NS-Gedenkstättenpädagogik im postnazistischen Deutschland als Hilfe zum adäquaten Umgang mit migrantischen Jugendlichen


Diplomarbeit, 2007

130 Seiten, Note: 1.5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Deckblatt

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Teil I. Aufarbeitung der Vergangenheit im postnazistischen Deutschland. Die Überlegungen von Theodor W. Adorno und ein historischer Überblick.
1. Theodor W. Adornos „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?" und „Erziehung nach Auschwitz"
1.1. „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit"
1.2. „Erziehung nach Auschwitz"
2. Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im postnazistischen Deutschland (Ost und West)
2.1. Entnazifizierungen
2.2. Erstes (Nicht-) Gedenken
2.3. „Wiedergutmachung" und Kontinuitäten
2.4. Erster Wandel
2.5. Das befreite Deutschland und seine Identitätskrise
2.6. Historikerstreit
2.7. Veränderte Einstellung
2.8. Zusammenfassung Kriegsende bis 1989
2.9. Wende und Wiedervereinigung
2.10. Die Debatten gehen weiter
2.10.1. Die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-44"
2.10.2. Debatte über die Entschädigung ehemaliger Sklaven- und Zwangsarbeiter

Teil II. Der lange Weg von „Deutschland" zum Einwanderungsland BRD
1. Definition Migration
2. Historischer Abriss
2.1. Migration vor dem Zweiten Weltkrieg
2.2. Migration unter nationalsozialistischer Herrschaft
2.3. Migration im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland
2.4. Migration im Zeichen des Wirtschaftswunders
2.5. Familienzusammenführung und Strukturwandel
2.6. Widersprüchliche Tendenzen in den 80ern
2.7. Migration in der DDR
2.8. Migration im wiedervereinigten Deutschland
2.9. Die BRD wird auch staatsoffiziell zum Einwanderungsland
2.10. Die aktuelle Phase

Teil III. NS-Gedenkstättenpädagogik mit jungen Migranten
1. Jugend, Geschichte und Identität
1.1. Definition: Jugend
1.2. Definition: Identität
1.3. Dimensionen historischer Identität
1.4. Historische Identitäten im Migrationskontext
1.5. Geschichtsbewusstsein und historische Sinnbildung
2. Viola B. Georgis „Entliehene Erinnerung"
2.1. Vorstellung der Ausgangsthesen
2.2. Typenbildung nach Viola B. Georgi
3. Holocaust und Nationalsozialismus als exemplarische Lernfelder
4. NS-Gedenkstättenpädagogik im postnazistischen Deutschland als Hilfe zum adäquaten Umgang mit migrantischen Jugendlichen
4. 1. Erprobte Konzepte im Haus der Wannsee- Konferenz
4.2. Menschenrechtsbildung in Gedenkstätten

Fazit

Literatur- und Quellenverzeichnis

Erklärung

Vorwort

Im Rahmen meines Studiums der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik, an der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit in Saarbrücken, habe ich zwei Praktikas absolviert. In meinem ersten Praktikum bei der Heinrich Böll - Stiftung Saar, lag der Schwerpunkt auf historisch-politischer Bildungsarbeit.

Insbesondere die Thematisierung der nationalsozialistischen Herrschaft und des aktuellen Antisemitismus standen dort auf der Tagesordnung. In meinem zweiten Praktikum, beim Zuwanderungs- und Integrationsbüro der Landeshauptstadt Saarbrücken, standen Fragen der Migration und Integration im Mittelpunkt. Beide Praktikas bekräftigten mein ohnehin schon vorhandenes Interesse in diesen Themenfeldern. Bezüglich der Wahl eines Themas für meine Diplomarbeit war mir schnell klar, dass es mit einem der beiden Themenschwerpunkte zu tun haben sollte. Der Besuch einer Tagung zum Thema „Menschenrechtserziehung - eine Perspektive für die Gedenkstätten ?" Ende Mai 2006 in Saarbrücken, führte schließlich bei mir zu dem Gedanken, anhand der Gedenkstättenthematik beide Themenfelder zu verknüpfen und der Frage nach der Notwendigkeit einer Gedenkstättenpädagogik mit migrantischen Jugendlichen nachzugehen.

Einleitung

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese Tatsache erkennen mittlerweile auch jene Parteien an, die sich lange Zeit gegen diese Einsicht gesträubt haben. Mit dieser Erkenntnis sind aber zahlreiche weitergehende Fragen verknüpft. Wie verändert sich eine Gesellschaft angesichts der Veränderungen in der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung und wie sieht das Verhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft aus? Wo bestehen Unterschiede und wo die Gemeinsamkeiten? Dies sind Fragen die mittlerweile auf der Agenda der aktuellen Regierung stehen. Allerdings sind diese Fragen auch nicht neu und die deutsche Gesellschaft ist auch nicht erst seit Kurzem von Migrationsbewegungen geprägt. Im Gegenteil: Es muss sogar von einer weit zurückgehenden Migrationsgeschichte gesprochen werden. Allerdings erfährt diese bisher keinerlei Würdigung in der Gesellschaft.

Anders sieht es aus mit dem Themenkomplex „Nationalsozialismus und Holocaust". Die Auseinandersetzung mit diesem, ist seit der Gründung der BRD und der DDR fester Bestandteil deutscher Geschichte. Dabei bietet die Thematik immer wieder Stoff zu gesellschaftlichen Debatten von ungeheurer Sprengkraft. So kann in diesem Zusammenhang von einer eigenen Geschichtsgeschichte gesprochen werden.

Zu der Frage, wie die Thematik des Holocaust und des Nationalsozialismus Jugendlichen zu vermitteln ist wurde bereits viel geforscht und veröffentlicht. Ebenso ist das Thema „Bildung und Migration" nicht völlig neu in der wissenschaftlichen Debatte. Allerdings wurden beide Themen bisher nur selten miteinander verknüpft gedacht, obwohl eine solche Verknüpfung im Grunde genommen sehr nahe liegt. Denn bei Fragen der Integration muss selbstverständlich die Befindlichkeit der Aufnahmegesellschaft zu einem Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden. Und die ist in der BRD eng verknüpft mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust. Zahlreiche ehemalige Stätten des Terrors erinnern heute daran.

Ich werde in vorliegender Arbeit nun der Frage nachgehen, inwiefern die NS-Gedenkstättenpädagogik im postnazistischen Deutschland als Hilfe zu einem adäquaten Umgang mit migrantischen Jugendlichen dienlich sein kann.

Dazu habe ich mich entschlossen eine theoretische Arbeit vorzulegen, in der ich den aktuellen Stand der Diskussion darstellen und kommentieren werde.

Darum werde ich mit Adornos „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" und „Erziehung nach Auschwitz" eines der wichtigsten Werke zur Thematik vorstellen und zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen. In einer Darstellung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Erinnerung an NS und Holocaust werde ich deren Bedeutung für die bundesrepublikanische Gesellschaft herausarbeiten.

In einem zweiten Teil werde ich näher auf das Thema der Migration eingehen, und eine Definition dieses Begriffs vornehmen. Es folgt eine Darstellung der Migrationsgeschichte in Deutschland. Dieser Teil mag dem Betrachter auf den ersten Blick recht ausführlich erscheinen. Mir liegt allerdings viel daran darzustellen, dass die Migrationsgeschichte angesichts ihrer Dimensionen, gesamtgesellschaftlich völlig unzureichend diskutiert wird.

Im dritten Teil werde ich schließlich beide Themen miteinander verknüpfen und zahlreiche der auftauchenden Problemstellungen verdeutlichen um schließlich anhand eines Praxisbeispiels Lösungswege aufzuzeigen.

