Narzißmus in Organisationen - Eine organisationspsychologisch basierte Analyse zum Verhältnis von Individuum und Unternehmen


Diploma Thesis, 1998

87 Pages, Grade: 2


Excerpt


Inhalt

Abbildungen

Tabellen

Einleitung

1. Die narzißtische Persönlichkeit
1.1 Eine Phänomenologie des Narzißmus
1.1.1 Das narzißtische Basissyndrom
1.1.2 Paradoxien des Charakters
1.2 Relevante Spezifika der narzißtischen Persönlichkeit
1.2.1 Rückzug aus sozialen Beziehungen
1.2.2 Images statt Persönlichkeit
1.2.3 Narzißtische Wut - eine maßlose Reaktion
1.3 Diskussion

2. Zur Genese des Narzißmus
2.1 Definition und Begriff
2.2 Psychologische Erklärungsmodelle
2.2.1 Der libidotheoretische Ansatz nach Sigmund Freud
2.2.2 Der individualtheoretische Ansatz nach Alfred Adler
2.3 Zur Dichotomie von Psychologie und Soziologie
2.4 Soziologische Erklärungsmodelle
2.4.1 Das soziologische Erklärungsmodell der Individualisierung
2.4.2 Der gesellschaftstheoretische Ansatz der Individualisierung nach Ulrich Beck
2.4.3 Individualisierungsbedingter Wandel der Arbeitsethik
2.5 Diskussion

3. Relevanz des Narzißmus für Organisationen
3.1 Die Organisation als offenes System
3.2 Zum Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Organisation
3.2.1 Narzißmus als Resultante außerorganisatorischer Wandlungsprozesse
3.2.2 Narzißmus als Resultante innerorganisatorischer Wandlungsprozesse
3.3 Bedingtheit von formaler Organisation und Narzißmus
3.3.1 Bedingtheit von traditionellen Organisationen und Narzißmus
3.3.2 Bedingtheit von modernen Organisationen und Narzißmus
3.4 Die narzißtische Organisation
3.5 Diskussion

4. Narzißtische Führung in Unternehmen
4.1 Führung als Prozeß
4.2 Führungsverständnis und Narzißmus
4.2.1 Das Führungsverständnis bei Sigmund Freud
4.2.2 Das Führungsverständnis bei Alfred Adler
4.3 Narzißmus und Führungsstil
4.4 Positive und negative Aspekte narzißtischer Führung
4.5 Diskussion

Ausblick

Literatur

Abbildungen

Abbildung 1: Symbolisiertes Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Organisation

Abbildung 2: Paradoxien des narzißtischen Charakters

Abbildung 3: Korrelation von Selbstwert und Narzißmus

Abbildung 4: Narzißmus als motivationales Handlungs- und Deutungskonzept

Abbildung 5: Kontingenzfaktoren für die Effizienz einer Organisation

Abbildung 6a: Narzißmus als Resultante außerorganisatorischer Wandlungsprozesse

Abbildung 6b: Narzißmus als Resultante innerorganisatorischer Wandlungsprozesse

Abbildung 7a: Verhältnis von Gesellschaft, Organisation und Individuum. Narzißmus als Resultante außer- organisatorischer Wandlungsprozesse

Abbildung 7b: Verhältnis von Gesellschaft, Organisation und Individuum. Narzißmus als Resultante inner- organisatorischer Wandlungsprozesse

Abbildung 8: Bedingtheit des Führungserfolgs durch Person und Situation

Abbildung 9: Die Verhaltensdimensionen der Ohio-Schule

Tabellen

Tabelle 1: Attribute des narzißtischen Basissyndroms

Tabelle 2: Merkmale des primär und sekundär induzierten Narzißmus in der Gegenüberstellung

Tabelle 3: Ambivalenzen des Individualisierungsprozesses

Tabelle 4: Traditionelle und moderne Organisationen im Vergleich

Tabelle 5: Übereinstimmung in den Gestaltungsparametern moderner Organisationen

Einleitung

Sigmund Freud übernahm den Begriff Narzißmus 1914 von P. Näcke in seinen Aufsatz „Zur Einführung des Narzißmus“ und führte ihn damit in die wissenschaftliche Psychologie ein. Näcke hatte den Begriff erstmals 1899 zur Beschreibung der sexuellen Selbstliebe im Sinne einer Perversion gebraucht. Das Verständnis des Begriffs erfuhr durch Freud eine erste Ausdehnung und entfernte sich mit der Zeit immer mehr von der rein sexuellen Belegung.

Heute bezeichnet Narzißmus ein motivationales Grundkonzept menschlichen Verhaltens und Handelns, das in der Psyche verankert ist. Damit hat der Begriff nach wie vor seine wissenschaftliche Heimat im Bereich der Psychologie, obwohl mittlerweile narzißtische Konzepte und Phänomene auch auf gesellschaftliche Bereiche und Unternehmen übertragen werden. Davon zeugt beispielsweise der von Christopher Lasch geprägte Ausdruck vom »narzißtischen Zeitalter« oder die Attributierung der heutigen Wohlstandsgesellschaft als narzißtisch. Doch müssen diese gesellschaftlichen Phänomene letztlich immer wieder auf die individuelle, psychische Ebene rückbezogen werden, um sie ausreichend transparent zu machen.

Eine Darstellung des Narzißmus aus psychologischer Sicht scheint deshalb auch für eine Arbeit, die schwerpunktmäßig narzißtische Phänomene im Unternehmensbereich betrachten will, unumgänglich. Dabei sollen zwei Aspekte im Vordergrund stehen: 1) Wie stellt sich Narzißmus dar (Kapitel 1, Die narzißtische Persönlichkeit), und 2) wie wird Narzißmus aus psychologischer Sicht begründet (Kapitel 2.2, Psychologische Erklärungsmodelle)? Da die modernen Konzepte zur Genese von Narzißmus entweder aus der psychoanalytischen Tradition heraus oder in Abgrenzung zu ihr entwickelt worden sind, werden die dafür maßgeblichen Ansätze vorgestellt: der libidotheoretische Ansatz nach Sigmund Freud und der individualpsychologische Ansatz nach Alfred Adler. Es wird damit ein Grundverständnis geschaffen, so daß deutlich wird, wovon die Rede ist, wenn es um Narzißmus geht.

Narzißmus, definiert als motivationales Grundkonzept menschlichen Verhaltens und Handelns, ist untrennbar mit dem Individuum verbunden. Aus Sicht des Psychologen ist das Individuum Träger narzißtischen Verhaltens.

