Bild und Betrachter - Ereignisbildkonzepte bei Manet und mögliche Konsequenzen in den interaktiven Medien


Thèse de Bachelor, 2011

49 Pages, Note: 2,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Themenstellung und Methodik
1.2 Forschungsüberblick

2. Allgemeines
2.1 Edouard Manet
2.2 Die Erschießung Kaiser Maximilians
2.3 Interaktive Medien
2.4 Das Genre Computerspiel
2.5 Das Computerspiel Street Fighter

3. Bildkonzepte im Wandel
3.1 Das (Er)finden und Negieren des Betrachters
3.2 Manets Bejahung des Betrachters

4. Ereignis bildkonzepte Manets
4.1 Ein neues Geschichtsbild
4.2 Offenheit und Uneiendeutigkeit
4.3 Betrachterstandort
4.4 Unendlichkeitskonzept
4.5 Konzept der Gleichzeitigkeit und Montage
4.6 Anwesenheit und Abwesenheit
4.7 Rezeptionsscheitern
4.8 Realitäten, Illusion, Fiktion
4.9 Darstellung des Gewaltakts
4.10 Flachheit/Reliefartigkeit/Parallelität
4.11 Spiegelkonzept
4.12 Innerbildliche Identifikationsfiguren

5. Mögliche Konsequenzen in den interaktiven Medien
5.1 Parallelen zwischen der Erschießung und Street Fighter
5.1.1 Raumkonzept
5.1.2 Schaulustige
5.1.3 Gewaltakt
5.1.4 Betrachterstandpunkt
5.2 Ausblicke und Mutmaßungen bezüglich der Parallelen

6. Fazit

Abbildungen

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Themenstellung und Methodik

Während der künstlerischen Schaffenszeit von Edouard Manets verlor das traditionelle Historienbild immer stärker an Bedeutung. Geschichtliche Ereig nisse als Motive in der Malerei hatten immer wenig er Repräsenta­tionsfunktion. Dies ist zum Großteil auf den Machtverlust der herrschenden Stände und die damit verbundene, sich verändernde Auffassung von Geschichte zurückzuführen. Mit der Funktion wandelte sich auch der Inhalt der Gemälde. Stefan Germer merkt zu diesem Wandel an:

Die Darstellung kann nun nicht mehr aus dem Miterleben - für welche die Suggestion von Intensität hinreichen würde -, sondern nur aus dem Objektiv-Faktischen begründet werden. Sie lebt von der Rekonstruktion, nicht durch Suggestion von Gegenwärtigkeit.1

Inmitten dieses Wandels musste Manet sich sowohl g e g en die neuen, schnelleren Medien (Presseberichte, Illustrationen) als auch gegen den „Druck des medial vermittelten >Realen<“2 behaupten. So entwickelte Manet ein neues Ereig nisbildkonzept, welches den inhaltlichen Kern dieses Textes darstellt.

Was war das Außerg ewöhnliche an Manets Art, g eschichtliche Ereignisse darzustellen? Um diese Frag e zu beantworten, werde ich im Text g enauer das Verhältnis von Betrachter und Bild beleuchten: Dazu beschäftig e ich mich in Abschnitt 3. Bildkonzepte im Wandel mit Michael Frieds These, Manet habe ein neues Konzept entwickelt, das den Betrachter bejahe.

