Peter Handke im Kreuzfeuer - Der Kosovo-Konflikt, die Haltung der Medien und die Intellektuellendebatte


Tesis de Maestría, 2000

100 Páginas, Calificación: 2


Extracto


„Peter Handke im Kreuzfeuer - Der Kosovo-Konflikt,

die Haltung der Medien und

die Intellektuellendebatte“

in der Fakultät für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum

Essen, den 15. 8. 2000

Vorbemerkung

Albanisch und serbisch sind zwei unterschiedliche Sprachen. Bei künftigen Bezeichnungen von Namen und Städten wird die Schreibweise der jeweiligen Quelle adaptiert.

Da die Verfasserin der serbischen Sprache nicht mächtig ist, basiert diese Arbeit größtenteils auf der Recherche von westlicher Lektüre. Als Informationsquellen dienen hauptsächlich die im Print veröffentlichten Artikel und Bücher, zu denen auch die über Internet recherchierten Beiträge zählen. Im Anhang sind die erwähnten Briefe des Schriftstellers an die Öffentlichkeit während des Kosovo-Konfliktes einzusehen.

Intellektuellen verwendet. Zugleich wird damit ein Kontext zwischen Politik und Literatur hergestellt.

Die spätere Argumentationsweise erfordert eine chronologische Darstellung der Thematik. Zunächst wird eine Übersicht der historischen Ereignisse mit Eckdaten skizziert, um das ethnische Problem zwischen Serben und Albanern darzulegen. Insbesondere beschäftigt sich das erste Kapitel mit der Frage, inwieweit die historischen Ereignisse für die jüngste Auseinandersetzung verantwortlich gemacht werden können. Nach der These vieler westlicher Historiker beweist die jugoslawische Geschichte nicht, daß eine Diskrepanz zwischen beiden Ethnien über Jahrhunderte hinweg zu dem jüngsten Konflikt geführt haben. Sie gehen davon aus, daß der jüngste Kosovo-Konflikt ein Produkt dieses Jahrhunderts ist. Nach der Einführung in die jugoslawische Geschichte wird die Literatur zum Zuge kommen. Bereits in den vorangegangenen Balkankonflikten protestierte der Schriftsteller Peter Handke vehement gegen das in der westlichen Öffentlichkeit bestehende Serbenbild. Sein eindeutiges politisches Engagement lädt zu einer zu diskutierenden Sichtweise ein. Eine umfassende Interpretation über Handkes Werke in der Balkanproblematik Abschied des Träumers vom Neunten Land / Eine Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien / Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise / Die Fahrt im Einbaum oder das Stück zum Film vom Krieg / Unter Tränen fragend wird seine Ansichten im zweiten und dritten Kapitel skizzieren. Die Teilung auf zwei Kapitel erschien der Verfasserin sinnvoll, da sich das Engagement des Schriftstellers auch auf zwei verschiedene Konflikte konzentrierte, wobei die Einstellung zwar gleich, doch sich seine Haltung massiv veränderte. In dritten Kapitel werden auch seine Briefe, Interviews, Aktionen und die außenstehende Kritik während des Kosovo-Konfliktes untersucht. In diesem Zusammenhang drängt sich eine existentielle Frage der Literatur auf: Muß ein Schriftsteller objektiv bleiben oder darf er subjektiv sein? Mit Hilfe dieser Ausarbeitung kann im vierten Teil der Arbeit in die politische Dimension gewechselt werden. Ausgehend von Handkes Vorwurf der einseitigen Berichterstattung soll der Wahrheitsgehalt dieser Anklage nachgeprüft werden. Die Argumentation der westlichen Staaten schien eindeutig. Doch die Zielsetzung der NATO, die menschliche Würde zu verteidigen und gleichzeitig zu verletzen, verlangte eine legitime Basis. Die Medien und die Intellektuellen waren gefragt. Ihre Arbeit soll zur Diskussion gestellt werden. Der Augenmerk liegt bei der

Frage, ob und inwiefern sich die Medien und die Intellektuellen von der Politik haben instrumentalisieren lassen, um den Luftangriff zu legalisieren. Wie wurde der Begriff der Moral interpretiert und aufgrund welcher Argumentation konnte die Politik ihre Entscheidung in der Öffentlichkeit legitimieren? Das Ziel dieser Arbeit ist es, die verschiedenen Nuancen des Kosovo-Konfliktes zu beleuchten. Am Beispiel Kosovo wird deutlich, inwiefern Politik, Kultur, Literatur und Philosophie voneinander abhängen, die Gesellschaft prägen und daher als Einheit begriffen werden müssen. Die Vorgänge im und um Kosovo haben gezeigt, daß Kriege und Auseinandersetzungen nicht nur auf dem Schlachtfeld geführt, sondern auch die normativen Werte einer Gesellschaft in Frage gestellt werden.

1 Kosovo - Historie, Fakten und Mythen

In den folgenden Kapiteln wird versucht, das diffuse Bild über Fakten und Mythen des Kosovos chronologisch darzustellen, die eigentliche Problematik zwischen Serben und Albanern herauszuarbeiten, um somit einigen Klischeevorstellungen entgegen zu wirken und der eigentlichen Wahrheit näherzukommen. Vier Fakten schaffen den Rahmen für die logische Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Konflikt. Diese zeigen, daß die Kosovo-Problematik eine Vermischung von Mythos, Ideologie, Politik, Manipulation der Führungskräfte und subjektiver, soziokultureller Interpretation ist.

1. Die über Jahrhunderte dauernde Diskrepanz zwischen den Serben und Albanern wird oft als Begründung für den jüngsten Konflikt angeführt. Angeblich sollen sich beide Völker schon immer gehaßt und aufgrund ihrer unterschiedlichen Kultur und Religion nie zu einem Konsens gefunden haben. Die Geschichte des Balkans mit den zahlreichen Kriegen und damit verbundenen Grenzverschiebungen wird ein anderes Bild zeigen. 2. Moderne, westliche Theorien - unter ihnen ist auch jene des britischen Historikers Noel Malcolm vertreten - stellen überzeugend dar, daß der angebliche ‚uralte Völkerhaß‘ erst ein Produkt des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist. Mit der Entstehung des Nationalismus konnte die Idee des eigenen Nationalstaates verfolgt und der Kampf zwischen den einzelnen Völkern zielgerecht entfacht werden.