Das Individuum ist aber immer auch in seine gesellschaftliche und kulturelle Umwelt hineingestellt und somit den sozialen und gesellschaftlichen Wandlungs- und Veränderungsprozessen ausgesetzt. Im Gegensatz zu den psychologischen Theorien wenden sich die soziologischen Erklärungsmodelle nicht so sehr den individuellen Ursachen und Auswirkungen von Narzißmus zu, sondern seinem sozialen Ursprung, also den Verhältnissen, die narzißtisches Verhalten hervorrufen und fördern oder zu seiner Sanktionierung beitragen können. Der gesellschaftliche Einfluß auf narzißtisches Verhalten wird vorrangig am Beispiel der Individualisierung verdeutlicht (Kapitel 2.4, Soziologische Erklärungsmodelle), wobei die Individualisierung als grundlegendes Konzept der modernen Gesellschaft für die heutigen Ausprägungen und Formen des Narzißmus mitverantwortlich gemacht wird. Zur Verdeutlichung der Ambivalenz dieser gesellschaftlichen Entwicklung wird auf den Ansatz von Ulrich Beck zurückgegriffen (Kapitel 2.4.2, Der gesellschaftstheoretische Ansatz der Individualisierung nach Ulrich Beck).

Unternehmen als betriebswirtschaftliche Organisationen sind eingebettet in und unterhalten Wechselbeziehungen zu ihrer Umwelt, also auch zur Gesellschaft und Kultur. Als Bindeglied zwischen Organisation und Gesellschaft fungiert das erwerbstätige Individuum, das sowohl Teil der Gesellschaft als auch Teil bzw. Mitglied der Organisation ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Symbolisiertes Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Organisation

Damit sind drei wesentliche Elemente im Hinblick auf das Thema erkannt:

1) das Individuum als Träger von Narzißmus,
2) die Gesellschaft als gemeinsame Umwelt von Individuum und Organisation und
3) die Organisation als Entstehungs- und Auswirkungsort von Narzißmus.

Gegenstand der Arbeit sind die Beziehungen zwischen diesen drei Elementen. Es wird versucht, die Bedeutung narzißtischer Verhaltensweisen für und ihre Auswirkungen auf Organisationen zu verdeutlichen. Dabei werden aus der Fülle möglicher Beziehungen nur einige wenige herausgegriffen, beschrieben und hergeleitet. Berücksichtigung finden vor allem die folgenden drei Aspekte:

1) Entstehung von Narzißmus: Wie gelangt Narzißmus in die Organisation (Kapitel 3.2, Zum Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Organisation),
2) Bedingtheit von Organisation und Narzißmus: Was tragen Organisationen zur Entstehung und Förderung von Narzißmus bei (Kapitel 3.3, Bedingtheit von formaler Organisation und Narzißmus) und
3) Auswirkungen von Narzißmus: Welche Auswirkungen hat Narzißmus in Organisationen (Kapitel 4, Narzißtische Führung in Unternehmen)?

Die Auswirkungen narzißtischen Verhaltens auf die Organisation sowie die damit verbun- denen Konsequenzen zeigen sich am deutlichsten im Führungsbereich, da es die Aufgabe der Führungskräfte ist, Veränderungen und Wandlungen frühzeitig wahrzunehmen, aufzugreifen und innerorganisatorisch umzusetzen. Ihre Beeinflussungs- und Steuerungsfunktion ist gewöhnlich höher als die der Mitarbeiter. In ihrer Person treffen unmittelbar individuelle, gesellschaftliche und organisatorische Anforderungen zusammen.

Ausgangs- und Endpunkt der Betrachtung dieser Diplomarbeit ist das narzißtische Individuum. Da narzißtisches Verhalten vielseitig ist und ein Spektrum unterschiedlicher Ausprägungen aufweist, die sich im Alltag auch noch mit anders motiviertem Verhalten mischen, erscheint eine starke Fokussierung auf die dispositionalen Eigenschaften und Verhaltensweisen narzißtischer Persönlichkeiten notwendig, um ihre Besonderheiten hervorzuheben. Es wird dazu eine Typisierung vorgenommen (es wird vom narzißtischen Typus gesprochen), was eine bewußte Einschränkung der multiplen Persönlichkeit auf wenige, niemals ausschließlich auftretende Charakteristika zu Gunsten einer Überbetonung der narzißtischen Wesenszüge bedeutet. Eine solche Darstellung kann dem einzelnen Individuum in der Realität niemals gerecht werden, so daß die Aussagen möglichst in Relation zu anderen gesehen werden sollten.

1. Die narzißtische Persönlichkeit

1.1 Allgemeine Phänomenologie des Narzißmus

Durch eine detaillierte Beschreibung der narzißtischen Persönlichkeit soll ein differenziertes Bild von ihr entstehen, das sich an das aus der Antike bekannte und im Mythos von Narziß und Echo gezeichnete Bild anlehnt. Dabei wird deutlich werden, daß die narzißtische Persönlichkeit einen vielseitigen, differenzierten und zum Teil paradox erscheinenden Charakter aufweist. Dieses Bild ist als äußere, sichtbare Erscheinung eines psychologischen Konzeptes zu sehen, das durch ein Bündel dispositionaler Eigenschaften, Gefühle und Verhaltensmuster dargestellt und als narzißtisches Basissyndrom bezeichnet wird. Damit bildet der Begriff Narzißmus einen Rahmen, in dem ein Spektrum unterschiedlicher Verhaltensweisen zur Verfügung steht, die individuell mehr oder weniger ausgeprägt in Erscheinung treten.

Die Beschreibung der narzißtischen Besonderheiten erfolgt in relativer Abgrenzung zum normalen, d.h. normgerechten Verhalten und basiert damit auf beobachtbaren Verhaltens- differenzen. Die Behauptung einer narzißtischen Persönlichkeit impliziert die Existenz und die Differenz zu einer nicht-narzißtischen Persönlichkeit, womit methodisch bereits eine Klassifikation bzw. Typisierung vorgenommen wurde. Aufgabe dieser Arbeit ist es, so die Fülle möglicher Verhaltensausprägungen zu bündeln, um Besonderheiten und Zusammenhänge zu verdeutlichen, die sonst vielleicht unerkannt bleiben sowie eine Orientierung zu ermöglichen und durch Benennung spezifischer Verhaltensweisen und Eigenschaften Arbeitsbegriffe zu schaffen. Da jeder Typus statisch ist, finden dynamische, individuelle Lern- und Entwicklungsprozesse keine Berücksichtigung. Eine solche Beschreibung kann deshalb dem einzelnen Individuum nicht gerecht werden.

