Interaktionsrituale nach Erving Goffman. Zu Ehrerbietung und Benehmen


Term Paper (Advanced seminar), 2003

25 Pages, Grade: 1


Excerpt


Inhalt

Einführung

I. 1. Verhaltensregeln
1.1. Regelklassen
1.2. Regeltypen
2. Ehrerbietung
2.1. Vermeidungsrituale
2.1.1 Distanz und ehrerbietige Zurückhaltung
2.2. Zuvorkommenheitsrituale
3. Benehmen

II. Zeremonielle Entweihung und Verletzung

III. Zusammenfassung und Fazit

Bibliografie

Einführung

Der Untertitel Goffmans Buches Interaktionsrituale - Über Verhalten in direkter Kommunikation, welches die Grundlage dieser Arbeit bildet, gibt Aufschluss über den eigentlichen Untersuchungsgegenstand: das Verhalten eines Individuums beim Zusammentreffen mit anderen Individuen und der Platz des Einzelnen in der Gemeinschaft, kurz, „the interaction order“. Die Dualität zwischen individueller Identität und Gesellschaft bzw. die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen zur Bildung von sozialer Identität ist Kernpunkt der Soziologie Erving Goffmans. Er betrachtet Identität als „das Resultat eines prinzipiell unlösbaren Dauerkonflikts zwischen menschlichen Individuen und dem ihr Leben regulierenden Institutionen.“[1] In seinen zahlreichen Reportagen und Beobachtungen aus Gefängnissen und Nervenkliniken richtet er sein Augenmerk besonders auf die Widerstände, auf die das Individuum innerhalb dieser Institutionen stößt und wie es damit umgeht.

Das Aufeinandertreffen von Menschen in verschiedenen Situationen ist die Basis der Interaktion, jedoch geht es hier nicht um individuelle Verhaltensmuster, die in der Persönlichkeit jedes Einzelnen verankert liegen, sondern vielmehr um die normative Struktur, die das zwischenmenschliche Verhalten regelt. Augenscheinlich liegt ein Widerspruch zwischen allgemeinen Regeln und den unendlichen Möglichkeiten des Entstehens einer sozialen Situation. Doch Goffman betont, dass sein Interesse vielmehr den „syntaktischen Beziehungen zwischen den Handlungen verschiedener gleichzeitig anwesender Personen“[2], als der Psychologie dieser Personen gilt. Hierbei muss man sich natürlich ebenso mit der Frage beschäftigen, welche grundlegenden Eigenschaften ein handelnder Mensch haben muss, damit die interaktive Ordnung überhaupt funktioniert. Goffman bezeichnet diese Vorgehensweise, Situationen menschlichen Handelns zu untersuchen, als „Soziologie der Gelegenheiten“[3].

Einer sozialen Handlung in Bezug auf andere Menschen, also einer Interaktion, gehen einige Schritte voraus, die Goffman „Begegnung“ oder „zentrierte Versammlung“ nennt:

„Für die Teilnehmer umfasst das: einen einzigen visuellen und kognitiven Brennpunkt der Aufmerksamkeit; eine wechselseitige und bevorzugte Aufgeschlossenheit für verbale Kommunikation; eine erhöhte wechselseitige Relevanz der Handlungen, ein ökologisches Zusammendrängen ‚Auge in Auge’, das die Möglichkeit jedes Teilnehmers vergrößert, gewahr zu werden, wie ihn der andere Teilnehmer ‚überwacht’.“[4]

Diese Handlungen unterliegen einem Muster, das bewusst oder unbewusst von jedem der Beteiligten verfolgt wird: Die Beurteilung der jeweiligen Situation, die Einschätzung des Gegenübers bzw. der anderen beteiligten Personen und die Selbstdarstellung, meist mit dem Ziel, sich selbst ins beste Licht zu rücken. Während der Interaktion sieht sich der Einzelne der Aufgabe gegenüber, aus seinem verfügbaren Handlungsspielraum die angemessene Aktion herauszufiltern und auch auf zum Teil konträre Anforderungen passend zu agieren. Dabei muss er, wie es Thurn ausdrückt, wie ein Schauspieler in wechselnde Rollen schlüpfen, die immer wieder situativ angepasst werden, wobei er sich aber mit keiner von ihnen wirklich in seinem Wesen identifiziert.

