest aus theistischer Sicht) keine zufriedenstellenden Begriffe von Freiheit und Gerechtig- keit, aber auch Verstehbarkeit der Welt möglich sind. Leibniz muss zeigen, dass der Wille Gottes frei ist. Zusätzlich muss seinem freien Handeln ein einsehbarer Grund zu- geschrieben werden, „der die Erklärbarkeit der Welt begründet und gleichermaßen der freien menschlichen Praxis Orientierung gibt.“14 Um diese Aufgabe zu bewältigen un- terscheidet Leibniz zunächst zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten.15
2.3 Unterscheidung zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten
Vernunftwahrheiten werden so definiert, dass deren Negation ein logischer Wider- spruch bedeutet, also unmöglich ist. Beispielsweise widerspricht das Verneinen der Aussage „Die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks beträgt 180 Grad“ dem Begriff eines Dreiecks und ist somit ausgeschlossen. Tatsachenwahrheiten dagegen sind wider- spruchsfrei negierbar, also ist das Gegenteil auch möglich. Diese Auffassung impliziert, dass alle logischen, mathematischen und geometrischen Aussagen als absolut notwen- dig gelten und damit analytisch wahr sind. Daraus wird gefolgert, dass sie für jeden Verstand Gültigkeit besitzen - auch für den Verstand Gottes, dessen Willen keinen Ein- fluss auf diese Wahrheiten haben kann.
Im Gegensatz dazu ist den Tatsachenwahrheiten ein mögliches Sein immanent: Sie könnten sowohl wahr, als auch falsch sein, ohne gegen logische Notwendigkeiten zu verstoßen. Es ist zum Beispiel widerspruchsfrei denkbar, dass Caesar nicht ermordet wurde. So zeigt sich eine unendliche Vielfalt an „denkbaren Möglichkeiten, die als nicht-verwirklichte Bloßmögliches bleiben, als realisierte aber zufällige Tatsachen, also kontingent sind.“16 Die verschiedenen Möglichkeiten können nun allerdings nicht zufäl- lig oder beliebig miteinander verknüpft werden: „[Z]u dem Tyrannenmörder Brutus passt z.B. kein republikanisch gesinnter Caesar“.17 Die Verknüpfung kann nur nach be- stimmten, einer Harmonie unterworfenen Regelungen erfolgen. „Das Possible muss ‚kompossible‘ sein“18 - die Möglichkeiten müssen miteinander verträglich sein. Die Summe aller miteinander verträglichen Möglichkeiten stellt eine mögliche Welt dar, die nicht von der Vernunft ausgeschlossen werden kann, da sie widerspruchsfrei denkbar ist. Daraus folgt, dass auch die faktisch existierende Welt nicht notwendigerweise so existiert, wie sie ist. Sie ist kontingent und nur eine aus einer unendlichen Fülle von möglichen Welten.
Mit Bezug auf das Prinzip des zureichenden Grundes19 sagt Leibniz, dass nur Gott der Grund dieser kontingenten Welt sein kann. Aus den unendlichen Möglichkeiten einer Welt, die von Gott überblickt wurden, konnte dieser frei wählen. Diese Wahl aber „stempelt“ das Nicht-Gewählte „keineswegs zur Unmöglichkeit […]. Für Gott gibt es also eine Freiheit, die nicht nur vom Zwange, sondern auch von der Notwendigkeit un- abhängig ist“.20
An dieser Stelle muss Leibniz aufzeigen, dass die Wahl Gottes keines Falls willkürlicher Natur ist, also nicht eine beliebige Welt aus den Möglichkeiten herausgegriffen wurde. Wie kann nun zusätzlich zum Da-Sein dieser Welt das So-Sein erklärt werden? Gott muss in seiner Freiheit ein Ziel verfolgen um ein Gut zu erreichen.