Teil I. Aufarbeitung der Vergangenheit im postnazistischen Deutschland. Die Überlegungen von Theodor W. Adorno und ein historischer Überblick.

1. Theodor W. Adornos „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?” und „Erziehung nach Auschwitz”

„Vor allem muß Aufklärung über das Geschehene einem Vergessen entgegenarbeiten, das nur allzu leicht mit der Rechtfertigung des Vergessenen sich zusammenfindet;"

(Adorno 1959, S. 24)

Diese Worte aus Theodor W. Adornos „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" besitzen nach wie vor Gültigkeit. Ihre Bedeutung wird sich in der nahen Zukunft verstärken, unter den Bedingungen einer fortschreitenden zeitlichen Entfernung zum historischen Nationalsozialismus.

Die Täter und die Überlebenden von damals werden in absehbarer Zeit nicht mehr in der Lage sein zu bezeugen, welche Verbrechen die einen begingen und welches Leid die anderen erfuhren. Somit löst sich die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zivilisationsbruchs, der sich in „Auschwitz" manifestierte, von seinen zeitgenössischen Trägern. Niemand wird mehr in Schulen, auf öffentlichen Veranstaltungen oder in Gesprächskreisen an den Orten des Terrors, von dem eigenen Erleben und Überleben des Naziregimes erzählen können. Die letzten Chancen - auch zur Aufarbeitung der eigenen Familienbiografie -, auf authentische Zeitzeugen zurückgreifen zu können, werden schon bald nicht mehr bestehen. Die Historikerin Ulrike Puvogel fasst diese Umstände folgendermaßen zusammen: „Vor uns liegt ein neues Jahrhundert, in dem die Verbrechen des Nationalsozialismus zu Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts werden und in dem die letzten Überlebenden der Konzentrationslager, aber auch die letzten SS- Männer und Vollzieher des alltäglichen Terrors und der Massenmorde gestorben sein werden und kein Zeugnis mehr ablegen können. Wir tragen die Verantwortung dafür, die Opfer dieser Verbrechen vor dem Vergessen zu bewahren." (Puvogel 1999, S. 25)

In „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit" weist Adorno bereits auf eine Tendenz hin, die Aufarbeitung nicht in dem Sinne verstanden wissen will, „daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen." (Adorno 1959, S. 10)

Einer Aufarbeitung - in diesem negativen Sinne - wird durch den Tod der Überlebenden ein Hindernis genommen - vielleicht das bisher wirksamste. In diesem Kontext sind meines Erachtens - nicht nur, aber auch - die Fälle des Jürgen W. Möllemann und Martin Walser zu betrachten (vgl. Reemtsma 2002a). Jan Philipp Reemtsma plädiert in diesem Zusammenhang für eine deutliche Sprache: „Es ist unrealistisch, zu hoffen, irgendeine europäische Nation - und speziell die deutsche oder österreichische - könne 50, 60, 70 und mehr Jahre nach dem Holocaust von solchen Affekten frei sein. Es ist eben aus diesem Grund unerläßlich, zu verlangen, daß solche Affekte erkannt und benannt werden. Es ist intellektuell unreif und politisch verantwortungslos, im Namen eines Generationswechsels, einer neuen Zeit oder einer allfälligen Historisierung oder Normalisierung eine diesbezügliche Aufmerksamkeit als „Alarmismus" zu denunzieren" (ebd., S. 212). Nehmen Pädagogik und Soziale Arbeit den von Adorno formulierten kategorischen Imperativ ernst, ihr Wirken daran zu orientieren, dass Auschwitz nie wieder sei, so haben sie sich gegen die Bestrebungen zur Ziehung eines Schlussstrichs unter die Geschichte zu wehren. Dies bedeutet zum einen, die Erinnerung wach zu halten an die Opfer des Nationalsozialismus. Zum anderen bedeutet es aber auch die Erinnerung daran wach zu halten, von wem die Taten begangen wurden. Denn „Die Wurzeln sind in den Verfolgern zu suchen" (Adorno 1966, S. 90).

Die Suche nach und das Experimentieren mit Möglichkeiten zu einer Vermittlung dieses Wissens, welches den Ansprüchen einer Erziehung zur Mündigkeit genüge tut, wird eine der großen Herausforderungen dieses und der nächsten Jahrzehnte für die Pädagogik und die Sozialwissenschaften sein.

1.1. „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit”

Das Buch „Erziehung zur Mündigkeit" enthält fixierte Rundfunkbeiträge und -gespräche Adornos. Die Sammlung beginnt mit dem Text „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit". Dabei handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit Formen der Erinnerung bzw. der Nicht-Erinnerung. Das Bedürfnis nach dem „Loskommen" (Adorno 1959, S. 10) von der Vergangenheit hat für ihn eine berechtigte und eine unberechtigte Seite. Der Versuch, dem Schatten der Vergangenheit zu entfliehen ist für Adorno nachvollziehbar, da sich unter ihm und angesichts der Schrecken nationalsozialistischer Herrschaft gar nicht leben lässt. Die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, lebt nach Adorno aber bis ins Hier und Heute fort und somit ist ein Entrinnen gar nicht möglich. Er wirft die Frage danach auf „ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern" (ebd.).

Adorno setzt seine Gedanken fort indem er sich der Begrifflichkeit des Schuldkomplexes widmet und diesen auf seine Bedeutung hin untersucht. Dabei stellt er fest, dass tatsächlich „im Verhältnis zur Vergangenheit viel Neurotisches" (ebd. S.11) zu entdecken ist. Diese Feststellung wird belegt durch die Aufzählung und Demaskierung gängiger Argumentationsmuster derer, die den Schlussstrich gerne schon längst gezogen sehen würden.

Im Weiteren zeigt er aber auf, das dieser der Psychiatrie entlehnte Begriff, selbst Assoziationen in sich birgt, die eine Verharmlosung des Gegenstandes zum Ergebnis haben. Denn „Schuldkomplex" beinhalte die Annahme, dass „das Gefühl der Schuld krankhaft sei, der Realität unangemessen" (ebd. S. 12).

Die These einer gesellschaftlichen Tendenz zur „Zerstörung der Erinnerung" (ebd.) wird von Adorno umgehend daraus entwickelt und notwendig mit der Fortschrittlichkeit des bürgerlichen Prinzips verknüpft. Auf den Punkt gebracht heißt es: „Wenn der Mensch der Erinnerung sich entäußert und sich kurzatmig erschöpft in der Anpassung ans je Gegenwärtige, so spiegelt sich darin ein objektives Entwicklungsgesetz" (ebd. S. 13).

Damit ist gemeint, dass das Verschwinden der konkreten Zeit aus der industriellen Produktion und das universelle Tauschprinzip, welches an sich auch zeitlos ist, es begünstigen, „daß Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft selber als eine Art irrationaler Rest liquidiert werden" (ebd.).

Diese gesellschaftlichen Bedingungen sind für Adorno gegenüber den psychopathologischen Erklärungen die weitaus Bedeutsameren, um das „Vergessen" des Nationalsozialismus zu begreifen.

Weiterhin beschäftigt er sich mit der Frage, welchen Stellenwert die Demokratie in der Bundesrepublik hat. Das Nichtineinanderfallen der Demokratisierung und des wirtschaftlichen Hochliberalismus und dass die Einführung der Demokratie in Deutschland durch die Alliierten erzwungen werden musste, erklären laut Adorno, warum diese sich in der Bundesrepublik noch nicht eingebürgert hat.

