Leseprobe
Inhalt
1. Jugendliche, Heranwachsende, „junge Erwachsene“ – Begriffsdefinitionen
2. Phänomenologie
3. Erklärungsansätze für kriminelles Verhalten junger Menschen
3.1 Psychologische und sozialpsychologische Erklärungsansätze
3.1.1 Kontrolltheorie
3.1.2 Lerntheoretische Ansätze
3.1.3 Die Aggressionstheorien
3.1.3.1 Die lernpsychologische Erklärung aggressiven Verhaltens
3.1.3.2 Frustrations-Aggressions-Hypothese
3.2 Die soziologisch orientierte Anomietheorie
3.3 Der additive Mehrfaktorenansatz
3.4 Das Integrationsmodell
3.5 Sozialisation junger Menschen
3.5.1 Arbeitslosigkeit junger Menschen und Kriminalität
3.5.2 Freizeit und Delinquenz
3.5.3 Der Sozialisationseinfluss der Familie und der Schule
3.5.4 Alkoholkonsum und Kriminalität
4. Erklärungsversuche für Verkehrsdelinquenz junger Menschen
4.1 Lebensstil und Verkehrsverhalten junger Fahrer und Fahrerinnen
4.2 Der Einfluss der peer-group – informelle soziale Kontrolle („Peer-Sozialisation“)
4.3 Die Charakteristik des Alkoholfahrers
Literatur- und Quellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Jugendliche, Heranwachsende, „junge Erwachsene“ – Begriffsdefinitionen
Die (derzeitige) rechtliche Situation beinhaltet zunächst die geringsten Schwierigkeiten: demnach ist Jugendlicher, wer mindestens 14, aber noch keine 18 Jahre, und Heranwachsender, wer mindestens 18, aber noch keine 21 Jahre alt ist.[1]
Wer sind jedoch die „jungen Erwachsenen“?
Der Anteil der „Jugend“ an der Gesamtbevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen. Gleichzeitig hat sich die Gesamt-Lebenserwartung verlängert.
Parallel zu dieser veränderten Bevölkerungsstruktur hat sich auch die Einschätzung dessen, was „Jugend“ ist verändert und führte zu einer verstärkten Ausdifferenzierung der Lebensphasen. Typisch für den Beginn der neunziger Jahre ist das Hinzukommen der Phase: „Nachjugendalter/junger Erwachsener“ als ein gesellschaftlich normierter Zeitraum zur Selbst- bzw. Persönlichkeitsfindung (Reifungsprozess verbunden mit der Suche nach Identität und Lebenssinn).[2] Die Gruppe der „jungen Erwachsenen“ ist somit nicht eindeutig definiert.
In Anlehnung an die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes[3] sollen darunter die 18- bis 24Jährigen gefasst werden. Diese Abgrenzung entspricht den Heranwachsenden (18- bis 20Jährige) und den Jungerwachsenen (21- bis 24Jährigen) der Polizeilichen Kriminalstatistik[4].
Mit den im Seminarthema erwähnten Begriffen Jugendliche/Heranwachsende/“junge Erwachsene“ ist somit die Altersgruppe der 14- bis 24Jährigen erfasst; sie stellen die Zielgruppe der nachfolgend dargestellten Untersuchungen dar. Die Bezeichnung „junge Menschen“ wird von mir synonym verwendet.
2. Phänomenologie
Die statistischen Auswertungsergebnisse machen deutlich, dass sowohl im Bereich der Kriminaldelinquenz als auch im Bereich der Verkehrsauffälligkeit die Gruppe der 14- bis 24Jährigen überproportional in Erscheinung tritt und somit als Problem-/Risikogruppe zu definieren ist.
Die Delinquenzbelastung (Kriminal- und Verkehrsdelinquenz) der jungen Männer ist dabei ungleich größer als die der Frauen. Als besonders gefährdet ist im Verkehrsgeschehen die Personengruppe der 18- bis 24Jährigen, die zudem die Masse der „Alkoholtäter“ im Straßenverkehr stellen, hervorzuheben.