„Eine einfache Erwägung zeigt, daß alle Klassifikationen, die der Mensch jemals gemacht hat, willkürlich, künstlich und falsch sind. Aber eine ebenso einfache Erwägung zeigt, daß diese Klassifikationen nützlich und unentbehrlich und vor allem unvermeidlich sind, weil sie einer eingeborenen Tendenz unseres Denkens entspringen. Denn im Menschen lebt ein tiefer Wille zur Einteilung, er hat einen heftigen, ja leidenschaftlichen Hang, die Dinge abzugrenzen, einzufrieden, zu etikettieren… Und die Aufgabe aller Wissenschaft hat ja niemals in etwas anderem bestanden als in der übersichtlichen Parzellierung und Gruppierung der Wirklichkeit:

durch künstliche Trennung und Aufreihung macht sie die Fülle des Tatsächlichen handlich und begreiflich.“[1]

Diese Sichtweise leitet ihre Berechtigung daraus ab, daß Verständigung ohne Verallge- meinerungen unmöglich ist. Die Vielfalt und Komplexität des menschlichen Verhaltens und Wesens erzwingt eine reduktive Vorgehensweise, um zu normativen Aussagen über das Wesen des Menschen im allgemeinen und des narzißtischen Typus im speziellen zu gelangen. Eine adäquate Beschreibung der narzißtischen Persönlichkeit bildet deshalb in bewußter Modellierung nur einen Ausschnitt aus einem komplexen Verhaltensspektrum ab und schafft so ein Grundverständnis von dem, was unter narzißtischen Verhaltensweisen zu verstehen ist.

Gemäß dem attributionspsychologischen Ansatz von Heider entwickeln Menschen im Alltagsleben eine Vorstellung über ihr Verhalten in sozialen Situationen. Obwohl diese Vorstellung für gewöhnlich weder formuliert noch bewußt gemacht wird, funktioniert sie adäquat. Wird demnach Narzißmus als psychologisches Handlungskonzept bei einer Person nicht erkannt, ist die Interpretation ihres Verhaltens durch andere erschwert, da die Erwartungen und Prognosen über das Verhalten der Person und ihr tatsächliches Verhalten differieren. Werden also soziale Interaktionen gehemmt oder dadurch unterbrochen oder gar unmöglich, daß die Person unterschiedliche psychologische Deutungskonzepte aufweist, kann es zu Irritationen, wenn nicht gar zu Konflikten kommen.[2] Narzißtisches Verhalten ist empirisch beobachtbar, da die betroffenen Personen bestimmte, dispositionale Charakteristika mit hoher Invarianz aufweisen. Narzißtische Persönlichkeiten zeigen in bestimmten sozialen Situationen (Konfliktsituationen, Über- und Unterordnungsverhältnissen) wiederkehrende, typische Verhaltensmuster, die sich von denen nicht-narzißtischer Personen unterscheiden. Verhalten wird damit als bestimmten Konzepten zuordenbar angenommen, was die Voraussetzung für die zugrundegelegte Abgrenzung bzw. Typisierung ist.

Im Prinzip verhält sich jeder Mensch mehr oder weniger narzißtisch. Aber erst wenn narzißtische Verhaltensweisen die Persönlichkeit eines Menschen dominieren, wird er als narzißtisch bezeichnet. Eine narzißtische Persönlichkeit wird nicht schon durch ein Merkmal, sondern erst durch ein Spektrum zahlreicher Verhaltensauffälligkeiten gekennzeichnet. Da menschliches Verhalten sich auf einem Kontinuum (z.B. zwischen Echoismus und Narzißmus oder zwischen Narzißmus und Egoismus) bewegt und sehr individuell ist, kann eine klare Grenze zwischen nicht-narzißtischen und narzißtischen Persönlichkeiten nicht gefunden werden. Ein identisches Problem besteht bei der Abgrenzung zwischen normalem, gesellschaftlich noch akzeptiertem, und pathologischem Narzißmus. Auch hier gibt es ein Kontinuum mit fließenden Übergängen, die nicht nur durch den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext determiniert sind, sondern wie dieser auch Wandlungsprozessen unterliegen (siehe dazu Kapitel 2.4.1, Der gesellschaftstheoretische Ansatz der Individualisierung nach Ulrich Beck). Trotz zunehmender Akzeptanz narzißtischen Verhaltens in der Gesellschaft wird es in summa (noch) als vom Normalen abweichend und somit als pathologisch empfunden, wobei der Maßstab des Normalen (der Norm entsprechendes Verhalten) sowohl ein relativer als auch ein sich verändernder, d.h. dynamischer ist.

Narzißmus tritt in allen Lebensbereichen auf, aber besonders dort, wo Menschen sich häufig Krisensituationen ausgesetzt sehen. Beispiele aus der und Übertragungen in die Arbeitswelt illustrieren - wo es in dieser Arbeit sinnvoll erscheint - das Bild der narzißtischen Persönlichkeit, um eine Nähe zum Unternehmensbereich herzustellen.

1.1.1 Das narzißtische Basissyndrom

Das „Basissyndrom pathologisch-narzißtischen Erlebens“ stellt nach Stimmer einen Sammelbegriff dar, der die wesentlichen Symptome und Charakteristika narzißtischer Persönlichkeiten subsumiert. Die beiden Hauptcharakteristika sind: 1) die Entwicklung von Größenvorstellungen von sich selbst und 2) eine Distanziertheit in sozialen Beziehungen.

[3] Die meisten der zu beschreibenen Eigenschaften, Merkmale und Verhaltensweisen liegen in diesen zentralen Charakteristika begründet oder lassen sich von ihnen ableiten. Im ersten Fall geht es um das Verhältnis des Narzißten zu sich selbst, im zweiten um sein Verhältnis zu anderen. Narzißtisches Verhalten verdeutlicht sich also vor allem über Beziehungstrukturen.