In einem weiteren Absatz nimmt Adorno Stellung zu der seinerzeit aktuellen Konfrontation zwischen dem Westen und dem so genannten „Ostblock". Die von den Nationalsozialisten behauptete Gefahr des Bolschewismus, die zur Begründung des Angriffskrieges gegen die Sowjetunion herhalten musste, sieht Adorno nach 1945 wiederhergestellt. Allerdings begreift er diese Gefahr nun - im Gegensatz zur nationalsozialistischen Herrschaftszeit - als weitaus realer. Dass die Bundesrepublik somit - wie einst - zum Bollwerk gegen den Bolschewismus avanciert, sieht er als eine „historische Fatalität" (ebd. S. 16), aus der Menschen ein erneutes Einverständnis für sich mit Kategorien des Nationalsozialismus ableiten könnten.

Im nächsten Abschnitt räumt Adorno mit der Vorstellung auf, dass alle unter der Barbarei des Nazismus zu leiden gehabt hätten. Er stellt klar, dass es vielen der Eigenen in der postulierten und gelebten Volksgemeinschaft gar nicht so schlecht erging (vgl. auch Aly 2005)

Gegenüber den Tücken und Gefahren der modernen Welt schien der Nationalsozialismus tatsächlich den Seinen Schutz bieten zu können. „Ungezählten schien die Kälte des entfremdeten Zustands abgeschafft durch die wie immer auch manipulierte und angedrehte Wärme des Miteinander" (Adorno 1959, S.18).

Das Phänomen des Nationalismus beschäftigt Adorno auf den nächsten Seiten. Dabei verweist er auf die historische Bedeutung des Nationalismus als Schritt aus feudalen Verhältnissen. Diesen Zweck habe dieser erfüllt und sei somit veraltet. Eine Aktualität habe der Nationalismus aber in seiner Funktion, „Hunderte von Millionen für Zwecke einzuspannen, die sie nicht unmittelbar als die ihren betrachten können" (ebd., S.21). Der Nationalismus gilt ihm „als wirksamstes Mittel, die Menschen zur Insistenz auf objektiv veralteten Verhältnissen zu bringen" (ebd.).

Eine weitere grundlegende These in Adornos „Was ist: Aufarbeitung der Vergangenheit" ist die des Fortbestehens der Wurzeln des Faschismus. Diese Wurzeln sieht er vor allem in den ökonomischen Organisationsformen der Gesellschaft, nach denen die Mehrheit der Menschen gezwungen sei, sich diesen als natürlich daherkommenden Bedingungen anzupassen und zu unterwerfen. Die Unmündigkeit des Menschen ist Ergebnis und Bedingung besagter gesellschaftlicher Formation (vgl. ebd., S. 22f.).

Der letzte Teil der Ausführungen Adornos zur „Aufarbeitung der Vergangenheit" beschäftigt sich mit der praktischen Konsequenz aus dem zuvor Entwickelten. So stellt er fest, dass die aufklärende Pädagogik in erster Linie wohl nur die erreicht, welche „dafür offen und eben darum für den Faschismus kaum anfällig sind" (ebd. S.24). Genau diejenigen zu unterstützen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken, sieht er als Chance, dann doch noch auf die ganze Gesellschaft zu wirken. Adorno stellt zudem fest, dass es dringend einer „Erziehung der Erzieher" (ebd. S. 25) bedürfe, um diese zu befähigen, bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht beim bloßen Vorwurf stehen zu bleiben. Soziologie, Pädagogik, Kriminologie und Psychoanalyse attestiert er in Deutschland einen mehr als unzureichenden Stand.

Von der Beschäftigung mit dem Ressentiment (Adorno spricht von „Hass") gegen die Psychoanalyse schlägt Adorno nun die Brücke zum Antisemitismus (vgl., ebd.). Er verweist auf die Aufklärungsresistenz des genuinen Antisemiten und plädiert für eine Wendung der Argumentation auf die Subjekte und die Bewusstmachung der in einem selbst wirkenden Rassismen (vgl. ebd. S. 26f.).

Zuletzt macht er zudem den Vorschlag, die Konsequenzen des Nationalsozialismus für die Seinen aufzuzeigen. In Anbetracht dessen, dass der Verweis auf das Leid Anderer nur bedingt dazu dienen kann, der Aufklärung Vorschub zu leisten, hält er es für angebracht, immer wieder daran zu erinnern, dass die Täter dann doch irgendwann selbst Opfer der von ihnen selbst entfesselten Barbarei wurden. Dies erscheint ihm als eine der sichersten Methoden, den Drang zur faschistischen Erneuerung zumindest im Bann halten zu können. Die Gefahr sieht er aber solange fortbestehen, bis die Ursachen des Vergangenen beseitigt sind (vgl. ebd. S. 28).

1.2. „Erziehung nach Auschwitz”

Den Text „Erziehung nach Auschwitz" beginnt Theodor W. Adorno mit dem Satz „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung" (Adorno 1966, S.88). Adorno bringt sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass genau dieser Forderung und den mit ihrer Erfüllung zu stellenden Fragen so wenig Raum gegeben wird.

Er nimmt dies als Indiz dafür, „daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist" (ebd.) und erkennt darin einen Anhaltspunkt für die Möglichkeit der Wiederholung.

Adorno verweist auf die Werke Freuds „Das Unbehagen in der Kultur" und „Massenpsychologie und Ich-Analyse". Er empfiehlt diese Werke gerade in der Auseinandersetzung mit Auschwitz. Als eine maßgebliche Erkenntnis daraus bezeichnet er die Feststellung, dass sich das Antizivilisatorische aus der Zivilisation heraus entwickelt. „Die Grundstruktur der Gesellschaft und damit ihre Angehörigen" (ebd.) haben sich für ihn seit dem Nationalsozialismus nicht verändert. Somit steht zu Beginn von „Erziehung nach Auschwitz" die These, mit der er sieben Jahre zuvor seinen Beitrag „Was ist: Aufarbeitung der Vergangenheit" zu Schließen gedachte (vgl. Adorno 1959, S. 28).

Im Laufe des Textes werde ich noch auf weitere Anknüpfungspunkte hinweisen, so dass der neuere der beiden Texte getrost als eine Fortschreibung bzw. Präzisierung des ersten angesehen werden darf.

So greift Adorno in der Beantwortung der Frage nach dem Gegenstand einer Erziehung nach Auschwitz zurück auf die „Wendung aufs Subjekt" (Adorno 1966, S. 90). Er erläutert: „Man muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst die Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewusstsein jener Mechanismen erweckt" (ebd.).

Freuds „Unbehagen in der Kultur" wird abermals von Adorno aufgegriffen und selbiges beschrieben als ein dicht gewebtes Netz, aus dem es für den Menschen kein Entkommen zu geben scheint. In diesem beklemmenden Gefühl des Gefangenseins will Adorno eine Ursache für gewalttätige antizivilisatorische Ausbrüche erkennen. Adorno betont dabei die Irrationalität, die in diesen Ausbrüchen steckt, und wirbt somit nicht um Verständnis. Er spricht in diesem Zusammenhang von „der Klaustrophobie der Menschheit in der verwalteten Welt" (ebd.).

Ein düsteres Bild wird gezeichnet, wenn Adorno, ausgehend von einer Totalität des ökonomischen Prinzips, den Zerfall der menschlichen Individualität und somit auch ihrer Fähigkeit zur Widerständigkeit konstatiert. Und so zweifelt er an, dass die Menschen in der Lage seien, „dem sich entgegenzustemmen, was zu irgendeiner Zeit wieder zur Untat lockt" (ebd., S. 91).

Im folgenden macht Adorno einen Wendung vom scheinbar Abstrakten zum Konkreten. Er umreißt deutlich zwei Handlungsfelder bzw. Zielgruppen der „Erziehung nach Auschwitz": „Spreche ich von der Erziehung nach Auschwitz, so meine ich zwei Bereiche: einmal Erziehung in der Kindheit, zumal der frühen; dann allgemeine Aufklärung, die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft, das eine Wiederholung nicht zulässt, ein Klima also, in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, einigermaßen bewusst werden" (ebd.).

