Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Androgyne Frauen und ihre Kontrastfiguren in Wilhelm Meisters Lehrjahre (Fortsetzung)
Philine, die wahre Eva, als Kontrastfigur
Narciß: Publikumsliebling, Herzensbrecher und gekränkter Egoist
Mignon, das rätselhafte Mischwesen
Aurelie: Hypochonder oder Amazone?
Therese, die wahre Amazone
Natalie, die schöne Amazone
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Androgyne Frauen und ihre Kontrastfiguren in Wilhelm Meisters Lehrjahre (Fortsetzung)
Dieses Kapitel knüpft an den ersten Teil der Untersuchung an, in dem bereits die Frauenfiguren der Mariane, der Chlorinde aus Tassos Das Befreite Jerusalem und der Stratonike aus dem Bild vom Kranken Königssohn behandelt worden sind.
Zunächst werden zwei Kontrastfiguren vorgestellt, auf deren Hintergrund die bereits behandelten und die folgenden Figuren mehr Profil und größere Tiefenschärfe gewinnen. Dabei geht es immer um die Frage, welchen Einfluss sie auf Wilhelm ausüben und inwieweit sie zu seiner Entwicklung beitragen.
Philine, die wahre Eva, als Kontrastfigur
An dieser Stelle bietet es sich an, einen Blick auf Philine zu werfen und ihre Bedeutung als Kontrastfigur zu beleuchten. Sie tritt schon relativ früh im Roman (Kapitel II. 4) auf. Mit ihr entwirft Goethe ein Gegenbild zu den bisher behandelten weiblichen Amazonenfiguren.
Der Name geht auf Philo zurück (griechisch ich liebe) und wurde in der griechischen Literatur für Tänzerinnen und Hetären verwendet, z. B. in der Komödie Die Wolken des Aristophanes, die Goethe bekannt war. (Vgl. Bahr 45)
Philine wird vom Autor in dem Moment ins Geschehen eingeführt, als Wilhelm noch unter dem Eindruck seiner Trennung von Mariane steht und sich ganz dem Gedanken an lebenslangen Liebesschmerz und endgültige Entsagung hingibt. Von Anfang an wird sie mit ausgesprochen weiblichen Attributen versehen. Sie wird als wohlgebildetes Frauenzimmer (WML II. 4. 96) beschrieben, eine Formulierung, die hier eindeutig auf das äußere Erscheinungsbild bezogen ist. Ihr blondes Haar, das ihr nachlässig aufgelöst (ebd. 97) um den Nacken fällt, unterstreicht den erotischen Reiz, der von ihr ausgeht, und weist auf die lasziven Züge ihres Charakters hin. Dieser Wirkung kann Wilhelm sich nicht entziehen und überreicht ihr als Zeichen seiner Aufmerksamkeit den soeben erstandenen Blumenstrauß.
Mit Philine tritt ihm zum ersten Mal seit seiner schmerzvollen Trennung eine sinnlich-verführerische Frauengestalt entgegen, deren Reizen gegenüber- trotz seines ausgeprägten Hanges zur Mannweiblichkeit - Wilhelm äußerst empfänglich ist. Philine verkörpert einen Typ Frau, für die im Prinzip jeder Mann - also auch Wilhelm - verführbar ist, und sie setzt die ihr zur Verfügung stehenden Mittel schonungslos und gezielt ein, um Wilhelm mit seiner eigenen Verführbarkeit zu konfrontieren. Dies geschieht ohne insgeheim oder direkt erhobenen tadelnden Zeigefinger des Erzählers. Die Verführung wird als ein Element bewusst in den Erziehungsvorgang eingebaut. Der Protagonist wird nicht als Versager vorgeführt, sondern seine Verführbarkeit stellt einen wichtigen Wesenszug dar, der Wilhelms Charakter abrundet und ihn für den Leser realistischer erscheinen lässt. Mit anderen Worten: Wilhelm ist nicht nur ein idealistischer jugendlicher Held auf der Suche nach einem androgyn geprägten Wesen, das die Pole weiblich-männlich umfasst, sondern er spricht auch - und besonders - auf eine Form reiner Weiblichkeit an.