Am Beispiel der endgültigen Mannheimer Fassung des Gemäldes Die Erschießung Kaiser Maximilians (III) (1868/69) (Abb. 1) werde ich das Neue an Manets Ereig nisbildkonzept erläutern. Im Abschnitt 4.1 Ein neues Geschichtsbild möchte ich aufzeig en, wie Manet mit seinem Ereig nisbild­konzept auf die damalig en g esellschaftlichen Veränderung en reagiert und in welchen Punkten er sich von anderen malerischen Konzepten dieser Zeit unterscheidet. Im Abschnitt 4.2 Offenheit und Uneindeutigkeit beschäftig e ich mich mit der These, dass Manets Ereig nisbilder nur zum Teil verständlich und für den Betrachter auflösbar sind. Dazu trag en auch Aspekte wie der Betrachterstandort (Abschnitt 4.3) und Konzepte der Gleichzeitigkeit, Montage und Unendlichkeit (Abschnitte 4.4-4.5) bei. In den Abschnitten 4.6 Anwesenheit und Abwesenheit und 4.7 Rezeptionsscheitern komme ich auf mehrere Paradoxa in Manets Werk zu sprechen. Über die Gegensätze von Vollendung und Unab g eschlossenheit (fini et infini) sowie einer „anwesenden Abwesenheit“ von Bildelementen und des Malers selbst in seinem Werk, komme ich schließlich auf das manettypische Paradoxon schlechthin zu sprechen: dem Mehrwert durch Fehlendes und Falsches. Auch stelle ich Vermutung en darüber an, welche philosophischen Überleg ung en Manet als Ausg ang spunkt für die Entwicklung seines anspruchsvollen Bildkonzeptes gedient haben könnten. Im Abschnitt 4.8 möchte ich darle g en, inwiefern sich Manet mit seinem „Leitkonzept“ Fiktion von anderen Bildkonzepten abg renzt, bei denen Realität und/oder Illusion mehr im Vordergrund stehen. In Darstellung des Gewaltakts (Abschnitt 4.9) werde ich darüber sprechen, wie Manet den Eindruck erweckt, im Gemälde spiele sich das Geschehen unabhängig vom Zuschauer ab. Auch werde ich über die eigentümliche Emotionslosigkeit und Schläfrig keit sprechen, die das Bild innehat. An­schließend werde ich auf die konzeptionell optischen Phänomene Flachheit/ Reliefartigkeit/ Parallelität (Abschnitt 4.10) und auf das Spiegelkonzept (4.11) eingehen. Wie ich erläutern werde, sei beispielsweise ein paralleler Bildaufbau nötig, um dem Betrachter zu ermöglichen, sich, auch über den Bildrahmen hinaus, Spiegelungen vorzustellen. Eine Konsequenz daraus werde ich im Textabschnitt Innerbildliche Identifikationsfiguren (4.12) beschreiben: Parallelität bedinge also das Spiegelkonzept und dieses wiederum Identifikationsfig uren.

Nachdem ich das Ereig nisbildkonzept Manets beschrieben habe, möchte ich einig e Hypothesen bezüglich möglicher Konsequenzen in den interaktiven Medien äußern. Konkret beabsichtige ich es, das Computerspiel Street Fighter zu betrachten. Dazu werde ich am Anfang des Textes kurz, neben den Eckdaten zu Manet und seinem Werk, auch relevante allgemeine Informationen zu dem Beg riff der interaktiven Medien und dem Computerspiel Street Fightei3, das ich g enauer untersuchen möchte, g eben. Warum ich g erade dieses Spiel für einen Transfer ausgewählt habe, werde ich an späterer Stelle beg ründen. Vorweggenommen sei lediglich, dass zwischen dem Computerspiel und Manets Erschießung eine Vielzahl formaler und inhaltlicher Ähnlichkeiten zu finden sind.

Abschließend werde ich Vermutungen zu den Konsequenzen der Verwendung einig er Elemente aus Manets Ereig nisbilddarstellung im Spiel Street Fighter äußern. Doch bevor ich zum Hauptteil des Textes komme, möchte ich einleitend einen Forschung süberblick geben.

1.2 Forschungsüberblick

Wenn man sich mit Manets Ereig nisbildkonzept befasst, gibt es einige unentbehrliche Titel der Forschung sliteratur. Der Mannheimer Ausstellung s- katalog Edouard Manet. Augenblicke der Geschichte4, der von Stefan Germer und Manfred Fath herausg eg eben wurde, stellt einen für meinen Text zuträglichen Ausgang spunkt dar. Vor allem die Beiträg e von Stefan Germer selbst, aber auch von John House und Michael F. Zimmermann lieferten mir umfassende Informationen zur Entstehung und Kontextuali- sierung der Mannheimer Erschießung.