3. Erklärungsansätze für kriminelles Verhalten junger Menschen
Kriminalitätskontrolle ist ohne fundiertes Wissen über das Verbrechen nicht denkbar. Die Kriminologie als wissenschaftliche Disziplin hat dabei die Aufgabe, „das Wissen über Kriminalität (und ihre Kontrolle) zu vermehren, zu vertiefen und über die Lehre zu vermitteln.“[5]
Hauptanliegen der Kriminologie ist die Erklärung des Verbrechens, denn insbesondere die Prävention ist ohne Kenntnisse der Entstehungsbedingungen nicht vorstellbar. Jede Einflussgröße in der Entstehung der Straftat (des Rechtsbruchs) ist zugleich ein Ansatzpunkt für Maßnahmen der Prävention. „Die Faktoren sollten dort blockiert werden, wo sie ihren Ursprung haben.“[6]
Die nachfolgende Darstellung stellt nur eine Auswahl aktueller bzw. herausragender Theorien dar; um einen Überblick zu anwendungsbezogenen Ansätzen zu geben, werden klassische Kriminalitätstheorien aus den Bereichen Psychologie, Soziologie und Sozialpsychologie sowie der Mehrfaktorenansatz und das Integrationsmodell gewählt..
3.1 Psychologische und sozialpsychologische Erklärungsansätze
Psychologische sowie sozialpsychologische Kriminalitätstheorien unterscheiden sich von den soziologischen durch den Grad der Einbeziehung gesellschaftlicher Prozesse in den kriminologischen Erklä-rungsversuch. Während in den psychologischen Kriminalitätstheorien soziologische Gesichtspunkte nur am Rande Bedeutung besitzen, stehen sie in den sozialpsychologischen mehr und bei den soziologischen Kriminalitätstheorien ganz im Vordergrund der Erklärungsansätze.
3.1.1 Kontrolltheorie
Führt man sich die gesteigerten Integrationsschwierigkeiten junger Menschen vor Augen und berücksichtigt man das erhebliche Abweichungspotential, lässt sich der Befund nicht übersehen, dass es immerhin zwei Drittel der 14- bis 24Jährigen gelingt, gravierende und für sie folgenreiche Konflikte mit der Strafrechtspflege zu vermeiden. Man sollte das Gegenteil vermuten, berücksichtigt man die Gefahren, denen junge Menschen heute ausgesetzt sind. Es scheint somit eher der Klärung bedürftig, warum und auf welche Weise es die überwiegende Zahl der jungen Menschen versteht, im Wesentlichen normkonform zu leben. Hier setzen die Kontrolltheorien (Bindungstheorien) an, die zu erklären suchen, wie normkonformes Verhalten erlernt und praktiziert wird.
Die Vertreter dieses personalen Erklärungsansatzes gehen davon aus, dass die Ursachen für sozial abweichendes Verhalten in erster Linie in Merkmalen des jeweiligen Delinquenten zu suchen sind und fragen primär nicht danach, weshalb sich Menschen sozial abweichend verhalten, sondern danach, warum sich so viele Menschen sozial konform verhalten.
Die Theorie der sozialen Bindungen geht davon aus, „dass ein festes Netz informeller sozialer Beziehungen, Bindungen und Verantwortlichkeiten zur Verhinderung von Delinquenz beiträgt.“[7] „Bindungen zu nahen Bezugspersonen und Einbindung in konventionelle Aktivitäten sowie Billigung des gemeinsamen Wertsystems gelten als besonders deutsam.“[8]
Als der bekannteste Vertreter dieser Theorie gilt Hirschi,[9] der vier Bedingungen nennt, die als „Bänder“ zu verstehen sind, mit denen, Menschen an die (normtreue) Gesellschaft und ihre Institutionen (an-) gebunden sind. Sind diese Bindungen fest genug, kommt es nicht zur Kriminalität.
Hirschi bezeichnet die erste Bindungsdimension als „attachment“. Personen mit positiven emotionalen Beziehungen zu anderen normtreuen Personen und Institutionen sind wenig anfällig für Kriminalität.
Die zweite Dimension wird als „commitment“ bezeichnet; hiermit sind die Bindungen des einzelnen an die Gesellschaft aufgrund instrumenteller Interessen gemeint (Nutzenaspekte). Je stärker also die Bindung aufgrund dieser persönlichen Interessen sowie die Anerkennung der zugrunde liegenden Regeln ist und je stärker infolgedessen auch die Folgen des eigenen Handelns mitbedacht werden, desto weniger wahrscheinlich ist Kriminalität.
Der dritte Bereich meint die Bindung aufgrund der tatsächlichen Teilnahme an den gesellschaftlichen Institutionen und wird als „involvement“ bezeichnet. Wer also in sozial akzeptierte Aktivitäten (z. B. Sportvereine in der Freizeit) eingebunden ist, der ist weniger anfällig für Kriminalität.