So kurz diese Ausführungen auch sein mögen, so bedeutungsvoll sind sie für die pädagogische Praxis. Eine intensive Auseinandersetzung mit ihnen und den daraus abzuleitenden Folgerungen sollten die Vorraussetzung für jede bildungspolitische Initiative darstellen.

Die Verfasstheit der deutschen Gesellschaft, die Auschwitz erst möglich gemacht hat, ist in den weiteren Ausführungen Thema. Dabei wird die These behandelt, dass es die autoritätsgläubige Charakterstruktur der Deutschen gewesen sei, die ihre Anfälligkeit für den Nationalsozialismus determinierte. Adorno bezichtigt diese These der Oberflächlichkeit. Vielmehr erkennt er im Wegfall der alten Autoritäten und der Unfähigkeit der Menschen, ohne diese auszukommen, das Dilemma. Somit wird die Problemsphäre ins Innere des Menschen verlagert. Nicht die Hörigkeit gegenüber vorhandenen Autoritäten, sondern die Sehnsucht nach diesen im Falle ihres Nicht-Vorhandenseins lassen das ganze Ausmaß der psychischen Konstitution des Individuums erkennen. „Sie zeigten der Freiheit, die ihnen in den Schoß fiel, nicht sich gewachsen" (ebd.).

Umfassend setzt sich Adorno in seinem Beitrag mit der Forderung nach „Bindungen" (ebd., S. 92 ff.) auseinander. Den Trugschluss in dieser Forderung erkennt Adorno darin, dass das mangelnd ausgeprägte Über-Ich lediglich „im Rahmen von Bindung durch äußere, unverbindliche, auswechselbare Autoritäten" (ebd., S. 93) ersetzt werde. Und: „Gerade die Bereitschaft, mit der Macht es zu halten und äußerlich dem, was stärker ist, als Norm sich zu beugen, ist aber die Sinnesart der Quälgeister, die nicht mehr aufkommen soll" (ebd.).

Den Gegenentwurf umreißt Adorno mit folgenden Worten: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf; die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen." (ebd.).

Die „Entbarbarisierung auf dem platten Land" (ebd., S. 94) ist ein weiteres Themenfeld, dem Adorno sich in „Erziehung nach Auschwitz" widmet und verpflichtet fühlt. Einleitend verweist er dabei auf Eugen Kogons „Der SS-Staat" (vgl. ebd., S. 93) und der dort getroffenen Feststellung, dass es sich bei einem Großteil der in Konzentrationslagern tätigen „Quälgeister" (ebd.) um jüngere Bauernsöhne gehandelt habe.

An dieser Stelle möchte ich einen längeren Abschnitt aus besagtem Buch zitieren, in dem Kogon die Psychologie jener versucht zu umschreiben. „Die freiwilligen Mitglieder der Hitlerschen Schutzstaffeln, die sich von den SS-Idealen aus eigenem, ob bewußt oder unbewußt, angezogen fühlten, waren in der Regel ein Typ von Menschen, in denen ein einfaches psychologisches Schema wirkte: einige wenige scharf fixierte, dogmatische, nicht erarbeitete, simplifizierte Bewusstseinsinhalte bilden eine brettartige Gehirndecke, unter der sich eine Fülle von Emotionen herumdrückt. In sie wirken weder echte Einsichten noch echte Ideale hinein, sie suchen triebhaft nur Auswege in vorgeschrieben Bahnen der Entladung. Alle SS-Leute, die meine Freunde und ich kennengelernt haben, waren in diesem Sinne Barbaren, trugen kein Element echter Kultur in sich, das heißt die Fähigkeit, Geist und Triebe in einer beständigen kritischen Auseinandersetzung mit sich, mit der Umwelt und im allgemeinen gültigen Normen zu einer höheren seelischen Einheit zusammenwirken zu lassen. Die einzige „kritische Überprüfung", die ihnen immer wieder nahegelegt wurde und die sie von Fall zu Fall auch vornahmen, blieb rein innerhalb des Schemas: ob die Triebrichtung den vorgeschriebenen SS-Zielen entsprach. Sie nannten das - in einer gewissen preußischen Überlieferung -: den „inneren Schweinehund" überwinden" (Kogon 1974, S. 344). Kogon umschreibt die Kulturlosigkeit dieser Menschen in auffallend ähnlichen Vokabeln wie es auch Adorno zu tun pflegt.

Als eine praktische Herangehensweise zur Entbarbarisierung des platten Landes schlägt Adorno die Schaffung von „Erziehungskolonnen" (Adorno 1966, S. 94) vor. Diese sollten auf dem Lande mit Vorträgen, Schulungen und Veranstaltungen zur Bewusstseinsbildung beitragen. Adorno ist die Begrenztheit seines Vorschlags in seiner Wirkung durchaus bewusst. Dennoch erhofft er sich aus einem solchen Unterfangen die Schaffung von zivilisatorischen Inseln in einem Sumpf der Barbarei.

Einen weiteren Aspekt der Barbarei erkennt Adorno in der Erziehung zur Härte. Diese bezeichnet er als „durch und durch verkehrt" (ebd. S. 96). Dabei rekurriert er auch auf die Sphäre des Sports. Diesem bescheinigt er einerseits durch „fair play", „Rücksicht" und „Ritterlichkeit" (ebd. S. 95) eine gewisse Form der zivilisatorischen Wertevermittlung. Andererseits erkennt er vor allem bei denen, die „bloß zusehen, auf dem Sportfeld zu brüllen pflegen" (ebd.) „Aggression, Roheit und Sadismus" (ebd.).

Ein leidenschaftliches Plädoyer hält Adorno gegen die Macht und Verführungsgewalt der Kollektive. Dabei nimmt er sehr wohl zur Kenntnis, dass gerade junge Menschen mit progressivem Bewusstseinsstand sich von diesen insbesondere angezogen fühlen (vgl. ebd. S.95). Nichtsdestotrotz schreibt er: „Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung halte ich, der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten, den Widerstand gegen sie dadurch zu steigern, dass man das Problem der Kollektivierung ins Licht rückt" (ebd.).

Den Charakter derer, die sich blind in den Bann der Kollektive begeben, sich gleich machen und somit die eigene Individualität aufgeben und dann auch bereit seien, diese den anderen abzusprechen, nennt Adorno in Anlehnung an seine „Studien zum autoritären Charakter" den „manipulativen Charakter" (ebd. S. 97). Diesen Typus umschreibt er dort folgendermaßen: „Das potentiell gefährlichste Syndrom, den „Manipulativen" kennzeichnet extreme Stereotypie; starre Begriffe werden zu Zwecken statt zu Mitteln, und die ganze Welt ist in leere, schematische, administrative Felder eingeteilt. Objektkathexis und emotionelle Beziehungen fehlen fast ganz. (...) Jedoch resultiert der Bruch zwischen innerer und äußerer Welt in diesem Fall nicht in der üblichen „Introversion", sondern eher im Gegenteil, in einer Art zwanghaftem Überrealismus, der alles und jedes als Objekt betrachtet, das gehandhabt, manipuliert und nach den eigenen theoretischen und praktischen Schablonen erfasst werden muß. Alles Technische, alle Dinge, die als „Werkzeuge" benutzt werden können, sind mit Libido beladen. Die Hauptsache ist, dass „etwas getan" wird. Nebensache aber, was getan wird. (...) Symbolhaft für die vielen Vertreter dieses Syndroms unter den antisemitisch-faschistischen Politikern in Deutschland ist Himmler. Ihre nüchterne Intelligenz und die fast komplette Absenz von Affekten macht sie wohl zu denen, die keine Gnade kennen. Da sie alles mit den Augen des Organisators sehen, sind sie prädisponiert für totalitäre Lösungen. Ihr Ziel ist eher die Konstruktion von Gaskammern als das Pogrom. Sie brauchen die Juden nicht einmal zu hassen, sie „erledigen" ihre Opfer auf administrativem Wege, ohne mit ihnen persönlich in Berührung zu kommen" (Adorno 1995, S. 335).