„Jede erfolgreiche Selbstdarstellung im Alltag bedient sich (..) einer Doppelstrategie. Zum einen ist sie enthüllend, indem sie die personale Latenz, die biographisch gewachsene Eigenart des Einzelnen zum Ausdruck bringt. (...) [Zum anderen] operiert die alltägliche Selbstinszenierung stets auch verbergend. Sie bemüht sich, jene Züge hintanzustellen, die Anstoß bei den Interaktionspartnern erregen und infolgedessen nachteilige Reaktionen hervorrufen könnten.“[5]

Die folgende Arbeit beschäftigt sich nun mit Verhaltensregeln, insbesondere der Ehrerbietung und dem Benehmen, welchen Goffman ein eigenes Kapitel in seinen Interaktionsritualen widmet. Seinen Ausführungen liegt eine Beobachtungsstudie in einer psychiatrischen Klinik zu Grunde[6], insofern wird sich auch diese Arbeit auch an dieser Basis orientieren. Um in diesem Kontext zu bleiben, wurden einige der Beispiele, die zur Verdeutlichung der theoretischen Erläuterung angeführt werden, von Goffman übernommen.

I.1. Verhaltensregeln

Die Analyse des Rituals in interaktiven Handlungen beschäftigt die Sozialwissenschaften mindestens seit Emile Durkheim, der in seiner Religionssoziologie den Ritualbegriff schon in positiv und negativ bzw. Nähe und Distanz herstellend differenzierte. Goffman geht auf dieser Grundlage nun weiter und möchte vor allem die Bedeutungszusammenhänge zwischen Individuen und ihren symbolischen Handlungen ergründen. Damit etablierte er die Untersuchung der Face-to-face-Interaktion als eigenständigen Bereich. Das zentrale Grundkonzept dabei ist, dass „zwei oder mehrere Personen gemeinsam anwesend sind, wobei er [Goffman] die gesamte räumliche Situation als ´soziale Situation` und die sich konstituierende soziale Einheit als ´Zusammenkunft` (gathering) bezeichnet.“[7] Diese sind bestimmten Regeln unterworfen, mittels derer die Kommunikationspartner unter anderem auch ohne Sprache die jeweilige Situation verstehen, einordnen und dementsprechend passend reagieren können. Verhaltensregeln dienen also nicht dazu, eine möglichst einfache und angenehme Handlung anzuregen, vielmehr sind sie ein Orientierungspunkt, wie richtiges und angemessenes Verhalten auszusehen hat.

Betrachtet man eine Regel als einen kommunikativen Akt, als Form der Präsentation eines Individuums, verweist Goffman auf die Wechselbeziehung zwischen Gesellschaft und Individuum:

“His vision of a rule-governed social order has its counterpart in the image of a socially constructed self. The original entity of autonomous selfhood which one feels (…) one was born with surrenders its uniqueness and significance. It manifests itself in appropriate responses to the company it keeps and to the physical setting, the mental configuration, the emotional charge, of the social situation in which it finds itself.”[8]

1.1. Regelklassen

Verhaltensregeln differenziert Goffman auf zweierlei Arten: Zum einen kommen sie direkt und indirekt zum tragen, zum anderen kategorisiert er sie in symmetrisch und asymmetrisch. Dabei ist erstere Unterscheidung aber eher eine Beschreibung des Blickwinkels, aus der die Personen in einer sozialen Situation die Handlungskonvention erfahren. Direkt wirkt eine Regel als Verpflichtung, die das Individuum zu einem bestimmten Verhalten anhält, indirekt greift sie als Erwartung, die an die moralische Handlungsweise anderer ihm selbst gegenüber gestellt wird. Als Beispiel kann man sich das Verhältnis von einem Angestellten zu seinem Chef vorstellen:

Der Angestellte ist verpflichtet, den Anweisungen seines Vorgesetzten Folge zu leisten, während dieser zur pünktlichen Zahlung des Lohnes verpflichtet ist. Umgekehrt hat der Chef die Erwartung einer guten Arbeitsleistung seiner Angestellten.

Es gibt noch viele Aspekte, auf die man allein in diesem kleinen Beispiel das dialektische Verhältnis von direkter Verpflichtung und indirekter Erwartung weiter übertragen könnte. Verhaltensregeln werden aber nicht unbedingt bewusst eingehalten, meistens richten wir uns schon automatisiert nach unseren Handlungsorientierungen. Der größte Teil unserer täglichen Verrichtungen besteht aus routiniertem Handeln, erst wenn wir möglicherweise durch Unachtsamkeit gegen eine selbstverständliche Regel verstoßen haben, bemerken wir, dass wir „ins Fettnäpfchen getreten sind.“

Handlungen, die Verhaltensregeln unterliegen, sind Kommunikation zwischen zwei bzw. mehr Menschen. Sowohl das Einhalten, als auch das Verstoßen gegen die Ordnung, sind Ausdruck eines bestimmten Tatbestandes, d.h. der Umgang mit den Regeln hat eine Bedeutung und Ausdruckskraft, die auch eine Botschaft für die beteiligten Personen sein kann.

