Iweins Wahnsinn

Die Bedeutung der Wahnsinnepisode in Hartmann von Aues „Iwein“


Hausarbeit, 2010

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis Seite

1. Einleitendes Vorwort

2. Die Humoralpathologie

3. Inhaltliche Zusammenfassung der Wahnsinnsepisode im Iwein

4. Die Bedeutung der Wahnsinnsepisode
4.1 Iweins Handlungsweise vor seinem Wahnsinn
4.2 Iweins Wahnsinn: Eine Begegnung mit dem inneren Tier
4.3 Iweins Handlungsweise nach seinem Wahnsinn

5. Abschließendes Wort

Literaturverzeichnis

1. Einleitendes Vorwort

„Nâch einem dinge jamert in,

daz er wære etewâ

daz man noch wîp enweste wâ

und niemer gehôrte mӕre

war er komen wӕre.“[1]

So ergeht es dem Helden Iwein im gleichnamigen Artusroman Hartmanns von Aue aus dem Jahre 1200. Wie kommt es dazu, dass Iwein sich fortwünscht von jeglicher Zivilisation, sich wünscht niemals in einer solchen existiert zu haben? Diesen Wunsch hegt nur jemand, der an ihr gescheitert ist, jemand, der den Glauben an seine Fähigkeiten verloren hat. Und so ist gesellschaftliches Scheitern auch für Iwein der Grund, sich und seine Herkunft zu verdammen, beides aus seinem Gedächtnis zu löschen, um den Schmerz zu vergessen, den es mit sich bringt, sich selbst und andere zu enttäuschen. Die Reaktion Iweins auf sein eigenes Versagen gleicht einem herbeigesehnten Identitätsverlust. Sie dient dem Selbstschutz vor der schmerzlichen Auseinandersetzung mit der eigenen gesellschaftlichen Identität.

Worin sein Scheitern und sein Wahnsinn genau bestehen, wie er vom Wahnsinn befreit wird und sein Wahn ihm schließlich zur Katharsis gereicht, darum wird es in dieser Arbeit gehen.

Zunächst soll geklärt werden, an welchen medizinischen Kenntnissen des Mittelalters sich die Wahnsinnsdarstellung im „Iwein“ orientiert und inwiefern medizinische Aspekte wichtig sind, um sich der Bedeutung der Wahnsinnsepisode zu nähern.

In einem nächsten Schritt wird die Wahnsinnsepisode inhaltlich zusammengefasst. Darauffolgend soll untersucht werden, wie sich Iweins Verhaltensweise vor und nach seinem Wahnsinn unterscheidet und ob die Ursachen dafür in der Wahnsinnsepisode auszumachen sind.

2. Die Humoralpathologie

Die dominierende Krankheitslehre im Mittelalter war die sogenannte Humoralpathologie. Sie geht auf die Antike, namentlich Galen und Hippokrates, zurück.[2] Ihre bekanntesten mittelalterlichen Vertreter waren unter anderem Bartholomäus Anglicus und Hildegard von Bingen.[3] Im 11.Jh. übersetzte Constantinus Africanus die arabischen medizinischen Lehren des Ishaq ibn Imran, welche ebenfalls auf den humoralpathologischen Vorstellungen der Antike gründen, ins Lateinische.[4] Nach der mittelalterlichen Humoralpathologie

„gibt es vier Körpersäfte, sogenannte Humores: Blut, gelbe(rote) Galle, schwarze Galle und Schleim. Sie sind den vier Elementen Luft, Feuer, Erde und Wasser zugeordnet. Jeder Körpersaft hat zwei der folgenden Qualitäten: heiss, feucht, trocken, kalt.“[5]

Ein Ungleichgewicht dieser Körpersäfte hat gemäß der Humoralpathologie Krankheiten zur Folge. Die Krankheitssymptome werden hervorgerufen durch den Versuch des Körpers, die Säfte in ihr natürliches Gleichgewicht zu überführen.

Dieses Gleichgewicht wird erreicht durch eine ausgeglichene Lebensweise. Gesundheit ist gemäß der Humoralpathologie ein Zustand körperlicher und seelischer Ausgeglichenheit.

„Der Körper affiziert die Seele, oder umgekehrt, wie im Falle Iweins, eine starke seelische Erschütterung ruft die organische Reaktion hervor. Beides geht Hand in Hand, monokausales Herleiten ist hier nicht angebracht.“[6]

Dieser ganzheitliche Aspekt der mittelalterlichen Heilkunde wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit eine Rolle spielen. Es soll gezeigt werden, dass die Entwicklung Iweins im Roman Hartmann von Aues einem Genesungsweg gleicht und zwar in dem Sinne, dass er im Laufe des Romans seelische und körperliche Ausgeglichenheit erreicht.