Bezug nehmend auf den manipulativen Typus schlägt Adorno in „Erziehung nach Auschwitz" die genaue Untersuchung der Genese derer vor, die sich in den Dienst des nationalsozialistischen Systems gestellt haben. Den „Typus des verdinglichten Bewußtseins" (Adorno 1966, S. 98), wie er ihn auch zu bezeichnen pflegt, in seiner Entstehung zu begreifen, um dieser Entgegenwirken zu können, sei eine weitere wichtige Aufgabe um eine Wiederholung von Auschwitz zu verhindern.

Adorno konstatiert darüber hinaus einen Zusammenhang zwischen dem angesprochenen verdinglichten Bewusstsein und der Sphäre der Technik. Er sieht es als notwendig an, dass jede Gesellschaft ihre Spezialisten produziert und somit in einer von Technisierung geprägten Welt „auf Technik eingestimmte Menschen" (ebd., S. 99) hervorgebracht werden. Die Gefahr erkennt er an der Stelle, an der die Technik zum Fetisch wird. „Die Menschen sind geneigt, die Technik für die Sache selbst, für Selbstzweck, für eine Kraft eigenen Wesens zu halten und darüber zu vergessen daß sie der verlängerte Arm des Menschen ist. Die Mittel - und Technik ist ein Inbegriff von Mitteln zur Selbsterhaltung der Gattung Mensch - werden fetischisiert, weil die Zwecke - ein menschenwürdiges Leben - verdeckt und vom Bewußtsein der Menschen abgeschnitten sind" (ebd., S. 100).

Die Kälte der Menschen, die Gleichgültigkeit gegenüber anderen im tagtäglichen Kampf zur Durchsetzung der eigenen Interessen sieht Adorno als weitere Ursache für die Möglichkeit von Auschwitz überhaupt: „Die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten, war als Indifferenz gegen das Schicksal der anderen die Vorraussetzung dafür, daß nur ganz wenige sich regten" (ebd., S. 101). Eine Möglichkeit zum Erfolg versprechenden Vorgehen gegen diese Kälte, die ausnahmslos alle menschlichen Wesen erfasst, sieht er nur in der „Einsicht in ihre eigenen Bedingungen und" dem „Versuch, vorwegnehmend im individuellen Bereich diesen ihren Bedingungen entgegenzuarbeiten" (ebd., S. 102).

Zum Ende seiner Ausführungen macht Adorno wiederum konkrete Vorschläge zu den Inhalten, die es zu vermitteln gelte. Er nennt:

- „Bewusstmachung der subjektiven Mechanismen, ohne die Auschwitz kaum wäre" (ebd., S. 103)
- Aufklärung über die Möglichkeit der Verschiebung dessen, was in Auschwitz sich austobte (vgl. ebd., S. 103)
- Das Aufzeigen konkreter Möglichkeiten zum Widerstand (vgl. ebd., S. 103)

Er plädiert dafür, allen Unterricht nach dem kategorischen Imperativ, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, auszurichten. Dazu hätte sich der Unterricht in Soziologie zu verwandeln und über das gesellschaftliche Kräftespiel aufzuklären, welches hinter der Fassade der politischen Formen wirkt.

Adorno merkt an, dass dies nur in einem von Repressionen freien gesellschaftlichen Klima möglich sei, und kritisiert zugleich den Staat an sich als Träger des potentiellen Grauens (vgl. ebd., S. 104).

An dieser Stelle wird insbesondere das Dilemma der Adornoschen Argumentation deutlich. Wie soll politischer Unterricht aussehen, der nicht Gefahr läuft, Anstoß zu erregen, aber gleichzeitig die Auflösung des Staates hin zu einer Assoziation von freien Menschen anzustreben? Einen Ausweg zeigt Adorno nicht, wohlwissend, dass es diesen als solchen nicht gibt. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung, die er einfordert, die aber in letzter Konsequenz nur von den Individuen selbst vollzogen werden kann. Bezüglich des Heranwachsens neuer Schlächter beendet Adorno seine Ausführungen mit dem hoffnungsvollen, aber zugleich die Grenzen aufzeigenden Satz: „dagegen läßt sich doch durch Erziehung und Aufklärung ein Weniges unternehmen" (ebd.).

2. Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im postnazistischen Deutschland (Ost und West)

2.1. Entnazifizierungen

Die Entfernung nationalsozialistischer Funktionsträger aus den öffentlichen Ämtern wurde, nach dem Kenntnisstand der historischen Forschung in der Sowjetisch besetzten Zone und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), mit weitaus mehr Konsequenz betrieben als im Westen. Hier sank angesichts des sich abzeichnenden Kalten Krieges das Interesse der Alliierten an der Entnazifizierung zusehends. Edgar Wolfrum spricht in diesem Zusammenhang von einer „Flaute bei der strafrechtlichen Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen"(Wolfrum 2005, S. 154), die mit der Gründung der Bundesrepublik einsetzte. Er führt weiter aus: „Anfang der 50er Jahre wurden NS-Mitläufer und -Täter in breitem Umfang amnestiert und in die Gesellschaft integriert. Angesichts des kalten Krieges lautete die pragmatische Alternative: Rasche Demokratisierung und gesellschaftliche Integration oder vorbehaltlose Aufarbeitung und Verurteilung der NS-Verbrechen? Die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik, die sich für den ersten Weg entschied, fußte trotz der Widerstände Einzelner auf einer großen Koalition fast aller politischen Kräfte und kam somit partei übergreifend dem verbreiteten psychologischen Bedürfnis der Westdeutschen entgegen, endlich einen Schlussstrich unter die alliierte Entnazifizierung zu ziehen. Volksgemeinschaftliche Bindungen ragten in die neue Zeit hinein und erzeugten eine allgemeine Exkulpationssolidarität, die die Deutschen miteinander verband." (ebd.) Die Tatsache, dass zahlreiche Nazis sich innerhalb der Bundesrepublik wieder in Amt und Würden einfinden konnten umschreibt Wolfrum mit dem Satz: „(...) die mittlere Garnitur fand ihren Platz im neuen Staat" (ebd.).

Nach 1948, dem offiziellen Ende der Entnazifizierung im Osten Deutschlands, wurden zwar auch dort ehemalige Mitglieder der NSDAP gesellschaftlich wieder integriert, ihrer Betätigung im öffentlichen Sektor, insbesondere im Bereich der inneren Verwaltung, der Polizei, der Justiz und des Schulwesens waren aber enge Grenzen gesetzt. Zahlreiche NS- und Kriegsverbrecher wurden verurteilt (vgl. Kaiser 1995, S. 286).

