Med 3.0 - Handbuch für Kranke und Noch-Gesunde


Libro Especializado, 2011

294 Páginas


Extracto


Inhalt

Vorwort

Einleitung

Der alltägliche Irrsinn

In der Arztpraxis

E-Mail-Kommunikation mit dem Arzt

Im Krankenhaus und in der Rehaklinik

Im Pflegeheim

Schädliche Neben- und Wechselwirkungen

Psychische Beschwerden - Psychotherapie - Psychopharmaka

Naturheilverfahren

Röntgen

Effektives Senken von Übergewicht

Versorgungsamt

Gibt es überhaupt Evidenz für den Nutzen der gängigen Osteoporosetherapie? Kann sie sogar schaden?

Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK)

Krebsvorsorge

Krebs

Impfen

Kurantrag - Rentenantrag

Bedeutung und Rolle des Vitamin D zur Erhaltung Ihrer Gesundheit

Vorschläge

Abkürzungsverzeichnis

Über den Autor

Vorwort

Heutzutage ist für die meisten Menschen der Gang zum Arzt eine Selbstverständlichkeit geworden, für viele ist der eigentliche Grund eines Arztbesuchs gar der soziale Austausch mit dem Mediziner oder anderen Patienten. Warum eine leichte Grippe oder einen verstauchten Fuß selbst ausheilen lassen? Die Behandlung zahlt ja die Krankenkasse, fällig werden allenfalls die Praxisgebühr und die Zuzahlung für Medikamente. Eingenommen wird in der Regel alles, was verordnet wird, der Hausarzt des Vertrauens wird schon wissen, was er da verschreibt. Warum Wechselwirkungen von Medikamenten selbst prüfen? Man ist ja selbst kein Mediziner und zumindest der Apotheker wird doch eine Arzneimittelkombination nicht ungeprüft weitergeben. Oder etwa doch?

Selbstverständlich wäre es unsinnig, das Vertrauen in den Arzt pauschal in Frage zu stellen. Med 3.0 schürt jedoch ein gesundes Misstrauen, das man durchaus mitbringen sollte, wenn einem das kostbare Gut Gesundheit am Herzen liegt, nicht nur als unmittelbar Betroffener, sondern oft auch als Angehöriger und Verantwortlicher.

Dieses Buch erörtert Fragen, deren Antworten viele zu kennen glauben. Es gibt Hilfestellung im Umgang mit dem Gesundheitswesen und zeigt Missstände auf, derer sich kaum jemand bewusst ist.

Remscheid, Dezember 2011, Daniel Bieter

Einleitung

Für die Hälfte aller chronischen Erkrankungen gilt: Die Lebenszeit und -qualität, die Patienten durch die medizinische und psychotherapeutische Behandlung ihrer Erkrankungen gewinnen, entspricht in etwa der Zeit und Lebensqualität, die den Ärzten und Terapeuten während ihrer Arbeitszeit (Behandlung) verloren geht und die den Beitragszahlern durch diejenige Arbeit verloren geht, die sie leisten müssen, um die kompletten Kosten und Folgekosten der Krankenbehandlung über ihre Versicherungsbeiträge aufzubringen.

Dieses Buch will Ihnen helfen, bei allem, was mit Gesundheit und Krankheit zu tun hat, Geld und Zeit zu sparen, Schäden und weitere Krankheiten zu vermeiden und gesünder zu werden.

I. Fragwürdige Bilanz von Medizin und Psychotherapie.

Mit einem ungeheuren Aufwand von über 234 Mrd. Euro im Jahr [Was Krankheit kostet. Deutsches Ä rzteblatt (abgekürzt: Ä B), 19. September 2008, S. 102; Angaben des statistischen Bundes- amtes, 2006] wird in Deutschland ein gigantisches Gesundheitssystem am Leben gehalten, das den gesetzlich versicherten Patienten durchschnittlich 16 oder mehr Arzt- und Psy- chotherapeutenkontakte im Jahr bezahlt. Hausärzte werden mit jährlich knapp sieben Kontakten am häufigsten aufgesucht. [Bei Arztbesuchen sind die Deutschen Weltmeister, Ä rzt- liche Praxis (abgekürzt: Ä P), 21. November 2006, S. 18] Dabei sind die Behandlungen beim Zahnarzt und in Krankenhäusern, Rehakliniken oder beim Unfallarzt der BG oder bei der Betriebsärztin noch gar nicht mitgezählt. [ Ä rzte-Zeitung (abgekürzt: ÄZ), 10./11. Novem- ber 2006, S. 1: » 16 Arztbesuche pro Jahr « ] Trotzdem sind die Deutschen deswegen nicht gesünder als ihre Nachbarn, sie leben nicht länger als die Griechen [ http://de.wikipedia. org/wiki/-Datei:Lebenserwartung_Europa_M_2006.jpg]... und zahlen doch mehr als diese . [ www.oecd.org/document/30/0 ,333,en_2649_34631_12968734_1_1_1_37407,00.html] Sie sind auch nicht kränker und bräuchten vielleicht deswegen so viele Behandlungen. Es ist einfach nur eine schlechte Angewohnheit, die durch die Flatrate »Praxisgebühr« geför- dert wird und die Schaden erzeugt. Denn viele Behandlungen, Untersuchungen und Medikamente bringen keinerlei Nutzen, garantieren aber unerwünschte Wirkungen, die immer mit einer bestimmten statistischen Wahrscheinlichkeit eintreten.

Zudem gehen die Deutschen, egal, ob gesetzlich oder privat versichert, noch zu weite- ren Behandlern: zu Heilpraktikerinnen und Lebensberaterinnen, zum Handauflegen, zu Wellness, Spezialmassagen und Zusatzkuren. Dieser zusätzliche Gesundheitsmarkt, oft durch Schwarzgelder gespeist, dürfte weitere 50 Mrd. Euro oder mehr im Jahr ausma- chen. Man stelle sich nur vor, wie viele Knochen für über 300 Mrd. Euro geschunden werden müssen, um dieses Geld zu verdienen: Bei einem durchschnittlichen Stunden- verdienst (ohne Arbeitgeberabgaben) von 20 Euro in Deutschland müssen 15 Mrd. Arbeitsstunden erbracht werden, um 300 Mrd. Euro aufzubringen. Das sind 430 Mio.

Arbeitswochen zu je 35 Stunden (35 Stunden ist die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland). Oder 8,6 Mio. Arbeitsjahre. Mit anderen Worten: 8,6 Mio. Menschen müssen ein ganzes Jahr ihre ganze bezahlte Arbeitskraft geben, um das deutsche Gesundheitswesen am Laufen zu halten.

Bei etwa vierzig Millionen Beschäftigten in Deutschland [Statistisches Bundesamt Deutsch- land, Pressemitteilung Nr.065 vom 26.02.2009] erscheint dies als krasses Missverhältnis. Das Ganze ist ein schlechter Witz. Besonders, wenn man bedenkt, wie miserabel das Resultat ist: Jedes Jahr sterben etwa 210.000 Menschen in Deutschland an Krebs [ http://www. rki.de/nn_225840/DE/Content/GBE/DachdokKrebs/Broschuere/kid2006.html__nnn=true], in Deutschland findet sich die höchste Hypertonie-Prävalenz in Europa [Zitiert nach Hoch- drucktherapie in Deutschland kurieren, Medical Tribune (MT), 26. Januar 2007, S. 24], von über 20 Mio. Menschen, die in Deutschland unter Hypertonie leiden, werden nur 10 % der Männer und 21 % der Frauen richtig behandelt [Versorgungslage unbefriedigend, MMM- Fortschr. Med Nr. 49-50/2007 (149. Jg.), S. 6, zitiert nach Rump, Lars-Christian, Präsident der Hochdruckliga- Tagung 2007 in Bochum] Zwar würden 75 % der hypertonen Diabetiker behandelt, aber nur 7,5 % erreichten den Zielwert von unter 130/80 mmHg [a.a.O.]. In Deutschland ist die Situation kaum besser als in Österreich: Dort wissen nur ca. 50 % über ihren Blutdruck Bescheid - im Gegensatz zu den USA, wo 70 % der Befragten ihre Blutdruckwerte kennen. In Österreich sind gut 1 Million Hypertoniker bekannt. Somit kann dort von einer weiteren Million ausgegangen werden, die als Hypertoni- ker unerkannt leben. Allerdings sind auch von den bekannten Hochdruckpatienten in Österreich nur ca. 30 % in Behandlung. Von diesen ist wiederum nur ein kleinerer Teil so eingestellt, dass von einem befriedigenden Ergebnis gesprochen werden kann, woge- gen die behandelnden Ärzte der Meinung sind, 55 % der Patienten gut eingestellt zu haben [ http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Arterielle_Hypertonie&oldid=39868556 ]. Der Rest erleidet durch die unzureichende oder ausbleibende Behandlung Schäden, zum Beispiel kaputte Nieren, Schlaganfall oder Herzinfarkt. Ein Großteil der chronischen Nierenschäden bleibt allerdings auch wieder unerkannt und, wenn erkannt, wird oft inadäquat behandelt. Einfachste Maßnahmen jedoch, wie zum Beispiel die wichtigen Auffrischimpfungen gegen Wundstarrkrampf oder Diphtherie, werden zu selten durch- geführt, weil viele Ärzte keine Zeit haben, nach dem Impfstatus ihrer Patienten zu fra- gen: Ein Großteil der Senioren hat in Deutschland einen unzureichenden Impfschutz.

Die Hälfte der Bilanz der Medizin ist aber gar nicht so schlecht. Die meisten Erkran- kungen, die das Leben so mit sich bringt, lassen sich zwar oft nicht heilen oder nur mit einem Defekt heilen, aber sie sind doch einigermaßen in den Griff zu bekommen. Man nennt den Zustand dann oft: Der Patient ist gut eingestellt. Damit meint man: Der Bluthochdruck oder die Zuckerkrankheit oder die Fettstoffwechselstörung oder das Rheuma oder die Schmerzen sind zwar nicht geheilt worden, sind aber mittels Medika- menten im grünen Bereich. Oft müssen diese Medikamente dann das ganze Leben lang eingenommen werden.

Genau das Gleiche gilt auch für die Behandlung der Hypertonie: Oft muss diese Behand- lung zwar sein, aber geheilt wird durch Blutdrucktabletten niemand, nur mehr oder weniger gut »eingestellt«, was - zugegeben - für viele Hypertoniker (Hochdruckkranke) ein Fortschritt ist. Für die meisten aber ist die Behandlung nur ein willkommenes Alibi, um weiterzumachen wie bisher. Der Lebensstil wird nicht geändert, wozu auch, man bekommt ja Tabletten, von denen alle Ärzte und Fachärzte sagen, dass sie gut für einen sind. Dann muss das ja wohl auch so sein.

In den USA wird erwartet, dass die Kosten für die Untersuchung und Behandlung von Herzkreislauferkrankungen bis zum Jahr 2030 von 200 Mrd. Euro im Jahr 2010 auf 590 Mrd. Euro steigen könnten. Das Gesundheitssystem müsse daher den Fokus stärker auf Prävention und frühe Intervention legen [Abgewandelt zitiert nach ÄZ, 1.2.2011, S. 1]. Von Arbeitenden mit einem durchschnittlichen Alter von Mitte 40 hatten nur 35 % einen normalen Blutdruck und von den Bluthochdruckkranken hatten nur 7,5 % unter blutdrucksenkender Terapie normale Blutdruckwerte während der Arbeit. Das zeigten Blutdrucklangzeitmessungen während der Arbeit, die über 5 Jahre hinweg immer wieder gemacht wurden [zitiert nach ÄZ, 22. November 2006, S. 1]. Die Zielwerte für Blutdruck werden in Deutschland oft nicht erreicht: Nur maximal jeder fünfte Hypertonie-Patient in Deutschland hat einen Blutdruck unter 140/90 oder bei erhöhtem Risiko (z. B. Dia- betes) unter 130/80 mmHg [Nach Rump, Lars-Christian aus ÄZ, 26. November 2007, S. 4, Ziel- werte für Blutdruck oft nicht erreicht]. Wie man selbst dazu beitragen kann seinen erhöhten Blutdruck dauerhaft zu senken, erfahren Sie in diesem Buch.

Die Innere Medizin senkt bei einigen Erkrankten mittels Medikamenten den Blutdruck, die Blutfette, den Blutzucker, killt Bakterien mittels Antibiotika, aber sie heilt regelmäßig nicht die Krankheit an sich. Wenn man den Blutdruck mit Tabletten gesenkt hat, ist er zwar niedriger, aber die Krankheit »Bluthochdruck« ist ja dadurch nicht geheilt worden, sondern ist immer noch da.

Die Abhängigkeit von Tabak und Alkohol kostet die deutsche Volkswirtschaft über 60 Mrd. Euro pro Jahr. Für medizinische Behandlung fallen bei Rauchern 8,7 Mrd. Euro an, die indirekten Kosten betragen jedoch 24,9 Mrd. Euro durch Produktivitäts- ausfälle, frühzeitige Verrentung und Kosten der Krankenversicherung für zum Beispiel Krankentagegeld. Die direkten Kosten bei Alkoholsucht (Behandlungskosten der verur- sachten Krankheiten) werden auf 10 Mrd. Euro geschätzt, die Folgekosten (Arbeitsaus- fall, Frührente, Krankentagegeld) belaufen sich auf 16,7 Mrd. Euro. Weder die Medizin noch die Psychotherapie haben wirksame Mittel in der Hand, um die Menschen von der Sucht Alkohol oder Tabak zu befreien. Letzten Endes läuft es auf gut gemeinte Appelle an die Süchtigen hinaus. Gegen-Medikamente erzeugen viele Nebenwirkungen, heilen die Menschen aber nicht von ihrer Sucht. Auch Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie oder Psychoanalyse hilft nicht richtig, kostet nur unnötig Geld und Zeit.

Die gesetzlichen Krankenversicherungen wenden jährlich fast 125 Mio. Euro für die Behandlung gastrointestinaler (Magen-Darm-) Nebenwirkungen von Mitteln wie ASS und Diclofenac auf. 1.100 bis 2.200 Menschen sterben in Deutschland jährlich an den Nebenwirkungen von Antirheumatika wie Voltaren (Diclofenac), Aspirin (ASS) oder Ibuprofen und verwandten Mitteln. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen [Zitiert nach » Reduziert den Schmerz, schont die Organe « , Der Allgemeinarzt 9/2007, S. 39] [Zitiert nach » tNSAR versus Coxibe: Was ist gesichert? «« - Rund 2.200 Tote jährlich durch Komplikationen im GI-Trakt, Ä P, 22, 29. Mai 2007, S. 8]. Oft erwischt es hier auch die Migranten, die nicht oder nicht richtig Deutsch sprechen und noch seltener Deutsch lesen können. Beipackzettel (BPZ) wandern da noch öfters als bei Deutschen ungelesen in den Müll und Antirheumatika werden trotz Bauchweh oder Asthma eingenommen.