Narzißtische Persönlichkeiten werden häufig als einnehmende und gewinnende Menschen beschrieben, neigen aber dazu, in ihren emotionalen Beziehungen eine schützende Oberflächlichkeit zu kultivieren. Diese hält sie davon ab, glückliche Erlebnisse in der Erinnerung zu bewahren und erneut zu durchleben, um bei Verlusten oder Enttäuschungen den entstehenden emotionalen Schmerz möglichst gering zu halten.[4] Durch das Ausklammern positiver Erlebnisse wird der Maßstab, an dem Enttäuschungen und Kränkungen gemessen werden, klein gehalten. Diese selbst erzeugte Oberflächlichkeit (zu verstehen auch als ein Sich-nicht-einlassen-können auf andere Menschen) führt dazu, daß sich narzißtische Persönlichkeiten inmitten des sozialen Beziehungssystems ausgeschlossen und fremd sowie sich selbst entfremdet fühlen, so daß zur Vermeidung und/oder Linderung daraus resultierender negativer Emotionen wiederum verstärkt narzißtisches Verhalten als Schutzmechanismus eingesetzt wird. Narzißtisches Verhalten kann so zu einem sich selbst verstärkenden (Reaktions-) Mechanismus werden.

Die persönlichen und emotionalen Beziehungen narzißtisch geprägter Menschen zeichnen sich durch eine nur geringe Empathie für ihre Mitmenschen und ihre Umwelt aus, so daß ihre Beziehungen häufig unlebendig und wenig kreativ sind. Es fehlt ihnen an emotionaler Initiative, um kreativ und gestaltend auf ihre gesellschaftliche und/oder organisatorische Umwelt einzuwirken.[5]

„Ich habe kluge Menschen kennengelernt, Leute auf der obersten Sprosse der akademischen Leiter, die in ihrem Fach zu Hause sind, die aber letztlich in fremden Kleidern dastehen. Mit Macht sträuben sie sich gegen den Schritt, etwas Eigenes und damit Einzigartiges zu gestalten.“[6]

Sie sind die typischen Vertreter des Status quo. Veränderungen werden meist als Krisen wahrgenommen, auf die mit Angst und Abwehr reagiert wird.

Um dem Gefühl der Leere und Entfremdung zumindest kurzzeitig zu entgehen, entwickelt der Narzißt eine Sucht nach positiven Erlebnissen, nach Anerkennung und Bewunderung durch andere. Dabei nehmen Beziehungen oft einen ausbeuterischen bis parasitären Charakter an. Narzißtische Menschen beanspruchen andere ohne Schuldgefühle, beherrschen sie oder nutzen sie aus. Das Gegenüber wird nicht als eigenständige Person geschätzt, sondern auf die Rolle des Bewunderers reduziert, der dafür oftmals mit Verachtung gestraft wird.[7]

Zugleich unterhalten narzißtische Persönlichkeiten unrealistische Allmachts- und Größen- phantasien unterschiedlicher Ausprägung von sich selbst. Diese werden herangezogen, um Minderwertigkeits- und Unterlegenheitsgefühle zu kompensieren, so daß ein scheinbarer Widerspruch zwischen ihrem aufgeblähten Selbstkonzept und ihrer gleichzeitigen Abhängigkeit von der Bewunderung und Anerkennung durch andere entsteht.[8] Es ist deshalb kein Zufall, daß narzißtische Persönlichkeiten infolge ihrer kompensatorischen Größenideen sowie ihrer Schwierigkeiten, sich in die bestehende Gesellschaft zu integrieren, leitende Funktionen und herausragende Positionen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft anstreben. Prominente Beispiele sind die Politiker Charles de Gaulle und Winston Churchill.[9] Die Leistungsorientierung der heutigen Gesellschaft bietet narzißtischen Persönlichkeiten über beruflichen Einsatz und Erfolg vielfältige Möglichkeiten, ihr fehlendes Selbstwertgefühl durch den Aufstieg in prestige- und statusträchtige Positionen zu kompensieren. Dazu wenden sie viel Kraft und Energie auf, die dann für die Aufrechterhaltung sozialer Bindungen fehlt, so daß sie, auch wenn sie Karriere machen, in einem Zustand der Anomie verharren.[10]

Mit den Größenvorstellungen einher geht ein Realitätsverlust. Narzißtische Menschen nehmen ihre Mitmenschen und ihre Umwelt einseitig im Lichte ihrer Allmachts- und Omnipotenzphantasien wahr. Sie sind deshalb nicht selten der Auffassung, andere ausbeuten zu dürfen und ein Recht auf die Erfüllung ihrer Wünsche zu haben. Sie fügen sich gesellschaftlichen Regeln auch eher aus Angst vor Strafe als aus Schuldgefühl oder Einsicht.[11] Ihre relative Rücksichtslosigkeit, gepaart mit einem hohen Durchsetzungsvermögen und ihrer einseitigen Realitätswahrnehmung, machen sie aber zu angesehen Krisenmanagern und Sanierern, die sich gerne als pragmatische Macher profilieren.

Hintergrund der Größenvorstellungen ist ein verkümmertes und labiles Selbstwertgefühl, das nach Stabilisierung und Kompensation strebt. Analysen narzißtischer Persönlichkeiten haben ergeben, daß erst nach längerer Zeit eine gut gehütete emotionale Überzeugung deutlich wird: So, wie sie sind, können sie nicht akzeptiert werden. Diese Überzeugung kommt auch in ihrem Selbstverständnis zum Ausdruck. Sie finden sich selbst nicht akzeptabel und stimmen deswegen mit der entsprechenden Einstellung anderer überein oder provozieren sie, wogegen sie sich dann wiederum schützen müssen. Zum Vorschein kommt die elementare Sehnsucht nach Bestätigung, die nicht auf äußerliche Schönheit, Leistungsnachweise u.ä. bezogen ist, sondern sich auf das bezieht, was man einfach ist.[12]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1: Attribute des narzißtischen Basissyndroms

Das narzißtische Basissyndrom bündelt Verhaltensweisen und Eigenschaften, die darauf abzielen, die durch ein schwaches Selbstwerterleben hervorgerufenen negativen Emotionen zu kompensieren.

