Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung und Problemstellung
2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Medien als .vierte Gewalt'
2.2 Online-Öffentlichkeit(en) als Gegenöffentlichkeit
3. Der Fall Karl-Theodor zu Guttenberg(s)
3.1 Karl-Theodor zu Guttenberg und die Medien
3.2 Die Boulevard-Zeitung BILD
3.3 Die Internetplattform GuttenPlag
3.4 Chronologie des Scheiterns
3.5 Zwischenfazit
4. Online-Öffentlichkeit(en) als fünfte Gewalt?
I. Quellenverzeichnis
1. Einführung und Problemstellung
Sie verhindert ganz einfach die Willkür bei der Ausübung der Macht. Sie zwingt dazu, nach der Verfassung zu regieren. Sie zwingt die Vertreter der Staatsautorität zur Anständigkeit, zur Zurückhaltung, zur Achtung vor sich selbst und den anderen. Kurz, um alles mit einem Wort zu sagen: Sie gibt jedem, der unterdrückt wird, die Möglichkeit, sich zu beklagen und gehört zu werden. (Joly 1968: 87)
Sie, das ist die Presse. Mit der Aussage wird deutlich, welche Rolle ihr in demokratischen Gesellschaftssystemen zugedacht ist: Der eines Wächters über politische Deliberations- und Entscheidungsprozesse, eines neutralen Beobachters und objektiven Kommentators sowie eines Bereitstellers der für eine funktionierende politische Öffentlichkeit notwendigen Infrastruktur - kurz: einer tragenden Säule der Gesellschaft. Diese Charakterisierung gilt in einer modernen Informations- und Wissensgesellschaft nicht nur für die Presse, sondern im Zuge der Entwicklung und Ausdifferenzierung weiterer Informationskanäle und medialer Angebotsformen in gleichem Maße ebenfalls für TV, Radio und andere Massenmedien. So werden ,die Medien' häufig gesammelt als .vierte Gewalt' im Staat bezeichnet - eine nicht selbstverständliche Attribution (und gleichfalls eine Machtposition), die sie sich im letzten Jahrhundert mühsam erarbeiten mussten.
Mit der Erschließung neuer Kommunikationsräume im Netz ist in den letzten Jahren ein schier unüberblickbares Feld an Onlinemedien[1] unterschiedlichster Strukturen und Erscheinungsformen entstanden. Onlinemedien haben innerhalb gesellschaftlicher und politischer Diskurse rasch an Bedeutung gewonnen, konkurrieren mit den traditionellen journalistischen Akteuren massenmedialer Öffentlichkeit um Inhalte und Aufmerksamkeit und beanspruchen ebenfalls die Rolle eines .Watchdogs' für sich. Auf diese Weise ist im Netz eine Form von Gegenöffentlichkeit entstanden, deren Akteure sich zwar in Teilen auch der Kommunikationsinstrumente massenmedialer Öffentlichkeit bedienen, die sich bezüglich ihrer Zugänglichkeit, ihrer Funktionsweise und ihres Handlungsrahmens allerdings deutlich von eben jener unterscheidet.
Im Rahmen dieser Arbeit soll dargelegt werden, wie sich das diffuse Konstrukt der .Online-Öffentlichkeit' theoretisch fassen lässt, inwiefern partizipative Netzöffentlichkeiten von den bekannten Formen massenmedialer Öffentlichkeit differenziert werden können und welche Rolle sie im politischen Prozess einnehmen. Veranschaulichen lässt sich dies sehr gut am Beispiel der Affäre um den ehemaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, welcher im Frühjahr 2011 aufgrund der Enttarnung seiner Dissertationsarbeit als Plagiat durch die Nutzer der Onlineplattform GuttenPlag von seinem Amt zurücktreten musste. Anhand des .Falls Guttenberg' lässt sich zum einen das deliberative Potential partizipativer Online-(Teil-)Öffentlichkeiten aufzeigen, zum anderen lassen sich Rückschlüsse auf die Handlungsgrenzen traditioneller Massenmedien ziehen. Bei der Analyse soll es deshalb primär um die Frage gehen, ob sich Onlinemedien ebenfalls der .vierten Gewalt' zuordnen lassen, oder ob sie möglicherweise sogar eine Vorreiterrolle in demokratischen Deliberations-, Ent- scheidungs- und Kontrollprozessen einnehmen können, die sie qualitativ von den Vertretern der .vierten Gewalt' unterscheidbar macht - in diesem Fall erschiene es legitim, von Online-Öffentlichkeit als .fünfter Gewalt' zu sprechen.
