Uneheliche Schwangerschaft und Kindsmord in ausgewählten Texten des Sturm und Drang und der Romantik


Examensarbeit, 2002

85 Seiten, Note: 2.5


Leseprobe


Freie Universität Berlin Institut für Deutsche Philologie

Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der ersten Staatsprüfung für das Lehramt der Sekundarstufe II (Studienrat)

Dem Prüfungsamt für Lehramtsprüfungen Berlin Im Landesschulamt

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit wird sich mit dem Thema der unehelichen Schwangerschaft und dem zumeist damit verbundenen Kindsmord beschäftigen. Schwerpunktartig wird dabei der Zeitraum von 1770 bis 1810 untersucht. Bei dem folgenden Motivvergleich werde ich mich auf zwei Werke beschränken - die Novelle „Die Marquise von O...“ von Heinrich von Kleist und das Trauerspiel „Die Kindermörderin“ von Heinrich Leopold Wagner. Ich habe mich für diese beiden Werke entschieden, da sie eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten und konträren Eigenschaften aufweisen. Sie beschäftigen sich mit der Thematik der unehelichen Schwangerschaft, doch sind deren Ende und die im weiteren dargestellte Problematik grundverschieden. Die Marquise von O... gewinnt an Autonomie und Stärke durch die Folgen ihrer Schwangerschaft, Evchen zerbricht daran und tötet im Schlussakt ihr neugeborenes Kind. Die Protagonistinnen reagieren auf die gesellschaftlichen Zwänge, die familiäre Moralität und auf ihre Schande grundverschieden: daraus resultieren die unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten. Mit der detaillierten Erläuterung meiner Textauswahl möchte ich mich zu Beginn meiner Arbeit befassen. Dabei werden Parallelen und Differenzen herauskristallisiert und mit anderen Werken der Epoche verglichen.

unterschiedlichen Umgang mit den gesellschaftlichen Konventionen und dem Gebrauch der familiären Liebe ausdrücken lassen.

Der sexuelle Akt und der Verlauf der Schwangerschaft werden in beiden Texten sehr unterschiedlich beschrieben. Diese Ereignisse bilden das Fundament für das spätere Schicksal der Protagonistinnen. Deswegen stellt deren Analyse in meiner Arbeit die Brücke zwischen der Personencharakteristik und dem Umgang der Subjekte mit der Gravidität dar.

Nach der Einzelbetrachtung folgt der Vergleich beider Texte. Dabei werde ich erneut auf Parallelen und Differenzen eingehen. Üben die Literaten in ihren Werken Kritik an den sozialen und juristischen Verhältnissen ihrer Epoche? Dieser These werde ich ebenfalls nachgehen und auch hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausarbeiten.

2 Die Auswahl der Werke

Im 18. und 19. Jahrhundert beschäftigte sich eine Vielzahl von Lyrikern mit dem prekären Thema der unehelichen Schwangerschaft und deren sozialen und gesetzlichen Konsequenzen. Die wohl bekanntesten Werke sind „Verhör einer Kindsmörderin“ und „Des Pfarrers Tochter vom Taubenhain“ von Gottfried August Bürger, „Die Kindesmörderin“ von Friedrich Schiller, „Der Hofmeister“ und „Die Soldaten“ von Jakob Michael Reinhold Lenz und die berühmte „Gretchen-Tragödie“ in „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe. Die Werke zeichnen sich durch ihre kongruente Kritik an der starren Durchführung der Gesetzgebung und die Apathie der Justiz an den individuellen

Umständen der Kindermörderinnen aus. Die Dichter fordern mehr Humanität und Mitleid in der Rechtsprechung und daraus resultierend Gerechtigkeit für die Täterinnen. Bei meinem Motivvergleich werde ich mich jedoch auf zwei weitere Werke konzentrieren. Dabei handelt es sich um „Die Marquise von O...“ von Heinrich von Kleist und „Die Kindermörderin“ von Heinrich Leopold Wagner. Ich habe mich für die oben genannten Werke entschieden, da beide Protagonistinnen mit der gesellschaftlichen Verfemung, dem Ausschluss aus der Familie und dem Zerbrechen ihres eigenen Selbstbildes zu kämpfen haben. Endlich findet die Marquise von O... einen Weg aus ihrer prekären Situation und das Werk Kleists einen glücklichen Schluss. Konträr inszeniert Wagner sein Trauerspiel, indem er Evchen an infamen Briefintrigen, dem Tod ihrer Mutter und an ihrer Hoffnungslosigkeit zerbrechen lässt. Der Vorhang fällt kurz nachdem die Protagonistin ihr neugeborenes Kind umgebracht hat.

Bei der „Marquise von O...“ erfährt die Zukunft der Protagonisten eine positive Wende und die werdende Mutter heiratet den Vater ihres Kindes. Ganz anders verläuft das Schicksal bei der „Kindermörderin“. Die Protagonistin, Evchen, sieht keinen anderen Ausweg aus ihrer misslichen Lage als den Mord an ihrem Kind.

„Noch blieb mir immer wenigstens ein Schatten von Hofnung übrig, nun ist auch der verschwunden, und mit ihm alles - nun kann ich nichts mehr, als - (stokt, sieht mitleidsvoll ihr Kind an.)“ 1

Diese Aussage deutet die zukünftigen Geschehnisse an, den klar von Heinrich Leopold Wagner beschriebenen Kindermord und die Hinrichtung: „Das Gesetz, welches die Kindermörderinnen zum Schwerdt verdammt, ist deutlich, und hat seit vielen Jahren keine Exception gelitten “ (K, 84).

Eine weitere Begründung meiner Auswahl dieser Werke ist der unterschiedliche Realitätsbezug. Bei der „Marquise von O...“ werden außerfamiliäre Reaktionen nicht tiefgründiger thematisiert. Es wird kurz „von der Schande, die die Marquise über die Familie gebracht hatte“ 2 , gesprochen, doch nicht näher auf soziale oder gesetzliche Konsequenzen eingegangen. Lediglich die Publikation einer Zeitungsannonce, welche die Marquise aus freien Stücken und gegen die öffentliche Meinung in Auftrag gibt, kann als Folge von bestehenden sozialen Konventionen verstanden werden. Kleist betont, „daß sie [die Marquise], aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn [den Vergewaltiger] zu heiraten.“ (M, 3)

Ganz anders wird die gesellschaftliche, moralische und gesetzliche Problematik im Werk von Heinrich Leopold Wagner beschrieben. Die Szene der unehelich schwangeren Magd (K, 31) ist exemplarisch für das gesellschaftlich orientierte Handeln des Vaters und das bevorstehende Schicksal von Evchen. Wie ich später detaillierter ausführen werde, wurden Unzucht und uneheliche Schwangerschaft gesetzlich verfolgt und gesellschaftlich verfemt.

Im Trauerspiel von Heinrich Leopold Wagner wird daher oftmals auf Gesetze und Vergehen hingewiesen. Die Meinung der Bevölkerung steht im Vordergrund. Exemplarisch sollen die bösen Zungen der Dorfbevölkerung aufgeführt werden, in diesem Fall die der Frau Marthan, welche Evchen avisiert, was man sich über die Familie Humbrecht erzählt (K, 74f.). Hierin wird klar, wie schnell die Reputation einer Familie durch falsche Handlungen oder Gerüchte ruiniert werden kann und wie rasant diese im Dorf ihre Verbreitung finden. Den Konsequenzen ihrer Tat kann Evchen aus diesem Grunde nicht entgehen.