3. Die Serben betrachten das Kosovo als ihr historisches Herzland, als die Wiege ihrer Nation. Der bestehende Mythos über die Größe des serbischen Volkes findet seinen Ursprung in dem eigentlichen Niedergang des mittelalterlichen serbischen Königreiches bei der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) im Jahre 1389. Der damalige Herrscher Prinz Lazar mußte vor den Osmanen kapitulieren. Für ein halbes Jahrtausend standen Kosovo und große Teile des ehemaligen Jugoslawien unter osmanischer Herrschaft.

4. Mit der Vertreibung der Türken auf dem Balkan kündigte sich eine schicksalhafte Ära für den Kosovo an. Während mit Hilfe der westlichen Mächte der eigenständige Staat Albanien entstand, wurde das Kosovo-Gebiet Serbien zugesprochen. Erst seit 1913 gehört Kosovo zu Serbien und wurde somit bei der Gründung des jugoslawischen Nationalstaates 1918 einbezogen.

1.1.1 Die Herkunft der Serben und Albaner

Mit der Abstammungsfrage versuchen manche Historiker zu begründen, weshalb das eigene Volk ein größeres Recht auf das Kosovo-Territorium besitzt. Doch gleich, wer als erstes im Kosovo war, es würde nichts an der Tatsache ändern, daß seit einigen Jahrhunderten beide Ethnien ihre Wurzeln in dem umstrittenen Gebiet geschlagen und somit ein begründetes Recht auf ein dortiges weiterleben haben. Ende des 6. Jahrhunderts waren die Vorfahren der heutigen Slowenen, Kroaten und Serben in ihre neue Heimat gelangt. Die Kroaten und Serben gelten trotz unterschiedlicher kultureller Entwicklung bis heute als Zwillingsvolk.

Während die Kroaten sich im Gebiet des modernen Kroatien und Westbosnien niederließen, zogen die Serben in die Gegend von Rascia nordwestlich von Kosovo und in die Region des heutigen Montenegro. Ihre Ausweitung auf das Kosovo-Gebiet begann frühestens Ende des 12. Jahrhunderts. Die Herkunft der Albaner ist unter den Historikern stark umstritten. Albanische Wissenschaftler sind davon überzeugt, daß die Albaner von den Illyrern abstammen und daß bereits vor dem Einzug der Slawen zahlreiche Albaner im Kosovo lebten. Die Illyrer besiedelten im Altertum das Gebiet des heutigen Albaniens und des südlichen Jugoslawiens. Auch die historische internationale Forschung tendiert bei der albanischen Abstammungsfrage zu der These der Verwandtschaft mit den Illyrern. Aufgrund der spärlichen Indizien läßt sich allerdings nur mit Sicherheit sagen, daß die albanische Sprache eine der ältesten Sprachen des Balkans ist. 2

Auf serbischer Seite wird die Ansicht vertreten, daß albanische Bergstämme erst im Gefolge der türkischen Eroberungsfeldzüge und nach der Abwanderung der Serben im 17. Jahrhundert in den Kosovo einwanderten. Auch wenn nach dem serbischen Exodus die albanische Zuwanderung ins Kosovo-Gebiet zunahm, so ist dies kein Indiz dafür, daß Albaner nicht schon vorher das Gebiet besiedelten. 3 Zum Zeitpunkt der türkischen Eroberung (endgültig 1455) machten die Albaner bereits 4 bis 5 % der Gesamtbevölkerung des Kosovo aus. Diese Albaner waren aber, das machen türkische Steuerregister deutlich, bereits in einem Prozeß der Slawisierung befindlich. 4

Allerdings führte der über Jahrhunderte dauernde Abbau und die zeitweise inkompetente Mißwirtschaft zu der Verarmung der Region. Die Industrialisierungsstrategie des ehemaligen Jugoslawien beschränkte sich im Kosovo neben der Agrarwirtschaft ziemlich einseitig auf den Abbau der Bodenschätze. Somit konnte die Kapazität der Arbeitsplätze, die hauptsächlich auf diese beiden Wirtschaftszweige aufgeteilt war, mit der rapide steigenden Bevölkerungszahl, die sich seit der Nachkriegszeit mehr als verdoppelt hat, nicht mithalten. 6

1.1.4 Die Schlacht auf dem Amselfeld und ihr Mythos

Das große Serbische Reich des Mittelalters starb im Kosovo. Die Schlacht auf dem Amselfeld, am Veitstag 1389, in der serbischen Mythologie in einen Sieg umgedeutet, besiegelte das Ende eines Imperiums, das einst von der Donau bis zur Adria und Agäis reichte. 9 Nur weniges ist über diese schicksalhafte Schlacht bekannt. Sicher ist, daß die beiden großen Herrscher Prinz Lazar und der Sultan des osmanischen Reiches Murat, ihr Leben auf dem Schlachtfeld ließen. Sicher ist auch, daß der Ausgang der Schlacht einen historischen Wendepunkt für das serbische Reich darstellte. Der serbische Feudalstaat, die Nemanjiden-Dynastie, war besiegt. Es existieren keine Augenzeugenberichte über den Hergang der Schlacht. Daß der Mythos überhaupt entstehen konnte, wird zum Teil der serbischen Kirche zugeschrieben. Sie war es auch, die den Tag der Niederlage - nach dem modernen Kalender der 28. Juni - feierte. Sie interpretierte Lazars Tod als Märtyrertum: Er opferte sich zum Wohl des serbischen Volkes. Er nahm den Tod willentlich und mit Freude an. Das machte ihn zum eigentlichen Sieger der Schlacht. 10 Für die weitere Verbreitung des Mythos werden zahlreiche Volksepen angeführt, welche allerdings erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschrieben worden sind. Ihre Tradition läßt sich aber durch mündliche Überlieferungen und Volkslieder seit 1389 nachvollziehen. Nach Malcolm ist der populäre Kosovo-Mythos ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Of all these elements of the Kosovo myth which was formed in the nineteenth century, none has been more powerful than the ‚Kosovo covenant‘. This is the idea that Lazar was offered a choice between an earthly kingdom and a heavenly one, and that he chose the latter; because of his decision, described as a covenant with god, the Serbs are often said to consider themselves as a ‚heavenly people‘. 11 Die serbische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts verwob den Exodus als Teil der serbischen Mythologie. Der britische Historiker verweist darauf, daß serbische Schriftsteller die Niederlage auf dem Amselfeld mit der Kreuzigung Christi verglichen hätten. Der Auszug der Serben aus dem Kosovo käme dem Tod Christi und seiner Beerdigung gleich, während die Auferstehung die Eroberung des Kosovos im Jahre 1912 bedeutete. 12

Wie die weitere Geschichte zeigen wird, war der Mythos des Amselfeldes Teil der entstandenen Ideologie, die zur Legitimation von separatistischer

Handlungsweise, Manipulation durch nationalistische Führungskräfte und die Schürung von ethnischen Konflikten führten.