Zunächst muss aber danach gefragt werden, ob sich Hartmann bei der Darstellung des Wahnsinns überhaupt an zeitgenössisch-medizinischen Kenntnissen orientiert. Dass dem so ist, legt Michael Graf in seinem Werk „ Liebe-Zorn-Trauer-Adel- Die Pathologie in Hartmann von Aues ’Iwein’ “ plausibel dar. Die Krankheitsdarstellung im Roman weise „deutliche Parallelen zu den antiken Krankheitstheorien über die Melancholie auf.“[7] Gemäß der Humoralpathologie ist die Melancholie eine Erkrankung, die durch ein unnatürliches Übergewicht der schwarzen Galle evoziert wird und sich auf das seelische Befinden des Erkrankten auswirkt.[8] Nach Ishaq ibn Imran sind ihre „seelischen Symptome […] Angst und Kummer“[9], aber auch Einbildung, Angst, Jähzorn, Traurigkeit, Menschenscheu und das äußerlich sichtbare Symptom dunkler Hautverfärbung.[10]

Im Verlauf der vorliegenden Arbeit werden einige der Stellen im Roman ausgewiesen an denen deutlich wird, dass sich Hartmann an der mittelalterlichen Krankheitstypik der Melancholie orientiert. So werden sie gleichsam der Explikation weiterer Aspekte der Humoralpathologie und der Melancholie dienen. Iweins Streben nach Ausgeglichenheit wird so in den medizinhistorischen Kontext, in den zeitgenössischen Vorstellungshorizont eingebettet werden können. Stellenweise werden auch psychoanalytische Gedankengänge einfließen. Iweins Entwicklungsweg des gesellschaftlichen Versagens, der gesellschaftlichen Entsagung und zuletzt des Entsprechens gesellschaftlicher Erwartungen, soll so nachgezeichnet werden.

3. Inhaltliche Zusammenfassung der Wahnsinnsepisode im Iwein

Auf der Suche nach „aventiure“ gelangt Iwein, der Held des gleichnamigen, um 1200 n. Chr. von Hartmann von Aue verfassten Artusromans, an eine sagenhafte Quelle. Das Übergießen eines Steines mit Quellwasser fordert sogleich Askalon, den Hüter der Quelle, zur Verteidigung derselben heraus. Im Zweikampf wird Askalon durch Iwein erschlagen, zurück bleibt Laudine, Burgherrin und Gemahlin Askalons, die sich nun den Aufgaben der Landesverwaltung allein gegenübergestellt sieht. Iwein wird beim Anblick der trauernden Witwe von der Minne übermannt und kann mit Hilfe der vermittelnden Lunete, ihrerseits Kammerdienerin Laudines, tatsächlich die Gunst der Burgherrin gewinnen. In der Annahme, dass derjenige, der ihren tapferen Mann Askalon im fairen Zweikampf besiegt hat, ergo noch tapferer sein müsse, sieht Laudine in Iwein den einzigen Kandidaten, der die Aufgaben der Landesverwaltung sowie die Behütung der Quelle angemessen erfüllen kann. Iwein und Laudine werden vermählt. Iwein hat durch den Ausritt auf Aventiure unverhofft Land, Frau und Ehre erlangt. Seine erste Bewährungsprobe als neuer Landsherr besteht er im Kampf gegen Keie, der als Abgesandter des König Artus den neuen, noch unerkannten Hüter der Quelle herausfordert. Iwein, ursprünglich ebenfalls treu ergebener Ritter am Artushof, gibt sich nach gewonnenem Zweikampf zu erkennen. Der ihm wohlgesonnene König Artus bleibt nun, samt Gefolgschaft, für eine Woche als Gast auf der Burg Iweins. Als die Abreise kurz bevorsteht, beschließt Iwein, dem Ratschlag seines Freundes Gawein zu folgen und ihn auf Turnierfahrt zu begleiten, um seine Ehre zu mehren und sich nicht in die Gefahr des „verligens“ zu begeben, das heißt, sein Dasein als „Pantoffelheld“ an der eigenen Burg zu fristen.[11] Gemäß mittelalterlicher Sitte bleibt ihm die Jahresfrist, bevor er an seine Burg zurückkehren muss, um nicht Thronanspruch und Frau zu verlieren. Doch eben die Einhaltung dieser Frist versäumt er über die Turnieraufregungen. Er verliert die Gunst seiner Geliebten sowie jegliche Ansprüche auf Land und Gut. Durch die öffentlich vor der Artusrunde vorgetragene Schmähung Iweins durch Lunete wird ihm auch eine ehrenvolle Rückkehr an den Artushof verwehrt. Im Bewusstsein des absoluten Verlustes seiner Ehre, seines materiellen Besitzes und der Liebe seiner Angetrauten, verfällt Iwein dem Wahnsinn. Er reißt sich die Kleider vom Leib und fristet von nun an das Dasein eines Wilden in den Wäldern. Er ernährt sich von Wild, das er mit Hilfe eines erbeuteten Bogens zur Strecke bringt. Der einzig soziale Kontakt, den er während der Wahnsinnsepisode unterhält, ist der zu einem Einsiedler. Zwischen dem vom zunehmend verwilderten Äußeren Iweins verängstigten Einsiedler und Iwein entwickelt sich eine Tauschhandelsbeziehung, die zuletzt beiden zum Vorteil gereicht: Wild gegen Wasser und Brot.