Um mich dem Verhältnis von Betrachter und Bild anzunähern, war der von Wolfg ang Kemp herausg egebene Sammelband Der Betrachter ist im Bild5 besonders hilfreich. Die kunstwissenschaftlichen Beiträge bieten einen reichhaltig en Überblick über den historischen Wandel der Bedeutung und Stellung des Rezipienten in Beziehung zu einem künstlerischen Werk.

Damit der Transfer von der Rezeption Manets zur Betrachtung interaktiver Medien g elingt (und da die Photog raphie als Bindeglied zwischen alten und neuen Medien angesehen werden kann), beziehe ich mich auf eine Koryphäe in der Theorie der Photog raphie: Michael Frieds Why Photography Matters as Art as Never Before6 beinhaltet einig e Ausführung en, die Manet in der Entwicklung eines neuen (photog raphischen) Kunstbeg riffes hervorhebt. Auf dem Gebiet der Computerspielanalyse gibt es ausführliche Ab­handlungen über die mutmaßliche Gefährlichkeit von „gewalttätigen Computerspielen“. Wie zu erwarten war, konnte ich hingegen in der Forschung sliteratur keine direkten Versuche ausfindig machen, die Konse­quenzen von Manets Ereig nisbildkonzept in den neuen Medien thematisieren. Dieser, zugegeben gewagte Brückenschlag scheint mir jedoch, wie ich im folg enden Text aufzuzeigen versuche, nicht allzu abwegig zu sein. Computerspiele werden zum Teil als „Eine Provokation für die Kulturwissenschaften“7 aufg efasst. Evelyne Keitel formuliert in dem gleich­namigen Buch: „Die Computerspiele sind bislang hauptsächlich in drei Bereichen diskutiert worden, in der Pädagogik, in den Kulturwissenschaften und in der Filmanalyse“8.

2. Allgemeines

2.1 Edouard Manet

Edouard Manet lebte von 1832 bis 1883. Er gilt als Weg bereiter der modernen Malerei. Er stieß im Salon de Paris mit seinen, damals als „hässlich“, „roh“ und „unsittlich“ bezeichneten Gemälden anfänglich auf große Ablehnung. Erst nach seinem Tod wurde Manets Werk allgemein positiver eing eschätzt und an gemessen gewürdigt.

Ein Aspekt, den die Manet Forschung umfassend untersucht, sind seine Ereig nisbildkonzepte. Manet g renzte sich mit seinen neuen Konzepten von zeitg enössischen Salon-Malern ab.

2.2 Die Erschießung Kaiser Maximilians

Manets Erschießung Kaiser Maximilians war für den Salon bestimmt, und das Sujet und die Art und Weise seiner Darstellung sind in diesem Kontext, speziell auch im Zusammenhang mit Historienbildern aus dieser Zeit, die aktuelles Geschehen aufgreifen, zu sehen.9

Manets neues Ereignisbildkonzept kann ausführlich anhand dieses Bildes, Die Erschießung Kaiser Maximilian (1868) (Abb. 1) und dessen mehrstufig en Entstehungsprozess erläutert werden. Das abgebildete Geschehen wird neutral und parteilos dargestellt. Diese Neutralität wird inhaltlich und formal erzeugt. Manets Ereig nisbildkonzept verlan g t neue rezeptive Fähigkeiten.