Entgegen der weitverbreiteten jugoslawischen Meinung, die osmanische Herrschaft sei eine durchgängige Zeit der Tyrannei und Unterdrückung gewesen, stellt Malcolm ein anderes Bild dar. Far from imposing an utterly alien system, the Ottoman Empire did in fact preserve and develop many of the features of life - administrative, social, ceremonial and so on - which it found in ist conquered Christian states. 14 Unter den Osmanen genossen die einzelnen Religionsgemeinschaften, hauptsächlich die christlich orthodoxe, die armenische und die jüdische, in religiöser und kultureller Hinsicht eine weitgehende Selbstverwaltung. Grundsätzlich wurde die Bevölkerung in zwei Klassen eingeteilt: die militärische, die in die Kämpfe zog und die andere, die dafür bezahlte. Christliche Familien gehörten generell zu Bürgern zweiter Klasse und mußten auch mehr Steuern zahlen. Sie durften auch kein Land besitzen, sondern waren den muslimischen Lehnsherren unterstellt. Daher wird der wirtschaftliche Faktor, der manche dazu brachte den islamischen Glauben anzunehmen, keine unerhebliche Rolle gespielt haben. 15

1.1.6 Der serbische Exodus

Im Verlauf des großen Türkenkrieges von 1683 bis 1699 besetzten 1689 Habsburger Truppen das Kosovo. Von der Bevölkerung wurden sie als Befreier begrüßt. Doch wurden sie bereits ein Jahr später von der tartarisch-osmanischen Armee aus Kosovo vertrieben. Mit ihnen zogen zwischen 30 000 und 40 000 Serben ins Habsburger Reich. In der serbischen Geschichte wird dieser Exodus als ‚große Wanderung‘ bezeichnet. Mit der Flucht der Serben begründen die serbischen Historiker die mehrheitliche albanische Bevölkerung im Kosovo. The significance of this relates partly to arguments about the ethnicdemographic history of Kosovo: it is claimed that before 1690 the Albanians were in insignificant minority in Kosovo (or perhaps not there at all), and that only after the exodus of the Serbs did Albanians come flooding in to fill the vacuum they had left. 16 Es ist richtig, daß durch die serbische Abwanderung sich der serbische Siedlungsschwerpunkt nach Norden verlagerte und sich die Bevölkerungszusammensetzung im Kosovo zugunsten der Albaner entwickeln konnte. Seit Ende des 17. und besonders im 18. Jahrhundert zogen viele muslimische Albaner aus dem nordalbanischen Gebirge in den Kosovo. Die tatsächlichen Bevölkerungszahlen vor 1690 lassen sich mit dieser Argumentation jedoch nicht nachweisen.

Während die Großmächte tagten, protestierte - allerdings erfolglos - die albanische Liga bzw. Liga von Prizren gegen die Abtretung albanischer Gebiete an christliche Staaten. Diese, aus albanischen führenden intellektuellen und politischen Kräften zusammengesetzte Liga, verkörperte das Debüt eines modernen albanischen nationalen Bewußtseins. 17 Diese nationale Selbstfindung war allerdings ein schwieriger Weg, denn ein Großteil der Bevölkerung war muslimisch und zu diesem Zeitpunkt noch dem osmanischem Sultan treu; der Rest war katholisch und orthodox. Außerdem waren im Norden, Osten und Süden die Siedlungsgebiete mit anderen ethnischen Gruppen verzahnt. 18

Auf der Botschafterkonferenz in London handelten die Großmächte die Grenzen Albaniens aus und am 31. Juli 1913 wurde das unabhängige Fürstentum Albanien geschaffen. Kosovo wurde ohne große Debatten Serbien zugesprochen. 21

1.2.1 Der erste Weltkrieg

Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Die Serben reagierten mit dem Vorstoß in albanisches Staatsgebiet und eroberten im Juni 1915 Tirana und Elbasan. Doch bereits im September mußten sie sich von dort nach Kosovo zurückziehen. Im November besetzten bulgarische und österreichische Truppen das Kosovo, welche von der albanischen Bevölkerung enthusiastisch begrüßt wurden. Das Gebiet wurde zwischen den beiden Staaten aufgeteilt. In der östereichischen Besatzungszone wurde eine albanische Verwaltung eingerichtet und albanischsprachige Schulen eröffnet. Im Sommer 1918 wurde die Donaumonarchie von der in der Entente alliierten Großmächte (Italien, Frankreich, Griechenland, Serbien) geschlagen. Bulgarien kapitulierte am 29. September 1918 und auch die deutschen und habsburgerischen Truppen zogen sich zurück. Belgrad wurde zurückerobert und das Kosovo wieder Serbien angegliedert. 22

1.2.3 Das Problem der Albaner

Obschon die Albaner ein Recht auf die in der 1919 festgelegten Konvention zum Schutz von Minderheiten gehabt hätten, wurde ihre albanische Existenz von der jugoslawischen Seite verleugnet. A statement drawn up by the Yugoslav delegation at the League of Nations, in response to Albanian criticisms in 1929 plainly said: ‚Our position has always been that in our southern regions, which have been integral parts of our state or were annexed to our kingdom before 1 January 1919, there are no national minorities. This position is still our last word on the question of the recognition of minorities in Southern Serbia.‘. 24 Unabhängigen Schätzungen zufolge lebten aber in den zwanziger Jahren etwa 700 000 Albanier in Jugoslawien. 1931 sollen es bereits 800 000 gewesen sein. Noel Malcolm vermutet, daß die Ignoranz der albanischen Existenz auf einen wesentlichen Punkt zurückzuführen ist: So wurden die Albaner nicht im ethnischen oder nationalen Sinn betrachtet. Sie galten als Serben, die albanisch sprachen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden viele nationalistische und antialbanische Thesen entwickelt, die zuerst im serbischen Königreich und später im jugoslawischen Staat übernommen wurden. A flood of books produced in 1912-13 to justify the Serbian conquest had emphasized this theme, although it was often blithely combined with the claim that the Albanians were sub-human. 25