Der letzte als „belief“ formulierte Bereich, bezeichnet die Bindung an den normtreuen Teil der Gesellschaft aufgrund gemeinsam geteilter Norm- und Wertvorstellungen. Es werden also die rechtlichen und sonstigen Normen akzeptiert und übernommen, da darauf vertraut wird, dass die meisten übrigen Gesellschaftsmitglieder ebenso denken und handeln.
Die Theorie zeigt die Wichtigkeit von Vorbildverhalten ebenso wie die Notwendigkeit der Hinwendung zu anderen Gesellschaftsmitgliedern und von (beruflichen) Perspektiven. Ersichtlich wird auch die Bedeutung konventioneller (z. B. Vereins-)Aktivitäten.[10]
Neben Hirschi gilt auch Gottfredson als Vertreter des ausschließlich persönlichkeitsbezogenen Ansatzes; beide bezeichnen die charakteristische Persönlichkeitseigenschaft von (potentiellen) Delinquenten als „low self control“ (Persönlichkeit als Determinante sozialer Auffälligkeit), d. h. als Unfähigkeit, die Bedürfnisse anderer in das Handeln miteinzubeziehen. Demnach sind Personen mit low-self-control geprägt durch: „Impulsivität, hohe Risikoübernahme, Non-Planing, fehlende Ausdauer, geringe Frustrationstoleranz, größere Schmerztoleranz und Unfähigkeit, langfristige soziale Beziehungen einzugehen (Partnerschaft, Beruf)“.[11]
3.1.2 Lerntheoretische Ansätze
Die lerntheoretischen Ansätze gehen davon aus, dass kriminelles Verhalten ebenso erlernt (oder verstärkt) wird wie normgerechtes Verhalten. Beispielhaft sei hier die Theorie der differentiellen Assoziation angeführt, dessen bekanntester Vertreter Edwin Sutherland ist.
Seine Theorie, die er später mit Cressey zusammen fortentwickelt hat, umfasst eine Reihe von Thesen, von denen die wichtigsten wie folgt lauten:[12]
Kriminelles Verhalten ist gelerntes Verhalten. Negativ formuliert heißt das, dass kriminelles Verhalten als solches nicht vererbt wird.
Kriminelles Verhalten wird durch Interaktion (Kontakte) mit anderen Personen in einem Kommunikationsprozess erlernt.
Kriminelles Verhalten wird hauptsächlich in intimen persönlichen Gruppen gelernt. Das bedeutet, dass die unpersönlichen Kommunikationsmittel wie Filme und Zeitungen eine relativ unwichtige Rolle bei der Entstehung kriminellen Verhaltens spielen.
Das Erlernen kriminellen Verhaltens schließt das Lernen
a) der Techniken zur Ausführung des Verbrechens, die manchmal sehr kompliziert, manchmal sehr einfach sind und
b) die spezifische Richtung von Motiven, Trieben, Rationalisierungen und Attitüden ein.
Eine Person wird delinquent infolge eines Übergewichts der die Verletzung begünstigenden Einstellungen über jene, die Gesetzesverletzungen negativ beurteilen: Prinzip der differentiellen Kontakte. Wenn Personen zu Kriminellen werden, geschieht dies aufgrund von Berührung mit kriminellen und Isolierung von antikriminellen Verhaltensmustern.
[...]
[1] Paragraph 1, Absatz 2 des Jugendgerichtsgesetzes
[2] DEUTSCHER VERKEHRSSICHERHEITSRAT e. V. – „Jugendliche im Straßenverkehr“, Bonn 1994
[3] STATISTISCHES BUNDESAMT, Fachserie 8. Reihe 7 (1996). Wiesbaden 1997
[4] BUNDESKRIMINALAMT, Wiesbaden 1997, Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland 1996, S. 78 ff.
[5] DR. JÄGER J. & KOETZSCHE H., ILS-Schriften 92, Urbanität, Mobilität, Kriminalität, S. 11
[6] ebd.
[7] SCHWIND, H.-D., Kriminologie, 8. Auflage, S. 110, RN 18b
[8] KAISER, Günther, Kriminologie – Großes Lehrbuch, 2. Auflage (1988), S. 539, RN 3
[9] KERNER a. a. O.
[10] ebd.
[11] HILSENBECK, Thomas, Dissertation „Die Alkoholfahrt junger Verkehrsteilnehmer“, S. 42
[12] SCHWIND, H.-D., a. a. O.