Wer liest schon die folgenden Hinweise zu den Gegenanzeigen (Kontraindikationen) von Diclofenac (»Diclo«) oder Voltaren® Tabletten oder Zäpfchen? Viele Ausländer können sie nicht lesen, BPZ liegen fast immer nur auf Deutsch bei. Im Krankenhaus bekommt man fast nie den BPZ zu Gesicht:

Diese Arzneimittel dürfen nicht angewendet werden - bei bekannter Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff Diclofenac oder einen der sonstigen Bestandteile des Arzneimittels - bei ungeklärten Blutbildungs- und Blutgerinnungsstörungen - bei Magen- und Darmgeschwüren - bei gastrointestinalen, zerebrovaskulären oder anderen aktiven Blutungen - in der Schwangerschaft im letzten Drittel.

Gegenanzeigen bei Kindern und Jugendlichen

Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren dürfen Diclofenac 75, Diclofenac retard 100, Diclofenac uno und Diclofenac 100 Zäpfchen nicht anwenden, da der Wirkstoffgehalt zu hoch ist. Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren dürfen Diclofenac 25 Tabletten/ Diclofenac 50 Tabletten sowie Diclofenac 25 Zäpfchen/ gar nicht anwenden, da keine ausreichenden Erfahrungen vorliegen [Aus der Fachinformation zu Diclofenac].

Zum Vergleich: Im deutschen Straßenverkehr sterben immer weniger Menschen. Zuletzt waren es im Jahr 2009 hochgerechnet 4.100 [ http://www.motorsport-total.com/auto/ news/2009/12/Niedrigster_Stand_der_Verkehrstoten_seit_1950_09122902.html]. Früher war es ein Mehrfaches und bereits im Jahre 1929 wurden in Deutschland 5.867 Verkehrstote gezählt, obwohl es damals sehr viel weniger Autos gab als heute [Artikel auf welt.de vom 3. August 2007, 16:00 Uhr]. Zu Recht hat man sich über die vielen Verkehrstoten und -verletzten aufgeregt und immer neue Techniken wie Gurt oder ABS oder Regulierungen wie Geschwindigkeitsbeschränkungen gefordert und eingeführt. Was aber ist mit der immensen und zunehmenden Zahl an unerwünschten Wirkungen, Schäden, Verletz- ten und Toten durch medizinische und psychotherapeutische Anwendungen? In diesem Buch erfahren Sie, wie Sie sich besser vor Schäden durch Psychotherapie oder Medizin schützen können.Tausende Menschen sterben hierzulande im Jahr an unerwünschten medizinischen Ereignissen, die Hälfte davon wäre vermeidbar [Der Allgemeinarzt 9/2007, S. 39; Ä P, 22, 29. Mai 2007, S. 8; Der Hausarzt, 20/06, S. 34 nach Kommunikationsplattform im Gesundheitswesen, Mai 2001; Lancet, Bd. 374, S. 1945]

Jedes Jahr erleiden rund sieben Millionen Patienten weltweit Komplikationen durch einen chirurgischen Eingriff. Eine US-Studie für die WHO, in welcher erstmals die Gesamtzahl aller operativen Eingriffe weltweit ermittelt wurde, kommt zu dem Schluss, dass die Hälfte dieser Fälle vermeidbar gewesen wäre. [Nach » Weltweit eine Viertelmilliarde Op pro Jahr « ÄZ, 25. Juni 2008, S. 5, nach » Te Lancet « online]

II. Krankheiten werden oft nur verwaltet statt sie zu heilen.

Wer definiert eigentlich, was gute Medizin und Psychotherapie in Deutschland ist? Die Mediziner? Die Psychotherapeuten? Die Kranken oder die Noch-Gesunden? Die Poli- tiker oder Ärztefunktionäre oder die Wissenschaftler? Genau weiß man das nicht. Die Meinungen über den Zustand des deutschen Gesundheitswesens gehen weit auseinan- der, sind auch tagesaktuellen Schwankungen unterworfen. Wenn der Dienstwagen von Gesundheitsministerin Schmidt im Juli 2009 in Spanien geklaut wurde, heißt es von Betroffenen (Beitragszahlern der gesetzlichen Krankenkassen) in einem Leserbrief in einer Boulevardzeitung: »Skandal! So geht Frau Schmidt mit Steuergeldern um, wäh- rend wir für jeden Euro Fahrtkostenersatz bei der Krankenkasse kämpfen müssen!« [BILD] Also ein Beispiel über den schlechten Zustand des Gesundheitswesens. Wenn es um die Versorgung von Kranken mit Ersatzteilen geht (zum Beispiel künstlichen Kniegelenken) hieß in der gleichen Zeitung - als Beispiel für die sehr gute Qualität des Gesundheitswesens: »Qualität und Versorgungsgrad mit künstlichen Gelenken machen Deutschland zum Spitzenreiter in der Welt!« [BILD] Insider vermuten aber, dass viel zu viele künstliche Gelenke in Deutschland eingesetzt werden - des Geldes wegen.

Dass einige das deutsche Gesundheitswesen für völlig überdreht halten und verkommen zu einem herz- und hirnlosen Massenkonsum ärztlicher, psychotherapeutischer und pharmazeutischer Leistungen, geht in dieser Diskussion oft unter. Zu sehr sind die Ärzte an möglichst vielen Patienten in ihren Praxen und in den Krankenhäusern interessiert, auf der Jagd nach Geld und Punkten: Fallpauschalen, Quartalspauschalen, ungedeckelte (nicht budgetierte) Vorsorgeleistungen (z. B. Gesundheitsuntersuchung, Krebsvorsorge). Oder, wenn es um Psychotherapeuten geht: Diese sind auf der Jagd nach psychisch Kran- ken, aber am besten sollten diese nicht schwer psychisch krank sein, denn die machen zu viel Arbeit und sind vom Ergebnis her eher frustran. Am besten sind weitgehend Gesunde, denen die Psychotherapeuten eine »Anpassungsstörung« andichten können. Wenn dann noch eine leicht gestörte biografische Anamnese als Begründung herhält, um weitere 25 Terapiestunden von der Kasse bewilligt zu bekommen: perfekt! Wenn Psychotherapeuten sich immer mehr mit Lebensberatung statt mit Krankenbehandlung abgeben, ist das nicht gut, sondern ein Beispiel für die Überdrehtheit unseres Gesund- heitssystems: zu viel Aufwand, zu hohe Kosten und zu wenige Resultate. Die schwer psychisch Kranken bleiben auf der Strecke und finden keinen Terapieplatz, werden von Hausärzten und Psychiatern medikamentös »eingestellt«.

Aber es ist nunmal einfacher, einen weitgehend körperlich und psychisch gesunden jungen Mann, der sich Sorgen wegen seiner Existenzgründung macht, stundenlang zu beraten und ihm Mut zuzusprechen, als ernsthaft psychisch Kranke zu behandeln. Folgender Ausriss aus einem Arztbrief, den mir ein psychologischer Psychotherapeut geschickt hat, beschreibt die »Behandlung« eines gesunden jungen Mannes, der sich als Maler und Tapezierer selbstständig machen will:

Ich berichte kurzüber o.g. Patienten, der sich bei mir seit 18.05.2009 in Behandlung befin det. Die Symptomatik hat sich gebessert. Die Terapie wird fortgesetzt. Es handelt sich um eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie; bisher fanden insgesamt 113 Sitzungen statt. Der Pat. beschäftigt sich derzeit mit dem Aufbau seiner Selbständigkeit.

Auch hier gibt es keinerlei finanzielle Anreize für die Patienten, darüber nachzudenken, ob das alles sinnvoll ist, was der Terapeut macht. Offenbar muss es sinnvoll sein, denken sie, denn die Krankenkasse zahlt ja alles.

Die Apotheker runden dieses schräge Bild ab mit ihrer Gier nach Rezepten, am bes- ten natürlich mit vielen einzelnen verschreibungspflichtigen Medikamenten, die - bei einem Kassenpatienten - für jedes einzelne Mittel eine Beratungspauschale auslösen, die die Apotheke auch dann bekommt, wenn sie keinerlei Beratung durchführt. Dass die werdende Mutter, die man auch als Apothekerin am Kugelbauch der Hochschwangeren erkennen kann, kein ASS nehmen sollte und der Senior nicht Marcumar mit Diclofe- nac kombinieren sollte, auch wenn vom Arzt so verschrieben, geht dann schon mal unter: Die Hochschwangere bekommt von der Apothekerin ihr ASS und der Senior sein verschriebenes Marcumar und Diclofenac. Beides kann lebensbedrohliche Schäden hervorrufen: Das ASS kann das ungeborene Kind schädigen, der Senior an dieser Medi- kamentenkombination durch unerwünschte Wechselwirkungen verbluten.

Immer mehr Arzt- und Psychotherapeutenkontakte, immer höhere Medikamenten- kosten bei gesetzlich und Privatversicherten, aber eine grundlegende Besserung des Gesundheitszustandes ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Es gibt eine stete Zunahme von chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht, Arthrose. Wie kann das sein? Klar, technisch Machbares wird meist gut erledigt, dafür haben wir zum Glück Ärztinnen und Ärzte, die immer besser und feiner operieren und flicken kön- nen. Wenn die Gallenblase so kaputt ist, dass sie raus muss, dann geschieht das oft endoskopisch, minimalinvasiv. Ein echter Fortschritt. Wenn der Schneidezahn bei der 15-jährigen ausgeschlagen wurde, dann kann man ihn oft wieder dauerhaft einsetzen. Und selbst schlimme Unfallverletzungen, egal, ob zu Hause, im Verkehr oder im Betrieb, werden oft erstaunlich gut wieder repariert. Aber warum bleiben fast zwei Drittel der Bluthochdruckkranken in Deutschland unerkannt und die erkannten zu beinahe zwei Dritteln unzulänglich behandelt? Warum kriegen Psychotherapeuten fast nichts von den ernsteren psychischen und psychosomatischen Erkrankungen in den Griff: Übergewicht durch psychisch bedingte Essstörungen nimmt zu statt ab, auch wenn die Betroffenen 100 und nicht nur 25 Stunden zum Psychotherapeuten gegangen sind. Alkohol, Nikotin, Essstörungen (egal, ob zu viel oder zu wenig gegessen wird), Zwang, Angst, Depression, Schlafstörungen, Nervosität und Unruhe: Die heilende Wirkung der Psychotherapie sucht man vergeblich.

Statt dessen »behandeln« Psychotherapeuten lieber Gesunde mit Weltschmerz oder Lie- beskummer, Existenzgründer in Nöten oder Menschen mit Beziehungsproblemen und führen Lebensberatungen durch. Haben Sie schon mal von einem Betroffenen gehört, der durch Psychotherapie wirklich geheilt worden wäre? Oder auch nur bedeutsam und dauerhaft gebessert? Richtig, solche Meldungen haben Seltenheitswert. Und wenn eine Besserung zustande gekommen war, dann wäre sie höchstwahrscheinlich auch ohne Psy- chotherapie erfolgt, nämlich einfach nur dadurch, dass der oder die Betroffene in seinem oder ihrem Leben etwas ernsthaft ändern wollte. Dieser Wunsch zur Veränderung führte dann unter anderem auch zur Terapeutin. Diese wiederum schreibt sich dann später die Besserung der Krankheit unberechtigterweise auf ihre Fahnen.

Patienten hören meistens nicht auf ihren Arzt, wenn er ihnen sagt, dass sie unbedingt abnehmen und auf Zigaretten und übermäßigen Alkoholgenuss verzichten müssen. Sie essen immer weiter, werden noch dicker und kaufen sich schon bald ein zweites Päckchen Zigaretten am Tag. Auch gegen den ausdrücklichen Rat ihres Arztes sitzen sie weiter nur zu Hause herum mit Trash-Sendungen im Fernsehen, Dauerberieselung durch Radio oder Stereoanlage, MP3-Player oder I-Pod.

Die liebste Freizeitbeschäftigung der Deutschen ist das Fernsehen. 97 % der Bundes- bürger schalten mindestens einmal in der Woche ihr Fernsehgerät ein [ÄZ, 30.8.11, S. 5]. Sechs Stunden täglicher Fernsehkonsum verkürzt das Leben im Mittel um fünf Jahre [ÄZ, 17.8.11, dort nach Brit J Sports Med online 15.8.11]. Eine Stunde TV-Konsum verkürzt das Leben um 22 Minuten, eine Zigarette um 11 Minuten [ÄZ a.a.O. nach BJSM a.a.O.] Ärzte verordnen Patienten Bewegung, aber die Kranken machen es nicht. Keine Spur von sportlicher Betätigung oder gar täglichem Konditionstraining. Weiter wird sich auf die Couch gelegt und TV geschaut. Sorgsamer und liebevoller Umgang mit der Familie und mit Freunden, obwohl jeder weiß, dass das wichtig ist, wird ebenso vernachlässigt wie die eigene Innenschau oder Ausgleichsübungen wie Dauerlauf, Yoga, Feldenkrais oder Meditation. Es wird gegen den ausdrücklichen ärztlichen Rat weiter geraucht und getrunken. Und wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, wird nach dem Arzt als Reparateur oder Installateur gerufen. Er oder sie soll jetzt wieder das richten, was nicht mehr zu richten ist. Die Leber streikt und die Pumpe hat einen Knacks und wird nie mehr so arbeiten wie früher, sondern nur noch mühsam über Wasser gehalten mit einem Stent oder einem Schrittmacher oder drei mal täglich Herztabletten. Oder Bypässe, die aber nicht mehr das bringen, was ein gesundes Herz bringen würde. Es ist ein Sterben auf Raten, eigentlich ein Siechtum mit modernen Hilfsmitteln. Alleine aber die Aus- sicht auf diese Reparaturen durch Chirurgie und Pharmakotherapie hält viele Patienten davon ab, ihren krankmachenden Lebensstil zu ändern.

Fazit: Die Medizin selbst mit ihren Heilsversprechungen trägt also dazu bei, dass die Menschen krank werden und bleiben.