Kommt der Patient regelmäßig zu seiner Therapie, kann man darauf schließen, dass er bereit ist, an seiner Heilung zu arbeiten.

Bleibt er fern, will er sich offenbar nicht helfen lassen und ist nicht an einer Verbesserung seines Zustandes interessiert. Der Therapeut kann diese Handlungsweise seinerseits aber auch so verstehen, dass der Patient mit ihm nicht klarkommt und sich lieber von jemand anders behandeln lassen will.

Besonders das Nichteinhalten von Verhaltensregeln birgt also ein besonderes Potential für Veränderungen der augenblicklichen Situation und ein verändertes Handeln des Gegenübers. Wichtig ist außerdem zu verstehen, dass eine Verhaltensregel nicht die betreffende Person als Ganzes anspricht, sondern immer nur einen Teil, d.h. die Rolle, die sie in der entsprechenden Situation spielt. Ein Individuum hat in der Gesellschaft immer mehrere Positionen, so ist zum Beispiel Herr Schmidt nicht nur einfach Herr Schmidt, sondern auch Arzt, Ehemann, Vater, Hobbysegler, Vorsitzender im Schützenverein etc. und in jeder Rolle gilt ein spezifischer Verhaltenskodex mit seinen eigenen Erwartungen und Verpflichtungen.

Die Einteilung von Regeln in eine symmetrische und asymmetrische Klasse bezieht sich nun nicht auf die Perspektive der Personen, sondern ihre Klassifizierung hängt zum großen Teil vom sozialen und gesellschaftlichen Status der Personen ab. Symmetrisch ist eine Regel, „wenn sie jemanden dazu bringt, solche Verpflichtungen und Erwartungen hinsichtlich anderer zu empfinden, die diese auch ihm gegenüber haben.“[9] Das bedeutet, dass wir so, wie wir eine andere Person behandeln, auch von dieser behandelt werden wollen. Generell kann man eine symmetrische Regel als Höflichkeit bezeichnen, aber auch religiöse Gebote oder allgemeine Regeln der öffentlichen Ordnung gehören zu dieser Kategorie. Sie sind durch ihre Allgemeingültigkeit statusunabhängig.

In Deutschland sind wir es gewohnt, fremde Personen zunächst mit „Sie“ anzusprechen bzw. von dieser so angesprochen zu werden, bis einer dem anderen das „Du“ anbietet. In anderen westlichen Gesellschaften, wie in den USA, ist es demgegenüber in vielen Situationen üblich, sich gleich zu „duzen“, bzw. mit Vornamen anzusprechen, wo wir es nach unserem Empfinden vermutlich befremdlich empfinden würden.

Eine asymmetrische Verhaltensregel hingegen bringt jemanden dazu, „einen anders zu behandeln und von ihm anders behandelt zu werden, als dieser ihn behandelt und von ihm behandelt wird.“[10] Diese Klasse organisiert das Betragen von Menschen unterschiedlichen Status’ zueinander, deren gegenseitige Verpflichtungen und Erwartungen aber voneinander abweichen. Hier ist die jeweilige soziale Rolle zu beachten, die die Person zu spielen hat.

Der Oberarzt gibt Anweisungen an die Krankenschwester, aber nicht umgekehrt. Zu Hause aber kann sie ihre Kinder maßregeln und erwarten, dass diese ihrer Mutter folgen. Ist der Oberarzt neben seiner Arbeit in der Klinik Mitglied im Tennisclub, wird erwartet, dass er sich den dort üblichen Regeln fügt; er hat also die Verpflichtung, sich anzupassen. Gleichzeitig erwartet er, dass er, solange er die Regeln einhält, auch Mitglied bleiben darf und die Tennisanlage nutzen darf.

1.2. Regeltypen

Die Gruppe der Verhaltensregeln differenziert die Sozialwissenschaft neben den Klassen symmetrisch und asymmetrisch auch in zwei Typen, die sich in der Bedeutung der Dinge unterscheiden, auf die sie sich beziehen. Auf Emile Durkheims Terminologie der Trennung von Substanz und Zeremonie Bezug nehmend, geht auch Goffman auf die Charakterisierung inhaltlicher versus zeremonieller Regeln ein.

Inhaltliche Regeln bestimmen das Verhalten gegenüber Dingen, die schon eine eigene Bedeutung haben, die aber nicht zur Darstellung des Handelnden dienen. Die wörtliche Aussage dieser Regeln gilt offiziell als sekundär, vielmehr soll sie sogar als allgemeine, ideale Verhaltensweise angesehen und weniger auf einen individuellen Vorteil bezogen werden. Inhaltliche Regeln erscheinen im Sprachgebrauch als „Recht“ bzw. „Verbot“, „Moral“ oder „Ethik“.