2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Medien als .vierte Gewalt1
In öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskursen werden die Massenmedien häufig als .vierte Gewalt' bezeichnet. Diese Begrifflichkeit spielt auf die drei Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative an und verweist ferner auf das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung, welches in Artikel 20 des Grundgesetzes verankert ist und durch welches das Zusammenspiel staatstragender Institutionen mit dem Ziel der Herstellung eines Machtgleichgewichts reguliert und kontrolliert wird. Die Bezeichnung der Medien als .vierte Gewalt' rührt von ihrer großen Bedeutung „bei der Information, der Kommunikation, der Urteils- und der politischen Bewußtseinsbildung [sic!] in der Massendemokratie eines Flächenstaates“ wie der Bundesrepublik Deutschland (Rüthers 1999: 11). Ihnen kommt somit die Rolle eines Korrektivs in politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen zu. Aus diesem Anspruch lassen sich verschiedene Aufgaben und Funktionen der Massenmedien ableiten.
So erfüllen die Medien zunächst hauptsächlich eine Informationsfunktion: Sie erbringen Informationsleistungen „sowohl im Hinblick auf das soziale, politische und ökonomische System als Ganzes als auch für gesellschaftliche Gruppen und ebenso für die einzelnen Mitglieder dieser Gesellschaft“ (Pürer/Raabe 2007: 377) und erweitern somit deren Kenntnisstand bezüglich gesellschaftlich relevanter Sachverhalte und Prozesse. Die Massenmedien erfüllen zudem politische Funktionen: Durch ihre Artikulationsfunktion für Organisationen, Institutionen, politische Akteure und Bürger sorgen sie für die Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz und schaffen einen Diskursraum für die politische Entscheidungsfindung. Außerdem besteht die bereits erwähnte Informationsfunktion auch in der Befriedigung des Mitteilungsbedürfnisses politischer Akteure „gegenüber der Öffentlichkeit hinsichtlich eigener politischer Entscheidungen, Programme, Nah- und Fernziele“ (ebd.: 378). Desweiteren ermöglichen sie die politische Sozialisation und Integration „im Hinblick auf Einübung und Aktualisierung der Rolle des Einzelnen als Staatsbürger“ (ebd.: 379) und erfüllen eine politische Bildungsfunktion, die „einen Beitrag zur Fähigkeit des Einzelnen leisten soll, politische Informationen aufzunehmen und zu verstehen“ (ebd.), um eine qualifizierte politische Meinungs- und Urteilsbildung zu gewährleisten. Und nicht zuletzt erfüllen die Medien eine Kontrollfunktion in politischen Entscheidungsprozessen, in dem sie die Infrastruktur für die Veröffentlichung von „Kritik- und Kontrollbeiträ- gen Dritter“ (ebd.) bereitstellen sowie selbst die Rolle eines .Watchdogs' einneh men, indem sie gesellschaftliche Missstände aufdecken, das politische Alltagsgeschäft kritisch begleiten und politischen Akteuren einen Zwang zur öffentlichen Legitimierung ihres Handelns auferlegen.
Auch hinsichtlich der Qualitätskriterien journalistischer Arbeit werden hohe Anforderungen an die Medien gestellt: Das Kriterium der Vollständigkeit bezieht sich auf den Anspruch, dass „möglichst umfassend über soziopolitisch, sozio- ökonomisch und soziokulturell relevantes Geschehen informiert wird“, wobei möglichst alle gesellschaftlichen Interessengruppen zu Wort kommen sollen (ebd.: 377). Zudem ist die Verständlichkeit der Beiträge sicherzustellen, so dass „ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext erkennbar wird, ohne dass Sachverhalte durch grobe Vereinfachung verzerrt werden“ (ebd.: 378.). Ein weiterer Zielzustand journalistischer Berichterstattung ist die Objektivität, die durch Aufbereitungen gesellschaftlich relevanter Geschehnisse „aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln und durch eine Vielfalt des medialen Angebots“ erreicht werden kann (ebd.). Meinungspluralismus und Medienvielfalt „garantieren den Wechsel der Themen inklusive des Wechsels der Tonfälle, in denen über Themen berichtet wird“ (Baecker 2004: 9) und tragen somit wiederum bedeutend zur Erfüllung der eingangs aufgezeigten politischen Funktionen der Massenmedien bei.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Massenmedien sind ein wichtiger Teil der demokratischen Gesellschaftsordnung und erfüllen unverzichtbare Funktionen. Sie stellen Öffentlichkeit her, setzen Themen, vermitteln und überwachen politische Prozesse und haben sich dementsprechend zu einer tragenden Säule der Demokratie entwickelt. Ihre Rolle als .vierte Gewalt' können sie allerdings nur ausüben, wenn die institutionellen, formalen und inhaltlichen Rahmenbedingungen ausreichend gegeben sind.