Damit wird Philine eine wichtige Funktion im Roman zugewiesen. Als Verkörperung sinnlich-natürlicher Weiblichkeit bildet sie ein Gegengewicht zu den amazonenhaften Frauenfiguren, bei denen dieser Aspekt wesentlich geringer ausgeprägt ist. Insofern ist sie Ausdruck eines ideellen Konzepts von Weiblichkeit: sie repräsentiert - in den Worten des Laertes - die wahre Eva, die Stammutter des weiblichen Geschlechts (WML II. 4. 106) in reiner, unverfälschter Form, und zwar so, wie - nach Laertes' Meinung - alle Frauen gerne sein wollen. Dies erklärt vielleicht, warum Goethe im Roman eine Wandlung vom Männlichen zum Weiblichen vornimmt und die Frauenfiguren eine langsame Reifung, eine Überwindung der hermaphroditischen Konfliktzone erleben. (Vgl. Emrich 73, Anmerkung 7)
Philines weitere Entwicklung deutet jedoch nicht darauf hin, dass Goethe beabsichtigte, auf sie immer und ewig das Hohe Lied der holden Weiblichkeit zu singen. Vielmehr erscheint sie - nachdem sie längere Zeit in der Versenkung verschwindet - am Schluss des Romans ihrer ursprünglichen Ausstrahlungskraft nahezu beraubt. Sie hat nach vielem Hin und Her schließlich Friedrich geheiratet, ist inzwischen guter Hoffnung und wird - grotesk überzeichnet - zur komischen Figur herabgestuft. Halb scherzend, halb abwertend sagt Friedrich von ihr:
Unförmlicher und lächerlicher ist nichts in der Welt als sie. Noch kurz ehe ich wegging, kam sie zufälligerweise vor den Spiegel. Pfui Teufel! sagte sie und wendete das Gesicht ab, ... das garstige Bild! Man sieht doch ganz niederträchtig aus!
(WML VIII. 6. 599)
Philines ursprünglicher Verführungskunst, die sie mit der Circenhaftigkeit der Zauberin Armida in Tassos Befreites Jerusalem verbindet (vgl Teil 5. 2. oben), erliegt der verführbare Wilhelm gewissermaßen wehrlos, als er sich eines Abends in seinem Zimmer
von zarten Armen umschlungen, seinen Mund mit lebhaften Küssen verschlossen, und eine Brust an der seinigen fühlte, die er wegzustoßen nicht den Mut hatte. (WML V. 12. 352)
Der überrumpelte Wilhelm weiß in diesem Moment noch nicht, mit wem er es zu tun hat. Aber er wird von dem lästernden Friedrich später darüber nicht im Ungewissen gelassen: Das allerliebste fühlbare Gespenst jener Nacht, wenn Ihr's noch nicht wißt, war Philine ... (WML 599) In diesem Moment wird Wilhelm also - ganz gegen seine eigentliche Überzeugung - von einer Repräsentantin der reinen Weiblichkeit überwältigt.
Narciß: Publikumsliebling, Herzensbrecher und gekränkter Egoist
Mit dem Auftritt des Narciß und seinem weiblichen Pendant Landrinette, beide Mitglieder einer Gesellschaft Seiltänzer, Springer und Gaukler (WML II. 4. 96), gelangen zwei Randfiguren kurzzeitig ins Scheinwerferlicht des Geschehens. Es handelt sich um eine Episode, die zwischen Wilhelms Aufmerksamwerden auf Mignon (ebd. 97) und seiner ersten Kontaktaufnahme mit ihr (ebd. 104 f.) eingeschoben wird. Beide Handlungselemente stehen überdies in enger Verbindung zum erstmaligen Erscheinen von Philine, die als spannungsförderndes Element mit auf den Plan tritt. Wilhelm ist also in diesem Moment von einer Konstellation von Figuren mit verwandten, aber auch voneinander abweichenden Merkmalen umgeben, die einen großen Reiz auf ihn ausüben. Die Tätigkeit des Seiltanzens kann man als ein Element des äußeren Handlungsgerüsts betrachten, das das Geschehen sozusagen im Gleichgewicht hält und symbolisch auch den sonderbaren Schwebezustand der Gestalten zwischen der rein weiblichen Sinnlichkeit Philines und der undefinierbaren Geschlechtlichkeit Mignons verdeutlichen soll, bei der Wilhelm sich nicht entscheiden kann, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte. (ebd. 97)
Dieser Schwebezustand konkretisiert sich im Auftritt des Monsieur Narciß und seinem weiblichen Gegenbild Demoiselle Landrinette (ebd. 98), die auf dem Seile mit leichten Bewegungen, Sprüngen und seltsamen Posituren ihre Künste darbieten , von deren Virtuosität (ebd. 103) Wilhelm sehr beeindruckt ist. Auf diese Weise wird - erzähltechnisch betrachtet - Wilhelms Empfänglichkeit für die Kunststücke Mignons vorbereitet, die die Treppe hinauf- und hinunterspringt und mit großer Geschicklichkeit auf den Geländern der Gänge entlangbalanciert. (Vgl. WML II. 6. 117) Außerdem ist mit der sonderbaren Paarung Narciß-Landrinette, die durch ihre angenehme Gestalt und zierlichen Putz (WML 103) sozusagen die spiegelbildliche Verdoppelung der eigenen Person darstellen, indirekt eine Verbindung zu der inzestuösen Beziehung zwischen dem Mönch Augustin (dem Harfner) und seiner Schwester Sperata hergestellt, aus der Mignon hervorgegangen ist. Von Mignon wird im folgenden Abschnitt noch ausführlicher die Rede sein.