2.4 Die Zielgerichtetheit Gottes
Für Leibniz ist „frei und gleichgültig nicht dasselbe“ und er hält „frei und bestimmt nicht für Gegensätze. Man ist niemals völlig gleichgültig im Sinne eines indifferenten Gleichgewichts“.21 Auch in einer freien Wahl ist man mehr zur einen als zur anderen Seite geneigt, ohne dass man zu dieser Wahl genötigt ist. Um die Zielgerichtetheit Got- tes zu erklären und näher zu bestimmen, unterscheidet Leibniz zwischen der logischen Notwendigkeit22 und einer moralischen Notwendigkeit. Besonderes Augenmerk muss darauf gelegt werden, dass diese beiden Arten strikt voneinander zu trennen sind. Die moralische Notwendigkeit ist keine unbedingt zwingende, die eine freie Wahl un- möglich macht, sondern „leitet den Willen zu jenem Gut, das das Beste ist oder als sol- ches erscheint.“23 Sie bestimmt viel eher, statt zu zwingen, da durch sie das als Gut er- kannte auch gesollt wird. Das Wesen des so gerichteten Willens besteht also in einem „dem Urteil gemäßen Streben zur Handlung“.24 Eine freie Handlung setzt nach Leibniz voraus, dass eine bewusste Wahl aus verschiedenen Möglichkeiten getroffen wird, und zwar hinsichtlich dessen, was das moralisch Notwendige als das Beste kennzeichnet. „[D]ie höchste Freiheit [besteht darin], der höchsten Vernunft gemäß in Vollkommen- heit zu handeln“.25
Mit dieser Definition schließt Leibniz nun sowohl absolute Notwendigkeit als auch Willkür aus. In diesem Freiheitsbegriff orientieren sich Handlungen nicht an zwingen- den Gesetzen, sondern an vernünftigen Zwecken. Da nach Leibniz Gott dem Menschen ähnlich ist26, wird gefolgert, dass bei ihm - wie bei uns - zwischen Verstand und Wille unterschieden werden muss und er an die gleichen Gesetze der Moral gebunden ist.27 Wie zuvor dargestellt, überblickt der göttliche Verstand die unendliche Fülle an mögli- chen Welten. Die moralische Notwendigkeit richtet nun seine Wahl auf die Welt, die das größte Gut darstellt und am Vollkommensten ist. Dies ist die, in der „sich die größte Mannigfaltigkeit mit der größten Ordnung vereinigt“.28 Durch die Vernunft wird dieses Gut erkannt und mit „moralischer Notwendigkeit“29 wird der göttliche Wille von die- sem angezogen. So erschafft Gottes Allmacht eben diese vollkommenste, beste aller möglichen Welten. Und dies ist die faktische Welt. Alles andere, als die beste aller möglichen Welten zu schaffen, wäre für Gott eine moralische Unmöglichkeit.30 Da eine Welt aus der Summe ihrer miteinander verknüpfbaren Möglichkeiten, den Kompossibilitäten, besteht, bedeutet es, dass Gott die Welt mit Hinblick auf alles, was in ihr passieren wird, erschafft: Gott hat „ein für allemal alles im Voraus geregelt“31 - ihr Gang ist vorherbestimmt.
Die grundlegenden Aufgaben Leibniz’ können bis hier als erfüllt angesehen werden: Er hat sowohl gezeigt, wie der Wille Gottes frei sein kann, als auch diesem Willen ein Ziel gegeben, unter vollkommenem Ausschluss einer Willkür. Doch hat er sich einem daraus resultierenden Problem zu stellen: Wenn Gott die Welt unter Berücksichtigung aller in ihr stattfindender Ereignisse, einschließlich der zukünftigen, erschaffen hat, also im Be- sitz eines Allwissens ist, muss er dann nicht auch zwangsläufig Urheber aller Übel sein?
2.5 Das metaphysische Übel
Es hat sich gezeigt, dass die von Gott geschaffene Welt das größtmögliche Maß an Vollkommenheit und damit an Güte besitzt. Dabei ist zu beachten, dass nur Gott selbst das absolut Vollkommene ist: „Gott konnte ihr [der Kreatur] nicht alles geben, ohne sie zum Gott zu machen; er musste also stufenweise Unterschiede in der Vollkommenheit der Dinge und ebenso Beschränkungen jeder Art geben“.32 Das Makelhafte in der Schöpfung stellt sich so als eine logische Notwendigkeit dar und wird von Leibniz als das „metaphysische Übel“ (malum metaphysicum)33 bezeichnet. Damit besitzt das Übel keine eigenständige Realität, kein wirkliches Sein und zeigt sich eben nicht als Sub- stanz, sonder nur in der dem Wesen immanente Begrenzung.34 So folgert Leibniz auch, „dass alles Unvollkommene aus Beschränkung, d.h. aus Privation stammt: denn be- schränken heißt, den Fortschritt oder die höchste Vollkommenheit aufhalten“.35 Damit ist die beschränkte Rezeptivität der Kreaturen der ermöglichende Grund für das physi- sche oder natürliche Übel (malum physicum) und das moralische Übel (malum morale).36 Mit dieser Argumentation wird gezeigt, dass Gott nicht der Urheber der Übel ist und sie auch nicht positiv will, aber Gründe haben muss, sie zumindest zuzulassen.