Recht und Unrecht und die damit verbundenen gesetzlichen Folgen werden in der „Kindermörderin“ vermehrt thematisiert - jedoch nicht nur Kindermord, sondern auch andere Vergehen wie zum Beispiel Duellieren, Selbstmord, Diebstahl, Prostitution, Schlägereien, Beleidigungen der Obrigkeit, Muttermord, Verleumdung, Vergewaltigung und die oben genannte Unzucht.

Die Kindsväter kommen aus dem höheren militärischen Stand und sind adliger Abstammung. Der Offizier, der um die Marquise von O... wirbt, wird in der gesamten Novelle als Graf F... tituliert und als Mann mit vortrefflichem Ruf geschildert. Leutnant v. Gröningseck sagt selbst über sich: „ich bin Soldat“ (K, 53), sein Image ist allerdings sehr zweifelhaft, da ihm eine Vielzahl von Liebeleien und Bordellbesuchen nachzuweisen sind. Beide Kindsväter logieren entweder vorübergehend oder für einen längeren Zeitraum bei der Familie der unehelich schwangeren Frau, zumeist vor und

während der Gravidität. In den Werken sind die Schänder über die missliche Lage der werdenden Mütter informiert, noch bevor die Eltern darüber Bescheid wissen.

3.1 Gesellschaftliche, soziale Stellung der Frau

Am 22. Januar 1819 findet Rahel Varnhagen (1771-1833) in einem Brief an Rose im Haag ein passendes Bild für die Situation der Frauen ihrer Zeit:

"... sie haben der beklatschten Regel nach gar keinen Raum für ihre eigenen Füße, müssen sie nur immer dahin setzen, wo der Mann eben stand, und stehen will; und sehen mit ihren Augen die ganze Welt wie etwa einer, der wie ein Baum mit Wurzeln in der Erde verzaubert wäre; jeder Versuch, jeder Wunsch, den unnatürlichen Zustand zu lösen, wird Frivolität genannt; oder noch für strafwürdiges Benehmen gehalten." 3

3.2 Die unehelich schwangere Frau

Die Obrigkeit und die Kirchen verabschiedeten Unzuchtsstrafen für unverheiratete schwangere Frauen. Diese beliefen sich auf Geldstrafen, „für Dienstmädchen in der Regel einen Jahreslohn“ 4 , auf öffentliches Anprangern, wobei die Frauen mit „eisernem Ring um den Hals am Markt stehen (...) >mussten@ oder mit abgeschnittenem Haar und Strohkranz unter Trommeln und Pfeifen durch die Stadt gejagt“ 5 wurden. Eine weitere Strafe für Unzucht war die Leibesstrafe, worunter man das Auspeitschen und den Landesverweis verstand. Die öffentliche Kirchenbuße führte nur die evangelische und reformierte Kirche durch. Der Adel, Hofbeamte und Soldaten waren davon befreit oder kauften sich davon frei. Als Freveltäter musste man im Sündenhemd vor der Gemeinde die delicta carnis (das Fleischverbrechen) bereuen. Die Wirkung dieser Züchtigung beruhte auf ihrem öffentlichen Charakter und sollte, wie jede andere Strafe, als Abschreckung dienen.

Die Frage nach der Verantwortung des Vaters sowie den näheren Ursachen der Schwangerschaft, wie Vergewaltigung oder Inzest, wurde nicht gestellt. Die verurteilten Frauen mussten die öffentlich demonstrierten Konsequenzen der gewollten oder aufgezwungenen Fleischeslust allein ertragen. Doch wie erklärt sich diese harte und erniedrigende Strafe? Weibliche Sexualität wurde ausschließlich auf die Ehe beschränkt, was die Forderung nach unbedingter Keuschheit im vorehelichen Leben nach sich zog. Um die Einhaltung dieser Lehre zu gewährleisten, wurde jeder uneheliche Geschlechtsverkehr mit oben genannten Strafen geahndet. Der Geschlechtsakt wurde nur in Verbindung mit Fortpflanzung akzeptiert, wobei Mutterschaft ausschließlich in der Ehe legitim und sogar eine moralische Pflicht war.

Zu der Strafe von Staat und Kirche kam noch die Missbilligung der Gemeinschaft. Diese lehnte eine ledige Mutterschaft ebenfalls ab und sah in unehelichen Kindern eine potenzielle Belastung. Die Schwangeren mussten unter Spott und dörflichem Gerede leiden. Arbeitgeber entließen die werdenden oder jungen Mütter, meist jedoch nicht aus Gründen der bürgerlichen Sexualmoral, sondern aufgrund der eventuell daraus resultierenden Arbeitsunfähigkeit.

Weiterhin waren die Heiratsaussichten einer ledigen Mutter durch ihr scheinbar leichtfertiges Verhalten zumindest in der Heimatgemeinde oder am Wohnort gemindert, wenn nicht sogar durch die öffentliche Schande gänzlich verwirkt.

Ein weiteres strafrechtlich verfolgtes Delikt war das Verschweigen der Gravidität. Es wurde als Maßnahme zur späteren Kindstötung verstanden. Dienstherren, Hebammen, Freunde und Verwandte hatten die Pflicht, eine Schwangerschaft zu melden. Jeglicher Unterlass wurde mit Strafen geahndet.

3.3 Die Kindermörderin

Einführend möchte ich den Begriff Kindsmörderin definieren. Otto Ulbricht versteht darunter „zuallererst und hauptsächlich die Tötung eines neugeborenen unehelichen Kindes durch seine Mutter. (...) Als Kindermord bezeichneten die Zeitgenossen auch die ab und zu vorkommende Tötung von Kleinkindern (...) durch ihre verheirateten Mütter. (...) Schließlich wurde auch noch die Ermordung von kleinen Kindern durch Fremde als Kindermord bezeichnet.“ 6 An dieser Formulierung kann man erkennen, dass der Kindsmord ein Delikt ist, welcher eine Vielzahl von Facetten aufweist. Die Opfer sind nicht nur Neugeborene, sondern auch Kleinkinder. Die Täter sind nicht nur Mütter, sondern auch andere Familienmitglieder und Fremde. Ein Zusammenhang mit einem „indirekte[n] Selbstmord(...)“ 7 und Kindstötung thematisiert Otto Ulbricht in seiner Abhandlung „Kindsmord und Aufklärung in Deutschland“. In diesem Fall töten Lebensüberdrüssige kleine Kinder, um die Sünde und das entehrende Verbrechen des Selbstmordes zu vermeiden und trotzdem mit dem Leben abschließen zu können. Ich möchte jedoch Delikte ausschließen, die sich eindeutig von dem eigentlichen Kindsmord unterscheiden, und mich mit der Thematik der Neugeborenentötung beschäftigen. Auf die Ermordung eines Säuglings stand eine sehr schwere Verurteilung. Diese wurde auf der Grundlage der Carolina, dem Strafgesetzbuch Karl V., der Peinlichen Halsgerichtsordnung (1532), festgelegt. Der Titel "Peinliche Gerichtsordnung" nennt das Vorgehen: peinlich befragt, abgeleitet von Pein, Schmerz, was als Pseudonym für Folter stand. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde diese Art der Wahrheitsfindung regelmäßig angewandt um Geständnisse zu erpressen. Der Strafvollzug hatte oft rituellen Charakter, wie beim „Säcken“ oder „Pfählen“ 8 . Erst im 18. Jahrhundert wurde die Hinrichtung mit dem Schwert vollzogen, immer noch als öffentliches Spektakel. 1740 wurden teilweise die herkömmlichen Verfahren wie Säcken beziehungsweise Pfählen durch Schwertstrafen (Enthauptungen) ersetzt. Später (1750) wurden auch lebenslängliche Gefängnisstrafen und lange Kerkeraufenthalte eingeführt.