Hier sei jedoch auf den Zusammenhang verwiesen, der zwischen dem bereits erwähnten Narzissmus Wilhelms und der hier in Erscheinung tretenden Figur mit dem Namen Narciß besteht. Dieser Narciß wird als jemand geschildert, der sich gerne im Glanze seiner Erfolge sonnt, vor dem großen Publikum (ebd. 111) als Seiltänzer, aber mehr noch, weil er von einigen Frauen Botschaft erhalten habe, die sehr eifrig verlangten, ihn näher kennen zu lernen. (ebd.)
Mit seiner Partnerin Landrinette lässt er sich als Doppelgestalt in Tragsesseln auf den Schultern der übrigen durch die vornehmsten Straßen der Stadt unter lautem Freudengeschrei des Volks tragen. (ebd. 112) Eine Verbindung zu Wilhelm stellt sich her, wenn man berücksichtigt, wie groß sein Bedürfnis nach Selbstbestätigung ist, wie sehr er sich danach sehnt, auf der Bühne jemanden darzustellen, der vom Publikum gefeiert wird. Wilhelm befindet sich noch in einer Phase gekränkter Selbstliebe, in einem Schwebezustand eines Suchend-Sich-Vorantastens und eines Schwankens zwischen völliger Entsagung und neu erwachender Sinnlichkeit und somit nicht auf sicherem, festen Boden. Es ist keinesfalls klar, in welche Richtung er sich entwickeln wird und ob seine Sehnsucht nach einer amazonenhaften Frauengestalt, die seine geschundene Seele trösten und heilen soll, erfüllt werden wird.
Der Name Narciß taucht noch an einer weiteren Stelle des Romans auf, und zwar in den Bekenntnissen einer schönen Seele. Natalies Tante, die sich zu Beginn ihres Werdegangs noch nicht ausschließlich mit der Lektüre der Bibel beschäftigt, sondern auch Liebesgeschichten liest, Kochen, Französisch, Tanzen und Zeichnen lernt und bei dieser Gelegenheit manches Mal auf schöne Knaben trifft, mit denen sie heimlich, ohne Wissen ihrer Eltern, manches Briefchen ((WML VI. 389) austauscht. Sie schreibt mit mäßigem Erfolg auch selbst einen Liebesroman, besucht Komödien und Bälle und wird bei Hofe eingeführt, hat aber keine rechte Freude daran.
Schließlich trifft sie auf einen jungen Mann, den sie im Scherz Narciß nennt, weil er sich nicht nur durch seine schöne Gestalt, sondern auch durch seine ausgeprägte Selbstgefälligkeit (ebd. 393) auszeichnet. Äußeres Merkmal seiner Verletzlichkeit ist hier das Nasenbluten (ebd.), das ihn beim Tanzen überfällt. Es entspinnt sich daraus eine Liebesgeschichte, die manche Parallele zu Wilhelms Beziehung mit Mariane aufweist und in der Narciß Züge entwickelt und sich Ereignisse ergeben, die sehr an Wilhelms Erlebnisse und an sein zukünftiges Schicksal erinnern. In einer Auseinandersetzung mit einem Hauptmann, der Narciß beschuldigt, sich an seine Frau herangemacht zu haben, wird der junge Mann verwundet und von der Schönen Seele in einem Nebenraum versorgt. Auch hier tritt ein Wundarzt auf den Plan, die eigentlich heilende Wirkung geht jedoch wiederum von der Frau aus, wobei diese vom Blut ihres Liebhabers durchtränkt und dadurch ihre Liebe zu ihm entfacht wird.