Denn es ist durchaus widerspruchsfrei eine Welt ohne Übel denkbar.37 Aber um des Besten willen hat er die Übel zugelassen:
Gott kann es nicht hindern, ohne gegen seine eigene Bestimmung zu handeln, ohne irgendetwas zu tun, das weit schlimmer ist als menschliche Verbrechen, ohne die Regel vom Besten zu verletzen: und das würde […] die Göttlichkeit vernichten. Also ist Gott durch eine moralische Notwendigkeit dazu gezwungen, das moralische Übel der Kreatur zuzulassen, und diese Notwendigkeit liegt in seiner Natur.38
So kann Leibniz sogar sagen, dass die Welt nicht mehr als die beste aller möglichen Welten gelten könnte, würde auch nur das geringste Übel fehlen.39 Denn jedes Übel stellt ein notwendiges Glied in der Verträglichkeit aller Ereignisse dieser Welt dar und kann somit als logisch notwendige Voraussetzung für ein umso wichtigeres Gut dienen, selbst wenn es für uns verborgen bleibt.
Leibniz hat damit gezeigt, dass die Übel in der Welt nicht durch Gott verursacht wur- den, da sie ihren Grund in der logisch notwendigen, beschränkten Rezeptivität der Krea- tur haben. Gott muss diese Übel allerdings zulassen, weil sie Teil der besten aller mög- lichen Welten sind.
Ein weiteres Problem stellt sich in Bezug auf das Allwissen, bzw. Vorherwissen. Denn wie kann man von einem freien Menschen reden, wenn doch alles schon fest steht? Da Leibniz dem Menschen den freien Willen nicht absprechen möchte, muss er dieses Problem noch lösen.
2.6 Die Freiheit des menschlichen Willens
Es wurde bereits gesagt, dass Gott in der Theodizee Leibniz’ das Prädikat der Allwis- senheit zugeschrieben bekommt. Damit überblickt er den gesamten Verlauf der Welt, ob nun Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges. Dies spricht für eine deterministi- sche Lehre, die absolut freie Entscheidungen des Menschen unmöglich machen. Doch auch wenn alles von Gott Vorausgewusste geschehen wird, geschieht es nicht, weil es vorausgewusst wurde. Bezogen auf den Standpunkt, dass Aussagen über Zukünftiges entweder wahr oder falsch sind40, gilt, dass zukünftige Wahrheiten schon bestimmt sind.
Die zukünftigen Geschehnisse ereignen sich, weil sie in der Folge nichtnotwendiger und auch freier, dennoch aber nicht grundloser Ereignisse stehen; und weil sie so aus Gründen sich ereignen werden, weiß Gott sie voraus. Sowenig also das Wissen die Existenz der vergangenen und gegenwärtigen Geschehnisse bewirkt, so wenig bewirkt das Vorherwissen die Existenz der zukünftigen. Deshalb widerspricht das göttliche Vorauswissen keineswegs der menschlichen Freiheit.41
Und während die Unvollkommenheit der Menschen der ermöglichende Grund für das Übel ist, so sieht Leibniz die Freiheit des Menschen als die bewirkende Ursache des Bösen.42 Dieser freie Wille ist jedoch niemals an sich böse: Er „ist auf das Gute gerich- tet, und trifft er auf Böses, so geschieht es unabsichtlich, da das Böse unter der Hülle des Guten verborgen und gleichsam maskiert ist“.43 Davon abgrenzend kann man eine Handlung aber durchaus als moralisches Übel beschreiben - die Sicht des Handelnden war in dem Fall zu beschränkt, als dass er ausreichende Klarheit vom moralisch Not- wendigen haben konnte. Denn unser Wille handelt nach Motiven44, die sich auf Güter wie momentanes Vergnügen, Gesundheit, Wohlbefinden u.Ä. beziehen. Solche Motive lenken den Willen ebenso vom moralisch Richtigen ab, wie gewisse Erbanlagen, Lei- denschaften, Erfahrungen, Ängste etc. „[B]eim Wollen folgen wir immer dem Ender- gebnis aller Neigungen, die ebenso der Vernunft wie den Leidenschaften entstammen, und dies geschieht häufig ohne ein ausdrückliches Urteil des Verstandes“.45
Leibniz möchte also gezeigt haben, dass göttliches Vorauswissen kein Widerspruch zur menschlichen Freiheit ist, da dieses Wissen nicht Ursache zukünftiger Entscheidungen sein kann. Zudem kommt ein mögliches Böses erst durch den freien Willen des Menschen in die faktische Welt.
[...]