2.2 Online-Öffentlichkeit(en) als Gegenöffentlichkeit
Internetbasierte Kommunikation hat in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung durchlaufen: Eine verbesserte Infrastruktur und sinkende Kosten für Breitbandanschlüsse haben in Deutschland und anderen Industriestaaten zu einer fast flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit Internetzugängen geführt, neue Technologien und interaktive Anwendungen ermöglichen innovative Formen des kommunikativen Austausches. Die Verlagerung der Kommunikation ins Netz hat zur Herausbildung diverser Online-(Teil-)Öffentlichkeiten geführt, wobei besonders das Web 2.0 als Grundlage zeitgenössischer Formen von Onli- ne-Öffentlichkeit gelten kann. Dabei handelt es sich nicht - wie der Name zunächst vermuten lässt - um eine bestimmte Technologie oder Anwendung, der Begriff Web 2.0 bezeichnet vielmehr die Gesamtheit verschiedener neuer Angebotsstrukturen und rekurriert auf ein daraus resultierendes verändertes Nutzungsverhalten (vgl. Ebersbach/Glaser/Heigl 2008: 23). Als grundlegendes Charakteristikum des Web 2.0 kann das Prinzip des ,user-generated content' oder ,user-created content' gelten - es besagt, dass der Inhalt eines Webangebots nicht vom Eigentümer der Seite generiert wird, sondern von seinen Nutzern. Webangebote, die auf diesem Prinzip basieren - dazu zählen beispielsweise sämtliche sozialen Netzwerke, Wiki-Plattformen und Blogsysteme - begünstigen nicht nur den Zusammenschluss und die Interaktion der Nutzer, sie erheben sie sogar zur Grundvoraussetzung.
Schon vor dem Aufkommen des Phänomens Web 2.0 gaben die demokratischen Potentiale des Internets Anlass zu umfangreicher wissenschaftlicher Auseinandersetzung. So erkannten Bieber/Leggewie bereits 2004:
Das Neue und Besondere an den Neuen Medien ist, technisch gesprochen, ihre Rückkanalfähigkeit. Dies ist das eigentliche interaktive Potential, das mit den Konventionen klassischer Massenkommunikation bricht und damit auch einen politischen Kommunikationsstil in Frage stellt, in welchem Großorganisationen [...] als Sender einseitig auf das relativ homogen gedachte Massenpublikum wirken [...]. (Bieber/Leggewie 2004: 125)
Bieber/Leggewie sprechen Internetmedien durch eben jene Rückkanalfähigkeit ein deliberatives Potential zu, welches „in der optimalen Verbindung von .Reichweite' (Massenkommunikation) und .Intensität' (moderierte, zum Teil interaktive Foren mit wenigen Dutzend Teilnehmern)“ liege. In der Smitten stellt bezüglich der politischen Rolle von Online-Gemeinschaften rückblickend zusammenfassend fest (vgl. In der Smitten 2007: 265ff):
1. Online-Vergemeinschaftung findet statt, und Online-Gemeinschaften sind bestimm- und kategorisierbar
2. Online-Gemeinschaften steht ein breites Repertoire an Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, das politisch genutzt werden kann
3. Online-Gemeinschaften entfalten politische Handlungen
4. [...]
5. Die zentrale Folge politischen Online-Handelns ist die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit als Zeichen gelungener Interessenartikulation [...]
Hier wird deutlich, dass nicht jede Online-Gemeinschaft zugleich eine OnlineÖffentlichkeit darstellt, denn Öffentlichkeit nach Habermas impliziert Offenheit:
[...]
1 Dieser im Folgenden häufig verwendete Begriff erfordert an dieser Stelle eine Spezifizierung: Mit .Onlinemedien“ sind ausdrücklich nicht die Onlineableger traditioneller Massenmedien gemeint, sondern vielmehr ausschließlich eigenständige Angebotsformen, die als souveräne Akteure einer .Onlineöffentlichkeit' zu betrachten sind.