Narciß bittet schließlich um die Hand der Schönen Seele, und nach anfänglichem Zögern sagt sie zu. Beide fühlen sich zueinander hingezogen, aber mit der Zeit treten durch scheinbare Kleinigkeiten (ebd. 401) Störungen auf. Diese entstehen einerseits durch die zunehmende Innerlichkeit und Frömmigkeit der Schönen Seele und ihre allmähliche Hinwendung zu Gott und andererseits durch ein bestimmtes Frauenbild des Narciß, nach dem eine Frau - wenn sie sie auch besäße - sich in ihrer Klugheit und Bildung zurückhalten und mehr um ihre Tugend kümmern sollte. Sein Stolz und sein Selbstvertrauen werden einer weiteren Prüfung unterzogen, weil er eine von ihm begehrte Stelle bei Hofe nicht bekommt. Hierdurch besonders getroffen und gekränkt, muss seine Verlobte ihn erneut trösten und aufrichten. Dies führt zu einer allmählich zunehmenden Entfremdung. Vor allem ist sie nicht bereit, um sein Ego nicht zu verletzen, sich in das Gewand der Torheit zu kleiden (ebd. 407) und ihre wahre Natur hinter einer Maske (ebd.) zu verbergen.
Gesellige Vergnügungen und Zerstreuungen werden ihr zunehmend zuwider, und das verstärkt ihren Hang zu größerer Innerlichkeit und Frömmigkeit. Sie gerät in einen unlösbaren Konflikt zwischen der Sehnsucht nach sinnlichen Freuden (ebd.) und dem Bedürfnis nach innerem Frieden. Als sie Narciß zur Rede stellt und ihn bittet, sie über seine wahren Absichten nicht im Unklaren zu lassen. lässt er sie wissen - und darin offenbart sich sein narzisstisches Wesen in aller Deutlichkeit - dass er ohne eine bedeutendere Stelle ihr nicht seine Hand bieten könne, weil er ihrem Ruf keinen Schaden zufügen wolle. Seine Verlobte, die sich völlig unschuldig fühlt (eine Parallele zu Mariane), muss erleben, dass er sich aus gekränktem Stolz von ihr zurückzieht. Als er später den gewünschten Posten erhält und ihr einen erneuten Antrag macht mit der Auflage, sie müsse ihre Gesinnung ändern, ist für sie der Vorhang gefallen (ebd. 411), während er bald darauf eine ansehnliche Partie macht.
In diesem Fall - wie auch bei Wilhelm - erweist sich männlicher Narzissmus als selbst geschaffene und schwer zu überwindende Barriere auf dem Wege zu Weiterentwicklung und Erfolg. Die Geschichte stellt aber auch eine Auseinandersetzung zwischen einem Frauen- und Männerbild dar, das sich als widersprüchlich und unvereinbar erweist. Man kann sie daher als Indiz dafür auffassen, dass dieser Konflikt in Goethes Denken Eingang gefunden hat und er sich damit auseinandersetzte und dass sich zur Goethezeit ein Umdenken anbahnte, das von ihm selbst mit gefördert wurde.
Mignon: das rätselhafte Mischwesen
Von allen weiblichen Gestalten, die Wilhelm gegenübertreten, ist Mignon die am stärksten in sich gespaltene Figur. Ihre Wesenszüge sind extrem polar und widersprüchlich angelegt. Sie wird von Jarno abfällig als albernes zwitterhaftes Geschöpf bezeichnet, und mit ihr wird auch das fahrende Volk der Seiltänzer, Gaukler und Bänkelsänger, dem sie angehört, in Bausch und Bogen abqualifiziert (Vgl. WML III. 11. 207)
Ihr Erscheinungsbild und ihr Wesen wirken in der Tat zwitterhaft bzw. hermaphroditisch. Ihre Aufgespaltenheit offenbart sich darin, dass jede Seite ihres Wesens durch ein entgegengesetztes Merkmal gespiegelt wird. Sie ist halb Kind - halb Mutter, halb Mädchen - halb Junge, halb Tochter - halb Geliebte und halb Sünderin - halb Heilige. (vgl. Rauh, S. 8) Deshalb entzieht sie sich - mehr als jede andere weibliche Figur - der eindeutigen Typisierung. Der Name Mignon geht auf das französische Adjektiv mignon zurück, was soviel heißt wie niedlich, allerliebst. Als Nomen kann man es mit Liebling übersetzen. Als solches war es in Deutschland im 18. Jahrhundert bekannt. Auch die weibliche Form mignonne ist im Französischen gebräuchlich, wird allerdings seltener verwendet.