Das Gemälde entstand, nachdem die Nachricht der Erschießung Maximilians Paris, während der dortig en Weltausstellung 1867, erreichte. Nach dem Presseaufruhr um die Erschießung, „[wiesen] die offiziellen Org ane Frankreichs freilich [...] jede auch nur ang edeutete Schuldzuweisung an die Adresse Frankreichs, der französischen Regierung oder des französischen Kaisers bestürzt und empört zurück“10. Juliet Wilson-Bareau beschreibt den Umgang mit dem Ereignis in den visuellen Medien folg endermaßen:

Während im Bereich des geschriebenen Wortes eine relativ freie Meinungsäußerung möglich war, herrschte in bezug [sic!] auf bildliche Darstellungen nach wie vor eine überaus wachsame Zensur.11

Karikaturen seien laut Wilson-Bareau zensiert und Photographien des Exekutionskommandos g änzlich verboten worden. Auch Manets Werk sei von der Zensur betroffen gewesen. Es sei ihm untersagt gewesen, Litho g rafien und Gemälde zum Thema öffentlich auszustellen.12

Zwischen Sommer 1867 und Frühjahr 1869 fertigte Manet eine Ölstudie sowie eine Litho graphie an und malte drei Großformate (die nach dem heutigen Aufenthaltsort benannten Bostoner, Londoner und Mannheimer Fassungen). Beachtenswert sei, betont Wilson-Bareau, dass die Erschießung von Maximilian das einzig e derart brisante politische Ereignis sei, das Manet in einem Gemälde verarbeitet habe.13

Zu einer detaillierten Auflistung der Quellen, die Manet mit g roßer Wahrscheinlichkeit für seine Erschießungsbilder verwendete, siehe Juliet Wilson-Bareaus Beitrag Manet und die Erschießung Kaiser Maximilians in Manet. Augenblicke der Geschichte auf den Seiten 108-128.

2.3 Interaktive Medien

Anhand eines Beispiels möchte ich zeig en, dass zumindest Elemente aus Manets Ereig nisbildkonzept der Erschießung, sich sogar in einigen Computerspielen, also interaktiven Medien wiedererkennen lassen. „Interaktiv“ wird vom lateinischen inter agere abgeleitet und bedeutet „wechselseitig “ und „aufeinander bezog en“. Als interaktiv werden Medien bezeichnet, wenn der Zuschauer [bzw. Rezipient] in die Handlung eingreifen und somit das weitere Geschehen beeinflussen kann. [...] [Computer-JSpiele sind [... meist] sehr interaktiv, da der Spieler hier mit seinen Handlungen maßgeblich das Spielgeschehen und somit auch seinen Spielerfolg beeinflusst.14

Der Interaktivitätsbeg riff, der in diesem Text Relevanz besitzt, charakterisiert die Beziehung zwischen Mensch und digitalem Medium (etwa einem Computer oder einem Spielautomaten). Wenn ein Mensch mit einem Computer „interagiert“, müssen beide Instanzen jeweils mehrere Optionen zur Verfüg ung haben. Interaktivität grenzt die neuen Kommunikations­technologien von alten einkanaligen Sendemedien ab. So kann der Rezipient eines Computerspiels dem Medium direkt antworten - und umg ekehrt. Beispielsweise passt g eg ebenenfalls das Computerspiel seinen Schwierigkeitsg rad an die Fähig keiten des jeweilig en Spielers an, während der Spieler direkt auf die Anforderungen im Spiel reagieren muss, um im Spiel Erfolg zu haben.

Darüber hinaus könne auch die Handlung eines Computerspiels verschiedene Qualitäten von Interaktivität besitzen, so Bernd Hartmann.15 Zwar ist der Anteil an narrativer Interaktivität in dem Spiel, welches in diesem Text g enauer betrachtet wird relativ g ering, aber durchaus vorhanden.16

2.4 Das Genre Computerspiel

Zunächst kann man festhalten, dass „Computerspiele [...] Motor und Trä g er der Geg enwartskultur [sind]. Sie sind Ausdruck und Zeichen kulturellen Wandels. Und sie eröffnen den Nutzern die Möglichkeit, sich kulturell relevante Techniken aktiv anzueignen“17. Evelyn Keitel versucht sich in der Einleitung von Computerspiele - Eine Provokation für die Kulturwissen­schaften? an einer Definition des Computerspielbeg riffs als Teil der Populärkultur:

Kommerzielle Computerspiele sind digital vermittelte Erlebniswelten. Sie bestehen aus bewegten Bildern, Videosequenzen, Sound, Musik, sprachlichen Elementen und mehrdimensionalen Landschaften. [...] [ÄJltere Formen von Populärkultur (Film, Musikvideo, Popmusik) [werden] integriert, vieles von dem übernommen, was es vorher schon gab, und die einzelnen Fragmente zu einem schillernden Ganzen zusammengefügt. [...] Beim Spielen muss in digitalen Räumen navigiert, und es muss mit ihnen interagiert werden. Die Appellstruktur der Computerspiele wird von formalen Elementen gesteuert, von der Art, wie ein Spiel konstruiert ist™18

Hartmann hebt hervor, im Gegensatz zu Erlebniswelten und Erzählungen in anderen Medien, wo eine zeitliche Organisation wichtig sei, seien Computerspiele primär räumlich org anisiert.19 Und diese Spielräume sind endlich, oftmals inselartig konstruiert, ähnlich einem Gemälde:

Ein Gemälde stellt einen räumlich begrenzten Ausschnitt eines Geschehens dar. [...] Begrenzungslinien [werden] nicht nur mitgedacht, sondern [sind] Teil des Kunstwerkes [...]: das angrenzende „Niemandsland“ (Meer, Lava, Wüste, Nebel) in den Computerspielen, der Rahmen bei Gemälden.20

In raumdominierten Kunstformen, rückt Perspektive gewissermaßen automatisch in den Blick. Innerhalb der Computerspiele gibt es verschiedene Subgenres. Eines davon ist das Action-Spiel: „Das Prinzip von action- und Kampfspielen ist der Wettkampf. [...] [Dabei] kommt es auf Schnellig keit und Geschicklichkeit an: konkurrierende Mitspieler müssen [...] besieg t werden“21.

Ein nicht unbedeutender Anteil dieser „Wettkämpfe“ beinhaltet auch explizite Darstellung en von Gewalt. Es gibt ausführliche Abhandlung en über die Gefährlichkeit von sogenannten „gewalttätigen Computerspielen“22. Ein Versuch einer Beg ründung dafür, warum jene Spiele gefährlich sein sollen, ist, dass die Gewalthandlungen in einer neutralen, distanzierten und gleichg ültigen Art und Weise dargestellt werden. Andere Meinungen behaupten, es sei bedenklicher, man baue diese Distanz ab, sodass die Spieler eine enge emotionale Beziehung zu den spielinternen Fig uren aufbauen würden, bevor Gewalthandlungen Teil des interaktiven Erlebens werden. Ob eine neutrale Distanz zur Gewalthandlung im Spiel eher emotional abhärtend oder schützend wirkt, ist vermutlich nur schwer empirisch zu untersuchen. Fakt ist, dass die (oft noch minderjährigen) Computerspieler mit neutral darg estellten Gewaltereignissen konfrontiert werden.23

2.3 Das Computerspiel Street Fighter

Ich möchte ein konkretes Beispiel eines solchen Computerspiels näher betrachten. Es handelt sich hierbei um Street Fighter. Dieses Spiel wurde 1987 erstmals vom japanischen Videospielehersteller Capcom24 veröffentlicht. Anfänglich wurde das Spiel ausschließlich in amerikanischen Spielhallen (sogenannten arcades25) g espielt. Street Fighter, anfang s ein Spiel, das wenig Aufsehen erregte, war der erste Teil einer der beliebtesten Spieleserien der frühen Neunzig er. Es zählt zum Sub genre der Prügelspiele bzw. Beat-'em-Up26 (englisch für „Schlag sie zusammen“). Markant für diese Art von Spielen ist die Anwendung von direkter körperlicher Gewalt, wie schon das Frontcover der Spieleverpackung verrät (Abb. 2). Zur Anwendun g kommen in Street Fighter diverse asiatisch inspirierte Kampfkünste, aber auch westliche Kampftechniken wie etwa Wrestling, sowie verschiedene Boxstile. Die Spielfig uren sind darüber hinaus in der Lage individuelle fantastische Fähigkeiten auszuüben (so g enannte special moves; Abb. 3). Es kann im Spiel zwischen einem Einzel- und Mehrspielermodus gewählt werden. Im Einzelspielermodus spielt man gegen den Computer, im Mehrspielermodus geg en menschliche Gegner. Neben dem neue Maßstäbe setzenden Kampfsystem war vor allem auch die charakteristische 2D- Gestaltung (Abb. 4) für den Erfolg der Reihe verantwortlich. Diese Grafik war geprägt von einer hohen Übersichtlichkeit und Funktionalität. Dazu aber später mehr.