Selbst in Fällen, in denen das Kind totgeboren oder verletzt zur Welt gekommen und bald darauf gestorben war oder man die Frau fälschlicherweise der Mutterschaft verdächtigt hatte, wurde die Angeklagte meist wegen Kindstötung verurteilt. Die Voraussetzung des Strafmaßes war die Auffindung eines toten Neugeborenen oder eine außereheliche Geburt.

Die Erklärung der schweren Bestrafungen des Kindermordes ist sehr facettenreich. Für die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts war die Kindermörderin in erster Linie eine Frau, die sich gegen das Gesetz der Natur und Gott versündigt hatte. Sie handelte gegen den zentralen Bestandteil des Wesens der Frau, die Kinderliebe. Aus diesem Grund ist sie ein Widerspruch in sich. Es fand eine Deklassierung der Täterinnen statt, wobei sie von der „Ebene des Menschlichen hinab (...) unter das Niveau der Tiere“ 9 gesetzt wurden. Empört wurde sich über „solche Kindsmörderin / (...)[die] sich an jhrem eigenen Fleisch vnd Blut / also vnchristlicher vnd vnmenschlicher weiss vergessen vnd vergreiffen “ 10 . Die Meinung über Kindermörderinnen aus diesem Dekret von 1598 wird 1702 gleichermaßen publiziert.

„[D]as dergleichen Gottes-vergessene Kinder-Mörderinnen und Verwahrloserinnen auch der grausamsten wilden Bestien-Natur übertreffen / als welche ihre zur Welt gebrachte Jungen / mit aller Sorgfalt / zu ernähren und zu beschützen pflegen; (...)" 11

Die Frauen wurden also als unmenschlich, unnatürlich und unchristlich verstanden und verfemt.

Aus kirchlicher Sichtweise bestand die Straftat in der Tötung eines neugeborenen und ungetauften Babys, wodurch ihm das himmlische Seelenheil verwehrt blieb. Außerdem widersetzten die Mütter sich der göttlichen Obrigkeit und katapultierten sich aus der christlichen Gesellschaft, was wiederum zum Deportieren aus der sozialen Gemeinschaft führte.

Eine neue Epoche der Rechtsgeschichte beginnt mit der Aufklärung. Hier wird aus der leichtfertigen Dirne, der Hure und der unzüchtigen Weibsperson, die den Einflüsterungen des Teufels erlegen war, ein bemitleidenswertes Opfer. Sie erlag der weiblichen Schwäche und den männlichen Aggressionen. Erstmals wird neben den traditionellen Ursachen (Schande) auch Armut anerkannt.

„Wenn man die Quellen untersuchet, aus denen die Kindsmorde entspringen, so sind es hauptsächlich, die Schande gefallener Mädchen, und die Armuth.“ 12

Das Motiv der Armut und der Schande wird als gleichwertig erachtet. Intellektuelle fordern, dass individuelles Schicksal und verhängnisvolle Umstände beim Strafmass berücksichtig werden sollen. Das Umsetzen dieses Appells soll sich als schwierig und langjährig herausstellen.

3.4 Realität und Literatur

Viele Literaten der Sturm-und-Drang-Epoche übten Kritik an der bürgerlichen Moral, welche die sexuelle Keuschheit der Frau vor der Heirat zum höchsten sittlichen Gut erklärte, die sexuelle Betätigung der Männer vor und außerhalb der Ehe aber als durchaus normal ansah oder zumindest tolerierte. Die Stürmer und Dränger hatten sehr deutlich erkannt, dass unter dieser Doppelmoral überwiegend die Frauen litten. In Heinrich Leopold Wagners „Kindermörderin“ und in Johann Wolfgang von Goethes „Urfaust“ töten die verführten Protagonistinnen Evchen und Gretchen ihr neugeborenes Kind, weil sie die gesellschaftliche Schande, die ein uneheliches Kind damals bedeutete, nicht ertragen können. Doch statt ihr zu entgehen, verfallen sie ihr in doppelter Hinsicht. Sie werden als uneheliche Mütter verfemt und sozial deklassiert. Als Kindsmörderinnen sind sie gesellschaftlich nicht mehr tragbar und werden dem Schafott übergeben. Bei diesen Dramen handelt es sich jedoch nicht nur um eine literarische Übertreibung, sondern ferner um eine Realität des 18. Jahrhunderts. Man geht davon aus, dass Goethe die Anregung zur Gretchenhandlung für seinen „Faust“ aus den Prozessakten der Kindsmörderin Susanne Margaretha Brandt 13 entnommen hat. Diese wurde am 14. Januar 1772 hingerichtet. Über das Drama von Heinrich Leopold Wagner sagte Goethe:

„Er hieß Wagner, (...). Er zeigte sich als ein Strebender, und so war er willkommen. Auch hielt er treu an mir, und weil ich aus allem, was ich vorhatte, kein Geheimnis machte, so erzählte ich ihm wie anderen meine Absicht mit »Faust«, besonders die Katastrophe von Gretchen. Er faßte das Sujet auf, und benutzte es für ein Trauerspiel »Die Kindesmörderinn«. Es war das erste Mal, daß mir jemand etwas von meinen Vorsätzen wegschnappte“ 14 .

Goethes Plagiatsvorwurf muss allerdings mit Vorsicht betrachtet werden. Fakt ist, dass beide Dichter in einem engen freundschaftlichen Kontakt standen und dass eine zeitliche

Nähe der Entstehung von der „Kindermörderin“ und „Faust“ besteht. Doch auch Wagner nahm an den Kindsmordprozessen in Frankfurt und Straßburg teil. Lässt man die Plagiatsvorwürfe außer Acht, so ist die Realitätsnähe beider Werke unverkennbar. Nähe sollte jedoch in diesem Falle stark hervorgehoben werden. Hält man die sozialgeschichtlichen Befunde neben die literarische Bearbeitung des Themas Kindsmord, so fallen einem die Divergenzen zwischen Realität und literarischer Darstellung ins Auge. Schon in der Art der Tötung werden extreme Differenzen aufgezeigt. Wenn es den Kindsmörderinnen möglich war, ließen sie ihre Neugeborenen einfach liegen 15 . Es fand also in den meisten Fällen keine aktive Tötung statt, allenfalls erstickten die Mütter ihre Kinder 16 , um das Schreien zu verhindern, das sie verraten hätte. In der Literatur dagegen entstehen schaurige, brutale Bluttaten daraus. In Goethes „Faust“ ertränkt Gretchen das Kind, in „Des Pfarrers Tochter vom Taubenhain“ von Gottfried August Bürger ersticht Frau Rosette den geborenen Sohn.

„Es wand ihr ein Knäbchen sich weinend vom Schoß, Bei wildem unsäglichen Schmerze. Und als das Knäbchen geboren war, Da riß sie die silberne Nadel vom Haar, Und stieß sie dem Knaben ins Herze. (...)