Mit Mignon tritt Wilhelm - etwa zeitgleich mit Philine, der Verkörperung der reinen Weiblichkeit - ein rätselhaftes Mischwesen gegenüber, das - besonders in Verbindung mit dem geheimnisvollen Harfner - für die irrationale Welt des Dämonischen und Schicksalhaften steht und dessen Lebensweg durch seinen Ursprung aus einer inzestuösen Verbindung tragisch vorbelastet und vorgezeichnet erscheint. Beim fahrenden Volk der Gaukler, Akrobaten und Seiltänzer kam es sicher öfter vor, dass Mädchen in Knabenrollen auftraten und dass - aufgrund der unterschiedlichen Herkunft - ein Gemisch verschiedener Sprachen gesprochen wurde. Auch für Mignon ist es kennzeichnend - und dies verstärkt ihre Widersprüchlichkeit - dass sie einer bestimmten Sprachgruppe nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Sie brachte ihre Antworten in einem gebrochenen Deutsch und mit einer Art vor, die Wilhelm in Verwirrung setzte, dabey legte sie jedesmal die Hände an Brust und Haupt, und neigte sich tief. (WMTS III. 4. 145) An anderer Stelle spricht sie ein gar gebrochenes , mit Französisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch (WMTS III. 6. 152) und ganz ähnlich liest es sich in den Lehrjahren. (Vgl. ebd. 105 und 117) Mit anderen Worten: Sie spricht ein undefinierbares Sprachgemisch, was ihre Rätselhaftigkeit noch unterstreicht.
Nach Wilhelm Emrich (vgl. S. 71) war Mignon von Goethe ursprünglich als Knabe konzipiert worden. In seinem Tagebuch von 1786 schreibt er noch von dem Mignon. In der Theatralischen Sendung wird Mignon anfänglich mit dem männlichen Personalpronomen er versehen. (Vgl. ebd. III. 8. 160 f.) Dadurch wird das männliche Element in ihrem Wesen besonders hervorgehoben. Dort wird sie auch kleine Creatur (III. 5. 149) genannt, und Wilhelm ist sich nicht sicher, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen halten soll (ebd. 141.) Ganz ähnlich heißt es in WML II. 4. 97. Aber von dieser rätselhaften Creatur geht ein starker Reiz aus, dem Wilhelm sich nicht entziehen kann: Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnißvollen Zustande dieses Wesens angezogen. (WMTS III. 4. 145 und WML II. 4. 105) Zu Anfang überwiegt also offensichtlich das Knabenhafte Mignons, und in diese Richtung deutet auch die Tatsache, dass sie Knabenkleidung trägt und nachdrücklich verlangt, als Knabe angesehen zu werden: Ich bin ein Knabe: ich will kein
Mädchen sein! (WML IV. 1. 222)
Ein weiteres charakteristisches Merkmal Mignons ist ihre permanente Rast- und Ruhelosigkeit. Im Bericht des Marchese, der vom Abbé aufgezeichnet und Wilhelm vorgetragen wird, entfaltet sich vor dessen Augen die Geschichte der Herkunft und des Werdegangs Mignons, in der die Ursache ihres rastlosen Wesens, ihrer Sprunghaftigkeit und ihrer Zwitterhaftigkeit zu finden ist. (Vgl. WML VIII. 9.) Im frühen Kindesalter hatte man sie ihrer Mutter weggenommen und zu Pflegeeltern gegeben. Schon vor ihrer Entführung durch eine Gesellschaft von wandernden Artisten (vgl. WML VIII. 3. 560)
[...]