3. Bildkonzepte im Wandel

3.1 Das (Er)finden und Negieren des Betrachters

Um eine Brücke von Manet zu den interaktiven Medien zu schlag en, ist es sinnvoll die Photog raphie als g edanklichen Zwischenhalt zu wählen. Michael Fried schildert in seinem Buch Why Photographie Matters as Art as Never Before, wie sich in der Bildenden Kunst ein neuer photog raphischer Blick entwickelte und sich das Verhältnis von Bild und Betrachter veränderte.

Dabei spielte Manets Werk, welches auch als proto-photog raphisch bezeichnet wird, eine entscheidende Rolle: [The] tradition of antitheatrical critical thought and pictorial practice [...] runs [...] until it reaches a crisis of insustainability in the art of Edouard Manet in the 1860s and 1870s. Thereafter it undergoes a fundamental change [...].27

Pinder merkt in seinem Aufsatz Die Anerkennung des Betrachters an, dass der Betrachter eig entlich schon allein dann bedacht werde, sobald eine Perspektive in einem Gemälde g esetzt werde (Abb. 5):

[Wenn] Jan van Eyck Adam und Eva im Obergeschoss des Genfer Altares so malte, daß wir ihre Füße von unten sehen, so dachte er, indem er das Obensein der Gestalten berechnete, an das Untensein des Betrachters.28

Explizit theoretisiert worden, sei der reale Betrachter, laut Michael Fried, jedoch erst durch Denis Diderot.29 Frieds Ansicht nach habe Diderot eine „dramatische Auffassung von Malerei“30. Was aber bedeutet „dramatisch“ in diesem Zusammenhang? Fried paraphrasiert Diderots Erläuterung sinngemäß wie folgt: Wenn abgebildete Personen in einem Gemälde beispielsweise in einem selbstverg essenen Akt des Sinnens und Betrach - tens dargestellt seien, sei dem Maler gelungen eine Fiktion von der Nichtexistenz des Betrachters zu verwirklichen.31 Ein Gemälde, in dem nach Ansicht Diderots der Versuch erkennbar sei, diese Fiktion zu erzeug en, sei Jaques Louis Davids Blinder Belisarius (Abb. 6). Diderot meinte, der Soldat im Gemälde nehme die Stelle des Betrachters ein, er nehme den realen Betrachter förmlich g efang en und lenke die volle Aufmerksamkeit auf sich.

Der Soldat fungiere als „Ersatzbetrachter“ und Vermittler zwischen dem realen Betrachter und dem Objekt der Beobachtung, dem Belisarius (Abb. 7).32 Fried resümiert abschließend:

Diderot sah in [Blinder Belisarius] ein doppeltes Paradigma oder ein Paradigma von Paradigmen: für die Bildkomposition im allgemeinen und für das Verhältnis zwischen Bild und Betrachter, von dessen Herstellung ihm der Erfolg, ja die Geltung des malerischen Unternehmens abzuhängen schien.33