Zwischen den beiden Weltkriegen kam es zu einer Neuverteilung von 200 000 ha Land. Der Anteil der slawischen Bevölkerung stieg zwischen 1919 und 1928 von 24 auf 28%. Doch war es ein kurzer Erfolg. Die schlechte Infrastruktur, der Mangel an Geräten, die korrupten Behörden und die gewalttätigen Übergriffe auf die Kolonisten, bewogen viele Familien zur Rückkehr in ihre Heimat. 26 Ab 1935 versuchte die Regierung in Belgrad mit einem Enteignungsprogramm, die albanische Bevölkerung zum Verlassen des Landes zu bewegen. Jeder albanische Bauer sollte nur noch 0,4 ha Land behalten dürfen. 27 1938 wurde mit der türkischen Regierung ein Abkommen getroffen, wonach etwa 200 000 Albaner, Türken, Moslems aus Kosovo und Mazedonien in die Türkei umgesiedelt werden sollten. Für jede Familie sollte bezahlt werden. Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs verhinderte diesen Handel. Doch hatten bereits zwischen 90 000 und 150 000 Albaner das Kosovo verlassen. 28 Ein mit der Türkei 1953 unterzeichnetes Abkommen sah die erneute Umsiedlung von der als ‚Türken‘ deklarierten, größtenteils sich aus der albanischen Ethnie zusammensetzenden Bevölkerung vor. Schätzungen zufolge haben zwischen 1945 und 1966 240 000 ‚Türken‘ ihre Heimat verlassen. 29 Im Sommer 1991 wurde ein weiteres Kolonisationsprogramm eingeleitet, um der serbischen Abwanderung aus dem Kosovo entgegenzuwirken. Rückkehrwilligen Serben und Montenegrinern wurden fünf Hektar Land zugesichert. Doch das Programm kam erst 1994 nach der Vertreibung der serbischen Bevölkerung aus Kroatien und Bosnien zur Anwendung. Im Herbst desselben Jahres wurden 6 000 Serben von den Behörden in Belgrad nach Kosovo geschickt. Nach der Vertreibung aus der Krajina 1995 sollten 20 000 serbische Flüchtlinge im Kosovo angesiedelt werden, welche sich allerdings weigerten. Gleichzeitig kam es zu einer massiven Abwanderung der albanischen Bevölkerung. Bis 1993 sollen etwa 370 000 Albaner das ehemalige Jugoslawien verlassen haben. 30

im Kosovo. Folgenreich war das 1937 erschienene Memorandum des serbischen Wissenschaftlers Vasa Čubrilovič: Es ist unmöglich, die Albaner lediglich durch schrittweise Kolonisation zurückzuschlagen; es ist das einzige Volk, dem es nicht nur gelang, während des letzten Jahrtausends im Kern unseres Staates, Raška und Zeta, zu überleben; es brachte uns vielmehr auch Schaden, indem es unsere ethnischen Grenzen nach Norden und Osten verschob. 31 Das wohl bekannteste Pamphlet ist das Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Diese Schrift, 1986 von führenden Intellektuellen veröffentlicht, wollte die serbische Frage neu diskutiert wissen. Nach Ansicht der Autoren könne man diese nur lösen, wenn man die von den Albanern ausgehende Gefahr eindämme, die durch die 1974 gewährte Autonomie gesteigert worden war. Die Muslime, die sich außerhalb der Gesetze bewegten, konnten so die nichtmuslimische Bevölkerung ungestraft, in einer Art und Weise, die für Europäer kaum vorstellbar ist, mißhandeln. [...] Ohne irgendwelche Schutzmaßnahmen durch die Behörden wurden Serben angegriffen und ermordet; serbische Frauen vergewaltigt, das Vieh verstümmelt, Häuser in Brand gesteckt, Obstgärten niedergebrannt, Brunnen vergiftet. 32 Die beiden zitierten Schriften waren richtungsweisend für das politische, ideologische und auch ethnische Verhalten gegenüber den Albanern und zeigen zudem den Ansatz von einer systematischen Kampagne, in der Bevölkerung eine Abneigung gegen die Albaner zu schüren, die die nationalistischen Führungskräfte später aufgriffen.

Albanischsprachige Schulen wurden eröffnet, eine albanische Gendarmerie eingerichtet und albanische Beamten in den Ämtern eingestellt. In der deutschen Besatzungszone erhielten die Albaner zwar keine lokalen Selbstverwaltungsrechte, jedoch wurden albanische Banden bei der Vertreibung und Ermordung von serbischen und montegrinischen Kolonisten unterstützt. Hitlers Plan, eine ethnisch homogenisierte Zone einzurichten, war nicht nur im Kosovo erfolgreich. Das kroatische Ustaša-Regime unter Ante Pavelić, das antijugoslawisch, serbenfeindlich, antisemitisch und antikommunistisch eingestellt war, verfolgte die Schaffung eines großkroatischen Reiches unter Einbezug von Bosnien-Herzegowina. Es ging mit bedingungsloser Härte gegen die serbische Bevölkerung und die orthodoxe Kirche vor. Doch diese wußten sich zu wehren. Die traditionellen Freischärlerverbände der Četniks unter der Führung von Draža Mihailović, welche ein großserbisches Reich verfolgten und zudem antialbanisch eingestellt waren, widersetzten sich gegen das Vorgehen des Ustaša-Regimes mit den gleichen Mitteln. Massenmorde, Vertreibungen, Vergeltungsschläge, unter denen hauptsächlich die kroatische und muslimische Bevölkerung zu leiden hatte, waren die Tagesordnung. Einzig die Kommunisten unter der Führung Titos verfolgten ein gesamtjugoslawisches Programm. Sie gingen offensiv und konsequent gegen die Besatzungsmächte vor und mobilisierten mit ihrer Partisanenbewegung die Bevölkerung zu einem gemeinsamen Widerstand. Auch hier kam es zu Rache- und Vergeltungsmaßnahmen. 33

vom Recht auf Selbstbestimmung der Völker mit einschließender Sezession. Tito distanzierte sich allerdings später von diesem Aufruf. Kosovo-Metohija is an area with a majority Albanian population, which now as always in the past, wish to be united with Albania ... The only way that the Albanians of Kosovo-Metohija can be united with Albania is through a common struggle with the other peoples of Yugoslavia against the occupiers and their lackeys. For the only way freedom can be achieved is if all peoples, including the Albanians, have the possibility of deciding on their own destiny, with the right to self-determination, up to and including secession. 34