Sie kratze mit blutigen Nägeln ein Grab, Am schilfigen Unkengestade.“ 17

Noch grausamer wird der Kindsmord bei der „Kindermörderin“ von Heinrich Leopold Wagner geschildert, in dem Evchen ihr Baby mit einer Stecknadel in die Schläfe ersticht, die Wunde küsst, das austretende Blut trinkt und den Geschmack des Blutes beschreibt.

„Evchen. (...) (nimmt eine Stecknadel, und drückt sie dem Kind in Schlaf (...).) (...)

Ha! ein Blutstropfen! den muß ich wegküssen, - noch einer! - auch den! (küßt das Kind an dem verwundeten Schlaf.) - Was ist das? - süß! sehr süß! aber hinten nach bitter - ha, jetzt merk ichs - Blut meines eignen Kinds! - und das trink ich?“ (K, 80)

Um der exemplarischen Darstellung Genüge zu tun, sei noch ein viertes Werk von Anton Matthias Aloysius Sprickmann, „Ida“, genannt. Die Protagonistin zerschmettert ihr

neugeborenes Kind an einem Felsen und leckt anschließend Blut und Gehirn von dessen Kopf.

„O Himmel! Mit wütender Macht Geschleudert am Felsen, zerkracht - Sollt's jammern nicht Felsen und Stein? - Des armen Kindes zart Gebein. Es zuckt noch einmal und winselt, so zirpt Ein armes, zerschlagenes Heimchen - und stirbt.

Deß erwacht die Mutter aus ihrer Wut, Fällt hin über's Kind, und leckt von der Stirne Ihm Blut und Gehirne,

Und rauft sich das Haar, und schlägt sich das Blut Mit rasender Faust aus den Brüsten. Das Herz, in mödrischen Lüsten, Lezt und lezt Nach Blut, nach Blut! Halb schon zerfez, Und immer noch Blut In Zehrender Glut.“ 18

In diesen literarischen Beispielen erkennt man die brutale Darstellung der Kindstötung. Blut wird in allen drei Werken hervorgehoben und macht die Handlung noch anschaulicher. Die Mutter wird bei diesem Delikt zum Tier deklariert. Sie leckt die Wunden ihres toten Kindes, lezt nach Blut und ist von Sinnen aufgrund von mödrischen Lüsten 19 . Sie nimmt kannibalische Züge an, indem sie den Lebenssaft und das Gehirn ihres Kindes isst. Die grässlichen Mordphantasien der Autoren dieser Epoche werden offenkundig.

Literarische Gegenbeispiele lassen sich selbstverständlich auch ausfindig machen, doch in nur einem sehr viel geringeren Ausmaße. Es ist in diesem Zusammenhang „Zerbin oder die neuere Philosophie“ von Jakob Michael Reinhold Lenz zu nennen. Marie hat nach ihren Angaben das Kind tot zur Welt gebracht, mehr wird nicht gesagt.

„Sie wollte sich ihrem Schicksal überlassen und das Schlimmste abwarten, ohne (...) ein Wort davon zu sagen. (...) [K]urz, die Frucht ihrer verbotenen Vertraulichkeit kam, nach ihrem letzten Geständnis, tot auf die Welt.“ 20

Diese Darstellung der persönlichen Beziehung zwischen dem toten Kind und der Mutter scheint die realistischste zu sein, da die angeklagten Frauen versuchten jegliche Bindung zum Neugeborenen zu unterdrücken und zu verdrängen. „Sie leugneten, so weit es ging, auch vor sich selbst die Schwangerschaft, trafen keinerlei Vorsorge für die Aufnahme des

Kindes, erlebten den Geburtsakt, der nur eine minimale Unterbrechung der Arbeit darstellte - eine gefährliche und ungeheure körperliche Belastung! -, als Form des Stuhlgangs, vermieden es, das Neugeborene überhaupt anzusehen, wollten sein Geschlecht nicht wissen.“ 21 Die Kindermörderinnen in der Literatur bauen hingegen eine Beziehung zu dem Baby auf. Das führt erst zum Konflikt, welchen das Delikt der Ermordung eines Menschen im psychischen und moralischen Sinne begründet. Evchen in der „Kindermörderin“ von Wagner umsorgt ihr Kind fünf Wochen, bevor sie es ersticht. Natürlich gibt es auch einige Gegenbeispiele, in denen die Frauen schon vor der Geburt den Tod ihres Kindes geplant haben. Ein Beispiel nennt Otto Ulbricht in seiner Abhandlung:

„So sagte z.B. Dorothea Rolff (Stadt Kiel 1803), ,es sey ihre Absicht gewesen, daß das Kind an der Verblutung sterben solle: sie habe zu diesem Zwecke alle ihre Handlungen unternommen, und deshalb auch ihre Schwangerschaft verheimlichtc.“ 22

Sicherlich werden die passiven wie auch die aktiven Tötungen in der Realität vorgekommen sein, doch die Häufigkeit ist schwer nachzuweisen. Die meisten Angaben der Angeklagten sind aus dem Gerichtsprotokoll zu entnehmen. Das bedeutet, dass viele der Aussagen angesichts der drohenden Strafe ebenso gut Schutzbehauptungen gewesen sein können, was im Nachhinein schwer nachweisbar ist.

In den literarischen Bearbeitungen des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts kommen die Protagonistinnen meist aus relativ gesicherten Verhältnissen. Aufgrund dieser gesellschaftlichen Integration entsteht der Druck, zum Beispiel von der dörflichen Bevölkerung, auf die werdende Mutter. Die soziale Reputation ihrer Familie und ihrer Person ist in Gefahr. Damit gekoppelt sind die finanzielle und berufliche Sicherheit. Otto Ulbricht stellt jedoch eine ganz andere typische Kindermörderin-Figur dar. Aus schleswig-holsteinischem Material des 18. Jahrhunderts 23 lassen sich ganz andere Schlüsse ziehen. Bei Kindermörderinnen handelte es sich meist um Frauen zwischen 20 und 30 Jahren (Durchschnittsalter fast 25 Jahre), welche bei einem Bauern als Dienstmagd beschäftigt waren, aus der ländlichen Unterschicht und ärmlichen familiären Verhältnissen kamen. Meist waren sie Halb- oder Vollwaisen. Weiterhin hatte die typische Kindsmörderin einen guten Ruf, welcher sowohl ihr Verhalten als Dienstmagd

20 Jakob Michael Reinhold Lenz, S. 290

als auch ihre Sexualmoral umfasste. Sie hatte vorher keine andere Straftat begangen, war konfirmiert, hatte Schulbildung und ging regelmäßig in die Kirche 24 . Die Behandlung des Themas Kindsmord hat in der Literatur meist etwas Schablonenhaftes: Ein wollüstiger Adliger (zumeist ein Soldat oder Offizier) verführt eine Bürgerstochter mit Schmeicheleien und Versprechen und verlässt sie dann. Das Mädchen bemerkt ihre Schwangerschaft und wird entweder von ihrem hartherzigen Vater aus dem Haus geworfen (z.B. in der „Marquise von O...“ von Heinrich von Kleist) oder flüchtet aus Angst vor der Reaktion der Eltern (z.B. in der „Kindermörderin“ von Heinrich Leopold Wagner). Nachdem ihr bewusst wird, dass sie der Vater des Babys verlassen hat, tötet sie das Kind in einem Anfall von Wahnsinn auf brutale Art und Weise („Erst, als sie vollendet die blutige Tat, Mußt ach! ihr Wahnsinn sich enden.“ 25 ). Damit wird der Höhepunkt ihrer Verzweiflung aufgezeigt.