Die Medizin, die alle diese Wundertaten anbietet, schafft sich ihren eigenen Bedarf, ihre eigene Nachfrage. Denn es ist doch klar, dass viele Menschen nur deshalb ungebremst mit ihrer Gesundheit Raubbau betreiben, weil sie - zumindest in den meisten Indus- triestaaten wie Deutschland - davon ausgehen können, dass moderne Hilfe in Form von Ersatzteilen oder Wundertabletten jederzeit bereitsteht. Der nächste Rettungswa- gen oder Notarzt ist in den meisten Gegenden nicht weiter als 5-10 Minuten entfernt, auf dem Land können es auch mal 15 Minuten sein. Auch der Helikopter bestätigt dieses Sicherheitsgefühl: Zur Not kommt Rettung aus der Luft in weniger als 15 Minu- ten, modernste Technik an Bord mit einer Fachärztin dabei. Dadurch wird man und frau verleitet, es weniger genau mit den natürlichen Maßnahmen der Vorbeugung und Gesunderhaltung zu nehmen, dies lässt gelassener jene Krankheiten entstehen, die dann hochtechnisch und mit enormen Kosten und Manpower behandelt werden müssen.

Ein 43-jähriger Patient von mir raucht seit über 25 Jahren eine Packung Zigaretten am Tag und trinkt seit 20 Jahren jeden Tag eine Flasche Wein. Er ist übergewichtig, treibt kaum Sport, hat hohen Blutdruck und schläft schlecht, auch deswegen, weil er schnarcht. Er ging ins Schlaflabor und dort wurde ihm ein Beatmungsgerät gegen die Atemaussetzer verschrieben, die sein Schnarchen mit sich bringt. Er kann nun wieder besser schlafen, ist tagsüber ausgeruhter und leistungsfähiger und sieht keinerlei Veran- lassung, die eigentlich krankmachenden Faktoren Rauchen, Alkohol, Übergewicht und Bewegungsmangel abzustellen. Damit würde er grundsätzlich geheilt. Aber nun hat er diesen teuren Apparat, Krankenkasse zahlt, und er braucht nichts an seinem ungesun- den Leben zu ändern. Ich mailte seinem behandelnden Schlaflabor-Arzt:

Sehr geehrter Kollege … ,

danke für den Arztbrief zu o.g. Pat.!

Sicher profitiert d. Pat. nun von der vorgeschlagenen Bilevel-Terapie.

Sicher aber wird sie auch ein Alibi für ihn sein, so weiterzumachen wie bisher: rauchen, nicht abnehmen, zu viel Alkohol.

Profitiert er also wirklich langfristig von diesen teuren Untersuchungen und Behandlungen? Oder richten diese sogar Schaden an?

Was kostet das alles? Wer muss dafür wie viel arbeiten gehen und wird dann davon krank?

Der Kollege schrieb mir nach drei Wochen zurück, dass die Behandlung notwendig sei, um weitere Herzkreislauferkrankungen zu vermeiden und dass es sicher richtig sei, diese Behandlung in ein Gesamtkonzept einzubetten.

Es gibt aber für diesen Patienten vom Schlaflabor kein Gesamtkonzept, sondern nur die Beatmungsmaschine, und meine Bemühungen ihm das Rauchen mit einem Nikotinre- zeptorenblocker (Champix®) abzugewöhnen, quittierte der Patient nach drei Wochen mit dem Satz: »Es hat nicht geklappt und die Tabletten sind mir auch zu teuer.« (Denn das Mittel »Champix®« musste er selbst bezahlen). Er ist seit Jahren in Psychotherapie, die aus meiner Sicht keinerlei Effekt hat, die er aber fortführt, weil sie kostenlos ist.

Wie aber sieht es mit dem Heilen, dem Ausheilen von Krankheiten wie zum Beispiel Diabetes aus? Wie sieht es mit den meisten chronischen Krankheiten, den »Zivilisationskrankheiten«, aus?

Diabetes: Bei einer der verbreitetesten Krankheiten in Deutschland ist keine echte und dauerhafte Abhilfe in Sicht. Trotz dauernder Arztbesuche, Tabletten, Spritzen und Reha- Maßnahmen gibt es immer mehr Diabetiker (»Zuckerkranke«): 2006 gab es nach Anga- ben der WHO in Deutschland acht Millionen Diabetiker, bis 2010 war diese Zahl wohl auf zehn Millionen gestiegen, so Schätzungen [Deutsche Diabetes-Union: Gesundheitsbericht Diabetes 2007]. Weltweit sind 366 Mio. Menschen an Diabetes erkrankt, bis 2032 sollen fast 600 Mio. Menschen betroffen sein. Weltweit seien 4,6 Mio. Todesfälle auf Diabetes zurückzuführen. [ÄZ, 15.9.11, S. 4 nach International Diabetes Federation] Der Anteil der Diabetiker in der deutschen Bevölkerung steigt schnell an: Waren es 1960 noch 0,6 %, so wurden Ende der 1980er-Jahre bereits 4,1 % gezählt. Eine Hochrechnung für 2001 ergab 6,9 %, für 2004 schon 7,6 % Diabetiker in der Gesamtbevölkerung [a. a. O., zitiert nach http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Diabetes_mellitus&oldid=68984893 ].

In Deutschland wird bereits ein sehr großer Anteil der Ausgaben der gesetzlichen (und privaten) Krankenversicherungen und der Rentenversicherung (Reha) für die Behand- lung des Diabetes und seiner Begleit- und Folgeerkrankungen aufgewendet. Die Ausga- ben für die Behandlung der Zuckerkrankheit und ihrer Folgen beliefen sich 2005 auf rund 25 Milliarden Euro. Sie war bis 2010 wohl auf etwa 40 Milliarden Euro gestiegen [ a. a. O. zitiert nach http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Diabetes_mellitus&oldid=68984893 ]. Diabetes (Typ 1 und 2) ist einer der häufigsten Beratungsanlässe in allgemeinmedizinischen Praxen [ Nach W. Fink, G. Haidinger: Die Häufigkeit von Gesundheitsstörungen in 10 Jahren Allgemeinpraxis. Z. Allg. Med. 83 (200) 102-108. Zitiert nach » Womit sich Hausärzte hauptsächlich beschäftigen, MMW-Fortschr. Med. Nr. 16 / 2007 (149. Jg.)] .

Es ist offensichtlich, dass alle Bemühungen von Ärzten, Ernährungsberatern und Psychotherapeuten, die auch Diabetiker behandeln, nicht von Erfolg gekrönt sind. Ein Experte kritisiert die Masseninsulinisierung und vermutet anscheinend, dass der Schuss oder die Injektion nach hinten losgehen könnte:

Kritik an Diabetes-Terapie

Ein Diabetologe prangert die »Masseninsulinisierung« an.

Nach Ansicht des Düsseldorfer Diabetologen Prof. St. Martin ist die Behandlung der Typ-2-Diabetiker in Deutschland derzeit einseitig auf die Arzneimitteltherapie mit Insulin ausgerichtet.

Nicht-medikamentöse Terapieoptionen wie eine Ernährungsumstellung würden zurzeit gleich zugunsten einer medikamentösen Einstellung mit Insulin übersprungen, sagte der Ärztliche Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums des Sana-Krankenhauses Gerresheim. …

Die strukturierten Behandlungsprogramme, in die über drei Millionen Diabetiker eingeschrieben sind, haben nach Ansicht Martins in erster Linie zu einer »Masseninsulinisierung der Bevölkerung« geführt. Die Fallpauschalen an den Kliniken sorgten wiederum dafür, dass Patienten aus monetären Gründen möglichst schnell und damit oft schlecht medikamentös eingestellt entlassen würden, so Martin … [Abgewandelt und gekürzt zitiert nach Ä rzte Zeitung, 02.12.2009]

Dabei wäre eine Vorbeugung oder Heilung von Hypertonie und Diabetes in vielen Fällen möglich:

»Eine Lebensstiländerung mit Gewichtsreduktion durch Ernährungsumstellung und Sport senkt nicht nur den Blutdruck, sondern vermindert … auch deutlich die linksventrikuläre Muskelmasse. …

Bei jedem zweiten Patienten sinkt der Blutdruck mit dem Gewicht.

… Der Blutzucker hingegen sinkt bei jedem Patienten, der Übergewicht abbaut, prozen- tual im Mittel deutlicher als der Blutdruck. Etwa die Hälfte aller neu diagnostizierten Diabetiker erreichen durch eine Gewichtsabnahme von 10 kg eine Remission (norma- ler Nüchternblutzucker). Diesen Erkenntnissen zum Trotz wird in Deutschland eine Lebensstiländerung zu selten erwogen, geschweige denn realisiert. …« [Gekürzt zitiert nach A. Wirth, Sonnenhang, 0-49214 Bad Rothenfelde, MMW, Nr. 22 /2010, S. 41e]

»Nichtrauchen, regelmäßige körperliche Aktivität, gesunde Ernährung, mäßiger Alko- holgenuss und normaler Body-Mass-Index: Jeder dieser Lebensstilfaktoren beugt Typ- 2-Diabetes vor … Eine Kombination aus allen fünf Maßnahmen ließ das Diabetesrisiko im Vergleich zur übrigen Kohorte um 72 % (Männer) bzw. um 84 % (Frauen) sinken.«

[MMW, 37 / 2011, S. 1, nach Ann Intern Med 2011; 155: 292-9]

Körpergewicht, Insulinresistenz und HbA1c werden durch Diät positiv beeinflußt. Diät wirkt. [Nach MMW 38 / 2011, S. 24, dort nach RC Andrews et al., Lancet 378 (2011) 9786, 129- 39]

Vielen Menschen wäre auch schon geholfen, wenn man ihnen keine Medikamente geben würde, die einen Diabetes mit erzeugen können (Tiazide, Betablocker, Zentrale Alphablocker, Kortison, Antidepressiva (=> Gewichtszunahme), Antipsychotika (Dito), Immunsuppressiva u.a..

Natürlich kann man viele andere chronische Erkrankungen auch wieder wegbekommen, also praktisch »heilen«, aber wann geschieht schon noch Heilung? Wenn sich Bluthoch- druck, Diabetes, Angst, Depression und Übergewicht ab dem dritten Lebensjahrzehnt bei vielen Patienten aufbauen, gibt es noch gute Chancen, ohne Medikamente diese Krankheiten zu heilen. Die Chancen werden fast immer vergeben. Stattdessen wird fast schon reflexartig gegen erhöhte Blutzuckerspiegel ein blutzuckersenkendes Medikament verschrieben. Als ich einer Verwandten vor einigen Jahren erklärte, dass das Medika- ment Metformin, das sie von ihrem Hausarzt gegen erhöhte Zuckerwerte verschrie- ben bekommen hatte, laut Fachinformation [z. B. www.fachinfo.de (Zugang nur für Ä rzte) oder Arzneimittelkompendium der Schweiz ® , Zugang für jeden: http://www.kompendium.ch/Search. aspx?lang=de] gar nicht empfohlen wird, wenn der Behandlung nicht ein ernsthafter diä- tetischer Behandlungsversuch vorausgegangen war, hatte sie nicht verstanden, was ich ihr sagen wollte. Ich verwies auf einen BPZ, auf dem das auch so stand (2009):

Anwendungsgebiete von Metformin:

Terapie des Diabetes mellitus Typ 2; insbesondere beiübergewichtigen Patienten, bei denen allein durch Diät und körperliche Betätigung keine ausreichende Einstellung des Blutzuckerspiegels erreicht wurde.

Sie hatte den BPZ nicht gelesen und wollte das nun nachholen. Eine Woche später fragte ich danach, aber sie meinte, sie verstehe das alles nicht richtig und habe ihren Hausarzt aber so verstanden, dass das Mittel gut für sie sei. Außerdem habe er eine Zusatzqualifi- kation in Diabetologie, was ihr ihre Krankenkasse bestätigt habe. Diese habe auch gesagt, es sei eine gute Idee, sich in das DMP (Disease Management Programm) Diabetes einzu- schreiben, und das hatte ihr ihr Hausarzt ja auch schon angeboten. Mittlerweile habe sie das getan und habe ein gutes Gefühl dabei, in so einem Programm, das auch ihre Kasse befürworte, drin zu sein.

Ich dachte: Wieder mal schief gelaufen! Denn sie hatte 15 kg Übergewicht und machte keinerlei Sport. Sport wäre aber auch für sie aus anderen Gründen eine gute Idee gewe- sen, denn sie hat Schmerzen am ganzen Körper und auch leicht erhöhten Blutdruck. Zwar hat sie zwei künstliche Hüften, aber man muss ja nicht immer Joggen gehen. Han- teltraining im Wohnzimmer, Schwimmen oder isometrisches Training tun es ja auch. »Hat dich dein Hausarzt mal auf Training angesprochen, dir das empfohlen?«

Nein, hat er nicht, zumindest kann sie sich nicht daran erinnern.

»Hat er dir Physiotherapie mit einem Eigenübungsprogramm, Schwerpunkt Muskelaufbau und Kalorienverbrauch, verschrieben?«

Nein, hat er auch nicht. Warum sollte er auch? Wer macht das schon alles? Stattdessen berichtete sie nun über ein weiteres Medikament, »HCT«, Tabletten zur Blutdrucksen- kung.

»Hast du den Beipackzettel (BPZ) von HCT gelesen«, frage ich sie.

Nein hat sie auch nicht, schließlich müsse der Hausarzt doch wissen, was er tut. Im BPZ von HCT hätte sie lesen können:

HCT Tabletten: Eine besonders sorgfältige Überwachung ist erforderlich bei:

… manifestem oder latentem Diabetes mellitus (regelm äß ige Kontrolle des Blutzuckers) …

Die Blutdrucktabletten vertrage sie gut, genauso wie die Zuckertabletten kosten sie keine Zuzahlung, denn die Krankenkasse habe einen Rabattvertrag mit dem Herstel- ler geschlossen. Ihre Apothekerin habe ihr das erklärt, und meine Verwandte meinte, dann müsste doch alles in bester Ordnung sein. Auch die Praxisgebühr müsse sie nicht mehr zahlen, wegen der DMP-Teilnahme, und da achte sie jetzt ganz genau drauf, dass sie alles richtig macht: zum Augenarzt gehen, Fußcheck, alle drei Monate einmal zum Hausarzt, dies und das und jenes wird kontrolliert. Sie sei in besten Händen. Sie ist, denke ich, »in den besten Händen der Krankheitsverwalter, und ihr Arzt profitiert von den Sonderzahlungen des DMP-Programms, die Krankenkasse vom Risiko-Struktur- Ausgleich (RSA), den sie von den anderen Krankenkassen erhält, weil sie nun durch das DMP eine Versicherte mit Diabetes nachweisen kann, die Apothekerin verdient an den Medikamenten, meine Verwandte ist happy, denn Blutdruck, Zucker und HBA1c sind jetzt fast im grünen Bereich«. Also alles in Butter? Finde ich nicht, hier ist alles schief gelaufen, jetzt hängt wieder jemand am Angelhaken der Ärzte, Apotheker und Krankenkassen. Die Krankheiten Diabetes und Hypertonie wurden nicht geheilt, was durch Gewichtsabnahme, Entspannungsübungen und tägliches körperliches Training wahrscheinlich möglich gewesen wäre. Vielmehr wurden ihre Erkrankungen nun festze- mentiert, ohne Tabletten geht hier gar nichts mehr. Schlimmer noch: Die Patientin hat jetzt ein Alibi, so weiterzumachen wie vorher: meistens drinnen, statt raus an Luft und Sonne, meistens auf dem Sofa oder im Sessel, statt im Training. Gut essen, das ist ihr wichtig, statt weniger essen und abnehmen. Das könne sie auch gar nicht, klagt sie, da werde ihr schlecht, wenn sie weniger esse.