Die Geheimpolizei - an ihrer Spitze der Vizepräsident Aleksandar Rancović - verfolgte und mißhandelte jene, die die Vereinigung mit Albanien anstrebten. Innerhalb der Geheimpolizei dominierten Serben und Montenegriner mit 86%, was zu einer zusätzlichen ethnischen Polarisierung führte. Die Beschränkungen der Religionsfreiheit, das Verbot der Koranschulen, die Registrierung der muslimischen Bevölkerung als Türken führten zu einer weiteren Entfremdung der muslimischen Bevölkerung. 1966 wurde Aleksandar Ranković von Tito abgesetzt. Somit setzte er der Politik von Mißachtung und Unterdrückung ein Ende. 37

1.3.2 Das Ende der Ära Tito

Mit dem Ableben Titos am 4. Mai 1980 veränderte sich das Leben in Jugoslawien. Acht Vertreter der Republiken und der Autonomen Provinzen sollten in einem Kollektiv die politische Führung übernehmen und abwechselnd die Regierungsgeschäfte führen. Doch das Experiment scheiterte. Die in den achtziger Jahren verstärkte Anhäufung von Macht und Ressourcen in den regionalen Subzentren Jugoslawiens bildete dann auch die praktische Voraussetzung dafür, daß die Republiken sowohl politisch als auch wirtschaftlich sich immer weiter auseinanderentwickelten und schließlich an der Jahreswende 1989/90 den jugoslawischen Staatsverband sprengten. 39 Gleichzeitig artikulierten sich nationalistische Ideen, die während Titos Herrschaft unterdrückt worden waren. Die Greueltaten des zweiten Weltkrieges wurden heraufbeschworen, um die einzelnen Völker immer mehr voneinander abzugrenzen. Nationalbewußte Historiker, Politiker, Intellektuelle und staatliche

Medien schürten in ganz Jugoslawien mit nationalistischen Parolen und Schriften eine gefährliche Stimmung.

Bereits 1981 war es in Prishtina zu Studentenprotesten gekommen, auf die Demonstrationen in anderen Städten folgten. Kritikpunkt waren die unerträglichen Verhältnisse und die allgemeine Unzufriedenheit mit der politischen Führung. Immer häufiger waren auf diesen Kundgebungen nationalistische Parolen zu vernehmen. Die Aufstände wurden gewaltsam niedergeschlagen. Die erste serbische nationalistische Massenkundgebung in der Ära nach Tito fand 1983 bei dem Begräbnis von Aleksandar Ranković statt. Die Schuld an der eigenen miserablen Lage wurde den Albanern zugesprochen. Seit ihrem autonomen Status würden Serben bedroht und aus der Provinz gedrängt, hieß es. Der Unmut und die Unruhen trugen wesentlich zur Polarisierung der serbischen und albanischen Volksgruppe bei. 40

1987 wurde er als Stellvertreter des serbischen Parteivorsitzenden Ivan Stambolić in den Kosovo geschickt, um sich einen Eindruck von der dortigen Lage zu verschaffen. Aufgebrachte Bürger klagten über die schlimmen Bedingungen, während es vor dem Gebäude zu Kampfhandlungen zwischen serbischen Demonstranten und der lokalen Polizei kam. Mit tatkräftiger Unterstützung von Radio Televizija Serbija, daß diese Szenen regelmäßig ausstrahlte, stieg Milošević zu einer nationalen Symbolfigur auf. Er verstand es, den serbischen Nationalismus mit sozialem Populismus zu kombinieren und mit Unterstützung der Medien, von Schriftstellern, Historikern und der orthodoxen Kirche eine gewaltige Agitationskampagne loszutreten, die ihn an die Macht hievte. 42 Ende 1987 kam es zu einem Wechsel an der Parteispitze in Serbien. Bei zahlreichen Kundgebungen in Serbien und Montenegro mobilisierte Milošević mit nationalistischen Parolen die Massen für die Aufhebung und Wiederherstellung der Kontrolle der Autonomen Provinzen Kosovo und Vojvodina.

Am 28. Juni 1989 erreichte sein Propagandafeldzug den Höhepunkt seiner bisherigen Karriere. 600 Jahre waren seit der Schlacht und der serbischen Niederlage auf dem Amselfeld vergangen. An diesem schicksalsschweren Ort und vor Tausenden Menschen gelang es Milošević, den Mythos der verlorenen Schlacht neu zu entfachen.

muslimischen Albanern schließen sowie auf die Bereitschaft, sich mit radikalen Methoden dieses „Problems“ zu entledigen. 45

1.3.5 Der Vertrag von Dayton

Auf die Unabhängigkeitserklärung von Slowenien und Kroatien im Juni 1991 erfolgte zügig die Anerkennung der EG für alle Teilrepubliken, die als souveräne Mitglieder in die Staatengemeinschaft aufgenommen werden wollten. Mit den jeweiligen Unabhängigkeitserklärungen wurde der jugoslawische Staatsbund gesprengt und der bis dato unterschwellige Konflikt eskalierte in einen grausamen Bürgerkrieg, der bis zu der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton am 15. Dezember 1995 anhielt. Mit dem Vertrag von Dayton setzten die Albaner ihre Hoffnungen auf die westlichen Mächte, welche jedoch das Kosovo-Problem nur am Rande bearbeiteten. Damit schien die friedliche Politik Rugovas gescheitert, doch das Apartheidssystem ging weiter. 46

Reihe von Anschlägen, während die serbische Seite sich mit ihren paramilitärischen Einheiten zur Wehr setzte.