Wie oben erwähnt, hatte das Tötungsdelikt in der Realität ein anderes Gesicht. Der Kindsvater kam vorwiegend aus dem gleichen Stand wie die geschwängerte Dienstbotin und Magd. Er ging demzufolge der Arbeit als Knecht, Diener oder Gesellen nach. In den Gerichtsakten tauchen so gut wie nie Adelige oder reiche Bürger als Väter auf. Den Grund findet man vermutlich darin, dass die Versorgung von Mutter und Kind oder die Vertuschung der Tat unkomplizierter war.

Meist wird die Umgebung der unehelich schwangeren Frauen oder Kindermörderinnen wahrheitsgetreu dargestellt: der moralische und gesellschaftliche Druck, der auf ihnen lastet, die bösen Zungen, welche ebenfalls in der „Kindermörderin“ von Wagner und in „Zerbin oder die neuere Philosophie“ thematisiert werden. Sie sind vorwiegend Auslöser des Verlustes der Ehre und des Gewinns der Schande, an denen die werdenden Mütter zerbrechen.

Die unausweichlichen Konsequenzen ihrer Tat werden meist von den Literaten wahrheitsgemäß wiedergegeben. Wie oben schon im Absatz 3.3. erläutert, steht eine schwere Strafe auf Kindsmord, zumeist die Exekution. Jakob Michael Reinhold Lenz spiegelt diese gesetzlichen Maßnahmen in komprimierter Form wider, indem er in „Zerbin oder die neuere Philosophie“ darstellt: „Die Gesetze waren zu streng, der Fall zu deutlich; sie ward enthauptet.“ 26 Auch Gnadengesuche blieben meist ohne Erfolg: „Walter (...) schlug in die Hände. »Ist denn keine Gnade, kein Pardon nicht möglich? Ich will mich dem Gerichtsherrn zu Füßen werfen -«“ 27

Das Motiv des Kindermordes wird ebenfalls selten realitätsnah wiedergegeben. Nur in den wenigsten Fällen wird dieses Delikt im 18. und 19. Jahrhundert mit Rache an dem Kindsvater in Verbindung gebracht.

„Und all' ihre Lieb' ins Herzchen gegeben Da, nimm's! 's will lieben dich ja! Da Humfried! -- -- Hölle! -- Humfried's du! Und habe dich im Schoos? -- Zum Teufel! -- Hu! hu!" -- -- (...)

Deß erwacht die Mutter aus ihrer Wut,“ 28

Zwei Hauptmotive nennt Otto Ulbricht: „Furcht vor Schande lautet die eine, Furcht vor wirtschaftlicher Not, meist verkürzt zur Formel ,soziale Not´, die andere.“ 29 Trotz vieler verschiedener Meinungen kann man beide Aussagen als wahrheitsgetreu akzeptieren. Der Aspekt der Schande findet seinen Widerspruch, wenn man Kindermörderinnen betrachtet, die schon ein oder mehrere uneheliche Kinder zur Welt gebracht haben. Ist ihnen nicht schon im Moment der ersten unehelichen Geburt die Geschlechtsehre aberkannt worden?

„Christina Dorothea Wolgast (Nienwohld/Gut Jersbek 1792) sagte aus: ,Ueberdies hätte sie einen schreck[lichen] Gräuel dafür gehabt, ihre dreimalige dritte Schwangerschaft irgendjemand zu offenbaren, da sie schon vormals ehe sie geheirathet, zwey Kinder erzielet, mithin der Vorwurf, wegen eines izigen derg[leichen] 3ten Kindes, desto ärger und kränkender für sie gewesen seyn würde.´ Die Aussage einer anderen Frau (Anna Dorothea Raben, Stadt Kiel 1805) geht in die gleiche Richtung: Sie sagte auf die Frage nach dem Grund für die Verheimlichung ihrer Schwangerschaft, ,daß sie sich geschämt hätte es zu gestehen, da sie schon ein Kind gehabt´.“ 30

Diese beiden historischen Aussagen bestätigen, dass es noch eine Steigerung der Unehre gibt und diese im Zusammenhang mit der Anzahl der unehelichen Kinder zu verstehen ist. Demzufolge ist festzustellen, dass der uneheliche Koitus der erste Schritt in die Schande bedeutete, ein uneheliches Kind als Unglück interpretiert wurde, allerdings nahm bei einem zweiten Nachkommen ohne Heiratsversprechen oder -urkunde die Unehre ganz persönliche Konturen an. Rüdiger Scholz vertritt die These, dass Schande und soziale Not Hand in Hand gehen. Er behauptet, die „Schande spielt nur insofern eine Rolle, als sie den Verlust der materiellen Existenz zur Folge hat.“ 31 Für den Hausherren und Arbeitgeber war eine unehelich schwangere Dienstmagd, oder gar ein Kleinkind im Haus untragbar. Es hatte eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit der Mutter zur Folge.

Resultierend aus diesem Faktum wurde überwiegend das Arbeitsverhältnis beendet. Das zog wiederum die finanzielle Notlage der Dienstmagd nach sich, was zur hoffnungslosen Situation der jungen Mutter und zum eventuellen Kindsmord führte.

„Der Vater, ein harter und zorniger Mann, Schalt laut die arme Rosette: (...)

Er schlang ihr fliegendes Haar um die Faust; Er hieb sie mit knotigen Riemen. Er hieb, das schallte so schrecklich und laut! Er hieb ihr die samtene Lilienhaut Voll schwellender blutiger Striemen.“ 32

In historischen Prozessakten wird „nicht viel seltener (...) Angst vor den Eltern (oder anderen Verwandten) als Motiv genannt.“ 33 Somit kann bei dieser Darstellung klar eine Übereinstimmung der Literatur und der Realität festgestellt werden. Die Vermischung von tatsächlichen Begebenheiten und künstlerischer Freiheit liegt in der kritischen Betrachtungsweise der Literaten der betrachtenden Epoche. Im nachfolgenden Absatz werde ich weiter auf die Beweggründe der Schriftsteller eingehen.

4 Charakterisierung der Autoren im Kontext der Epoche

Heinrich Leopold Wagner lebte von 1747 bis 1779 und ist als ein Vertreter der Stürmer und Dränger zu verstehen. Er verfasste außer Jugend-Gedichten noch weitere Dramen (z.B. 1775 „Die Reue nach der Tat“), wovon "Die Kindermörderin" in Berlin 1777 aufgeführt wurde, allerdings in einer von Karl Lessing (Bruder von G.E. Lessing) veränderten und völlig entschärften Fassung.

Das Thema des Kindermords und das Schicksal junger Frauen wurde in den Kreisen der Stürmer und Dränger durch die öffentliche Hinrichtung der Kindsmörderin Susanna Margareta Brandt in Frankfurt im Jahre 1772 angeregt. Die Empörung über diese grausame und rückständige Rechtsprechung war besonders unter jungen Juristen sehr groß. H. L. Wagner, J. W. Goethe ("Faust, der Tragödie erster Theil"), J.M.R. Lenz ("Die Soldaten", Komödie), G.A. Bürger ("Die Pfarrerstochter von Taubenhain",

Ballade) und später auch F. Schiller ("Die Kindermörderin", Gedicht) beschäftigten sich mit diesem Thema in der Absicht, auf die öffentliche Meinung einzuwirken. Die Handlung und die Sprache dieser Werke waren dementsprechend provokativ und gefühlsbetont.