1.1.2 Paradoxien des Charakters

Narzißtische Persönlichkeiten vereinen scheinbar widersprüchliche Eigenschaften und Charakterzüge in sich, wodurch sie den Eindruck zerrissener (im Sinne von paranoiden) Persönlichkeiten vermitteln. Ihren Grandiositätsvorstellungen steht ein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber, das durch eine chronische Ungewißheit und mangelnde Genugtuung über sich selbst gespeist wird. Über die Anerkennung und Bewunderung anderer, über prestige- und statusträchtige Positionen in Unternehmen und Institutionen sowie über Akklamationen und Gratifikationen versuchen sich narzißtische Persönlichkeiten immer wieder von neuem von ihrem eigenen Sein und Wert zu überzeugen. Durch die Idealisierung der eigenen Person streben sie nach Vollkommenheit, Absolutheit und Grenzenlosigkeit, was sie durch Macht, Besitz und/ oder Leistung zu realisieren suchen. Die narzißtische Regression bietet letztlich aber nur kurzfristigen Schutz vor Selbstwertstörungen. Den Mangel an positivem Selbstwertgefühl und die daraus resultierenden Gefühle der Minderwertigkeit kann sie nicht heilen, da sie auf die Konstitution des Selbst[13] nicht verändernd einwirkt. Dadurch bleiben narzißtische Persönlichkeiten dauerhaft auf die Bestätigung ihrer Größenvorstellungen durch andere angewiesen. Sie suchen deshalb gezielt nach solchen Situationen, in denen sie glänzen und brillieren können; sie vermeiden solche, in denen sie direkten Vergleichen, Wettbewerb oder Konkurrenz ausgesetzt sind und versuchen durch Manipulation und geschicktes Taktieren, sich bewußt ins rechte Licht zu rücken.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Paradoxien des narzißtischen Charakters

Allmachts- und Omnipotenzstreben gehen häufig mit Fusionswünschen einher. Über die Identifikation mit einer von ihm bewunderten Person versucht sich der Narzißt selbst zu erhöhen. Dabei überträgt er die Idealisierung des anderen, die bis zu Verschmelzungs- wünschen und -phantasien reichen kann, auf das Selbst, so daß es für ihn scheint, als habe er an der Macht und Größe des anderen teil.[14] Einer tatsächlichen Anteilnahme stehen allerdings seine Angst vor Abhängigkeiten und seine Neigung zum sozialen Rückzug entgegen. Kann oder will die geschätzte Person die auf sie projizierten Erwartungen und Wünsche nicht erfüllen, schlägt die Bewunderung schnell in Ablehnung und Verachtung um. Das Interesse und die Identifikation gelten nicht dem Menschen, sondern lediglich seiner Funktion. Dieses Verhalten wird auch auf Gruppen oder Unternehmen übertragen. Es äußert sich beispielsweise in einem ausgeprägten Stolz, für ein besonders bekanntes und erfolgreiches Unternehmen zu arbeiten.

Ihre charakterliche Ambivalenz führt dazu, daß narzißtische Persönlichkeiten oftmals ihr wahres Wesen zu verbergen suchen, um gesellschaftlichen Sanktionen zu entgehen und die für sie so überaus notwendige Anerkennung und Akzeptanz zu erlangen. Unter dem Schein der Selbstliebe liegt ein quälender Selbsthaß verborgen. Mit zunehmender gesellschaftlicher Toleranz narzißtischen Verhaltensweisen gegenüber wird dieses zukünftig deutlicher in Erscheinung treten.

1.2 Relevante Spezifika der narzißtischen Persönlichkeit

Bisher wurde ein allgemeines Charakterbild vom narzißtischen Typus gezeichnet, das nun durch die Beschreibung einiger spezifischer, als wesentlich erkannter Verhaltensausprägungen ergänzt werden soll. Narzißmus hat einen großen Einfluß auf das Sozialverhalten und die Beziehungsstrukturen der betroffenen Personen. Ihre als Rückzug aus den sozialen Beziehungen wahrgenommene Selbstbezogenheit dient über die Vermeidung von Kritik und Kränkungen der (Selbst-)Bestätigung ihres eigenen, unrealistischen Größenimages. Beides, sowohl der Rückzug aus den sozialen Beziehungen als auch das Streben nach Images, dienen einem gemeinsamen Ziel: der Idealisierung der eigenen Person.

1.2.1 Rückzug aus sozialen Beziehungen

Das narzißtische Phänomen zeigt sich besonders in den sozialen Beziehungsstrukturen. Menschliche Beziehungen weisen eine dialogische Struktur auf, wodurch die zwangsläufige Wechselseitigkeit von Beziehungen, ein Auf-einander-bezogen-sein betont wird. Jegliche Art von Zu- und Abwendung, Begegnungen und/oder Machtphänomenen ist auf andere bezogen, was eine gegenseitige Wahrnehmung und ein wechselseitiges Agieren und Reagieren voraussetzt.[15] Narzißtisch geprägten Menschen scheint diese Wechselseitigkeit nicht möglich zu sein, zumindest lehnen sie sie ab, wodurch sie isoliert, selbstbezogen, ablehnend und/oder desinteressiert wirken, was Knapp als „Phänomen der Beziehungslosigkeit“ zusammenfaßt.[16]

Von der dialogischen Struktur sozialer Beziehungen aus gesehen, ist die ursprüngliche Beziehungsform die zu anderen. Der Mensch entwickelt eine Vorstellung von sich selbst durch die reflektierte Perspektive seiner Mitmenschen. Das Selbstverhältnis ist deshalb vom Verhältnis zu anderen nicht zu trennen, da der Mensch andere braucht, um in ihren Reaktionen sein Selbstbild zu überprüfen und es der Realität anzupassen. Die soziale Spiegelung basiert nach Stimmer auf drei wesentlichen Elementen:[17]

1) der Vorstellung des Menschen von seiner Wirkung auf andere,

2) der Vorstellung von der Beurteilung durch andere und

3) der Vorstellung von sich selbst (z.B. Stolz, Beschämung).

Ausschlaggebend für das Selbstbild sind also die unterstellten und projizierten Gefühle und Vorstellungen der anderen mit all den Gefahren darin enthaltener Mißdeutungen und Verzerrungen. Die narzißtische Persönlichkeit verzichtet weitgehend auf diese soziale Spiegelung, um Kritik und Kränkung zu entgehen. Sie findet ihr Selbstbild auf einseitige Weise, indem sie ihr soziales Wesen verleugnet. Ihre Selbstbezogenheit führt deshalb immer wieder zur Selbstbestätigung.

Durch die Verletzung der dialogischen Beziehungstruktur geht Narzißten der realistische Blick für die Wirklichkeit verloren, d.h. sie nehmen Situationen egozentrisch wahr, was dazu führt, daß sie in der Erwartung leben, daß ihre eigenen Reaktionen und Empfindungen denen der anderen entsprechen und umgekehrt.[18] Fehleinschätzungen und Irritationen können die Folge sein. Daraus wird verständlich, daß narzißtische Persönlichkeiten gerade in schwierigen und krisenhaften Situationen den Wunsch hegen, von gleichartigen Menschen umgeben zu sein.[19]

Die von narzißtischen Personen gelebte Vermeidungsstrategie - soziale Bindungen werden von vornherein vermieden - kann aufgrund der Beschaffenheit des Menschen als soziales Wesen nur so lange funktionieren, wie eine Illusion von Beziehung aufrechterhalten wird.[20] Über das Erlangen von Macht erhofft sich der narzißtische Mensch die sozialen Kontakte, ohne die er als soziales Wesen nicht auskommt. Dabei wird Macht als ein Mittel eingesetzt, um die Gefahren von Kränkungen, Verletzungen und Demütigungen, die wechselseitige Beziehungen zwangsläufig in sich bergen, möglichst gering zu halten und die eigenen Minderwertigkeitsgefühle zu verbergen.