Am 28. Februar 1998 befahl Milošević den ersten Großeinsatz der serbischen Sonderpolizei gegen die Zentren der UÇK. Panzerfahrzeuge, Artillerie und Hubschrauber griffen nicht nur die Stellungen der Rebellen im Raum Drenica an, sondern richteten sich auch als abschreckende Maßnahme gegen die Zivilbevölkerung. In dem Dorf Quirez wurden 29 Albaner, darunter hauptsächlich Frauen, Greise und Kinder, getötet. Wenige Tage später kamen 58 Albaner, in der Mehrzahl wieder Kinder und Greise, ums Leben. 47

By means of random shootings and artillery bombardements the Serb forces emptied village after village of their inhabitants; the houses were then looted and burnt, and in many cases livestocks were killed and crops destroyed in the fields. Over a period of six month, from April to September 1998, more than 300 Albanian villages were devastated in this way; aid agencies estimated that between 250 000 and 300 000 people were driven from their homes. 49 Auf diplomatischer Seite wurde versucht, dem Wüten der serbischen Miliz Einhalt zu gebieten und mit verschiedenen Abkommen eine friedliche Lösung zu erreichen. Doch waren diese für beide Seiten wenig befriedigend. Erst mit dem Holbrooke-Milošević-Abkommen vom 13. Oktober 1998 schien eine Wende in Sicht.

2 000 OSZE-Beobachter sollten im Kosovo stationiert und unbewaffnete Überflüge der NATO erlaubt werden. Auf Drängen der internationalen Vermittler rief der kosovarische Präsident die bewaffneten Gruppen auf, Zurückhaltung zu üben und das Abkommen zu unterstützen. Die UÇK machte den Waffenstillstand von einem Sicherheitsannex abhängig, der den vollständigen Rückzug der serbischen Sicherheitskräfte und die Ersetzung durch eine kosovarische Polizei vorsah. Der Waffenstillstand währte nur kurz. Am 24. Dezember 1998 kam es in der Gegend von Podujevo zu blutigen Auseinandersetzungen. 50

Mit dem Friedensabkommen von Rambouillet sollte der serbisch-albanische Konflikt beendet werden. Doch dieses Vorhaben schlug fehl, da die serbische Seite ihre Unterschrift verweigerte. Einen Tag später bombardierten 19 NATO- Staatenserbisches Territorium.

Mit dem Ziel ‚eine humanitäre Katastrophe im Kosovo zu vermeiden‘, wie zahlreiche westliche Politiker propagierten, war die NATO gänzlich gescheitert. Nach britischen Angaben wurden mindestens 10 000 albanische Zivilisten getötet und fast 1,5 Millionen vertrieben, die Häuser zerstört und geplündert. Doch mit dem Einzug der internationalen Friedenstruppe (Kfor) war die humanitäre Katastrophe nicht beendet. Aus Angst vor Vergeltung der zurückkehrenden Albaner flohen nach Angaben des UNHCR bis zum Juli mehr als 72 000 Serben. Es kam zu grausamen Racheakten seitens der Albaner auf Serben und Roma.

Ein Jahr schon ist der militärische Konflikt beendet, doch die ethnische Diskrepanz scheint sich stetig zu vergrößern. Meldungen berichten von Auseinandersetzungen in Mitrovica, von dem Unvermögen der Kfor-Truppen den Frieden zu sichern und die Ausweglosigkeit, die verfeindete Bevölkerung zu einem Dialog zu bewegen. Die Regierungen tragen nur wenig zur Konfliktbewältigung bei.

Es existieren einige Untersuchungen über die kulturellen Gemeinsamkeiten und Differenzen der beiden Ethnien im Kosovo. Diese zeigen, daß die Gemeinsamkeiten von kosovarischen Serben und Albanern bis zur Eingliederung des Kosovo in Serbien 1913 die Differenzen überwogen haben. Erst danach trennten sich die beiden Völker kulturell voneinander. 52 Der einzig logische und natürliche Unterschied zwischen Serben und Albanern ist der Sprachliche. Jeder weitere ist künstlich geschürt worden. Sicherlich bestand ein stereotypisiertes Bild der Albaner und der Serben. Dieses war für die Divergenz der beiden Ethnien vorteilhaft. Auf ideologischer und politischer Ebene wurde es aufgegriffen und zu einem Feindbild weiterentwickelt. Das zeigt der Entwicklungsstrang über die zunehmende Diskriminierungslinie der Albaner in diesem Jahrhundert.

Auf politischer Ebene führte die Angliederung Kosovos an Serbien, das Kolonisationsprogramm, der Umgang mit den Albanern in der Ära Rancovic, der Autonomiestatus Kosovos 1974, seine Enthebung durch Milošević und die folgende Apartheidspolitik zu dem jüngsten Konflikt.

Ideologisch betrachtet haben der wiedergeborene Mythos über das Amselfeld, die Memoranden über die Albaner, die propagandistische Haltung von Miloševićs Parteiapparat und Medien den Konflikt in der Bevölkerung angestachelt und geschürt. Doch kann nicht behauptet werden, daß alle Serben die Albaner verabscheuen. Allerdings scheint eine latente Abneigung gegen die Albaner in einem großen Teil der serbischen Bevölkerung zu existieren, deren Ursprung allerdings auf den jüngsten Konflikt zurückzuführen ist und die zielgerechte Förderung durch die Führungskräfte im Verlauf dieses Jahrhunderts zu verantworten hat. Die ethnischen Spannungen im Kosovo sind ein Produkt von gezielter Manipulation der Führungskräfte, von nationalistischer Propaganda und der Unterstützung durch staatliche Medien. Doch auch der Westen ist nicht unschuldig am jüngsten Konflikt. Die langjährigen Sanktionen gegen Serbien führten zu einer erheblichen Schwarzmarktkultur und einem verstärkten Staatsmonopol. Das Bombardement trug seinerseits dazu bei, Miloševićs Machtposition eher zu stärken, als zu schwächen.

Problematisch wird die Suche nach einer neuen Lösungsstrategie. Die NATO hat ihr ‚humanitäres‘ Ziel verfehlt. Zwar konnten die vertriebenen Albaner in ihre

Heimat zurückkehren, doch rächten sie sich an der serbischen Bevölkerung, sowie an Sinti und Roma. Die Menschen im Kosovo verschanzen sich voreinander, aber eine umfassende psychologische Aufklärungsarbeit wird nicht geleistet. Die Friedensschutztruppen sind überfordert. Die Sezession Kosovos von Serbien wird weder von den westlichen Mächten noch von der Regierung in Belgrad verfolgt. Auch wenn der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping zum ersten Jahrestag der NATO-Luftangriffe eine positive Bilanz zieht, so bleibt doch eine Frage bestehen: Kann mit einer kurzen militärischen Intervention ein jahrelanger ethnischer Konflikt gelöst werden? Es ist naiv zu denken, daß Waffen das menschliche Denken und Fühlen in eine friedliche Bahn lenken. Bester Beweis ist der noch lange nicht bereinigte Konflikt zwischen den Serben und Albanern im Kosovo.