Eingebettet sind die Autoren in eine Epoche, in der Unzufriedenheit in Form von Literatur publiziert wurde. Die Thematisierung des Kindermords beweist die Frustration an der Justizpraxis. Die strafrechtlichen Vorgänge gaben Anlass und Anregung zur literarischen Verarbeitung, und die Literatur blieb wiederum nicht ohne Wirkung auf die juristische Beurteilung. Exemplarisch provozierte Heinrich Leopold Wagner eine andere Sichtweisen des Tathergangs. Die Kindermörderin wird nicht nur als Täterin, sondern selbst als Opfer dargestellt. Ihr persönliches Schicksal wurde zum Thema und ihr Handeln als die Konsequenz dessen verstanden.

„Ist durch die Gesetze nicht eine Art von Schande mit der heimlichen Niederkunft verknüpft? Kommt ein Mädchen (...), das sich durch die Schwüre eines Wüstlings hat verführen lassen, infolge ihrer Leichtgläubigkeit nicht in die Notlage, zwischen dem Verlust ihrer Ehre und ihrer unglücklichen Leibesfrucht zu wählen? Ist es nicht Schuld der Gesetze, daß sie in eine so grausame Lage gerät?“ 34

Diese Fragestellung von Friedrich II. verknüpft Moralvorstellung und Kindermord, die Schande wird zum Motiv der Tat. Es wird unter anderem die öffentliche Ahndung der ledigen Mütter durch die Kirchenbuße angeprangert.

Die Darstellung der Schichtzugehörigkeit der Protagonisten ist ein weiterer Kritikpunkt der Literaten an der Gesellschaft. Der Kampf zwischen Adel und Bürgertum wird expliziert und der Adelsstand findet eine negative Inszenierung. Er wird als unmoralische Volksschicht gewertet. Dabei handelt es sich um adelige Verführer, welche sich nicht um die geschwängerte Frau kümmern, sie verlassen und damit die Katastrophe auslösen. Es wird „die Aufrichtigkeit des Bürgertums dem lasterhaften Lebensstil des Adels gegenübergestellt“ 36 . Nach bürgerlichem Verständnis hatte derjenige, welcher unmoralisch lebt und handelt, das Recht zur Führung verloren. Das literarische Motiv der Kindermörderin ist folglich als eine Metapher im Kampf gegen die Vorrechte des Adels und für die Aufhebung der Standesunterschiede zu verstehen.

Ehrbegriff der bürgerlichen Väter und Mütter, „für die der gute Name wichtiger ist als Zuspruch und Hilfe für die Tochter“ 38 , und der Egoismus der Eltern angeprangert. Die oben aufgeführten hartherzigen und cholerischen Haustyrannen, die Väter der Kindermörderinnen, sind Hauptzielscheibe dieser Angriffe. Evchen äußert über ihren Vater in Wagners „Kindermörderin“:

„Sein Zorn ist mir fürchterlich“ (K, 49).

In der „Marquise von O...“ feuert der Vater sogar einen Schuss ab und formuliert den Auszug seiner Tochter aus dem Elternhaus in einem unpersönlichen Brief. Die hoffnungslosen Frauen finden nicht einmal im Schoße ihrer Familie notwendige Hilfestellungen. Um der vermehrten Kindermorde Herr zu werden, hatten selbst Familienangehörige, Hebammen und enge Freunde nach der Carolina die Pflicht, die Schwangerschaft oder gar den Kindermord zu melden.

5 „Marquise von O...“ von Heinrich von Kleist

Die Erzählung von Heinrich von Kleist ist eines seiner bekanntesten und umstrittesten Werke. Seit der Veröffentlichung in der zweiten Ausgabe des „Phöbus“ 39 , im Jahre 1809, hat sie viel Aufregung ausgelöst und eine Fülle von Kritiken und Interpretationen zu Tage gebracht, welche sich mit dem Stoff auseinander setzten. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stand häufig die Protagonistin der Erzählung. Auch mein Hauptaugenmerk wird auf die Figur der Marquise von O... gerichtet sein. Die Analyse dieser Hauptfigur Kleists bezieht sich auf ihre Schicksalsschläge, ihre uneheliche Gravidität und ihren Umgang mit dieser unehrenhaften Situation. Dabei versuche ich, sowohl die gesellschaftlichen Zwänge anzusprechen, unter denen die Marquise in ihrer prekären Situation leidet, als auch die eigene innere Notlage aufzuzeigen, die ihre ganze Kraft in Anspruch nimmt, um nicht dem Wahnsinn oder eventuellen kriminellen Handlungen zu verfallen.

Die Novelle lässt nur eine Diskussionsebene meines Themas zu, die der unehelichen Schwangerschaft. Diese Erzählung steht für eine positive Entwicklung eines negativen Motivs, einer glücklichen Heirat nach einem schrecklichen Weg der Einsamkeit, der Identitätsverwirrung und einer rätselhaften, unehelichen Gravidität. Anfänglich werde ich die einzelnen Figuren charakterisieren, um später ihre Reaktionen auf die uneheliche Schwangerschaft deutlicher hervorheben und begründen zu können. Explizit wird die Vergewaltigung der Marquise durch den Grafen nicht dargestellt. Vielmehr weist Kleist in verschiedenen Textstellen darauf hin und gibt dem Leser die Möglichkeit, den weiteren Verlauf der Novelle vorherzusehen. Mit diesen Passagen werde ich mich im Kapitel 5.2 beschäftigen. Wie endet die „Marquise von O...“ und wie begründet der Autor seinen Schluss? Auf diese Fragestellung gehe ich im letzten Punkt der separaten Analyse der Kleist`schen Novelle ein und versuche die Doktrinen des Autors herauszukristallisieren.

5.1.1 Marquise von O...

Die Figur der Marquise wird in der Erzählung mit herben Schicksalsschlägen konfrontiert, die nicht spurlos an ihr vorübergehen. Sie war bisher immer eingebettet in ein System, in welchem ihre Individualität nicht interessierte. Entweder war sie in der Rolle der Tochter oder der Ehefrau gefangen, festgelegt durch gesellschaftliche Konventionen und in ihrer Entscheidungsfreiheit beschränkt. Schwerwiegende Entscheidungen überließ sie ihrer Familie.

„Der Forstmeister, indem er sich bei ihr niederließ, fragte, wie er ihr denn, was seine Person anbetreffe, gefalle? Die Marquise antwortete, mit einiger Verlegenheit: er gefällt und mißfällt mir; und berief sich auf das Gefühl der anderen.“ (M, 18f.)