1 Löwith, Karl: Welt und Mensch in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche. Göttingen: 1967, S. 250.
2 Vgl.: Janßen, Hans-Gerd: Gott - Freiheit - Leid. Das Theodizeeproblem in der Philosophie der Neuzeit. Darmstadt: 1989 (Grundzüge, Bd. 74), S. 39. Im Folgenden zitiert als “Janßen” mit entsprechender Sei- tenangabe.
3 In dieser Arbeit wird ein theistisches Gottesbild vorausgesetzt, das die Prädikate der Allmacht, Allwissenheit und Allgüte beinhaltet und damit einem klassischen Gottesbegriff entspricht. Biblische, christliche oder allgemein religiös fundierte Bezüge werden ausgespart, um eine möglichst auf logischer Basis ausgelegte Diskussion zu gewährleisten.
4 Leibniz, G.W.: Die Theodizee. Versuche in der Theodizee über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels. Übers. von A. Buchenau. Hamburg: 1958, S. 6. Im Folgenden zitiert als „TH“ mit entsprechender Seitenangabe.
5 Vgl.: Heinekamp, Albert: Das Problem des Guten bei Leibniz. Bonn: 1969 (Kant-Studien Erg. H. 98), S. 15 ff.
6 Janßen, S. 17 f.
7 TH, S. 247.
8 Janßen, S. 18.
9 TH, S. 425.
10 Ebd., S. 433.
11 Vgl.:. Ebd., S. 322 f.; Janßen, S. 19.
12 Es ist anzumerken, dass diese Einführung eine sehr grobe, vereinfachte und unkritische Beschreibung ist. Die angesprochenen Thesen von Descartes und Hobbes sowie die Entgegnungen von Leibniz ver- dienten ungleich größerer Aufmerksamkeit, die in dem Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht gegeben werden kann.
13 TH, S. 101.
14 Janßen, S. 21.
15 Vgl. TH, S.34.
16 Janßen, S. 22.
17 Wandschneider, Dieter: Art. Notwendigkeit III. In Hist. Wb. d. Phil. Bd. 6. Basel; Stuttgart: 1984, S. 974.
18 Janßen, S. 22.
19 Kurz gefasst besagt das Prinzip, dass alles Sein eines Grundes bedarf - ein für die Erkenntnis fundamentales Prinzip, welches für Leibniz’ Theodizee eine gesetzte Grundannahme darstellt.
20 TH, S. 279 f.
21 Ebd., S. 194.
22 Die logische Notwendigkeit bei Leibniz ist gleichzusetzen mit den Begriffen der absoluten oder metaphysischen Notwendigkeit, da sie andere Seinsweisen ausschließt. Vgl.: Janßen, S. 23.
23 Janßen, S. 24.
24 TH, S. 335.
25 Leibniz, G. W.: Metaphysische Abhandlungen. Übers. von H. Herring. Hamburg: 1958, S. 7.
26 Vgl.: TH, S. 4.
27 Vgl.: ebd., S. 58, 100, 257 f., 276 f.
28 Leibniz, G. W.: Vernunftsprinzipien der Natur und der Gnade. In dass.: Monadologie. Übers. von A. Buchenau. Hamburg: 1956, S. 17. Im Folgenden zitiert als „VNG“ mit entsprechender Seitenangabe.
29 Janßen, S. 25.
30 Vgl.: TH, S. 101, 257 f.
31 TH., S. 101.
32 Ebd., S. 117.
33 Ebd., S. 110.
34 Bei Leibniz ist - im Gegensatz zum traditionellen Privationsbegriff - die Rede von einer Limitation an- stelle eines Mangels an Gutem. Vgl. TH, S. 110. Die Unterschiede erscheinen hinsichtlich dieser Diskussi- on jedoch als sehr gering. Eine genauere Auseinandersetzung mit der Privationsthese folgt im Abschnitt 4.
35 TH, S. 421.
36 Das natürliche Übel bezeichnet gemeinhin Naturkatastrophen und Leiden wie Schmerz, Krankheit u.Ä. Das moralische Übel bezeichnet leiderzeugende Taten. Eine genauere Betrachtung erfolgt in den noch folgenden Abschnitten.
37 TH, S. 102, 111.
38 Ebd., S. 218.
39 TH, S. 102.
40 Eine Auffassung, die zu Leibniz’ Zeit durchaus allgemein anerkannt war - vgl.: Janßen, S. 31 - sich in der Folgezeit aber auch Kritik erwehren musste und noch muss. Siehe hierzu auch Abschnitt 8.
41 Janßen, S. 31; Vgl.: TH, S. 120 ff., 403.
42 Vgl.: TH, S. 217, 320.
43 Ebd., S. 215.
44 Vgl.: ebd., S. 457 f.
45 Ebd., S. 129.