„Im Bereich von Beziehungen entsteht dabei ein typisches Dilemma. Einerseits beruhen alle produktiven, kooperativen, freundschaftlichen und Liebesbeziehungen auf gegenseitigem Vertrauen, andererseits ist die Voraussetzung für Vertrauen-können, daß Absicherungen gegen Mißtrauen weitgehend aufgegeben werden müssen. Letzteres beschwört aber wieder die Angst vor Verletzung herauf.“[21]

1.2.2 Images statt Persönlichkeit

Das Image wird als der Teil des Selbst betrachtet, der der Welt zugewandt ist und sich körperlich durch Haltung, Bewegung und Gesichtsausdruck äußert. Da dieser Teil der bewußten Steuerung durch den Willen unterliegt, kann er so abgewandelt werden, daß er einem ganz bestimmten Vorstellungs-, Selbst- und/oder Idealbild entspricht. Das Image ist also kein Abbild der Wirklichkeit, sondern ein rein subjektives Vorstellungsbild, das ein realistisches Bild bewußt oder unbewußt ersetzen kann. Die Idealisierung ihrer eigenen Person zeigt deutlich, daß narzißtische Persönlichkeiten sich ein Idealbild, ein Image von sich schaffen, das eine realistische Anpassung ihres Selbstbildes an die Wirklichkeit verhindert, so daß eine Diskrepanz zwischen ihrem Selbstbild (Image) und ihrem wahren Selbst entsteht. Schließlich können Narzißten nicht mehr zwischen dem Bild von dem, für den sie sich selber halten, und dem, der sie wirklich sind, unterscheiden. Es entsteht damit eine Spaltung zwischen der Art, wie sie ihrem Image gemäß in der Welt funktionieren und agieren und dem, was sie wirklich sind. [22]

Das Image zielt in erster Linie auf eine bestimmte Wahrnehmung der eigenen Person durch andere.[23] Narzißtische Personen werden deshalb bestimmte Wünsche, Absichten und Einstellungen verbergen, um Sanktionen und Kritik zu entgehen, während sie gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen vortäuschen, um Akzeptanz und Bewunderung zu erfahren. Grundsätzlich sind narzißtisch geprägte Menschen mehr daran interessiert, wie sie anderen erscheinen, als an dem, was sie fühlen. Narzißtische Menschen lieben ihr Image, nicht ihr wirkliches Selbst. Auch die mythologische Figur Narziß war nicht in sich selbst, sondern in ihr Abbild verliebt. Narzißtische Persönlichkeiten neigen deshalb dazu, die Gefühle und Verhaltensweisen, die ihrem Image zuwiderlaufen, zu ignorieren oder zu leugnen. Sie sind rücksichtslos ihren ureigensten Bedürfnissen und Emotionen gegenüber. Ihr Verhalten ist oftmals selbstzerstörerisch. Ihrem Idealbild gemäß können narzißtische Persönlichkeiten in der Arbeitswelt sehr erfolgreich sein und außerordentliche Leistungen erbringen. Da sie aber ihr wahres Selbst verleugnen, wirken sie oft zu perfekt, zu mechanisch usw. Ihr Verhalten erscheint aufgesetzt und programmiert, eher wie bei einer Maschine als bei einem Men- schen.[24] Grundlagen ihres Handelns sind Vernunft und Logik.

1.2.3 Narzißtische Wut - eine maßlose Reaktion

Nach Heider reagieren Menschen auf zweierlei: das, was sie glauben, daß es die andere Person wahrnimmt, fühlt und denkt, zusätzlich zu dem, was sie gerade tut.[25] Dadurch er- scheint jede Situation im Lichte einer bestimmten Interpretation, die von persönlichen Erfahrungen, Stimmungen u.a. abhängig ist. Narzißtische Persönlichkeiten erleben bestimmte Situationen in Erinnerung an frühere, weit zurückliegende Kränkungen immer wieder als Niederlage. Dabei erlebt der Narzißt die verdrängte Situation erneut, anstatt sich zu erinnern, wodurch heftige Reaktionen und Abwehrmechanismen reaktiviert werden, die sich als narzißtische Wut[26] äußern. Der Interaktionspartner erlebt dann eine für ihn nicht nachvollziehbar heftige Reaktion, da er den Bezug zur aktuellen Situation weder kennt noch herstellen kann.

Narzißtische Wut kann beispielsweise durch enttäuschte Erwartungen oder Kritik ausgelöst werden. Narzißtische Persönlichkeiten erleben Kritik häufig als totale Ablehnung ihrer eigenen Person, wobei die Art der Kritik in der Regel keine Rolle spielt.[27] Kritik kann damit gegenüber narzißtischen Menschen selten konstruktiv eingesetzt werden.

1.3 Diskussion

Das Bild der narzißtischen Persönlichkeit ist das eines vielfältigen, differenzierten und ambivalenten Charakters. Es geht über das prosaische Verständnis von Selbstverliebtheit, wie es der antike Mythos von Narziß und Echo überliefert, hinaus. Unter dem Begriff Narzißmus werden heute Eigenschaften und Verhaltensweisen gebündelt, die zusammen ein Handlungs- und Deutungkonzept bilden, das in der Psyche des Individuums begründet ist und sich in erster Linie in Beziehungsstrukturen verdeutlicht. Die Beziehung des Narzißten zu sich selbst ist durch Größenvorstellungen und Allmachtsphantasien dominiert, die häufig zum Realitätsverlust führen. Seine Beziehungen zu anderen zielen auf Anerkennung und Bewunderung, so daß auch alle sozialen Interaktionen auf die Aufrechterhaltung seines Ideal- und Größenbildes ausgerichtet sind.