Nach der konkreten Feststellung ihrer Schwangerschaft ändert sich jedoch für die junge Witwe alles:

„An ihm [Skandal der Schwangerschaft] setzt die Diabole in all ihren Varianten an und trägt ihr das an Gewalt nach, wovor die Ohnmacht sie bislang beschützt hatte: am üblen Ruf zerbricht die behütete Einheit mit der Familie, sie wird ausgestoßen, denn erst auf den Pistolenschuß hin geht sie ihren selbstgewählten Weg (...), und damit ist sie zum ersten Mal in ihrem Leben ganz auf sich selbst gestellt. (...) Erst jetzt begreift sie die Unmöglichkeit, ihre eigene Existenz und Individualität als Frau und Mutter zu leben, wenn sie sich weiter dem Patronat des Kommandanten unterstellt.“ 40

Nun ist sie gezwungen ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und für sich und ihre Kinder zu kämpfen. Es ist für sie an der Zeit, ihren eigenen Weg einzuschlagen, um nicht von den Ereignissen übermannt zu werden. „- Zerbrechen der Familienidylle und übler Ruf - treibt die Marquise in die existentielle Entscheidungssituation, entweder in unwahrem Außersichsein (ihrer bisherigen Daseinswelt) aufgerieben zu werden oder sich gewaltsam (...) davon zu lösen, sich selbst anzunehmen und die wahre Identität in einem autonomen Akt zu erkämpfen.“ 41 Die Marquise entscheidet sich für selbstbewusstes Handeln und Autonomie. Die gesamte Entwicklung erscheint dem Leser als „die ganze gefährdende Kraft jener Gewalt [...], mit der die Heldin zu sich selbst getrieben wurde.“ 42 Die junge Frau verzweifelt keineswegs an ihrer Situation der unehelichen Schwangerschaft und dem Ausstoß aus ihrer Familie, sondern sammelt sich und begegnet der Herausforderung mit neuer Zuversicht und ungeahnter Kraft. Kleist avisiert, dass „[d]urch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich

plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor. (...) Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, gab sich ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen.“ (M, 29)

Den Rückzug auf ihren Landsitz nutzt die Marquise, um sich für die sonderbare Suche nach ihrem Vergewaltiger zu rüsten. Dieser Schritt bedeutet für sie, dass sie sich gegen alles stellt, an das sie bisher festhielt.

„Was sie dadurch erreicht, ist ein Übergang in eine Identität, die nicht nur innere Ruhe und Festigkeit gewährt, sondern sie zugleich mit der Stärke versieht, deren sie bedarf, wenn sie ihren beispiellosen Schritt in die Öffentlichkeit tun will. (...) Indem sie sich gegen diese Schwäche wendet und diese in dem schmerzhaften Lösungsprozeß gewaltsam besiegt, hebt sie sie auf und macht sie zum Gegenstand ihrer neu erworbenen Identität und Verfügungsgewalt über sich selbst.“ 43

Weiterhin versucht sie, nachdem keine Hilfe von den Eltern zu erwarten ist, wieder Normalität in ihr Leben Einzug zu gewähren. „[A]ls der Schmerz ganz und gar dem heldenmütigen Vorsatz Platz machte, sich mit Stolz gegen die Anfälle der Welt zu rüsten. Sie beschloß, sich ganz in ihr Innerstes zurückzuziehen, sich, mit ausschließendem Eifer, der Erziehung ihrer beiden Kinder zu widmen, (...) Sie machte Anstalten, (...), ihren schönen, aber durch die lange Abwesenheit ein wenig verfallenen Landsitz wieder herzustellen; saß in der Gartenlaube, und dachte, während sie kleine Mützen, und Strümpfe für kleine Beine strickte, wie sie die Zimmer bequem verteilen würde; auch, welches sie mit Büchern füllen, und in welchem die Staffelei am schicklichsten stehen würde.“ (M, 29)

Indem sie die Annonce in der Zeitung publiziert, sprengt sie sämtliche gesellschaftliche Ketten und reagiert mit einer außergewöhnlichen Maßnahme auf die ebenso außergewöhnlichen Umstände, mit denen sie sich konfrontiert sieht. Gerhard Gönner expliziert, dass die Marquise von O... „[m]it jenem Schritt (...) die Fesseln gesellschaftlicher Konventionen ab[streift] und (...) sich für das Wagnis der moralischen Autonomie in einer scheinbar hilflosen Situation“ 44 entscheidet.

Die Schwangerschaft ist also ein auslösender Faktor für eine Reihe von darauf folgenden Begebenheiten. Nur durch diese Schicksalsschläge findet sie ihre eigene Kraft und Identität. Die Marquise wird auf diese Weise als eine Frau exponiert, welche aus eigener Kraft die Verwirrung „auflöst und alles Ungeklärte und Scheinhafte durchbricht.“ 45 Dies

42 Ebd., S. 47

führt zu einer Frauendarstellung, die in unserer heutigen Zeit als Emanzipation bezeichnet werden kann. Die Marquise durchläuft eine Metamorphose von einer untergeordneten Frau, entweder durch die Familie oder den Ehemann definiert, zu einer selbstbewussten, autonomen und willensstarken Person.

5.1.2 Graf F...

„[E]r würde ihr damals nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre.“ (M, 50)

Die Charakterisierung des Grafen als Engel und Teufel erfolgt durch die Marquise. In dieser konträren Doppeldarstellung findet der Protagonist eine göttliche Erhöhung und einen diabolischen Sturz. Beide scheinbaren Charaktereigenschaften existieren nur in der Vorstellung der Marquise und basieren auf der Rettung ihrer Person. Der Graf F... tritt als Beschützer der Protagonistin auf und rettet sie vor der “Rotte“ (M, 4) russischer Scharfschützen und „bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, (...), in den anderen, (...), Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank." (M, 5) Das wohlerzogene Verhalten des Grafen hat augenscheinlich das göttliche Erscheinungsbild intensiviert. Es stellt weiterhin ein Indiz seiner guten Abstammung dar. Der Titel des „Obristleutnant[s] vom t...n“ (M, 6) und der Erwerb von „Verdienst- und mehrerer anderen Orden“ (M, 6) zeigt seine hervorragenden Referenzen, welche Kleist durch die Aussage des Kommandanten nochmals hervorhebt: „Noch hätte er keines jungen Mannes Bekanntschaft gemacht, der, in so kurzer Zeit, so viele vortreffliche Eigenschaften des Charakters entwickelt hätte.“ (M, 13) Diese „vortrefflichen Eigenschaften“ sind charakteristisch für den Grafen, doch eine „nichtswürdige Handlung“ (M, 12) überschattet seine Vollkommenheit, die Vergewaltigung der Marquise. Der Zusammenhang zwischen dem Missbrauch und dem Grafen wird nie im Text explizit genannt. Implizit ergibt sie sich durch die Andeutungen des Protagonisten und durch die Antwort auf die Annonce der Marquise von O..., in der er ebenfalls nicht namentlich genannt wird. Diesen Aspekt werde ich in Kapitel 5.2 erneut aufgreifen.

Im Kriegsfall wird der Graf als ein gewissenhafter, moralisch engagierter und exzellenter Kämpfer dargestellt, was die Vielzahl an Auszeichnungen bestätigt. Einen kriegerischen Anschein macht ebenfalls die Werbung des Protagonisten um die Marquise. Der Forstmeister assoziiert den Entschluss des Grafen, eine Kassation in Kauf zu nehmen, um eine bessere Bekanntschaft mit der Familie G... machen zu können, als eine „Kriegslist“ (M, 14). Seine Beharrlichkeit innerhalb der Werbung um die Dame seines Herzens und seine Zurückhaltung nach der ersten Heirat sind exemplarisch für die Einsicht seines Fehlverhaltens und dem Bemühen einer Wiedergutmachung. Dies demonstriert die

gesellschaftliche Einbindung des Grafen und die moralischen Konventionen, in die er sich einfügt.

5.1.3 Eltern

Die Familie als soziale Institution nimmt eine besondere Stellung ein. Sie erscheint als minimalste Form der Gesellschaft. Sie ist allgemein gültigen Normen unterworfen, was die Mitglieder unter einen sozialen Zwang stellt, unter dem auch die Verstoßung der Marquise durch ihre Eltern erfolgt.