Die Regel, pünktlich zur Arbeit in Büro zu erscheinen soll vielmehr einen geregelten Arbeitsablauf sichern, als den einzelnen Angestellten als pünktlichen Menschen hervor zu heben.

Ebenso zielt die Regel, fremdes Eigentum nicht zu beschädigen oder zu stehlen mehr auf den Schutz persönlichen Eigentums im Sinne der Allgemeinheit, als auf die Konsequenzen für den Einzelnen.

Demgegenüber bestimmt eine zeremonielle Regel das Verhalten gegenüber Dingen, die an sich im Sinne der Regel bedeutungslos sind, die aber eine offizielle, konventionalisierte Bedeutung als Kommunikationsmittel haben. Durch dieses Mittel können andere Teilnehmer die Situation einschätzen, aber auch den eigenen Charakter und das eigene Benehmen präsentieren. Die Anwendung ist weit weniger alltäglich, sondern eher als kleines Ritual zu bestimmten Anlässen, also als Zeremonien zu verstehen. Das Auferlegen einer zeremoniellen Regel beabsichtigt auch in höherem Maße als eine inhaltliche Regel, eine Garantie für richtiges und angemessenes Verhalten zu geben. Es sind feierliche Anlässe, oft mit religiösem Hintergrund und eventuell mit Beteiligung wichtiger Persönlichkeiten, die ein besonderes Auftreten voraussetzen. Aber auch kleine symbolische Handlungen, die sich in unserem gesellschaftlichen Alltagsleben habitualisiert haben, gehören zu diesem Regeltyp.

Das Hutabnehmen oder das Händeschütteln zum Gruß sind ein Zeichen des Respekts für die andere Person, der Hut oder die Hand als solche haben in dieser Situation nur sekundäre Relevanz.

Sprachlich wird dieser Regeltyp als „Etiquette“ bezeichnet.

Die implizierten Botschaften, die durch die Anwendung dieser Regeln übermittelt werden, erhalten ihre Bedeutung für eine Situation durch die spezielle Handhabung: Die Art und Weise der Ausführung verleiht der Handlung ihr zeremonielles Wesen. Sie bezieht sich also weniger auf die Handlung selbst, als auf deren Funktion für die Situation.

[...]


[1] Conrad/Streeck (Hrsg.), Elementare Soziologie 1976, S.57

[2] Goffman, Interaktionsrituale 1971, S.8

[3] Ib. S.8

[4] Goffman, Interaktion: Spaß am Spiel 1973, S.20

[5] Thurn, Der Mensch im Alltag 1980, S.23f.

[6] Goffman untersuchte dafür in Form einer Beobachtungsstudie zwei Abteilungen einer Klinik, wobei er in Gruppe A, welche sich aus offiziell Nicht-Geisteskranken zusammensetzte, als Mitglied in der Gruppe lebte und in Gruppe B, bestehend aus schizophrenen Patienten, die als „einigermaßen gestörte Geisteskranke“ galten, als angestellter beobachtender Soziologe auftrat.

[7] Hettlage/Lenz, Erving Goffman – ein soziologischer Klassiker zweiter Generation 1991, S.33

[8] Burns, Erving Goffman 1992, S.42

[9] Goffman, Interaktionsrituale 1971, S.60

[10] Ib. S.60

Excerpt out of 25 pages

Details

Title
Interaktionsrituale nach Erving Goffman. Zu Ehrerbietung und Benehmen
College
University of Constance  (Fachbereich Soziologie und Geschichte)
Course
Erving Goffman
Grade
1
Author
Year
2003
Pages
25
Catalog Number
V18546
ISBN (eBook)
9783638228725
ISBN (Book)
9783638645775
File size
575 KB
Language
German
Notes
Der Untertitel Goffmans Buches Interaktionsrituale - Über Verhalten in direkter Kommunikation, welches die Grundlage dieser Arbeit bildet, gibt Aufschluss über den eigentlichen Untersuchungsgegenstand: das Verhalten eines Individuums beim Zusammentreffen mit anderen Individuen und der Platz des Einzelnen in der Gemeinschaft, kurz, 'the interaction order'. Die folgende Arbeit beschäftigt sich nun mit Verhaltensregeln, insbesondere der Ehrerbietung und dem Benehmen.
Keywords
Erving, Goffman, Interaktionsrituale
Quote paper
Iris Baumgärtel (Author), 2003, Interaktionsrituale nach Erving Goffman. Zu Ehrerbietung und Benehmen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18546

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