Argyris`Theorie folgend versucht die narzißtische Persönlichkeit so einen sensiblen Zustand der psychischen Ausgeglichenheit aufrechtzuerhalten. Dieser Zustand wird über ein inneres (internal personality balance) und ein äußeres Gleichgewicht (external personality balance) erreicht. Das innere Gleichgewicht stellt sich ein, wenn die einzelnen Teile der Persönlichkeit (Eigenschaften, Charakteristika) eine Einheit bilden, das äußere, wenn die Persönlichkeit sich mit ihrer Umwelt im Einklang befindet.[28] Das Verhalten narzißtischer Persönlichkeiten kann demnach als eine Möglichkeit des Ausgleichs eines psychischen Ungleichgewichts, das in ihrer charakterlichen Ambivalenz Ausdruck findet, interpretiert werden. Narzißtisches Verhalten, besonders die narzißtische Wut dient dazu, die entstandenen psychischen Spannungen sowie die damit einhergehenden Gefühle der Angst, Minderwertigkeit, Nicht-Anerkennung und Unsicherheit abzubauen.

Narzißmus bildet ein Spektrum von Eigenschaften und Verhaltensweisen ab, die je nach Situation positiv oder negativ, gesellschaftlich akzeptiert oder sanktionswürdig sind. Eine Bewertung narzißtischen Verhaltens ist nur unter Berücksichtigung des jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Kontextes mit seinem Normen- und Wertesystem vorzunehmen, und wie dieses unterliegt die Bewertung Wandlungen und Veränderungen. Die heutige Gesellschaft weist beispielsweise dem Image im allgemeinen und dem des Gewinners im speziellen eine immer bedeutendere Rolle zu, wodurch narzißtische Tendenzen innerhalb der Gesellschaft gefördert werden.

„Eine der Arten, wie unsere Kultur die narzißtische Persönlichkeit fördert, ist die übertriebene Betonung der Bedeutung des Gewinnens… Eine solche Einstellung setzt menschliche Werte herab und ordnet die Gefühle anderer diesem unter: zu gewinnen, ganz oben, die Nummer eins zu sein.“[29]

Wird narzißtisches Verhalten zunehmend als normal (der Norm entsprechend) angesehen, dann tritt Narzißmus als Problematik und Pathologie nicht mehr in Erscheinung. Der gesellschaftliche Umgang mit narzißtischem Verhalten (z.B. Psychotherapie) zeigt jedoch, daß es zur Zeit (noch) als problematisch empfunden wird, obwohl die Akzeptanz steigt.

2. Zur Genese des Narzißmus

2.1 Definition und Begriff

Der Begriff des Narzißmus hielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einzug in die moderne Wissenschaft, vor allem in die Psychologie. Dort wurde er zunächst zur Bezeichnung der Eigenliebe als sexuelle Perversion eingesetzt. Diese enge Verknüpfung besteht heute nicht mehr. Vielmehr werden heute unter diesem Begriff verschiedene Formen und Ausprägungen von Selbstbezogenheit subsumiert, wodurch der Begriff allerdings auch an Schärfe verloren hat und ein diffuses, uneinheitliches und teilweise widersprüchliches Bild bietet. Zur Beseitigung dieses Mangels wird zwischen Egoismus, Individualismus und Narzißmus differenziert.

Egoismus ist durch ein bewußt zum eigenen Vorteil eingesetztes Nutzenkalkül gekennzeichnet. Während Egoismus also auf den eigenen ökonomischen Vorteil ausgerichtet ist, verfolgt Narzißmus die Sicherung eines positiven Selbstwertgefühls, ist also anders motiviert. Vergleichbares gilt auch für individualistisches Verhalten. Hier steht zwar das Individuum im Zentrum des Interesses, aber es kommt nicht wie beim Narzißmus zur egozentrischen Einschränkung des sozialen Handelns. Der Interaktionspartner wird als eigenständiges, aktives Individuum realitätsgerecht eingeschätzt und behandelt. Im Gegensatz zum Narzißmus fehlt sowohl der Realitätsverlust als auch der Rückzug aus den sozialen Beziehungen, denn das Individuum strebt Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in den sozialen Beziehungen an.[30]

Gegenpol zum Narzißmus ist der Echoismus,[31] ein Verhalten, das im Gegensatz zum Narzißmus zur vollständigen Selbstaufgabe führt und durch Fusionswünsche geprägt ist. Beide Verhaltensweisen können als die extremen Pole eines Kontinuums verstanden werden, das eine Vielzahl von gesellschaftlich konformen Verhaltens(zwischen)formen erlaubt. Beide Verhaltensausprägungen sind in ihrer Gegensätzlichkeit ohne die jeweils andere nur schwer denkbar.

Die wissenschaftlichen Definitionen von Narzißmus basieren überwiegend auf der psychologischen Begriffsverwendung seit Sigmund Freud. Narzißmus umfaßt danach alle Phänomene der Beziehung zu anderen oder - negativ formuliert - solche der Beziehungslosigkeit, die sich in Selbstbezogenheit, Nichtinteresse an oder Nichtberücksichtigung von Menschen oder der Umwelt zeigen und die auf die Kompensation von Selbstwertstörungen als Motiv ausgerichtet sind.[32]

Narzißtisches Verhalten ist also ursächlich auf einen Mangel an positivem Selbstwertgefühl[33] zurückzuführen. Das Selbstwerterleben ist als Kontinuum vorstellbar. Ein negativer Selbstwert als das eine Extrem beinhaltet Gefühle der Minderwertigkeit, Verzweiflung, Leere, Sinnlosigkeit, Langeweile und des Mißtrauens, während ein positiver Selbstwert als das andere Extrem Gefühle der Sicherheit, des Wohlbefindens und Vertrauens subsumiert. Narzißmus ist somit als ein motivationales Grundkonzept zur Stabilisierung und Sicherung des eigenen, positiven Selbstwertgefühls erkannt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Korrelation von Selbstwert und Narzißmus

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[1] E. Friedell zitiert in L. von Rosenstiel (Mitverf.): Führungsnachwuchs im Unternehmen, München 1989, S. 21-22.

[2] Vgl. F. Heider: Psychologie der interpersonellen Beziehungen, Stuttgart 1977, S. 14.

[3] Vgl. F. Stimmer: Narzißmus, Berlin 1987, S. 36.

[4] Vgl. C. Lasch: Das Zeitalter des Narzißmus, München 1980, S. 59.

[5] Vgl. N. Symington: Wege zur Partnerschaft, Göttingen 1995, S. 48.

[6] Ebenda, S. 115.

[7] Vgl. Lasch (1980), S. 60.

[8] Vgl. Stimmer (1987), S. 35-36.