Natürlich haben viele Menschen keine Lust, aktiv etwas für ihre Gesundheit zu tun, wenn das irgendwie in Anstrengung ausartet, aber die medikamentöse Dauertherapie fördert diese Haltung ja geradezu.

Weniger wäre hier also auch deswegen mehr, weil weniger Rundum-Sorglos-Pakete und Hochtechnik-Medizin auf lange Sicht weniger Krankheiten nach sich ziehen würden, denn die Menschen wären wieder mehr bemüht, vorzubeugen. Dieser Zusammenhang wird oft nicht richtig gesehen und er ist auch politisch nicht gerade die »korrekte« Sicht der Dinge.

Wir brauchen eine Rückbesinnung auf uralte menschliche Werte wie Demut, Fasten, Ruhe, Muße, Träumen, Wasser statt Wein. Alle paar Jahre ein neues Auto, einen größeren Fernseher und ein noch größeres Haus, Urlaub auf einem anderen Kontinent. Ja, die sogenannten Subprimekredite (faule Kredite) haben das zumindest in USA bis ins Jahr 2008 für viele Menschen möglich gemacht - nur um sie dann abstürzen zu lassen, es war ja nicht nur die Gier der Banker, sondern auch die der einfachen Leute.

III. Ein Beispiel für Verschwendung: Die Dienstwagenaffäre.

Man fühlt sich an die Dienstwagenaffäre vom Juli 2009 der damaligen deutschen Gesundheitsministerin Schmidt erinnert: Frau Schmidt verbrachte ihren Urlaub im spanischen Dénia, 80 km nördlich von Alicante. Weil sie im Urlaub einige dienstliche Termine wahrnehmen wollte, ließ sie ihren schwarzen Dienstmercedes (S420 CDI, etwa 320 PS, Preis laut Liste etwa 90.000 Euro) vom Chauffeur aus Berlin nach Spanien fah- ren, etwa 2.400 km. Der Chauffeur hätte ihn auch wieder nach Berlin fahren müssen, alles in allem etwa 700 Liter Sprit. Dumm gelaufen: Diebe stahlen das Auto und alles flog auf. Die Ministerin wollte wohl in einem Kulturhaus über die Gesundheitsversor- gung von Auswanderern reden [BILD, 27.7.09, S. 2]. Die Dienstfahrt dort war etwa 25 km lang [BILD, 28.7.09, S. 2]. Der Steuerzahlerbund schätzt die Kosten für den Dienstwageneinsatz auf mindestens 9.400 Euro (Sprit, Maut, Abnutzung, Hotel für den Fahrer, Dienstzeit inkl. Überstunden). [BILD, 28.7.09, S. 2]

Dazu kommt, dass die Ministerin auch ihre persönliche Referentin an die Costa Blanca bestellt hatte. Diese begleitete ihre Chefin zu einer 75-minütigen Informationsveranstaltung für deutsche Rentner im Kulturhaus von Els Poblets [BILD, 29.7.09, S. 2]. Ein wunderbares Beispiel für Selbstbedienungsmentalität und Verschwendungssucht, Inkompetenz und das schlechte Kosten-Nutzen-Verhältnis im deutschen Gesundheitswesen selbst auf höchster Ebene.

Was die »Chefin der gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands« hier vorexerziert, findet im System der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) selbst täglich im Kleinen und Großen seine traurige Entsprechung: Für Mini-Effekte werden riesige Summen ausgegeben (z. B. Mammographie-Screening), für Mini-Summen (Fahrtkostenersatz für die Taxifahrt einer behinderten Rentnerin, 18 Euro) müssen ganzseitige Formulare ausgefüllt werden, zuweilen wird dann noch wochenlang darüber gestritten, bevor eine Genehmigung durch die Kasse erteilt wird.

So, wie in der Gesundheitspolitik Fehler und Versagen schöngeredet werden, rechnete auch Gesundheitsministerin Schmidt ihre Reisekosten für den Dienstwagengebrauch in Spanien schön: Der Spritverbrauch betrage nur 440 Euro (Berlin-Alicante: 2.400 km), die Mautkosten für die Hin- und Rückfahrt 240 Euro, die Reise- und Unterkunftskos- ten für den Fahrer 2.520 Euro, Gesamtkosten mithin 3.200 Euro [BILD, 30.7.09, S. 2].

IV. Brave New World im Krankenhaus: Patienten werden belogen.

Frau Müller (Name geändert) muss ins Krankenhaus. Dort angekommen, ist Frau Müller aber auch nicht unbedingt in besseren Händen als bei den niedergelassenen Ärzten. Auch dort lauern Fallen, die ein Krankenhausarzt in einem Leserbrief für das Deutsche Ärzteblatt so beschrieben hat:

» Mogelpackung

… Krankenhäuser werden heute durchrationalisiert wie Industriebetriebe, Stichwort Ergeb- niskonferenzen, Kennzahlen, Kontrollvariablen, Medizincontroller, Medizinmanager, OP- Manager, Qualitätsmanager, Auslagerung ganzer Berufsgruppen. Expertenmeinungen, auch wenn sie noch so dünn und durchsichtig sind, werden kaum hinterfragt, … Der Trend der Zeit geht dahin, Ökonomie, Administration und Controlling einen höheren Stellenwert bei- zumessen als derärztlichen und pflegerischen Tätigkeit; … Der Realität des Faktischen und dem exorbitanten Druck der Souffleure kann man sich kaum noch entziehen, die Kranken geraten zugunsten schwarzer Zahlen zunehmend aus dem Mittelpunkt, dies ist durchaus mehr als anekdotische Erfahrung … Innerhalb der brave new world of medicine mag es Verbesserungen geben, aber die Kernindikatoren verschlechtern sich, insbesondere die Freude an der Arbeit, die Arbeitsbedingungen, die reale Behandlungsqualität und die Weiterbildung … Die Patienten ertragen das bislang zwangsläufig, da sie es nicht besser wissen und auch belogen werden, die Ä rzte verabschieden sich frei nach den Bremer Stadtmusikanten - etwas Besseres als den Tod findest duüberall... Krankenhäuser sind wesentliche Bausteine im sozi- alen Gefüge unseres Landes, das sollte Konsens sein. Nur wenn die Entscheidungsträger in dramatisch kurzer Zeit erkennen, dass man dem Gemeinwohl dienende Einrichtungen nicht primär aufökonomischer Basis führen kann, gibt es noch eine Chance, aber nur eine hauch- dünne …« [Dr. med. Christoph Schottes, Chefarzt der Medizinischen Klinik, Klinikum Emden, Hans-Susemihl-Krankenhaus gGmbH, Bolardusstra ß e 20,26721 Emden. Aus D Ä B, 18.9.2009, S. A 1841]

Was der Kollege in seinem Beitrag verschwiegen hat ist: Die meisten der beklagten Maß- nahmen gelten für Privatpatienten nicht, sondern nur für Kassenpatienten. Nicht alle dieser Maßnahmen müssen nachteilig für einen Kassenpatienten sein, aber einige sind es schon. Um an Kassengelder zu kommen, kann es vorkommen, dass sogar unnötige Prozeduren (Herzkatheter, Operationen, Medikamentenbehandlungen) durchgeführt werden.

V. Auch mal abwarten statt sofort alles abklären zu wollen.

Paula Kuhn (Name geändert) macht sich Sorgen um ihre Gesundheit, es zwickt seit Tagen unter dem linken Rippenbogen. Nein, Fieber hat sie nicht, kein Erbrechen, kei- nen Durchfall, und ihrer Arbeit kann sie eigentlich ganz normal nachgehen. Aber wer weiß, was das alles sein könnte. Ein Blick in ihr 600-seitiges Gesundheitsratgeber-Buch offenbart Abgründe: von der Magenschleimhautentzündung, über das Zwölffinger- darmgeschwür bis hin zum arglistigen Krebs der Bauchspeicheldrüse. Den kann man ja so schlecht entdecken, oft lauert er im Verborgenen, und dann ist es auch schon zu spät. Ob hier eine Computertomographie Klarheit schaffen könnte? Sie muss unbedingt zum Arzt, nein, am besten zum Facharzt, zum Gastroenterologen. Das Problem ist aber, dass sie dort 6 Wochen auf einen Termin warten muss, wie ihr ein Anruf in einer der beiden gastroenterologischen Praxen ihrer Stadt verrät. War es nicht der Gesundheitsminister, der alles und jedes in der medizinischen Versorgung für Kassenpatienten begrenzt, bud- getiert, beschnitten, eingeschränkt, verboten, vermasselt hat? Sollte Frau Kuhn den Arzt vielleicht privat zahlen? Bekommt man dann schneller einen Termin? Sie ruft noch mal an und erfährt, dass sie als Selbstzahlerin oder Privatpatientin schon in 2 oder 3 Tagen einen Termin erhalten kann. Das findet sie ungerecht. Sie ruft erneut dort an, ob man nichts machen könne, sie sei nun mal Kassenpatientin, aber sehr in Sorge, und erfährt: Schneller ginge es allerdings auch, wenn ihr Hausarzt anrufen und die Dringlichkeit der Behandlung bescheinigen würde. Also, auf zum Hausarzt! Am nächsten Tag kommt sie dort dran, schildert ihr Zwicken und Zwacken unterhalb des linken Rippenbogens, genau dort, wo sie den Magen oder, noch tiefer, die Bauchspeicheldrüse, vermutet. Der Hausarzt beruhigt (»kann auch beim Abtasten nichts Besonderes feststellen«) und schlägt erst mal eine Blutuntersuchung und beobachtendes Abwarten vor. Dafür bekommt sie einen Termin in der nächsten Woche. »Herr Doktor, das dauert aber lang. Geht das nicht schneller? Es dauert ja dann auch noch mal wer weiß wie lange, bis die Ergebnisse da sind, oder nicht?«

Ja, bestätigt ihr Arzt, auch das könnte noch mal eins bis zwei Tage dauern, aber sie solle sich keine Sorgen machen, er vermute sowieso nichts Schlimmes. Woher er die Sicher- heit nehme, wollte sie wissen, ob er noch nie von der Heimtücke des Bauchspeicheldrü- senkrebses gehört habe? Sie habe das im Internet nachgelesen.

Der Arzt schreibt in seinen Computer als Diagnosen: »Verdacht auf Somatisierungs- störung, Verdacht auf Angsterkrankung«. Die Patientin ist spätestens ab jetzt in einer bestimmten Schublade für ihn. Und selbst wenn Patienten das nicht glauben sollten, aber es ist so: Als Arzt erinnert man sich noch viele Jahre später an seine Patientin und sieht sie oft genau wie am ersten Tag vor seinem geistigen Auge. Und in einer bestimm- ten Kategorie.

Was aber bringt Menschen dazu, so einen Aufruhr zu veranstalten, statt einfach mal abzuwarten? Warum sind immer mehr Menschen voller Angst, sehen in jeder Fliege einen Elefanten und wollen alles »abgeklärt« wissen? Am besten gleich und sofort? Mit allen Mitteln. Koste es (die Krankenkasse), was es wolle.

VI. Auch Behandler fördern Hypochondrie.

Deutschland und viele andere westliche Industrieländer werden offenbar zunehmend von hypochondrischen und angstbeseelten Menschen bevölkert, die in jeder Regung ihres Körpers, in jedem Lebensumstand eine große Bedrohung ihrer Gesundheit, ja ihres Lebens vermuten.

Eine Flut von Lebens- und Gesundheitsratgebern, frei zugänglichen Informationen jeder Qualitätsstufe im Internet und die frei zugängliche und kostenlose medizinische und psychotherapeutische Versorgung für alle hat dazu beigetragen, die Menschen sich krank fühlen zu lassen und aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Eltern, Hebammen, Ärzte, Psychotherapeuten, Heilpraktiker und Physiotherapeuten tragen zu diesem Hype kräftig bei.

VII. Behandler binden Patienten durch teure Placebosysteme.

Banale Dinge werden unnötig medikalisiert mit Mitteln, die bestenfalls Plazeboeffekte erzielen. Das trifft nicht nur auf Kinder zu, die Medikamente wie Paracetamolzäpfchen gegen Fieber oder homöopathische Fieberzäpfchen oder Hustensaft oder homöopathische Globuli bekommen, gegen Krankheiten, bei denen auch Schonen, Hausmittel und Abwarten genau so gut helfen würden, sondern natürlich auch auf die Behandlung Erwachsener. Selbstverständlich würde die Anwendung von Hausmitteln zum Beispiel durch die umsorgende Mutter auch einen Plazeboeffekt auslösen. Dieser allerdings wäre dann nicht an einen professionellen Behandler (Arzt, Psychotherapeut, Apotheker, Physiotherapeut, Hebamme) gebunden, sondern hausgemacht, was die Eigenständigkeit und das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte fördert.

Ganze Placebosysteme in der Medizin, Physiotherapie und Psychotherapie dienen genau dazu, die Patienten an die Behandler zu binden und diesen den Heilerfolg zuzuschrei- ben: Homöopathie, viele Phytotherapeutika, Aufbauspritzen und die meisten Multivi- taminpräparate, das Quaddeln, aber auch die Verschreibung verschreibungspflichtiger Medikamente, wenn diese gar nicht indiziert sind oder außerhalb ihrer Bestimmung (Off-Label) angewandt werden, z. B. Antibiotika bei viraler Sinusitis, viraler Bronchitis oder viraler Halsentzündung.