2.2. Erstes (Nicht-) Gedenken

Die DDR sah sich selbst in der Tradition des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, aus dem sich auch ihre politische Führung zusammensetzte. Das öffentliche Bekenntnis zum Antifaschismus war Staatsräson (ebd.). Dieses Bekenntnis, welches zusehends zu einer Legitimationsideologie verkam, hat „einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der eigenen Mitverantwortung der Mehrheit auch der DDR-Bürger entsprechenden Alters für den Nationalsozialismus und mit den ideologischen Traditionen, auf die er sich stützte und die über sein Ende hinaus wirksam blieben, oft eher im Wege gestanden als sie befördert (...)" (ebd., S. 287). Erinnerungsarbeit in Gedenkstätten hatte in der ehemaligen DDR bereits in den fünfziger Jahren ihren festen Platz. Auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager wurden Mahn- und Gedenkstätten errichtet und die dort stattfindenden Gedenkzeremonien hatten eine identitätsstiftende Funktion (vgl. Ehmann 1997, S. 42). Edgar Wolfrum bewertet diese Umstände wie folgt: „In der Bundesrepublik war die Vergangenheitsbewältigung ein ständiger Prozeß, in der DDR nicht. Hier wurde sie mit der „antifaschistisch­demokratischen Umwälzung" dogmatisch für beendet erklärt, ein Einstellungswechsel der Menschen wuchs nicht erst allmählich wie in der Bundesrepublik, sondern er wurde ein für alle Mal zu dekretieren versucht. Weitere Debatten über Schuld und Unschuld erübrigten sich damit." (Wolfrum 2005, S. 197)

In der Bundesrepublik Deutschland (BRD) war die Situation eine andere. Eliten aus Staat, Wirtschaft und Gesellschaft waren darum bemüht, die deutsche Kriegsschuld und die Verantwortung für das nationalsozialistische Regime zu verleugnen oder zu relativieren und die Täter zu decken (vgl. Kaiser 1995, S. 287). Ralph Giordano sprach in diesem Zusammenhang von der „zweiten Schuld" (vgl. Giordano 1987). Die politische Linke kritisierte in diesem Zusammenhang insbesondere „die in vielen Fällen unterbliebene oder geringfügige Bestrafung von NS-Verbrechern und (...) die Fortsetzung der Karriere von Nationalsozialisten in verschiedensten Institutionen der Bundesrepublik bis hin zu hohen und höchsten Staatsämtern (...)" (Kaiser 1995, S. 287). Giordano spricht von einem „bundesdeutsch-westallierten Zusammenspiel, das bereits im Kriege, 1944, mit eindeutiger Stoßrichtung gegen die Sowjetunion begonnen hatte und das nun in ein nahezu perfekt organisiertes und von gesellschaftlichem Konsens getragenes Entstrafungssystem der restaurativen Adenauer-Ära" (Giordano 1996, S. 14) mündete. Edgar Wolfrum weist darauf hin, dass in Westdeutschland zu diesem Zeitpunkt auch nicht öffentlich an der These einer „normalen Kriegsführung" der deutschen Wehrmacht gezweifelt wurde (vgl. Wolfrum 2005, S. 155), „ja unter dem Eindruck des Kalten Krieges konnte der Zweite Weltkrieg zuweilen sogar als deutscher Beitrag zu einer antikommunistisch­westeuropäischen Einigung interpretiert werden. Die Erinnerung verdichtete sich dabei auf Stalingrad" (ebd.). Am Stalingrad­Mythos lässt sich wieder die unterschiedliche Erinnerungskultur im geteilten Deutschland aufzeigen, „so überlebte im Westen ein wichtiger Bestandteil dieses Mythos des „Dritten Reiches", daß nämlich in Stalingrad versucht worden sei, das Abendland vor dem Bolschewismus zu retten" (ebd.), während in der DDR der Stalingrad-Mythos „von Beginn an zum Kernbestand einer dezidiert national bestimmten Identität als das neue bessere Deutschland" gehörte. „In dieser Katastrophe lag der Ursprung der ostdeutsch­sowjetischen Freundschaft. Stalingrad war der „Triumph des gerechten Krieges" über die faschistischen Eroberer" (ebd.). Dass das „Deutungsangebot von der „sauberen Wehrmacht"" (ebd. S. 156) auch noch Jahrzehnte später weite Verbreitung fand, lässt sich an den Auseinandersetzungen über die so genannte „Wehrmachtsausstellung" nachweisen, auf die ich an späterer Stelle noch zu sprechen kommen werde.

2.3. „Wiedergutmachung" und Kontinuitäten

Der Holocaust wurde bis zum Ende der 50er Jahre kaum bis gar nicht in der öffentlichen Debatte behandelt - weder in der BRD noch in der DDR. „Auf der latenten mentalen Ebene lebten bei den Westdeutschen ein ganze Reihe vordemokratischer Einstellungen und der Antisemitismus fort" (ebd.) konstatiert Edgar Wolfrum. Als „schuldverdrängende Verharmlosung, Vergangenheitsabwehr und Schuldabwälzung" (Wolfrum 2005, S. 156) sieht er die vorherrschenden Motive der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Darin erscheint „der Nationalsozialismus als Ausgeburt des Dämons Masse und eines satanischen Führers, als fast unerklärbarer Einbruch des Irrationalen, als Heimsuchung und Verhängnis, und die Deutschen wähnten sich dementsprechend als Opfer, nicht als Täter." (Wolfrum 2005, S. 156f.)

Die ersten Schritte in Richtung einer Entschädigung der überlebenden Opfer des Holocaust wurden bereits unter Adenauer gemacht, der 1949 zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt wurde. In diesem Zeitraum ging es ausschließlich um Finanzleistungen, so genannte Reparationen, „ein Wort, das in Israel einen schlechten Beigeschmack hatte. Der Protest dagegen richtete sich auf das deutsche Dilemma eines Eingeständnisses, dass der Holocaust stattgefunden habe, dass aber Deutschland die Verantwortung dafür auf ein rein finanzielles Problem reduziere." (Auron 2005, S. 185)

Auch Wolfrum bewertet diese Phase äußerst kritisch: „Halbheiten bestimmten die Wiedergutmachung für die Opfer des Nationalsozialismus, und die geleisteten Wiedergutmachungszahlungen an Israel kamen nicht zuletzt auf Drängen der Westmächte zustande. In der Wiedergutmachung steckte zu viel Kalkül und zu viel Außenpolitik, als daß sie moralisch voll überzeugte." (Wolfrum 2005, S. 157) In diesem Zusammenhang ist eine Aussage des bayerischen Landwirtschaftsminister Joseph Baumgartner besonders interessant. Auf einer Versammlung von Nachwuchspolitikern der CSU im März 1946 antwortet er auf einen Beitrag eines Teilnehmers über das „volksschädliche" Verhalten der von „Freimaurern und Juden kontrollierten amerikanischen Besatzungsmacht" (zit. nach Später, S. 58): „Mein lieber Freund, Sie dürfen auch da nicht ungerecht sein und besonders nicht unklug sein. Wir werden ohne die Juden und besonders die jüdischen Kaufleute in den USA und der übrigen Welt nie mehr auskommen; wir brauchen sie für die Wiederaufnahme unserer alten Handelsbeziehungen! Was freilich die vielen Ostjuden hier in Bayern anbetrifft, so bin ich anderer Meinung, meine Herren! Ich bin leider gezwungen gewesen, an dem Judenkongreß in Reichen hall teilzunehmen: Das einzig Erfreuliche an der Tagung war für mich die einstimmig gefasste Resolution: Raus aus Deutschland (Gelächter)." (ebd.)

Gedenken stand - vor dem geschilderten Hintergrund nicht weiter verwunderlich - bis in die Mitte der sechziger Jahre unter dem Vorzeichen der Erinnerung an die Kriegsopfer (insbesondere derer auf deutscher Seite) und die Opfer des Kommunismus/Stalinismus. Die Erhaltung von Erinnerungsstätten und die Schaffung von Denkmälern für die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen blieben weitgehend den Überlebenden aus den jeweiligen Opfergruppen überlassen (vgl. Ehmann 1997, S. 42).