2 Peter Handke

Nachdem die historischen Fakten dargestellt worden sind, wird die Literatur zum Zuge kommen. Der österreichische Schriftsteller Peter Handke hat sich in verschiedenen Werken mit der Balkanproblematik auseinandergesetzt. Einige sollen chronologisch beschrieben und ihre Kernaussagen herausgestellt werden. Im folgenden werden die Werke Abschied des Träumers vom Neunten Land / Winterliche Reise und Sommerlicher Nachtrag / Die Fahrt im Einbaum oder das Stück zum Film vom Krieg / Unter Tränen fragend kritisch bearbeitet. Eine Beschreibung seiner protestierenden Haltung zu dem NATO-Bombardement wird seine Meinung verdeutlichen. Desweiteren wird nicht nur der kritisierende, sondern auch der kritisierte Schriftsteller gezeigt.

Da in dieser Arbeit eher sein Standpunkt denn sein literarisches Können betrachtet wird, soll eine treffende Beschreibung von Manfred Mixner kurz seinen literarischen Stil charakterisieren: Das Werk des Schriftstellers Peter Handke ist zu verstehen als phänomenopoetische Analyse von Bewußtseinsbewegungen und -erfahrungen, von Empfindungsmöglichkeiten, den ästhetischen Ortungen des Ichs, von dessen Siegen und Niederlagen, von Wiederholungen, plötzlicher Abwesenheit, von den alten Maßen, dem „Es war einmal“, der immer neuen Hoffnung, der Mauerschau und der Sehnsucht nach dem Ganzen. 53

2.1 Biographie

Möglicherweise gründet seine Balkanliebe und sein dortiges Engagement in seiner eigenen Familiengeschichte. Am 6.12.1942 in Altenmark in der Gemeinde Griffen (Kärnten) geboren, wächst er in Deutschland und Österreich als Kind einer slowenischen Mutter und eines deutschen Vaters auf. Nach der Schule beginnt er ein Studium der Rechtswissenschaften in Graz. 1965 bricht er dieses ab, um sich uneingeschränkt der Schriftstellerei zu widmen. Der Verlag Suhrkamp veröffentlicht seinen Roman Die Hornissen. 1966 tritt er in Princeton vor der Gruppe 47 auf und beschimpft die gegenwärtige deutsche Prosa als ‚läppisch, idiotisch‘ und deklariert sie als ‚Beschreibungsimpotenz‘. Ob als PR-Strategie beabsichtigt oder nicht, mit dem lautstarken Skandal wird das literarische Establishment auf ihn aufmerksam und seine Bücher, die wochenlang auf den Bestseller-Listen stehen, festigen die weitere Laufbahn des Autors. 54 Kontinuierlich veröffentlicht er Romane, Theaterstücke und Erzählungen, welche nicht nur durch seinen markanten, provokanten und der Wahrnehmung verpflichtetem Schreibstil, sondern auch durch ihre poetische Titulierung im Bewußtsein der Leser beständig verweilen: Publikumsbeschimpfung, Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Der kurze Brief zum langen Abschied, Wunschloses Unglück, Die linkshändige Frau, Die Stunde, da wir nichts voneinander wußten. Für seine Werke erhält er zahlreiche Literaturpreise. Jedoch gibt er 1999 aus Protest gegen den NATO-Luftangriff das Preisgeld des Georg-Büchner Preises zurück. Wenngleich er sich in den Jahren zuvor durch seine unkonventionelle Schreibe in der Literaturlandschaft den Ruf eines linken Revolutionären einhandelt, so gerät er im Verlauf der 90er Jahre in heftige Kritik. Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens und dem folgenden Bürgerkrieg nimmt er eine zunehmend abwehrende Haltung gegen die westlichen Medien ein. 1996 fordert er Gerechtigkeit für Serbien. Mit seinem zuerst in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Reisebericht durch Serbien, kritisiert er eine seiner Meinung nach ‚anti-serbische‘ Haltung in den westlichen Medien, beschimpft namhafte Berichterstatter und Zeitungen und löst damit eine kontroverse Debatte aus.

1999 steigert sich sein Einspruch in ein aggressives Veto. Mit dem NATO- Bombenangriffauf Serbien attackiert er in zunehmender Weise die westlichen Journalisten und Politiker. Durch Aktionen wie der Rückgabe des Büchnerpreises, dem Kirchenaustritt, Briefen an die Journalisten und Reisen nach Serbien, ist er in der Öffentlichkeit bald als nicht ernst zunehmender Serbenfreund verschrien. Ein Großteil der literarischen Welt spricht sich gegen ihn aus, doch der Schriftsteller, mittlerweile zum Politikum avanciert, bleibt konsequent.