Viele physiotherapeutische Anwendungen gehen auch nicht über den Plazeboeffekt hinaus, »spezielle« physiotherapeutische Anwendungen, die mehr Geld bringen, wie Bobath oder Schlingentisch oder manuelle Terapie, bringen regelmäßig keine Mehr- effekte, sondern bewirken nur, dass die Patienten unselbstständig bleiben. Denn wer hat schon zu Hause einen Schlingentisch? Hebammen legen den Grundstein zu die- ser Entwicklung, wenn sie jeden Pups, den Mutter und Kind lassen, homöopathisch »behandeln«, Kinderärzte setzen das dann fort und verschreiben tonnenweise Husten- saft, Paracetamolzäpfchen und Halsmittel gegen Wehwehchen, die noch nicht einmal einen Arztbesuch erfordern würden. Ich selbst hatte jahrelang Homöopathie ausgeübt, bin sogar weiterbildungsermächtigt dafür, habe diese Methode der sehr zeitaufwendigen Einzelmittelrepertorisierung von Hochpotenzen aber weitgehend verlassen. Ich habe gemerkt, dass sie wenig oder keine eigene substanzspezifische Wirkung hat, aber Jung und Alt zu Arztgängern macht. Psychotherapeuten behandeln auch gerne die banalen Störungen, weil es bequem ist, und stellen dann Diagnosen wie »Anpassungsstörung« oder »Depressive Episode«. Beides sind natürlich Krankheiten im Sinne der gesetzlichen- und privaten Krankenversicherung und bringen dem Terapeuten 25 bis 50 Terapie- stunden (zu je 80 Euro). In dieser Zeit löst sich eine depressive Episode aber auch meis- tens von selbst, die Number-Needed-To-Treat (NNT) schätze ich hier auf bestenfalls 10 bis 15. Das bedeutet, dass 10 bis 15 Patienten mit Anpassungsstörung oder Depressiver Episode jeweils 25 bis 50 Stunden lang psychotherapeutisch behandelt werden müssen, damit nur ein Patient von der Behandlung profitiert. Mehr ist es meistens nicht, was bei einer Psychotherapie leichter und mittelschwerer Störungen herauskommt. Den ande- ren 9 bis 14 Patienten nutzt die Terapie nichts. Geht es ihnen trotzdem besser, wäre das auch ohne die Terapie so gewesen. Das zeigen viele Wirksamkeitsstudien.

Das Ergebnis sind vom Terapeuten oder Arzt abhängig gemachte Patienten, tausende vermeidbarer Todesfälle durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen der unnötig angewandten Medikamente (z. B. Magenblutung durch ASS oder Diclo) und neue Schäden, die dadurch auftreten, dass für die vielen unnötig aufgebrachten Milliarden Euro für Versicherungs-Beiträge die Menschen arbeiten gehen müssen und auch dadurch ihre Knochen und ihre Psyche verschleißen.

Bei Schwangeren geht das schon los. Die Hebamme, Symbol der guten und hilfsbereiten Frau, die womöglich Zugang zu uraltem Heilwissen hat, ist die erste Station auf dem langen Weg der Misshandlung und Schädigung Hilfe suchender Menschen, besonders in den reichen Ländern. Viele Hebammen haben nichts Besseres zu tun, als jede nor- male Lebensregung der ihnen anvertrauten Schwangeren und Säuglinge mit homöopa- thischen Mitteln (»Das sind Globuli auf homöopathischer Basis. Die helfen dir / Ihnen. Schaden können sie auf keinen Fall. Es ist ja keine Chemie drin!«) zu behandeln, obwohl gar keine besondere Störung vorliegt. Trotzdem wird schon von den Hebammen drauf- los behandelt, dass sich die Balken biegen. Homöopathisch behandelt werden vorzugs- weise Gesundheitsstörungen, die auch ohne jede medizinische Behandlung von selbst weggegangen wären. Die Schwangeren sind nun schon mal gebahnt oder konditioniert: Jede Blähung braucht ihre Globuli. Die Schwangeren, die Väter, aber auch die Kinder lernen von Anfang an: Jede ungewöhnliche Lebensäußerung muss mit Globuli, Tablet- ten, Zäpfchen, Säften oder Spritzen behandelt werden. Und wenn sich diese Lebens- äußerung wieder normalisiert hat, glauben sie: Das war die Behandlung, die Tabletten, ohne sie wären wir noch krank. »Nein, nicht irgendwelche Globuli«, sagt die Hebamme oder der Kinderarzt, »sondern es müssen immer die richtigen, bestimmten, individuel- len Mittel gefunden werden«, und, was Blähungen angeht, kann hier sogar der Geruch zur richtigen Mittelwahl führen, also lässt man auch mal den Partner am Düftchen schnuppern (»Sauer? Ekelig? Oder gar nach Veilchen riechend?«) Bei der Mittelwahl könne das eine unverzichtbare Stütze sein, so die Hebamme. »Gleich morgen werden wir unserer Hebamme erzählen, was wir so alles gerochen, gefühlt oder bemerkt haben.« Fortsetzen tut sich diese unheilige Allianz aus Mutter, Hebamme, emanzipiertem Vater und einer Beratungs- und Hilfeliteratur dann spätestens nach der Geburt der lieben Kleinen. Irgendwas schien von Anfang an mit der Kleinen nicht zu stimmen: Entweder schrie sie zu viel, oder an manchen Tagen vielleicht zu wenig? Die Hebamme wusste Rat, empfahl sofort Globuli in der Potenz »D30«, also etwas »Kräftiges«. Gleich ging der besorgte Vater zu seinem Hausarzt, denn ein Termin beim homöopathischen Kinderarzt war vor drei Tagen nicht zu kriegen, und ließ sich vom Hausarzt (»Das kostet keine Praxisgebühr«) die Globuli für sein Kind verschreiben. Auch ohne Rezept hätten die in der Apotheke nur 5,44 Euro gekostet, aber wenn es doch die Kasse zahlt, dann sollte man das auch ausnutzen. Ob sein Hausarzt das für die Kleine empfehlen würde, fragte er erst gar nicht. Der war sowieso in Eile, denn er hatte eine große Praxis mit über tausend Kassenpatienten im Quartal und bemerkte zum Vater nur: »Das bekommen Sie kosten- los in der Apotheke, bis zum 12. Geburtstag zahlt die gesetzliche Krankenkasse auch für alle nichtverschreibungspflichtigen Mittel. Und die private Kasse sowieso.« Und: »Auch in Zukunft können Sie gerne mit der Versichertenkarte Ihrer Tochter zu mir kommen, kein Problem.«

Er brauchte nämlich die sogenannten »Verdünnerscheine«, um auf seine Kosten zu kom- men. Verdünnerscheine sind diejenigen Behandlungsfälle in einem Quartal, die außer einem oder zwei Rezepten und vielleicht einigen Überweisungen zu Fachärzten keine weitere Arbeit machen. Diese Patienten sind bei Kassenärzten sehr beliebt, denn auch mit ihnen kann man ohne viel Arbeit das volle Quartalshonorar abstauben. Alle waren happy: Die Mutter, der Vater, die weise Hebamme, der Arzt, der Apotheker, die Kleine vielleicht, vielleicht auch nicht, denn sie schrie immer wieder mal. Mal mehr, mal weni- ger, wie das kleine Kinder eben tun.

Drei Tage später untersuchte sie der Kinderarzt und fand nichts. Auch er sprach von Globuli, die er in so einem Fall verschreibe: Pulsatilla, die Küchenschelle. Pulsatilla C12 fand aber nicht den Gefallen der Hebamme, die man gleich von zu Hause anrief und über die Verordnung des Kinderarztes informiert, und so gab man der Kleinen wei- ter Asa foetida, die Dose mit den Pulsatilla Globuli hatte man trotzdem schon in der Apotheke besorgt und stellte sie zu den anderen Döschen der Hausapotheke. Das war gut: Auch beim Kinderarzt fielen keinerlei Kosten an, die Apotheke verlangte keine Rezeptgebühr, gab sogar noch ein Babyjournal mit (»Bezahlt von Ihrer Apotheke«) und wünschte alles Gute. Zehn Tage später schien die Kleine anders zu schreien. Das muss nun die Wirkung der Globuli gewesen sein. Alle waren glücklich. Solch weise Frauen wie die Hebamme braucht Deutschland mehr, dachten die Eltern. Das Schönste: Auch für die Hebamme und ihre guten Ratschläge zahlt die Kasse. Keine Zuzahlung, keine Eigenbeteiligung, nichts.

Es gibt keinerlei Anreize für die Eltern, darüber nachzudenken, ob das alles sinnvoll ist, was die Hebamme oder der Arzt macht. Offenbar muss es sinnvoll sein, denken auch sie, denn die Kasse zahlt ja alles. Keiner hatte Interesse, das Verhalten der Fachleute kritisch zu hinterfragen. Die Mutter zahlte auch keine Beiträge, sie war beitragsfrei beim Mann mitversichert, ebenso wie der zweijährige Sohn. Ja, uns geht’s gut in Deutschland. »Nein, Nachteile haben diese Globuli keine, gar keine«, sagen die Hebammen, Ärzte und Apotheker. Sondern nur Vorteile für diese Berufsgruppen: mehr Verdienst. Eine Wirkung, die über die Plazebowirkung hinausgeht, haben homöopathische Mittel trotz- dem nicht. In etwa 100 unabhängigen Studien konnte kein Nachweis für eine Wirksam- keit der Homöopathie erbracht werden. [ http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Hom %C3 %B6opathie&oldid=69192485]

Meine Erfahrung als langjähriger (ehemaliger) Homöopath mit Weiterbildungsermächtigung in Homöopathie ist: Sie können getrost die Etiketten der Mittel- oder Hochpotenz-Globuli oder Tropfen ganz nach Belieben austauschen: Es funktioniert genau wie vorher. Es ist nämlich egal, welche Hochpotenzmittel dieses reinen Plazebosystems Sie einsetzen. Ausnahme: Niedrige Potenzen (kaum verdünnt) mit Wirkstoffgehalten ähnlich der Phytotherapie (Pflanzenheilkunde).

Tatsächlich hat diese Art von Plazebotherapie große Nachteile: Jetzt ist nicht nur die Mutter, sondern auch das Kind auf der Medizinschiene gelandet, in aktiver Unterstüt- zung durch die weise Hebamme und den fortschrittlichen und alternativen Kinderarzt. Das Kind lernt von klein auf: ohne Arztgang keine Sicherheit, ohne Medikamente keine Besserung oder gar Heilung. So geht das endlos weiter: Hebammen, Kinderärzte, Eltern und Hausärzte gehen Hand in Hand und fügen sich gegenseitig Schaden zu. Die Heb- amme und der Kinderarzt pathologisieren jede Lebensregung ihrer kleinen Anvertrau- ten. Papa als Beitragszahler zahlt für den ganzen Quatsch und leidet. Denn er muss den Buckel krumm machen, um für diesen Unsinn das Geld zu verdienen. Dabei wird er langsam, aber sicher selber krank: Gelenkverschleiß, Mobbingfolgen, Berufskrankheiten, hoher Blutdruck. Jetzt helfen auch keine Globuli mehr. Kaputtes Kreuz ist kaputtes Kreuz. Das ganze hat System, aber kein wirklich logisches. Es basiert auf der Angst der Verängstigten, der Dummheit und Sorglosigkeit der Patienten, auf der Gier der Ärzte und Apotheker, auf geschäftstüchtigen Hebammen und Psychotherapeuten, die auch nach 50 Sitzungen keinen Klienten geheilt haben, sondern sich und die Patientin nur irgendwie über die Runden gebracht haben. In dieser Zeit gehen die Patienten eben zum Psychotherapeuten (»Sie haben eine Anpassungsstörung. Vielleicht auch eine leichte depressive Reaktion, mit Angst gemischt«) und nicht mehr so oft zum Hausarzt. Meine Erfahrung als Arzt seit 1981 ist aber: Nach diesen 25 oder 50 Stunden gehen sie wieder genauso so oft zum Arzt wie vor der Psychotherapie und präsentieren wieder einen bun- ten Strauß wechselnder hypochondrischer und psychischer Symptome mit mehr oder weniger großem Krankheitswert. Dass Psychotherapie alleine die gesetzliche Kranken- versicherung in Deutschland über eine Milliarde Euro pro Jahr kostet [Fernab vom kranken Gemüt, ÄZ, 3. Juli 2008, S. 5] und alleine deshalb einen Riesen-Schaden erzeugt, erzählt Ihnen kein Arzt und kein Psychotherapeut. Dass jeder zehnte Patient, der psychothera- peutisch behandelt wird, durch falsche psychologische Diagnostik oder falsche Behand- lung bedeutsamen psychischen oder körperlichen Schaden erleidet, erzählt einem auch keiner. Dafür gib es auch, anders als bei Medikamenten in der Apotheke, für die Patienten beim Terapeuten keinen »Beipackzettel«.