[9] „Es konnte sein, daß er [Churchill] nach dem 2. Weltkrieg im hohen Alter nochmals Minister- präsident wurde, im häuslichen Rahmen recht apathisch, bedrückt war. Kaum war er aber im Unterhaus und wurde er von der Oppositionspartei angegriffen, wurde er recht lebendig, und er faszinierte nicht nur die Freunde der eigenen Partei, sondern auch die Oppositionellen durch seinen Einfallsreichtum und seine geistreichen Bemerkungen. Churchill war nun ein Staatsmann, der seinen Weg ganz einsam beschritt, obschon er immer Mitglied einer Partei war, in seinen größten Momenten der konservativen angehörte. Er ging unbeirrt so weiter, wie er es für sich und sein Volk mit einem Blick auf die Menschheit für richtig fand… Wenn wir das Wirken beispielsweise von Charles de Gaulle verfolgen, so können wir erkennen, daß er tatsächlich immer wenig integriert war in den Kreis, in dem er lebte und wirkte, auch sehr kränkbar war. Sicher war er narzißtisch stigmatisiert und hatte er Grandiositätsvorstellungen entwickelt, die ihm ihn selbst als den alleinigen Retter seines Landes erscheinen ließen. Seine Intelligenz brachte es zustande, daß er seinen Größenvorstellungen nachleben und in einer Krisensituation seinem Volke wertvollste Dienste leisten konnte. Wie die angeführten Beispiele von Churchill und de Gaulle zeigen - wir hätten aber noch viele andere anführen können -, sind solche Menschen, die ihre Größenvorstellungen verwirklichen, oft von überragendem Wert für ein Volk in Krisenzeiten.“ R. Battegay: Narzißmus und Objektbeziehung, Bern, Stuttgart 1977, S. 121-122.

[10] Vgl. ebenda, S. 27, 121.

[11] Vgl. Lasch (1980), S. 60.

[12] Vgl. G. Knapp: Narzißmus und Primärbeziehung, Berlin, Heidelberg, New York 1988, S. 80.

[13] Der Begriff des Selbst wird im Sinne von „ganzer Person“ benutzt, wobei körperliche, psychische und soziale Aspekte des Individuums angesprochen werden. Der Begriff wurde 1950 durch Heinz Hartmann als Fachterminus in die psychoanalytische Theorie eingeführt.

[14] Vgl. Stimmer (1987), S. 16-17.

[15] Vgl. Knapp (1988), S.72-74.

[16] Vgl. ebenda, S. 32.

[17] Vgl. Stimmer (1987), S. 144 und Knapp (1988), S. 74.

[18] Vgl. Heider (1977), S. 71, 205.

[19] Vgl. Battegay (1977), S.101.

[20] Vgl. Stimmer (1987), S. 32.

[21] Knapp (1988), S. 190.

[22] Vgl. A. Lowen: Narzißmus, München 1986, S. 8, 17, 54.

[23] Vgl. Heider (1977), S. 89.

[24] Vgl. Lowen (1986), S. 7-8.

[25] Vgl. Heider (1977), S. 10.

[26] Zorn ist im Gegensatz zur Wut eine konzentrierte Reaktion; er ist auf die Beseitigung einer Kraft ge- richtet, die dem Betreffenden entgegenwirkt. Zorn bleibt in der Regel der Provokation angemessen und ist somit eine rationale Reaktion auf einen Angriff. Wut hingegen ist der Provokation meist nicht angemessen. Sie hört nicht auf, auch wenn die Provokation bereits beseitigt wurde. Damit ist sie stark destruktiv.

[27] Vgl. Knapp (1988), S. 212-213.

[28] Vgl. C. Argyris: Personality and organization, New York 1957, S. 22.

[29] Lowen (1986), S. 63-64.

[30] Vgl. Stimmer (1987), S. 18.

[31] Echoismus geht auf das Verhalten der Bergnymphe Echo in dem antiken Mythos von Narziß und Echo zurück. Sie wird aufgrund ihrer Geschwätzigkeit von der Göttin Hera mit dem Verlust einer eigenständigen Sprache bestraft. Seitdem kann sie lediglich wiederholen, was sie zuvor von anderen gehört hat.

[32] Vgl. Knapp (1988), S. 32 und Stimmer (1987), S. 15.

[33] Das Selbstwertgefühl spiegelt die bewußte und unbewußte, ganzheitliche Einschätzung des eigenen Wertes wider. Das Selbstwertgefühl kann hoch oder niedrig sein. Ein geringes Selbstwertgefühl ist gleichzusetzen mit dem Gefühl der Minderwertigkeit. Das Selbstwertgefühl ist ein individuell und gesellschaftlich bedeutendes, psychologisches Konzept des Menschen. Er weist eine Tendenz auf, sein Selbstwertgefühl stets auszubalancieren, da mit dem Verlust des Selbstwertgefühls auch das Leben seinen Sinn verliert. Wer in früheren Zeiten vom sozialen Verband (Familie, Gesellschaft) nicht wert befunden wurde dazuzugehören, war dem Tode ausgeliefert. Damit ist das Selbstwertgefühl ein Konzept bzw. Element der Selbsterhaltung, dessen Erfolg davon abhängt, inwieweit der einzelne fähig ist, Schwankungen und Angriffe auf seinen Selbstwert auszugleichen bzw. auszuhalten. Durch die Einsicht in die Lebensnotwendigkeit des Selbstwertgefühls wird die Bedrohung durch Minderwertigkeitsgefühle erst deutlich. Bei gesundem Selbstwertgefühl erlebt sich der Mensch als sozial gleichwertig seinen Mitmenschen gegenüber trotz des realistischen Bewußtseins eigener Schwächen und Mängel. Der Maßstab für den Selbstwert ist dabei immer subjektiv, obwohl auch die Bewertung durch andere berücksichtigt wird.

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Details

Title
Narzißmus in Organisationen - Eine organisationspsychologisch basierte Analyse zum Verhältnis von Individuum und Unternehmen
College
University Witten/Herdecke
Grade
2
Author
Year
1998
Pages
87
Catalog Number
V185207
ISBN (eBook)
9783656994657
ISBN (Book)
9783867461139
File size
947 KB
Language
German
Keywords
narzißmus, organisationen, eine, analyse, verhältnis, individuum, unternehmen
Quote paper
Gabriela Humborg (Author), 1998, Narzißmus in Organisationen - Eine organisationspsychologisch basierte Analyse zum Verhältnis von Individuum und Unternehmen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185207

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