Er erfährt eine neue Geschichte, welche ihm allerdings mißfällt, da sie ihn von seiner traumhaften Empfindung wegzerrt und den westlichen Grenzen näherbringt. Und dieses historisierende Sprechertum vor allem, verlautbart aus vielen Mündern, in Zeitungen, Monatsschriften, bei Symposien, war es wohl, das dem Gast Sloweniens die Landesdinge jedesmal stärker entrückte in die erwähnte Unwirklichkeit, Ungreifbarkeit, Ungegenwärtigkeit. 57 Bereits mit der Abspaltung Sloweniens widerspricht er vehement dem natürlichen Drang der Völker, eine Autonomie zu erreichen. Das deutsche Magazin Der Spiegel tituliert Jugoslawien als ‚Völkergefängnis‘, und Handke bezeichnet es als ‚Frechheit‘. Der Kommunismus sei längst Legende geworden, Kultur und Wirtschaft seien liberal. 58 Schon 1991 wird Handkes Renitenz, welche sich in den folgenden Jahren konsequent steigert und aggressiver artikuliert, deutlich. Nur mit Zorn und Widerwillen konnte ich aufnehmen, wie jüngst die westlichen Medien einen Typen als Helden hinstellten, der in Ljubljana herumsaß mit einem Schild „Das Leben gebe ich her, nicht aber die Freiheit“. Die Slowenen waren frei wie ich und du, innerhalb der Gesetze, die schon lange nicht mehr ausgelegt wurden als die eines autoritären Staates (mit Ausnahmen, wie auch „bei uns“); gewerbefrei, wohnsitzfrei, schrift-und redefrei. 59 Der Autor beurteilt den Austritt Sloweniens als nicht zu rechtfertigenden Vertragsbruch: auch wenn die serbische Übermacht die slowenische Teilrepublik schikaniert habe, so sei es ihr nicht erlaubt, den historischen Staatsvertrag für nichtig zu erklären. Er befürchtet ein ‚Wegdriften‘ von Jugoslawien hin zum Westen. Wenig überzeugend argumentiert er mit einer Gefühls-Logik, indem er das faktische Ungleichgewicht der zu tragenden Staatslasten verharmlost und dem slowenischen Volk unterstellt, daß es niemals einen Staatentraum verfolgt habe. Daraus schlußfolgert er, daß die Sezession Sloweniens nicht aus eigenem Antrieb erfolgte, sondern dem Volk ‚von außen‘ eingeredet worden war. 60 Wenn mit der geschickten Formulierung ‚von außen‘ die slowenische Führungselite gemeint ist, dann kann ihm zugestimmt werden. Ist der Westen gemeint, muß ihm widersprochen werden. Denn dann ignoriert er die Fakten.

Unmut der relativ hoch entwickelten Republiken über die Verpflichtung zur Wirtschaftshilfe [...] 61 Weitere Indikatoren für den gewollten Einzelgang der reichen Republiken waren die eingeführte Selbstverwaltung und die großzügige Föderalisierung, die es ermöglichten, daß sich die Teilrepubliken seit den siebziger Jahren auseinanderentwickeln konnten. Hohe Inflationsraten sowie partielle Preiskontrollen verschlechterten den Handel der rohstoffproduzierenden Republiken innerhalb der jugoslawischen Föderation und schafften ein günstigeres Einkommensverhältnis in den reicheren Republiken. Mit den Unabhängigkeitserklärungen konnten Slowenien und Kroatien sich von der Pflicht befreien, ärmere Teilrepubliken durch eine Zahlung in den Bundesfond finanziell zu unterstützen. 62

Zudem wurde nach Titos Tod und dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks eine neue Orientierung benötigt, um die sozialen Ängste, die durch den wirtschaftlichen Kollaps entstanden waren, einzudämmen. Daher setzte man auf politischer Ebene in ganz Jugoslawien verstärkt auf die nationale Karte. Sicherlich kann nicht bestritten werden, daß durch die zügige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch Deutschland der Verfall der jugoslawischen Föderation schneller voranschritt. Fraglich ist allerdings, ob man der deutschen bzw. der westlichen Haltung die alleinige Schuld dafür geben kann, daß die Bundesrepublik Jugoslawien auseinandergebrochen ist. Wenn es eine Schuldzuweisung geben muß, dann soll sie geteilt, gedrittelt oder gevierteilt werden. Eine einseitige Schuldzuweisung ist in der Balkanproblematik deplaciert.

Verantwortlichen und findet sie in Politik und Medien. Wenn an Handke bereits hier Kritik geübt werden kann, dann liegt diese in der naiven Fixierung eines irrealen Traumes. Indem er Titos Jugoslawien glorifiziert, sich vor allen daliegenden Fakten verschließt, kreiert er sein ‚Neuntes Land‘, was einerseits nicht existent ist, doch für ihn, den Träumer, Wirklichkeit symbolisiert. Er erschafft eine illusionäre Realität, die ihn vor dem Blick zu dem zu verabscheuenden Westen bewahrt.

Doch darf für die weitere Interpretation nicht vergessen werden, daß seine Balkanwerke immer von einem subjektiven Punkt ausgehen: es ist seine Sicht, sein Blick und die eigene Wahrnehmung, welche ihn von Widerspruch zur ostentativer Abwendung vom für gültig Erklärten provozieren. Peter Handke erklärt wenig allgemeingültiges: indem er seinen eigenen Eindruck und seine Erfahrungen in eine für ihn gültige politische Geschichte verwandelt, zaubert er sich eine poetische Welt, in der er sich stetig zwischen Wahrheit und Illusion fortbewegt. Was er - und nur er - so - und nur so - gesehen hat, weil eben nur er, Handke aufgrund seines ganz besonderen Kontakts zu dieser Region es so hat sehen können: dies bildet in der „Winterlichen Reise“ dann das eigentliche Movens der Beobachtungen. 64 Dieser Linie folgt Handke unbeirrt in seinen weiteren Werken. Das System ist einfach: Zwischen Wahrnehmung der machtpolitischen Verhältnisse, dem gewahr werden von Angreifer und Angegriffenem, wächst seine moralische Pflicht, dem mit Unrecht Beschuldigten zu verteidigen und den Schuldigen zu suchen. In diesem Fall sind es die westlichen Medien, die ein Bild über das serbische Volk skizzieren, welches für den Schriftsteller falsch und verlogen ist.

beleuchtet werden, so interpretiert er diese als Spiegelungen und Verspiegelungen. Peter Handke will auf seiner Reise durch Serbien nicht erkannt werden: weder als Reisender noch als Ausländer. Die Dörfer und die kleinen Städte sind es, die ihn reizen. 66

Final del extracto de 100 páginas

Detalles

Título
Peter Handke im Kreuzfeuer - Der Kosovo-Konflikt, die Haltung der Medien und die Intellektuellendebatte
Universidad
Ruhr-University of Bochum
Calificación
2
Autor
Año
2000
Páginas
100
No. de catálogo
V185688
ISBN (Ebook)
9783656981299
ISBN (Libro)
9783869430362
Tamaño de fichero
1110 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
peter, handke, kreuzfeuer, kosovo-konflikt, haltung, medien, interlektuellendebatte
Citar trabajo
Claudia Behr (Autor), 2000, Peter Handke im Kreuzfeuer - Der Kosovo-Konflikt, die Haltung der Medien und die Intellektuellendebatte, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185688

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