VIII. Immer mehr Menschen geht das Gespür für Körperfunktionen verloren.

Immer mehr Menschen sind nicht in der Lage, einfachste Körperregungen auf einfa- che Art hinzunehmen oder in Eigenregie zu behandeln. Husten bedeutet für sie sofort zum Arzt zu rasen, statt erst mal abzuwarten, sich auszuruhen und zu inhalieren. Selbst Inhalieren können die meisten nicht selbstständig und nicht ohne vorher ihren Haus- arzt um Rat zu fragen: »Mit was soll ich inhalieren? Wie lange? Kann man da auch was falsch machen?«, fragen selbst ältere Patienten, die, man ahnt es schon, mit der- artigen Fragen dem Hausarzt die Zeit für ernsthaft Erkrankte rauben und ihm sein karges Budget mit Bagatell-Problemen verwässern. Dem Arzt willkommen sind bei derartigen »Problemfragen« eigentlich nur Privatversicherte, aber die wissen sich am ehesten selbst zu helfen, stellen sich eine Schüssel mit heißem Wasser auf den Tisch, tun etwas Küchensalz hinein und inhalieren mehrmals am Tag für einige Minuten. Dass man die Schüssel oder den Topf gegen Umfallen zu sichern hat und Kinder nicht ohne Aufsicht derartige Dinge tun lässt, versteht sich von selbst. Das sagt ihnen der gesunde Menschenverstand. Für gesetzlich Versicherte ist die Flatrate »Praxisgebühr« eine Freifahrkarte in den diagnostischen und therapeutischen Schwachsinn, in die zunehmende und freiwillig eingegangene Entmündigung. Man geht wegen jedem Mist zum Arzt und raubt diesem den letzten Nerv und auch die Zeit für die wirklich und ernsthaft Kranken. Das Ergebnis: Patienten, die sich selbst zum Idiot machen und immer tiefer in diese Rolle rutschen, Ärzte, die nur noch durch die Praxis hetzen und noch weniger als Dreiminutenmedizin betreiben und ihren Patienten damit schaden. Das wird auch gefördert von der Flatrate »Praxisgebühr«. Einmal bezahlt, öffnet sie das Tor zu allen Ärzten und Psychotherapeuten für 3 Monate. Und einmal bezahlt, sollte sie sich aus Sicht des Patienten auch rentieren, sprich: Man sollte für sein gutes Geld nun auch viele Ärzte konsultieren. Schaden kann das ja nichts. Oder doch? Der Schaden liegt in der fast unbegrenzten Verdummung und Hilflosigkeit der gesetzlich Versicherten, die selbst einfachste Dinge nicht mehr selbst regeln können. Der Schaden liegt in den vielen hunderttausend Fällen von Nebenwirkungen, die ja auch dann eintreten können, wenn das Medikament gar nicht nötig gewesen ist, auch dann, wenn es kontraindiziert ist (also die Anwendung nicht erlaubt war) oder wenn es als »Off-Label«-Medikament ein- gesetzt worden war (also ohne Zulassung für den eingesetzten Krankheitsfall). Neben- wirkungen sind verantwortlich für viele tausend Tote jedes Jahr alleine in Deutschland und für Hunderttausende Verletzte oder Geschädigte. [Zitiert nach » tNSAR versus Coxibe: Was ist gesichert? « - Rund 2.200 Tote jährlich durch Komplikationen im GI-Trakt, Ä rztlicher Praxis, 22, 29. Mai 2007, S. 8] Die Hälfte davon ist laut Expertenschätzungen vermeidbar.

Warum kommen Gesunde und Kranke nicht von selbst auf die einfachsten Dinge, brau- chen für jede Blähung einen Arzt? Warum haben so viele Menschen das Vertrauen in die Selbstheilung verloren und können bei Banalitäten nicht mal einige Tage zuwarten und sich schonen? Warum wird dem Arzt bei einfachen Beschwerden mehr Gewicht zugemessen als dem gesunden Menschenverstand und der Erfahrung, die eigentlich bei Eltern und Großeltern doch noch vorhandenen war?

Für die meisten Alltagsbeschwerden sollten Menschen eigentlich ein sicheres Gespür haben und selbst damit fertig werden. Wenn man dauernd Kaffee trinkt und dauernd Sodbrennen hat, liegt doch der Schluss nahe, den Kaffee wegzulassen und durch ein Glas Wasser zu ersetzen. Zumindest reduzieren könnte man den Kaffeekonsum doch, oder? Stattdessen geht man zum gehetzten Hausarzt, der nun juristisch in der Pflicht ist, ja keine ernsthafte Krankheit zu übersehen und keinen Fehler zu machen, der ihn die Zulassung und seine Existenz kosten könnte. Er könnte zwar zum Kaffeeverzicht raten, geht aber aus juristischen Gründen auf Nummer sicher und schickt die Kaffeetante zum Gastroenterologen. Dieser schiebt sein Endoskop in den Magen der Patientin, und, wo man schon mal dabei ist, gleich weiter in den Zwölffingerdarm. Meistens tritt nun irgendein »auffälliger Befund« in Erscheinung: Der Magen kontrahiert sich vielleicht etwas zu schnell oder zu langsam, er ist gerötet oder gereizt, die Patientin vielleicht auch übernervös, weil sie Angst hat, mithin psychosomatisch irgendwie auffällig. Im Arztbrief an den Hausarzt steht dann was von Reizmagen und funktionellen Beschwerden. Jetzt hat es der Hausarzt schriftlich: Seine Patientin - und irgendwie wusste der Arzt das ja schon immer - ist psychisch labil (»funktionelle Magenbeschwerden«), der Magen gereizt, das konnte der Kollege mit dem Endoskop sehen. Ein Protonenpumpenblo- cker muss her, das hat der Gastroenterologe schriftlich empfohlen. Also stellt der für- sorgliche Hausarzt (»Nein, jetzt kann ich Sie beruhigen, Sie haben keinen Krebs!«) ein Rezept für Antra®, Omeprazol-ratiopharm®, Pantoprazol® oder wie sie alle heißen mögen aus. Fachlich korrekt abgeklärt, alle Leitlinien hundertprozentig eingehalten. Alle sind jetzt happy: die Kaffeetante auch, die nun weiter 5 Tassen Bohnenkaffee trinkt, aber im Magen nichts mehr merkt, denn alle Säure produzierenden Zellen dort sind nun lahmgelegt. Der Hausarzt ist auch zufrieden, denn er hat bewiesen, dass nichts Schlim- mes vorliegt und die Patientin beruhigt. Der Gastroenterologe auch, denn er hat seine Fallpauschale kassiert. Die Kaffeeindustrie, denn sie hat keine Kundin verloren. Der Gesundheitsminister, denn das System funktioniert offenbar auch bei knappen Ressour- cen gut. Die Patientin wird nun zur Dauerkonsumentin von Omeprazol, das bei ihr kein Problem löst, zu keiner Heilung führt, nun aber auf subtile Weise zu einer neuen Abhän- gigkeit geführt hat. Denn jeder Absetzversuch führt in kurzer Zeit zu erneutem und noch stärkerem Sodbrennen und sie verlangt dann wieder nach den Tabletten. Kaffee wird natürlich weiter getrunken, Fettes weiter gegessen, runter geschlungen und danach noch etwas Süßes. »Die Ernährung ist doch nicht dran schuld, Herr Doktor? Es ist doch der Reizmagen, Herr Doktor!«

»Ja«, sagt dieser, »ich habe Ihnen doch den Befund ausgehändigt. Sie haben es doch schriftlich bekommen« … und schickt sie mit einem neuen Omeprazol-Rezept aus dem Sprechzimmer. Froh, sie los zu sein, irgendwie lästig, diese Patientin, oder? Der Doc weiß es besser, will sich aber keine Zeit nehmen, draußen warten schon die nächsten Patienten. Der Gastroenterologe berät auch nicht, was die Ernährung angeht, denn nach dem Herausziehen des Endoskops geht er zum Computer, diktiert den Arztbrief an den Hausarzt und sieht die Patientin gar nicht mehr. Die Patientin ist noch benommen, muss erst mal aus der Kurznarkose aufwachen.

Für Omeprazol, wie für Hunderte weiterer Mittel, hat ihre gesetzliche Kasse sogenannte Rabattverträge abgeschlossen (Stand 2011). Deshalb muss der Patient dann auch keine Zuzahlung zum Medikament leisten, selbst 5 Euro Mindestgebühr nicht. Es ist vielmehr komplett kostenfrei für ihn und verleitet auch deshalb zum Dauerkonsum. »Die Kasse prüft das doch alles und bezahlt es auch. Da muss das doch in Ordnung sein«, denken viele Patienten. Aber weder bekommt die Krankenkasse den Befund des Gastroenterolo- gen zu Gesicht, noch prüft sie, ob das verschriebene Mittel für den Patienten gut ist. Die Kasse prüft eigentlich gar nichts Inhaltliches in diesem Zusammenhang, sondern höchs- tens, ob die Apotheke das Rezept richtig abrechnet hat (»Taxe«). Eine reine Formsache. Natürlich gibt es sie, die Hausärzte, die ihren Patienten schon am Telefon sagen, dass sich ihre einfache Erkältung auch von selbst gibt und sie einfach mal zuwarten sollen. Die ihren Kaffeetanten auf den Kopf zusagen, dass ihr Sodbrennen vom vielen Kaffee komme und da keine weitere Untersuchungen nötig seien, sondern einfach mal ein Kaf- fee-Auslass-Versuch. Aber diese Hausärzte, die gründlich beraten, die ganze Akte lesen und im Kopf haben, bei jeder Unklarheit prüfen, schauen, den Computer konsultieren: Sie sterben aus, denn es rentiert sich nicht mehr. Der übliche Reflex bei Kassenpatienten ist doch: Magen? Ab zum Spezialisten! Das Knie? Ab zum Orthopäden! Traurig? Ab zum Psychotherapeuten! Verdienstmäßig ist das für den Hausarzt gleich, denn in jedem Fall bekommt er die Fallpauschale pro Kopf (RLV, Regelleistungsvolumen): lange Beratung, kurze Beratung: Das ist egal. Die »sprechende« hausärztliche Medizin lohnt sich bei gesetzlich Versicherten schon lange nicht mehr.

IX. Viele Patienten sind arzthörig gemacht worden.

Krankengymnastik, das kann doch nicht schaden, wenn es von einer staatlich exami- nierten Krankengymnastin gemacht wird, oder? Doch, das kann genauso schaden, wie der übrige Medizinbetrieb auch. Zum Beispiel indem man Patienten von einer Kran- kengymnastikpraxis abhängig macht. Die Krankengymnastin (oder Physiotherapeutin) zeigt ihren Patienten einfach nur diejenigen Übungen gegen ihre Schmerzen, die nicht alleine auf dem Wohnzimmerteppich gemacht werden können, sondern zu denen die Sprossenwand, der riesige Medizinball oder die kompliziert verstellbare Behandlungs- liege in der Krankengymnastikpraxis unbedingt erforderlich sind. Übungen, bei denen die Krankengymnastin am Patienten gegenhalten muss, oder Lymphdrainagen oder Schlingentischbehandlungen sind ebenfalls äußerst beliebt - bei den Krankengymnas- ten. Denn diese Behandlungen kann kein Patient alleine durchführen. Sechs normale Krankengymnastik-Behandlungen reichen eigentlich meistens aus, um Patienten auf die richtige Spur zu bringen (»Eigenübungsprogramm«). Hausärzte und Orthopäden haben nämlich oft in weiser Vorausahnung auf der Verordnung notiert: »Eigenübungspro- gramm durchführen!« Sie sollten misstrauisch werden, wenn Physiotherapeuten Ihnen dann erklären, dass Sie Gerätetherapie, Schlingentisch- oder andere Spezialbehandlung brauchen. Meistens stimmt das nicht, sondern dient deren Profitmaximierung.

So geht das endlos weiter: Apotheken klären oft nicht über Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen auf (»Keine Zeit, keine Lust«).

Zahnärzte bohren lieber statt Zahnseide vorzuführen, weil auch dort mit sprechender und edukativer Medizin weniger verdient werden kann als mit Bohren, Füllen, Ersetzen.

Viele Patienten sind eigentlich nicht zu dumm zum Lesen und Nachdenken und Nachfragen, lassen sich aber ganz gerne entmündigen, weil sie sich selbst bei einfachsten Dingen unglaublich unsicher fühlen. Weil auch sie kosmetische Reparatur verlangen statt Ursachenbehebung, die ja oft - man ahnt es schon - so viel mehr Eigeninitiative, Kraft und Disziplin abfordert. Dann lieber mehrere Jahre Lebenszeit durch falsche, überdosierte oder unnötige Medikamente einbüßen, aber nicht selbst den Hintern hochkriegen müssen, um etwas an sich und an seinem Leben verändern zu müssen.

Viele Patienten sind Arzt-, Psychologen- und Medikamentenhörig geworden. Eigene Lebenserfahrung scheint nicht mehr zu existieren oder wird systematisch ausgeblendet. Informationen aus Ratgebern, Internet und Presse lösen Ängste aus und das Gefühl, dass man dem eigenen Gefühl nicht mehr trauen kann. Alles wird zu einem unheiligen Gemisch aus Angst, Unsicherheit und dem fortgesetzten Suchen nach dem richtigeren Rat des besseren Arztes. Denn dass Omeprazol ihr Problem Sodbrennen irgendwie nicht ursächlich, nicht dauerhaft und richtig gelöst hat, dieses ungute Gefühl haben doch viele Magenpatienten. Sie pilgern jedes Quartal in die Praxen, um ihr Rezept für ihr Magenmittel abzuholen, ohne dadurch geheilt zu werden. Sie sind jetzt nur abhängig geworden von Magentabletten.

Also strebt man eine »Zweite Meinung« an, zum Beispiel beim homöopathischen Arzt, den die beste Freundin empfohlen hat. Der schlägt wahrscheinlich eine Konstitutions- behandlung vor. Das ist eine große homöopathische Spezialbehandlung, und als erstes bekommt Frau V. den »Großen Homöopathischen Fragebogen« in die Hand gedrückt, der aus über 700 Fragen zur Lebensgeschichte und dem Befinden besteht. Merkwürdig: Dieser homöopathische Arzt oder Heilpraktiker verlangt nicht nach Kopien sämtlicher Vorbefunde, nicht nach den Laborwerten der letzten zwei Jahre und auch nicht nach den Berichten der bisherigen Psychotherapeuten, geschweige denn nach den Krankenhaus- berichten oder den Gründen der Krankschreibungen der letzten Zeit. Stattdessen wird gefragt nach »Ziehen in der oberen Körperhälfte«, »Verträglichkeit von rohen Zwiebeln« oder dem »Geruch der abgehenden Darmgase«. Endlich, denkt sich Frau V., endlich nimmt sich mal jemand richtig Zeit für mich, denn die homöopathische Ärztin ist nicht nur nett, die Pflanzen in ihrer kleinen Praxis sind echt und nicht aus Kunststoff und kein Telefon, keine Arzthelferin stört das zweistündige Erstgespräch. Das muss was werden, auch wenn es ihre Krankenkasse nicht zahlt. Die 400 Euro sind gut angelegt, denkt sie. Irrtum: Auch hier wird wieder mit Surrogattherapie gearbeitet, die Patientin wird abhän- gig gemacht von homöopathischen Mitteln (meist Globuli) und von unzähligen Folge- gesprächen und »Nachrepertorisationen«, wie die nette Ärztin oder Heilpraktikerin das pseudo-fachmännisch nennt. Nach vier Jahren waren 2000 Euro zusammengekommen, der Gesundheitszustand von Frau V. hatte sich in keinster Weise geändert, noch immer bekam sie Sodbrennen vom Kaffee, war aber in der Zwischenzeit selber auf die Idee gekommen, dass Wasser oder Kamillentee für sie besser sei. Sie ließ den Kaffee weg und daraufhin ging das Sodbrennen für immer weg.