2.4. Erster Wandel

Ein erster Wandel im Zeitgeist wird für das Ende der 50er Jahre konstatiert. Vor dem Hintergrund einer Welle antisemitischer Schmierereien wurden zahlreiche Defizite in der schulischen und politischen Bildung offenbar. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des „Dritten Reichs" wurde 1961 zur Pflicht an den Schulen. Lehrbücher wurden verfasst und Lehrer für Geschichte und Politikwissenschaft eingestellt, die sich auf dieses Gebiet spezialisierten (vgl. Auron 2005, S. 190f.; Wolfrum 2005, S. 157f.). Bis dahin war es für Pädagogen „eine Herausforderung, eine künstliche, unerklärte Lücke zwischen der Vorkriegsvergangenheit und der Nachkriegsgegenwart zu vermeiden, die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs im Unterricht durchzunehmen, gleichzeitig aber eine gewisse „Trennung" zwischen den braunen Jahren und dem natürlichen Verlauf der Geschichte zu suggerieren. Während der fünfziger Jahre kam der Holocaust in Schulbüchern kaum vor und viele Lehrer zogen es vor, ihn überhaupt nicht zu erwähnen." (Auron 2005, S. 190)

Anfang bis Mitte der 60er Jahre ging auch die Bundeszentrale für politische Bildung dazu über, mit neuen Publikationen und Schriftenreihen in die Öffentlichkeit hinein zu wirken, und der Gesetzgeber schuf den Straftatbestand der Volksverhetzung. Außerdem wurde dazu übergegangen, die bereits verwahrlosten Schreckensorte der NS-Herrschaft als Orte der Erinnerung zu nutzen (z.B. das ehemalige Konzentrationslager in Dachau) (vgl. Wolfrum 2005, S. 157). „Die Erkenntnis war endlich herangereift, daß es nicht unanständig, sondern lehrreich ist, Orte des Schreckens zu erhalten (was im übrigen die DDR längst getan hatte)" (Wolfrum 2005, S. 157). Dies kann als die Geburtsstunde der „Gedenkstätten-Politik als moralisch-pädagogische Aufgabe" (ebd.) angesehen werden. Der viel beachtete Radiovortrag von Theodor W. Adorno „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?" wurde ebenfalls zu Beginn dieser Phase - nämlich 1959 - gehalten.

Einen weiteren Antrieb erhielt die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit aus dem Generationenkonflikt. „Die 68er-Generation machte die Lebensgeschichten ihrer Eltern zum Gegenstand erregter Diskussionen (...)" (Wolfrum 2005, S. 159). Die Auseinandersetzungen und Revolten dieser Phase prägen die Verfasstheit der Bundesrepublik bis heute. Eine genauere Betrachtung, insbesondere der damaligen Protagonisten und ihrer späteren Funktionen im bundesdeutschen Staatsapparat wären eine eigene Arbeit wert.

2.5. Das befreite Deutschland und seine Identitätskrise

1969 kam es zu einem Machtwechsel und Willy Brandt, der im Exil aktiven Widerstand gegen das „Dritte Reich" geleistet hatte, wurde Bundeskanzler. Er verkündete, dass er sich „als Kanzler nicht mehr eines besiegten, sondern eines befreiten Deutschlands" (zit. nach Wolfrum, S. 159) verstehe. Willy Brandt betrieb eine Politik der Annäherung an den Osten, was nicht ohne massive Anfeindungen aus Reihen des konservativen und selbstverständlich auch des rechtsextremistischen Lagers vonstatten ging.

Den nächsten Abschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beschreibt Edgar Wolfrum folgendermaßen: „Als jedoch die sozialliberal regierte Republik von immer mehr Krisen geschüttelt wurde und Utopien nach Willy Brandts Rücktritt verpufften, sprachen konservative Politiker und Intellektuelle seit Mitte der 70er Jahre von einer „deutschen Identitätskrise". Sie befürchteten, daß sich die Bundesrepublik als „Schönwetter-

Demokratie" ohne feste historische Verankerung entpuppen würde, und riefen zu einer Tendenzwende auf. In ihren Augen war die „linke" Vergangenheitsbewältigung subversiv, weil sie eine „endgültige" Aufarbeitung der Vergangenheit verhindere und eine Identität, die auf einem positiven Geschichtsbild basieren müsse, unmöglich mache. Die Deutsche Geschichte müsse „entkriminalisiert" werden, um Raum für einen neuen Patriotismus zu schaffen. Es handelte sich hier um nichts Geringeres als um ein Vorbeben des ein Jahrzehnt später ausbrechenden „Historikerstreits."" (Wolfrum 2005, S. 159f.)

1979 kam es in Westdeutschland zu einem Medienereignis mit Massenwirkung. Innerhalb einer Woche wurde allabendlich das amerikanische Dokudrama „Holocaust" ausgestrahlt. Die Sendung hatte Einschaltquoten von 40%, was in etwa 15 Millionen Zuschauern entspricht. Von professionellen Historikern wurde die Serie als typische Seifenoper im Hollywood-Stil kritisiert (vgl. Auron 2005, S. 192; Wolfrum 2005, S. 160). Aber sowohl Edgar Wolfrum als auch Yair Auron betonen die progressive Wirkung der Serie: „(...) die Sehbeteiligung war sensationell hoch. Für Millionen von Zuschauern war die TV-Serie Holocaust, die das Schicksal einer jüdischen Familie und die NS-Karriere eines Obersturmbannführers in den Mittelpunkt rückte, die fesselnde, anrührende und wohl auch wahrhaftige Darstellung der nationalsozialistischen Gräueltaten, die sie gründlicher aufwühlte als alles, was sie zuvor gesehen oder gelesen hatten. Daher ging von ihr eine aufklärerische Wirkung aus." (Wolfrum 2005, S. 160)

„Die Sendung wühlte die Gemüter auf. Jetzt wurde in Deutschland über die NS-Judenvernichtung debattiert wie nie zuvor, gegensätzliche Meinungen prallten aufeinander und so mancher war dagegen, dass der Film überhaupt gezeigt wurde. Da jedem Filmteil eine zweistündige Podiumsdiskussion mit Akademikern und Intellektuellen folgte, war der Film in der Tat ein populäres, höchst effektives Lehrmittel in der Aufklärung der deutschen Bevölkerung über die Nazi-Vergangenheit." (Auron 2005, S. 192) Gegner der Serie, aus dem neonazistischen Spektrum, sprengten Sendemasten um ihre Ausstrahlung zu verhindern. (vgl. Antifa Saar 2000, S. 9)

In der nächsten Phase sind zwei Entwicklungsstränge festzustellen. Zum einen eine Spezialisierung in den wissenschaftlichen Debatten zum Thema, und zum anderen eine Häufung von öffentlich ausgetragenen Konflikten im Identitätsdiskurs um Gedenktage, Gedenkreden und Museen. Diese Entwicklung, die zumindest in zeitlichem Zusammenhang mit dem Beginn der Ära Kohl (1982/83) zu bringen ist, fand ihren Höhepunkt im so genannten „Historikerstreit" 1986/87, der laut Wolfrum auch vor dem Hintergrund der Generationenkonstellation in einem besonderen Zeitabschnitt stattfand/ „Die Angehörigen der „zweiten Generation" hatten ihre Mütter und Väter mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Mit der „dritten Generation" verschiebt sich das Problem, denn für sie stellt sich ein besonderer Bezug zur NS-Vergangenheit nur als gleichsam nationale Verstrickung her. Sie haben mit dem Nationalsozialismus nur deswegen in besonderer Weise zu tun, weil sie Deutsche sind." (Wolfrum 2005, S. 161)