Die Wahnsinnsperiode findet ein Ende, als Iwein in die Obhut der Gräfin von Narison aufgenommen wird, die ihn zuvor verwahrlost und ohne Bewusstsein am Wegesrand liegend vorfand. Durch Salbung erwacht Iwein aus der Bewusstlosigkeit, in der ihm seine einst ruhm- und ehrreiche Ritterlichkeit nur wie ein Traum erschien, gleichsam wird er geheilt. Unter der nicht ganz uneigennützigen Pflege durch die Dame von Narison, die gedachte Iwein zu heiraten und als Landesherren einzusetzen, erholt sich Iwein, erlangt bald sein gewohnt stattliches Äußeres zurück und erinnert sich an seine ritterliche Herkunft. Den Heiratsantrag der Dame von Narison lehnt Iwein aus Treue zu Laudine ab.

4. Die Bedeutung der Wahnsinnsepisode

Zunächst muss gesagt werden, dass es einer genaueren Betrachtung der Handlung vor und nach der Wahnsinnsepisode bedarf, um sich ihrer Bedeutung zu nähern. Die Wahnsinnsepisode ist das ausschlaggebende Moment für die Reifung des Helden Iwein. Diese Reifung besteht in der Annäherung Iweins an das Idealbild eines Ritters. In diesem Kapitel sollen Handlungselemente des ersten und des zweiten Handlungszyklus miteinander verglichen und die Unterschiede auf Ursachen in der Wahnsinnsepisode zurückgeführt werden. Dieses Verfahren bietet sich gerade deswegen an, weil die sich wiederholenden Handlungselemente ein auffälliges Merkmal dieses Artusromanes sind.

Es wurde eingangs erwähnt, dass die Entwicklung Iweins zu seelischer und körperlicher Ausgeglichenheit nachvollzogen werden soll. Seelische Ausgeglichenheit heißt unter anderem, sich und sein soziales Umfeld in Einklang zu bringen. Unumgänglich ist deswegen eine Untersuchung des Wechselspiels zwischen den Normen und Konventionen der höfischen Kultur und den Versuchen Iweins diesen gerecht zu werden, welche zunächst scheitern und im Wahnsinn münden.

„Den Ausgleich von Kräften, das In-die-Mitte-Bringen von Auseinanderstrebendem, die Mediatisierung im kleinen und im großen Organismus: das leistet der Ritter. Er ist Opfer und Verteidiger des Kulturzwangs.“[12]

In diesem Zusammenhang wird auch die Arbeit von Gerhard Giesa von Interesse sein. Er zeichnet die Entwicklung Iweins als exemplarischen Individuationsweg, das heißt als Weg des “zum eigenen Selbst werden[s]“[13] nach. Der Prozess der Selbstwerdung ist der Vorgang, in dem man sein Selbst in ein befriedigendes Verhältnis zur Norm setzt.

Der Wahnsinn ist die extreme Gegenposition zur Norm. Wie sich dieses Wechselspiel zwischen beiden Polen im „Iwein“ gestaltet, soll im Folgenden mit Hilfe der genannten Vorgehensweise aufgezeigt werden. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die Handlungsmotive Iweins gelegt werden, denn die zugrundeliegenden Motive sind es, die eine Handlung als ritterlich oder unritterlich, als rational oder irrational, als normal oder als wahnhaft auszeichnen.

[...]


[1] Hartmann von Aue, „Iwein“, Walter de Gruyter-Verlag, Berlin, 2001. Seite 60, Vers 3216-3220

[2] Vgl. Michael Graf, „Liebe-Zorn-Trauer-Adel. Die Pathologie von Aues „Iwein“. Eine Interpretation auf medizinhistorischer Basis“, Peter Lang-Verlag, Bern/Frankfurt a.M./ Paris, 1989, S.29

[3] Vgl. Angelika Groß, „La Folie. Wahnsinn und Narrheit im spätmittelalterlichen Text und Bild“, Carl Winter-Verlag, Heidelberg, 1990, S.39

[4] Vgl. Michael Graf, S.26 ff.

[5] Michael Graf, S.29

[6] Michael Graf, S.32

[7] Michael Graf, S.42

[8] Vgl. Michael Graf, S.43

[9] Michael Graf, S.43

[10] Vgl. Michael Graf, S.66ff.

[11] Vgl. „Iwein“. S.52, Vers 2783 ff.

[12] Michael Graf, S.29

[13] Gerhard Giesa, „Märchenstrukturen und Archetypen in den Artusepen Hartmanns von Aue“, Kümmerle-Verlag, Göppingen 1987, S.95

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Iweins Wahnsinn
Untertitel
Die Bedeutung der Wahnsinnepisode in Hartmann von Aues „Iwein“
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
19
Katalognummer
V183819
ISBN (eBook)
9783656085829
ISBN (Buch)
9783656086437
Dateigröße
460 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Iweins Wahnsinn, Hartmann von Aue, Wahnsinnsepisode, Iwein Freud, Iwein
Arbeit zitieren
Jan Dominic Broich (Autor:in), 2010, Iweins Wahnsinn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/183819

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