Die Mutter der Marquise erscheint dem Leser in der Rolle der Vermittlerin, ja fast der Kupplerin, welche die Aussöhnung zwischen der Marquise und ihrem Vater herbeiführt. Sie widersetzt sich den Anweisungen ihres Gatten und verfolgt einen lang gehegten Plan. Dieser soll die Wahrheit über das Wissen beziehungsweise Unwissen der Marquise von O... über ihre Schwangerschaft ans Tageslicht bringen. Sie handelt in eigener Regie. Diese Funktion der Kupplerin nimmt sie ebenfalls an anderer Stelle wahr: Sie schlichtet zwischen dem Grafen F... und der Marquise und ist diejenige, die dem Freveltäter, nach der ersten Vermählung, Zugang in ihr Haus verschafft.

“Von diesem Tage an ward er, auf Veranstaltung der Frau von G..., öfter eingeladen; das Haus stand seinem Eintritt offen, es verging bald kein Abend, da er sich nicht darin gezeigt hätte.“ (M, 49)

Demnach folgt die Marquise „[i]m versöhnlichen Ende (...) ihrer Mutter; nicht so sehr dem Rat oder der Einsicht als der List“ 46 .

Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass die Obristin darum bemüht ist, weiteren Schaden von ihrer Familie fernzuhalten und somit wieder der gesellschaftlichen Direktive Folge zu leisten. Der adlige Rang des Grafen stellt dabei nicht nur eine Aufwertung der sozialen Stellung der Marquise, sondern ebenso von deren Familie dar, welche von der Frau von G... gewiss begrüßt wird. Barbara Vinken und Anselm Haverkamp vertreten ebenfalls diese These: „Im Fall der Marquise ist es die Lebensklugheit der Mutter, die um so unbehelligter dem Geschäft des Kuppelns und der Mehrung des Besitzstandes, der Proliferation der Kinder und des Geldes, nachkommt“ 47 .

In diesem Bestreben der Obristin liegt vermutlich das Motiv für die Eigentümlichkeit, dass ausgerechnet die einzige weitere Frauenfigur in der Familie dem Grafen seine Tat als Erstes zu verzeihen scheint.

Hier wird expliziert, dass trotz des patriarchalischen Gesellschaftssystems die Mutter die Fäden in der Hand hält und mit Geschick die Dinge in ihrem Interesse zu leiten vermag.

Es handelt sich demnach auch bei der Darstellung der Obristen um eine autonome Frau, welche den Konventionen der Gesellschaft dennoch sehr stark unterworfen ist.

Familienverband aus. Für Gerhard Gönner „verkörpert er das Paradigma fremdbestimmten und exaltierten Handelns“ 50 , welches wichtig für die explizite Betrachtung der Marquise von O... ist. Er begründet diese These wie folgt:

„Von Gewicht sind solche Beobachtungen deshalb, weil sie die Disposition einer Figur erhellen, auf deren Wort und Tat hin allein die ganze Familie, nicht zuletzt eben die unter sein Patriarchat zurückgekehrte verwitwete Marquise, ihr Dasein bestimmt bzw. bestimmen läßt.“ 51

Dies erklärt demnach die anfängliche untergeordnete Haltung und die Unselbstständigkeit der Protagonistin. Die exzentrischen Reaktionen dokumentieren das teilweise hartherzige Regiment des Kommandanten, des Befehlshabers. Er ist ausführendes Organ und besitzt die Legitimität der Bevormundung und der Kontrolle über die Familienangehörigen.

„Die Strategien der Bevormundung, der Kontrolle des Hausvaters, waren darauf angelegt, Furcht und Liebe zu erzeugen, wobei sich eine Akzentverschiebung in Richtung Liebe und eine allgemeine Emotionalisierung des familialen Gefühlslebens (...) abzeichnete.“ 52

Die Familienliebe offenbart sich durch die Versöhnungsszene zwischen der Marquise und dem Vater. Seine Emotionen werden expliziert, als sein „Gesicht tief zur Erde gebeugt, und [er] weinte.“ (M, 43) Die Zuneigung zu seiner Tochter wird augenscheinlich. Der Bruder der Marquise agiert nur als Sprachrohr des Vaters und der Gesellschaft. Er übermittelt der Marquise den Befehl des Kommandanten, die Kinder zurückzulassen (M, 28) und „unterrichtet [den Grafen] von der Schande, die die Marquise über die Familie gebracht“ (M, 31) hat. In der Schlussszene tritt er zur moralischen Unterstützung seiner

Schwester auf. Er wird als Forstmeister deklariert und geht der Arbeit als Waldaufseher nach. Detaillierteres ist über diese Person aus dem Text nicht in Erfahrung zu bringen.

„Das handelnde Personal ist das der comédie larmoyante, des französischen Gegenstücks des bürgerlichen Trauerspiels: der strenge Vater, die gutmütige (nicht selten kupplerische) Mutter, die scheinbar entehrte, letztlich aber hochtugendhafte Tochter - also die patriarchalisch strukturierte, strengen ethischen Normen verpflichtete Kleinfamilie an der Nahtstelle zwischen Adel und Bürgertum.“ 53

Aufgrund der sozialen Zugehörigkeit bietet die Familie also nicht nur Schutz, sondern sie fordert von ihren Mitgliedern die Einhaltung bestimmter Regeln und Prinzipien, um ihr Fortbestehen innerhalb der Gesellschaft zu gewährleisten.

Auf die gesellschaftliche Reaktion des Skandalons der Protagonistin wird im Text nur indirekt hingewiesen. Es ist „von der Schande [die Rede], die die Marquise über die Familie gebracht hatte“ (M, 31). Wie im Kapitel 3.2 angesprochen, wurde die uneheliche „Schwangerschaft abgelehnt (...) und gesellschaftlich stigmatisiert“ 54 . Kirchliche oder gesetzliche Folgen sind in Kleists Novelle nicht explizit auffindbar. Eine soziale Konsequenz ist nur im Zusammenhang mit dem unehelich geborenen Kind auszumachen. „Nur der Gedanke war ihr [der Marquise] unerträglich, daß dem jungen Wesen (...) ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesellschaft ankleben sollte.“ (M, 30) Einen Ausweg aus diesem Dilemma sucht die Marquise mit Hilfe der Annonce, in der sie den Vater ihres ungeborenen Kindes auffordert, sich ihr vorzustellen „und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen wäre, ihn zu heiraten.“ (M, 3) Einem unehelichen Kind würde die Schande der Mutter anhaften und es würde eine soziale Verfemung aufgrund seiner Herkunft erdulden müssen, aus die es kein Entrinnen gibt. Vor der gesellschaftlichen Verachtung sind die Familienmitglieder der Marquise ebenfalls nicht gefeit. Die werdende Mutter ist zum Zeitpunkt der Schwangerschaft im elterlichen Haus ansässig, wodurch sich die Schande der Familie intensiviert.

52 Martha Kaarsberg Wallach, S. 55

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Uneheliche Schwangerschaft und Kindsmord in ausgewählten Texten des Sturm und Drang und der Romantik
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
2.5
Autor
Jahr
2002
Seiten
85
Katalognummer
V186091
ISBN (eBook)
9783656998921
ISBN (Buch)
9783867468558
Dateigröße
861 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
uneheliche, schwangerschaft, kindsmord, texten, sturm, drang, romantik
Arbeit zitieren
Sandra Boese (Autor:in), 2002, Uneheliche Schwangerschaft und Kindsmord in ausgewählten Texten des Sturm und Drang und der Romantik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186091

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