Komisch, dachte sie, bis zum Schluss wollte die Ärztin ihre ganzen Vorbefunde nicht sehen. Tipp: Wenn Sie mit einem chronischen Problem zu einem Arzt oder einer Ärztin oder Heilpraktikerin gehen und diese wollen keinen Ihrer Vorbefunde sehen, oder, falls Sie diese schon mitbringen, keinen Blick darauf werfen, sollten Sie sehr misstrauisch wer- den. Ihr Gegenüber hat entweder keine Ahnung von gründlicher Arbeit oder keine Zeit oder beides.

X. Nutzlose Disease Management Programme und Hausarztverträge.

Mit immensem Aufwand werden in Deutschland seit Jahren Disease Management Pro- gramme (DMPs) für Diabetiker und andere chronisch Erkrankte durchgeführt. Es gibt fast 11.000 solcher Programme, da fast jede Kasse ihr eigenes Süppchen kocht. Für fol- gende Krankheiten werden DMPs angeboten: Asthma bronchiale, Brustkrebs, COPD (Lungenkrankheit), Diabetes Typ I und II und KHK (Herz). Es nehmen fast 6 Mio. Patienten daran teil. Alleine in 2009 wurden 1,1 Milliarden (!) Euro nur für das DMP Diabetes II ausgegeben, ohne erkennbaren medizinischen Nutzen. [ http://www.aerzteblatt. de/v4/archiv/artikel.asp?src=suche&p=dmp&id=94303] Ein Erfolg aller DMPs konnte auch bis September 2011 nicht nachgewiesen werden [ÄZ, 20.9.11, S. 1], denn es existiert keine einzige saubere prospektive und randomisierte Studie dazu. Prospektive und randomi- sierte Studien weisen zum Beispiel von 1.000 Diabetikern die Hälfte per Zufallsgenera- tor dem DMP Diabetes zu, die andere Hälfte wird weiter behandelt wie bisher. Dann schaut man nach 5 oder 10 Jahren, ob zwischen beiden Gruppen ein Unterschied zum Beispiel bezüglich der Blutzuckereinstellung und dem Gesundheitszustand besteht. Sol- che Studien sind aber bisher nie gemacht worden. Man hat sich einfach nur überlegt, dass es gut sein könnte, dieses oder jenes Programm für Diabetiker oder andere chro- nisch Kranke zu machen. Erfolgsmeldungen zu DMPs entpuppen sich regelmäßig als Resultate nichtssagender Kohortenstudien. Bei einer solchen Kohortenstudie wurden dann eine Zeit lang Diabetiker, die in das DMP für Diabetes aufgenommen worden waren, beobachtet und man stellte fest, dass es ihnen nach zwei oder drei Jahren besser ging als vor der Aufnahme in das Programm. In ein DMP aufgenommen werden aber hauptsächlich die motivierten und interessierten Patienten. Die Unmotivierten, Unin- teressierten und auf Tablettentherapie ausgerichteten Diabetiker blieben draußen oder flogen aus dem Programm raus, weil sie nicht kooperierten. Ärzte machen bei DMPs hauptsächlich deswegen mit, weil es für sie dann Extrahonorar gibt. Die Kassen füh- ren DMPs nur deswegen durch, um an das Zusatzgeld für chronisch Kranke aus dem Risikostrukturausgleich (RSA) der Krankenkassen zu kommen. Der RSA bringt einer Kasse mehrere tausend Euro pro Jahr für jeden nachweislich an Diabetes erkrankten Patienten. Um die Erkrankung nachzuweisen, werden die DMPs benötigt. Das ist der einzige Grund. Es geht ums Geld. Die beteiligten Ärzte übermitteln zu diesem Zweck sehr persönliche Daten der Patienten an die Krankenkassen.

»Dilettantischer DMP-Großversuch«, schreibt ein Hausarzt [Der Hausarzt, 13/11, S. 10], ein anderer: »Die meisten Kollegen machen DMPs ausschließlich wegen des Extrahonorars und finden sie völlig überflüssig« [Der Hausarzt, 13/11, S. 10].

Auch Hausarztverträge bringen den Patienten nichts, sie erzeugen nur mehr Bürokratie. Teilnehmende Ärzte bekommen dafür einige Euro mehr. Da dieses Honorar aber aus der Gesamtvergütung der Ärzte genommen wird, bekommen nichtteilnehmende Ärzte weniger Honorar. Ein Nullsummenspiel, das nur dazu dient, den Krankenkassen Daten für den RSA zuzuschaufeln, an die sie sonst nicht gekommen wären.

Ergebnis: Kein Mehr an Gesundheit, kein Mehr an Gesamthonorar für die Ärzte, denn was den einen mehr gegeben wird, wird den anderen wieder abgezogen (denn das Gesamthonorar ist gedeckelt), aber ein Mehr an Verwaltung und Arbeit für die Ärzte und ein Mehr an unnützem Zeitaufwand für Millionen von Patienten, die nichts davon haben.

Patientennutzen und Effizienz von DMP seien nicht zweifelsfrei belegt; 2001 habe man es versäumt, die Ausgangslage für die Durchführung kontrollierter Studien zu schaffen [Glaeske, G., Ä B, 30.9.2011, S. A 2011]. Möglicherweise stieg auch durch das DMP Dia- betes der Insulinverbrauch bei gesetzlich Versicherten zwischen 1998 und 2009 auf das 2,3-fache [MT 30.9.11, S. 15] Bei einer intensivierten Insulintherapie kann es aber auch zu mehr Unterzuckerungen, Todesfällen, Übergewicht und Krebs kommen [MT a.a.O.; Ä B, 30.9.2011, S. A 2011]. Deswegen wird auch bei Experten die Forderung laut, die Frage nach Angemessenheit und Wirtschaftlichkeit neu zu stellen [MT a.a.O].

Besser wäre meines Erachtens, die DMPs und Hausarztverträge abzuschaffen, sie brin- gen keinen medizinischen Nutzen. Stattdessen sollte die Praxisgebühr erhöht werden, um Druck auf die chronisch Kranken aufzubauen, nicht dauernd zum Arzt zu gehen, sondern selbst aktive Lösungen zu suchen. Eine etwas geringere Praxisgebühr sollte auch bei Vorlage einer Überweisung erhoben werden. Rabattierte Medikamente dürfen nicht kostenlos abgegeben werden. Momentan wird Faulheit und krankmachendes Verhalten belohnt. Das ist auch unsolidarisch, denn die Gesunden und Gesundheitsbewussten zahlen voll in die Kassen ein, auch wenn sie nicht zum Arzt gehen. Durch höhere Pra- xisgebühren wird deshalb auch ein Solidarbeitrag der chronisch Kranken eingefordert, schließlich sind sie diejenigen, die die Kosten verursachen. Gesundheitsbewusstsein hat etwas mit Bewusstsein zu tun, aber auch mit Geld. Wenn das Rauchen in Gaststätten unter Strafe steht, wird dort nicht mehr geraucht und auch generell weniger. Wer jeweils fünf bis zehn Euro für seine Blutdruck-, Diabetes-, und Psychomedikamente alle paar Wochen zahlen muss, fragt sich eher, ob das nicht auch anders - ohne Medikamente - gehen könne. Wenn es die Ärzte nicht hinbekommen, ihre Patienten über einfachste Dinge aufzuklären und zu motivieren (Sport, Training, Nichtrauchen, weniger Essen und Alkohol), dann wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn die Krankenkassen den Betroffenen alle drei Monate eine entsprechende Info-Broschüre zuschicken. Beim Zahnarzt ist es ja auch so: Wer nicht mitmacht bei der Vorsorge, zahlt als gesetzlich Ver- sicherter mehr. Wer sein Hörgerät nicht pfleglich behandelt, bekommt nach drei Mona- ten nicht schon wieder ein neues von der Kasse bezahlt. Wer sein Auto gegen die Wand fährt, muss das auch selbst bezahlen. Wer einen Unfall mit seinem Auto verschuldet, verliert seine Rabattstufe, wer am Steuer telefoniert, bekommt einen Punkt in Flensburg und wer die Heizung zu Hause zu sehr aufdreht, was er natürlich darf, muss höhere Heizkosten zahlen. Nur im GKV-Bereich des angeblich besten Gesundheitssystems der Welt ist alles anders.

Fazit: Die Kassenärzte sind zu Krankheitsverwaltern geworden mit aktiver Unter- stützung der Krankenkassen, der Apotheken, der Pharmahersteller, aber auch der Patienten, die das lieber sehen als aktiv zu werden. Die Ärzte und Psychothera- peuten selbst leiden auch darunter, bei bis zu 18 Arzt- und Psychotherapiekontak- ten im Jahr kein Wunder, und haben ihr Honorar für die ärztliche Einzelleistung (basierend auf dem sogenannten Punktwert) auch durch eigenes Zutun entwertet. Denn sie sind so organisiert, dass die Menschen immer öfters zum Arzt gelockt werden: Helferinnen sorgen durch gute »Teamleistungen« dafür, dass der Strom an Patienten immer besser und schneller durch die Warte- und Behandlungszimmer fließt. Überweisungen zum Facharzt können telefonisch vorbestellt werden und stapelweise an der Rezeption abgeholt werden. Immer mehr Patienten in kürzerer Zeit ist das Ziel des guten Teams. Als Patient sollten Sie sich nicht in DMPs oder Hausarztverträge einschreiben. Sie vergeuden nur (Ihr) Geld ! Die in 10 Jahren dafür ausgegebenen 50-80 Mrd. Euro hätte man an die 40 Mio. Berufstätigen aus- schütten können. Das wären 1.000 bis 2.000 Euro pro Person gewesen: Macht mal einen Monat Pause, legt die Beine hoch !

XI. Krankheiten werden »eingestellt« und verwaltet. Z. B. Chronische Schmerzen.

Mediziner stellen fest, dass sie chronischen Schmerz zwar irgendwie behandeln können (Schmerzmittel, Operationen, Psychotherapie), dass er an sich aber meistens nicht mehr weg geht, sondern sogar die Tendenz zeigt, sich sowohl in der Gesellschaft, als auch beim betroffenen Individuum immer mehr auszuweiten. So ist es auch mit dem Übergewicht und dessen schädlichen Folgen: Man kann zwar versuchen, das Übergewicht oder seine Folgen (Erhöhung von Blutdruck, Blutzucker, Blutfett, stärkerer Gelenkverschleiß und erhöhtes Krebsrisiko) zu behandeln, aber die Krankheit an sich tritt trotzdem immer öfter auf und hinterlässt immer öfter schädliche Folgen, bis hin zur vorzeitigen Pflegebe- dürftigkeit und Tod. Es gibt kein wirksames medizinisches Mittel gegen die Erkrankung Übergewicht, sondern nur eine symptomatische oder kosmetische Behandlung gegen die verschiedenen Begleitkrankheiten, die Übergewicht mit sich bringen kann: Medi- kamente gegen Diabetes bei Übergewicht heilen weder die Krankheit Diabetes noch die Krankheit Übergewicht, sondern ermöglichen den Betroffenen ein Leben mit etwas niedrigeren Blutzuckerspiegeln und erlauben ihnen im Großen und Ganzen so weiter zu machen wie bisher.

8,3 % der US-Amerikaner sind von Diabetes betroffen. Gut jeder Vierte von ihnen wisse nichts von seiner Erkrankung. Die Hälfte der über 65 Jahre alten Amerikaner habe einen Prädiabetes, gut ein Viertel einen manifesten Diabetes. Diabetes ist die siebthäufigste Todesursache in den USA, die Erkrankung verursacht Kosten von 127 Mrd. Euro pro Jahr, davon sind 85 Mrd. Euro direkte medizinische Ausgaben. 16 % der Indianer leiden unter Diabetes, aber nur 7 % der Weißen [Nach ÄZ, 28./29.1.2011, S. 11] . Geändert hat daran kein Diabetes-Programm etwas. Im Gegenteil: Die Diabetes-Epidemie hat noch weiter zugenommen. Denn die Menschen glauben: Wenn ich Diabetes bekomme, kann mir gut geholfen werden, ich muss nur Tabletten nehmen oder Insulin spritzen.

Selbst gefährliche Mittel kommen dafür auf den Markt, koste es, was es wolle: Der Mediator-Skandal in Frankreich legt nahe, dass dieses gefährliche und nebenwirkungs- behaftete (Diabetes-) Medikament »Mediator« (Benfluorex, in Deutschland nicht auf dem Markt) deswegen auf den Markt kommen konnte und trotz vieler Zwischenfälle seine Zulassung behalten konnte, weil es zu einer gefährlichen Verquickung medizini- scher, politischer und wirtschaftlicher Interessen gekommen war [Nach SZ, 1.2.2011, S. 1] .

Medikamente gegen erhöhte Blutfette bei Übergewicht tun das Gleiche, davon geht aber weder das Übergewicht, noch die Krankheit »Erhöhte Blutfette« weg. Im Gegen- teil, die Behandlung verschafft den Betroffenen ein Alibi, so weiter zu essen und sich genau so wenig zu bewegen wie bisher und kostet zudem Zeit und Geld. Beides muss an anderer Stelle wieder aufgebracht werden: Zur Gegenfinanzierung müssen Menschen dafür arbeiten gehen und ihre Knochen und Psyche verschleißen. Patienten verlieren Zeit durch die Arztbesuche, Ärzte müssen Zeit aufwenden, die sie dann für die Behand- lung von anderen Patienten nicht haben. Die Behandlung der Begleiterkrankungen des Übergewichtes mit Tabletten ist für die Patienten regelmäßig ein Alibi, um die kausale Behandlung zu unterlassen: Gewichtsabnahme, regelmäßiges Training, weniger Essen, mehr Zeit und Muße für sich selbst und die Familie.

Fazit: Beim Übergewicht, Diabetes, den Fettstoffwechselstörungen und vielem anderen ist keinerlei Heilung in Sicht, sondern es wird Kosmetik betrieben, die unter dem Strich mehr schadet als nutzt.

Das gilt auch für die Behandlung von Schmerzen: Ursächliche Behandlung fin- det oft zu Gunsten der Verschreibung von Schmerzmitteln nicht mehr statt. Ärzte wollen die Patienten wieder aus dem Sprechzimmer haben, die nächsten warten schließlich schon, das Honorar ist budgetiert, also will man möglichst wenig Arbeit haben mit den Schmerzkranken. Die Schmerzmittel machen aber auf lange Sicht den Körper noch kränker.