2.6. Historikerstreit

Mehrere prominente bundesdeutsche Historiker, darunter Ernst Nolte, versuchten sich in einer Relativierung der nationalsozialistischen Judenvernichtung, indem sie sie mit angeblich ähnlichen Vorkommnissen im 20. Jahrhundert verglichen, wie beispielsweise dem Abwurf der Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki, der Bombardierung Dresdens und den stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion. Als Fazit wurden die nationalsozialistischen Verbrechen als „Kopie des russischen Originals" dargestellt. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas unterstrich gemeinsam mit weiteren Intellektuellen und Historikern dagegen die Einzigartigkeit der Naziverbrechen und plädierte für eine Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte (vgl. Auron 2005, S. 195f.; Wolfrum 2005, S. 160f.). Yair Auron fasst die Bedeutung des Historikerstreits für die bundesdeutsche Erinnerungskultur folgendermaßen zusammen: „Es ging im Historikerstreit um weit mehr als um Meinungsverschiedenheiten über nicht genau definierte methodologische Fragen, die nur die Fachwelt interessieren. Nicht nur im „Elfenbeinturm" und in Fachblättern bewegt er die Gemüter, denn er trifft den Nerv. In jeder politischen Kontroverse in Deutschland kochen Probleme hoch, die er berührt hat - auch in Zukunft. Die Antworten auf die Fragen des Historikerstreits - einschließlich der Antwort darauf, wo in der deutschen Geschichte das „Dritte Reich" und der Holocaust zu verorten sind - werden auch Form und Inhalt der nationalen Erinnerung bestimmen." (Auron 2005, S. 196)

2.7. Veränderte Einstellung

Für den Zeitraum ab Anfang der achtziger Jahre konstatiert die Pädagogin und Historikerin Annegret Ehmann eine „veränderte Einstellung" (Ehmann 1997, S. 42) und bemerkt: „Das Interesse der deutschen Bevölkerung an den Gedenkstätten hat mit zunehmendem zeitlichem und auch biographischem Abstand zugenommen. Die Gedenkstätten verzeichnen deutlich steigende Besucherzahlen." (ebd.) Bezüglich der Besucherstruktur der Gedenkstätten beschreibt sie ebenso einen Wandel: „Während früher vornehmlich organisierte Gruppen - überwiegend Jugendliche - mehr oder weniger freiwillig im Rahmen öffentlich geförderter politischer Bildungsveranstaltungen in die Gedenkstätten kamen, sind es heute zu einem erheblichen Teil auch Einzelbesucher bzw. Familien mit Kindern aus den Reihen des sogenannten Bildungsbürgertums. Sie betrachten den Besuch von Gedenkstätten (...) als zur Allgemeinbildung gehörend." (ebd.)

2.8. Zusammenfassung Kriegsende bis 1989

Die bis zu diesem Punkt beschriebenen Entwicklungen werden von Edgar Wolfrum treffend zusammengefasst: „Bis zum Ende der Existenz zweier deutscher Staaten oszillierte die Erinnerung an den Nationalsozialismus zwischen den Polen Moral und Pragmatismus. Beide Staaten versuchten, sich durch eine Teilung der Vergangenheit voneinander abzugrenzen, und blieben doch aufeinander bezogen. Auf die Umerziehungsmaßnahmen der Alliierten reagierten die Westdeutschen lange Zeit mit dem Pragmatismus des Schweigens, während in der DDR vom Regime eine distinktive Selbstinszenierung verschrieben wurde. Moral und Bekenntnis sollten dominieren, und ein neuer sozialistischer und antifaschistischer Mensch wurde zum Leitbild der Wertorientierung. In der Lesart des Westens waren die Deutschen Opfer einer skrupellosen NS-Führung und die Ostdeutschen weiterhin Opfer einer kaum weniger skrupellosen SED-Führung. In der Lesart des Ostens waren die Deutschen Opfer des Faschismus und Militarismus, der sich in nur wenig milderen Formen im „imperialistischen Westen" fortsetzte. Die ostdeutsche Vergangenheitskonstruktion blieb fixiert auf den letztlich erfolgreichen Kampf der Antifaschisten. In dieser Deutung waren die Ostdeutschen eigentlich gar keine Opfer, sondern die historischen Sieger, und so konnten in der DDR sämtliche Opferperspektiven nahezu vollständig „entsorgt" werden. Die DDR zog ihre historische Legitimität aus der Verknüpfung von Kapitalismus und nationalsozialistischer Herrschaft. Die bisherige deutsche Geschichte war im Wesentlichen die Kontrastfolie des eigenen Selbstverständnisses. Demgegenüber rechtfertigte die Bundesrepublik ihre neue geopolitische Rolle im westlichen Bündnis aus der Abgrenzung vom Kommunismus und vom Nationalsozialismus bei gleichzeitiger Leugnung von dessen unbewältigter Erbschaft.[1] So verfügten beide deutschen Gesellschaften über Entlastungsmechanismen und Sichtblenden, und die vielen Konflikte über die NS-Vergangenheit seit der Wiedervereinigung von 1990 - von der Goldhagen-Debatte bis zur Wehrmachtsausstellung, von der Walser-Bubis-Kontroverse bis zum Mahnmalstreit und der Diskussion über die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern - zeigen vor allem eines: Erst das Ende des Ost-West-Konflikts setzte eine größere Fähigkeit zur Selbstkritik frei." (Wolfrum 2005, S. 166f.)

Die Historikerin Ulrike Puvogel kommt zu einer ähnlichen Einschätzung und sieht erinnerungspolitisch betrachtet eine Chance in dem Ende des Ost-West-Konflikts: „Mit dem politischen Umbruch in der Deutschen Demokratischen Republik im Herbst 1989 und mit der Vereinigung Deutschlands öffneten sich die Schranken, die eine gemeinsame Auseinandersetzung der Deutschen Ost und West mit ihrer gemeinsamen nationalsozialistischen Vergangenheit jahrzehntelang versperrt und im geteilten Deutschland zu zweierlei Erinnerungen an die Verbrechen des NS-Regimes und zu einem unterschiedlichen Umgang mit diesem Erbe geführt hatten, begründet in unterschiedlichen politischen Prägungen und in den Allianzen des Kalten Krieges. Die Öffnung dieser Schranken ist eine Herausforderung zur Verständigung über die gemeinsame Geschichte und über Wege und Formen eines gemeinsamen Erinnerns und Gedenkens als Elemente unserer politischen Kultur."

[...]


[1] „ Vgl. Overesch, Manfred: Buchenwald und die DDR oder die Suche nach Selbstlegitimation, Göttingen 1995; Niethammer, Lutz (Hg.): Der „gesäuberte “ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Dokumente, Berlin 1994; Zimmer, Hasko: Der Buchenwald-Konflikt. Zum Streit um Geschichte und Erinnerung im Kontext der deutschen Vereinigung, Münster 1999; Münkler, Herfried: Das kollektive Gedächtnis der DDR, in: Vorsteher, Dieter (Hg.): Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der früheren DDR, Berlin 1996, S. 458-468 “ (Fußnote zit. nach: Wolfrum S. 167)

Ende der Leseprobe aus 130 Seiten

Details

Titel
NS-Gedenkstättenpädagogik im postnazistischen Deutschland als Hilfe zum adäquaten Umgang mit migrantischen Jugendlichen
Hochschule
Katholische Hochschule für Soziale Arbeit Saarbrücken
Note
1.5
Autor
Jahr
2007
Seiten
130
Katalognummer
V186395
ISBN (eBook)
9783869437316
ISBN (Buch)
9783869431574
Dateigröße
934 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gedenkstättenpädagogik, deutschland, hilfe, umgang, jugendlichen
Arbeit zitieren
Dipl. Sozialpädagoge Andreas Schmitt (Autor:in), 2007, NS-Gedenkstättenpädagogik im postnazistischen Deutschland als Hilfe zum adäquaten Umgang mit migrantischen Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186395

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