Dabei gäbe es sogar auf der Ebene der Medikamentenverschreibung Alternativen:

Die Wirksamkeit von Schmerzmitteln, die nicht vermieden werden können, kann durch bewusstes Hervorrufen des Placebo-Effektes (durch den Arzt) noch gesteigert werden. Der auf diese Weise optimierte Terapieeffekt beinhaltet den »Nettoeffekt« des Schmerz- mittels (etwa ein Drittel der Wirkung) plus den der Placebo-Antwort (etwa zwei Drittel der Wirkung) [Günther Bernatzky und Rudolf Likar, ÄZ, 27.1.11, S. 16]. Selbst wenn man weiß, dass ein Placebo eingesetzt wird, kann Placebo noch besser wir- ken als gar keine Terapie [Zitiert nach » Zu wissen, es ist Placebo - selbst dann wirkt Scheinarz- nei « , ÄZ, 17.1.2011, S. 3] . Ärzte für Naturheilverfahren, Homöopathie und Akupunktur setzen zuweilen Placebos ein, wenn es ohne Medikamente nicht geht, auch in Form von Injektionen und Infiltrationen. Wenn man - wie ich - seinen Patienten verdünnte (phy- siologische) Kochsalzlösung spritzt, ist man allerdings auch verpflichtet über dieses Mit- tel aufzuklären. Dabei will man dem Patienten aber nicht alle Illusionen nehmen (»Sie bekommen ein wirkstofffreies Medikament von mir gespritzt«). Ich löse dieses Dilemma, indem ich den Patienten sage, dass es ein homöopathie-ähnliches Medikament ist, das schon sehr vielen Menschen sehr gut geholfen hat. Das wirkt dann fast immer.

Placebobehandlung in klinischen Studien

Einer Metaanalyse zufolge ist die Effektstärke der Placeboanalgesie im Labor etwa sechsmal größer als die Effektstärke einer Placebobehandlung in klinischen Stu- dien [Vase L, Riley JL, Price DD. A comparison of placebo effects in clinical analgesic trials ver- sus studies of placebo analgesia. Pain 99;2002: 443-52 zitiert nach: Prof. Dr. Paul Enck, Med. Nr. 36-37 / 2008 (150. Jg.)] . Von den Autoren wird das darauf zurückgeführt, dass in Laborstudien meist eine sichere Medikamentengabe suggeriert wird, um Placeboan- algesie zu erzeugen. Dagegen werden Patienten in klinischen, placebokontrollierten Studien mit der Einverständniserklärung darüber informiert, dass sie eine 50 %ige (oder höhere oder geringere) Chance haben, ein Placebo zu erhalten [Med. Nr. 36-37 / 2008 (150. Jg.)] . Diese reduzierte »Sicherheit« der Behandlung mit einem Medika- ment drückt sich in der reduzierten Placebowirksamkeit aus [Prof. Dr. Paul Enck, a.a.O.] . Noch dramatisch geringer waren die Effekte von sowohl Placebo als auch Medikament, wenn die Patienten nicht wussten, ob überhaupt und wann sie ein Schmerzmittel bekommen sollten [Colloca L, Lopiano L, Lanotte M, Benedetti F. Overt versus covert treatment for pain, anxiety, and Parkinson ‘ s disease. Lancet Neurol 3;2004:679-84. Zitiert nach: Prof. Dr. Paul Enck, a.a.O.] .

Allerdings führt die korrekte und vollständige Aufklärung durch den Arzt über die Möglichkeit von Nebenwirkungen gerade dazu, daß diese Nebenwirkungen häufiger auftreten [Rief, W., MMW, 39/2011, S. 32]. In experimentellen Studien zur Behandlung von Prostatahypertrophie zeigte sich: Aufgeklärte Patienten entwickelten dreimal häufiger Nebenwirkungen [MMW, a.a.O.]

Fazit: Wenn eine medikamentöse Behandlung wirklich unumgänglich ist, sollten Sie als Ärztin oder Arzt in geeigneten Fällen zunächst ein pflanzliches oder homöo- pathisches Komplex-Mittel versuchen oder physiologische Kochsalzlösung spritzen und dem Patient sagen, dass es ein sehr gutes Mittel ist, das schon sehr vielen Pati- enten sehr gut geholfen habe und dass das Mittel keinerlei Nebenwirkungen habe, wenn man mal von einem möglichen Bluterguss bei einer Injektion absieht.

Im Gegensatz zu der früher oft vertretenen Ansicht, dass Placebowirkungen in einem Medikamentenversuch nach einigen Wochen nachlassen und dann die therapeutische Überlegenheit des Medikaments sichtbar wird, haben neuere Medikamentenstudien in verschiedenen Anwendungsbereichen gezeigt, dass Placebowirkungen ein Jahr und län- ger dauern können [Am J Gastroenterol 99;2004: 2185-220. Und: Cephalalgia 2002;22:633-58. Beide zitiert Enck, a.a.O.] .

Die Gerac- und ART-Akupunkturstudien zur Wirksamkeit der Akupunktur bei chroni- schen Knie-, Kreuz-, Kopf- und Migräneschmerzen legen auch nahe, dass die »Super«- Placebo-Terapie Akupunktur auch noch Monate nach der letzten Sitzung wirksam ist [Ann Intern Med. 2006 Jul 4;145(1):12-20. 2. Arch Intern Med. 2007 Sep 24;167(17): 1892-8. 3. Ä B 103/2006, S.A-187/B-160/C-159. 4. Ä B 103/2006, S.A-196/B-169/C-167].

Nozebo

Wenn Patienten schlechte Auswirkungen eines Medikamentes erwarten, weil sie darüber im BPZ gelesen haben, können diese Auswirkungen oder Nebenwirkungen alleine aus dieser Erwartungshaltung heraus auftreten. In Versuchen hat man nämlich herausgefun- den, dass Nebenwirkungen auch dann auftreten, wenn den Patienten (in diesem Fall: den Probanden) wirkungslose Zuckerpillen verabreicht wurden, sie aber im Glauben waren, echte Medizin zu erhalten und zwar diejenige Medizin, zu der sie vorher den BPZ studiert hatten.

»Der Schaden durch Nozebos ist enorm«, wird Manfred Schedlowski von Bartens in der SZ zitiert [Abgewandelt zitiert nach Bartens, Werner, SZ, 4./.5. Juli 2009, Seite 20] . »Viele Menschen nehmen ihre Medikamente aus Angst vor Nebenwirkungen nicht ein - Ärzte müssen besser darüber aufklären«, sagte Schedlowski, der Psychologe an der Universität Essen ist [Abge- wandelt zitiert nach Bartens, Werner, a.a.O.] . Es ist deshalb wichtig, die Patienten über Risiken aufzuklären UND ihnen einen alltäglichen Bezug zu diesen Risiken zu nennen [siehe meine Ausführungen zu Risiken und Wahrscheinlichkeiten, z. B. (Number-Needed-to-Treat (NNT), NNH] . Der bekannte amerikanische Kardiologe Lown hat (deshalb) eine Faustregel für Patien- ten entwickelt: »Je furchteinflößender die Terminologie eines Arztes ist und je düsterer seine Prognosen, desto weniger sollte man seinen Anweisungen glauben.« [Abgewandelt zitiert nach Bartens, Werner, a.a.O.]

Wie stark die Macht negativer Gedanken oder Angst sein kann, zeigt das Beispiel einer Leh- rerin und ihrer Schüler in Tennessee. Sie hatte Gasgeruch wahrgenommen und vor ihrer Klasse über Übelkeit und Kopfschmerzen geklagt. Sodann berichteten mehr als hundert Schüler und Lehrer von denselben Symptomen, obwohl sich der Geruch als harmlos her- ausstellte und gar kein Gas ausgeströmt war [Abgewandelt zitiert nach Bartens, Werner, a.a.O.] . Ähnliches ereignete sich in Belgien, wo vor einiger Zeit der Geschmack von Cola in Dosen anders als bisher war, denn die Dosen waren mit einer anderen Substanz imprä- gniert worden. Der Stoff erwies sich als harmlos, doch Dutzende Jugendliche wurden in Krankenhäusern behandelt [Bartens, a.a.O.]. Weil aber vor der Gabe von chemischen Schmerzmitteln umfassend aufgeklärt werden muss, rufen gerade diese Mittel viele und erhebliche Nebenwirkungen hervor.

Ein anderes Beispiel: Ein Mann wollte sich nach der Trennung von seiner Freundin das Leben nehmen und schluckte 30 Tabletten eines vermeintlich sehr starken Psycho- pharmakons, das er deshalb im Haus hatte, weil er gerade an einer Studie zu diesem Mittel teilnahm. Er brach zusammen, kam ins Krankenhaus und auch dort ging es ihm immer schlechter. Bald kam der Arzt vorbei, der die Studie leitete. Dieser sagte, dass der junge Mann in der Kontrollgruppe mit harmlosen Pillen (Placebo) war. Augenblicklich verschwanden alle Symptome, die der junge Mann mit der Kraft schlechter Gedanken heraufbeschworen hatte [Abgewandelt zitiert nach Bartens, Werner, a.a.O.] .

XII. Der Papiertiger Psychotherapie hält Menschen von Selbsthilfe ab.

Auch die große Hoffnung Psychotherapie hat weitgehend nicht das gebracht, was sich viele von ihr erhofft hatten. Auch nach 50 Sitzungen Psychotherapie oder zwei Monaten psychosomatischer Reha kommen die Patienten zum Hausarzt zurück und haben ihre Angst, Depression, Nervosität, Somatisierungsstörung oder Schlafstörung immer noch. Sie sind sie in den meisten Fällen nicht los geworden und das große Versprechen von Freud: »Erkenne den zugrunde liegenden Konflikt und der damit verbundene Affekt löst sich auf«, wurde nie eingelöst, regelmäßig auch von ihm nicht (er war nikotin- und kokainsüchtig - starb an Mundkrebs, hatte ein Verhältnis mit seiner Schwägerin, sein Sohn zeugte mit seiner zweiten Frau ein Kind und vieles mehr). Andere Zeitgenossen von ihm waren auch nicht besser: Jung missbrauchte eine Patientin und redete die Sache mit Hilfe von Freud klein.

Die Psychotherapie ist ein Papiertiger, erst jetzt erkennen das viele, so sehr hat sie uns fasziniert und geblendet. Die eloquenten Erzählungen von Freud, Jung, Adler, Reich, Ferenczi waren einfach zu toll, zu vereinnahmend, viele glaubten tatsächlich den Schlüs- sel zur Seele und ihren Krankheiten gefunden zu haben und sie dadurch wirklich heilen zu können. Wie in der Chirurgie und Inneren Medizin erwies sich das als grundlegender Irrtum: Die Chirurgie kann zwar toll reparieren, aber wenn das Bein ab ist, ist es nun mal ab, wenn die Gallenblase oder die Krampfadern raus sind, leben wir nun mal ohne Gallenblase und haben einige Venen weniger. »Heilung« ist das irgendwie schon, aber eben eine »Defektheilung«; um zu gesunden, wird etwas weggeschnitten und nicht heil gemacht. Fortan fehlt uns dieses Organ.

Diese Feststellungen gelten auch für weite Teile der Psychopharmakotherapie: Die Angsterkrankung geht immer weiter um, obwohl es immer mehr und stärkere Medikamente zu ihrer Behandlung gibt und diese in den meisten Industrieländern auch für alle Menschen verfügbar sind. Einfachste Mittel zur Behandlung der Angst werden deshalb nicht mehr propagiert: Ausdauer-Training. Damit lassen sich Angstsymptome eindämmen. Bei der Betrachtung der Sportdauer schnitten Übungszeiten von mindestens 30 Minuten am besten ab. Diese nicht-pharmakologische Behandlung eignet sich auch besonders für Patienten, die Medikamente ablehnen [Matthew P Herring et al., Arch Int Med 2010; 170: 321-31, zitiert nach MT, 12. März 2010, S. 6] .

Mit körperlichem Training lassen sich auch Depressionen ganz gut verscheuchen. Zur antidepressiven Wirkung von Sport bei bereits bestehender Depression existieren eine Reihe kontrollierter Studien, die mehrheitlich eindeutig für klinisch bedeutsame antidepressive Wirkungen von regelmäßigem körperlichem Training sprechen, egal, ob Ausdauer- oder Krafttraining [Hans-Hermann Dickhut, Gernot Badtke: Sportmedizin für Ä rzte Lehrbuch auf der Grundlage des Weiterbildungssystems der deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP). Deutscher Ä rzteverlag, 2007, ISBN 3769104722] .

Ein wichtiger Effekt von Konditionstraining ist auch das verbesserte Selbstwertgefühl und die Endorphinausschüttung im Gehirn. Positive Effekte des Joggings bei Depres- sionen sind empirisch durch Studien nachgewiesen. 1976 wurde die erste Studie zum stimmungsaufhellenden Effekt des Dauerlaufs unter dem Titel »Te joy of Running« [Taddeus Kostrubala: Te Joy of Running. Lippincott, 1976, ISBN 0397011695] veröffentlicht. Ebenso wirkt Konditionstraining gegen viele Arten von chronischen Schmerzen.

XIII. Mehr Schaden als Nutzen durch Medikamente bei chronischen Erkrankungen.

Wie immer stellt sich auch hier die Frage, ob durch Medikamente bei chronischen Erkrankungen nicht mehr Schaden als Nutzen erzeugt wird. Der Anstieg der Erkran- kungen an Diabetes, Hypertonie und Fettstoffwechselstörungen ist meines Erachtens auch bedingt durch die immer besseren »Behandlungen« derselben. Alle Kosten und versteckten Kosten berücksichtigt, ergibt sich unter dem Strich kein oder nur ein gerin- ger Benefit (Nutzen). »Was? Das kann nicht sein!«, rufen Sie? Dann sage ich Ihnen: Sie haben nicht alles in der Rechnung berücksichtigt: Das Herstellen der Medikamente und der Schaden, der dabei der Umwelt zugefügt wird. Das Eindringen der Medikamente in die Umwelt, nachdem sie von den Patienten wieder ausgeschieden wurden.

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Final del extracto de 294 páginas

Detalles

Título
Med 3.0 - Handbuch für Kranke und Noch-Gesunde
Autor
Año
2011
Páginas
294
No. de catálogo
V183647
ISBN (Ebook)
9783656080978
Tamaño de fichero
1709 KB
Idioma
Alemán
Notas
Palabras clave
versorgungsamt, Rentenversicherung, Wechselwirkungen, Nebenwirkungen, Krankenhaus, Arztpraxis, Psychotherapie, Psychopharmaka, Psychische krankheiten, Krebs, Chemotherapie
Citar trabajo
Dr. med. Dieter Wettig (Autor), 2011, Med 3.0 - Handbuch für Kranke und Noch-Gesunde, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/183647

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