Man kann Diderots „dramatische“ Auffassung von Malerei mit dem Bildkonzept des theatralischen Bühnenraums in Verbindung bring en. Wobei eine Bühne oder ein bühnenartiger Bildaufbau immer auch auf einen Zuschauer bzw. Betrachter verweist. Diderot störte sich wenig er am parallel ang eordneten Bildaufbau, als an der nach außen g ewandten theatralischen Mimik und Gestik. Fried merkt an: Blinder Belisarius sei ein Gemälde, in dem eine theatralische 90°-Verschiebung der Betrachterperspektive vorg enom- men werde: der bildinterne Betrachter (Soldat) und der Betrachtete (Belisarius) sind in einer Ebene, die parallel zur Bildebene verläuft, platziert. Somit werde der komplette Akt des Betrachtens Inhalt des Bildes - nicht nur das, was betrachtet werde (der blinde Belisarius).34

Es herrschte I860 in der französischen Malerei eine Art Tradition bzw. bildkonzeptueller Konsens:

Edouard Manet and his generation around I860 may be understood in terms of an ongoing effort to make pointings that by one strategy or another appear - in the first place by depicting personages wholly absolved in what they are doing, thinking and feeling and in multifigure painting by binding those personages together in a [...] unified composition - to deny the presence before them of the beholder, or to put this more affirmatively, to establish the antological fiction that the beholder does not exist.35

Fried fasst zusammen, dass der Betrachter zu Zeiten Manets nur dann vor der Leinwand verweilt habe, wenn der Betrachter sich nicht vom Bild angesprochen gefühlt habe - wenn also das Bild den Anschein erweckt habe, nicht zum Anschauen gedacht zu sein.36 Wenn man hingegen gemerkt habe, dass die abgebildete Person schauspielert oder gar für den Maler posiert habe, habe das Gemälde als gänzlich ungelungen gegolten.37

3.2 Manets Bejahung des Betrachters

Diesem soeben geschilderten zeitgenössischen Ideal widersprach Manets „facingness“ und „strikingness“, jenes frontale Aus-dem-Bild-Blicken seiner Figuren:

Der Bezug zum Betrachter ist in fast allen Gemälden Manets überdeutlich, fast stets blickt eine Figur den Betrachter unverhohlen und doch verloren an, ohne dass es zu einer eindeutigen Beziehung der Blicke kommt.38

[...]


1 Germer, Stefan: Le Répertoire des Souvenirs. Zur Reflexion des Historischen bei Manet. In: Germer, Stefan (Hg.): Manet. Aug enblicke der Geschichte. Kunsthalle Mannheim. Katalog. Ausstellung 18. Oktober 1992 bis 17. Januar 1993. München 1992, S. 46.

2 Ebd.

3 Street Fighter. Capcom 1987.

4 Germer, Stefan (Hg.): Manet. Aug enblicke der Geschichte. Kunsthalle Mannheim. Katalog. Ausstellung 18. Oktober 1992 bis 17. Januar 1993. München 1992.

5 Kemp, Wolfg ang (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Hamburg 1992.

6 Fried, Michael: Why Photog raphy Matters as Art as Never Before. Yale 2008.

7 Keitel, Evelyne (Hg.): Computerspiele - Eine Provokation für die Kulturwissenschaften?. Leng erich 2003.

8 Ebd., S. 21.

9 House, John: Über Historienmalerei, Zensur und Hintersinn. Manets Erschießung Kaiser Maximilians. In: Germer (1992), S. 26.

10 Wilson-Bareau, Juliet: Manet und die Erschießung Kaiser Maximilians. In: Germer (1992), S. 104.

11 Ebd.

12 Vgl. ebd.

13 Vgl. ebd., S. 104f.

14 Art.: „Interaktiv“. In: Wirsing, Christian: Das g rosse Lexikon der Computerspiele. Spiele, Firmen, Technik, Macher. Berlin 2003, S. 237.

15 Vgl. Hartmann, Bernd: Literatur, Film und das Computerspiel. Beiträg e zur Medienästhetik und Medieng eschichte. Münster 2004. Abs. 4.4 Interactive Fiction, S. 70f.

16 In sog enannten adventure oder roleplaying games wie Diablo oder Monkey Island entwickelt sich die Handlung zum Teil g rundverschieden, je nach Entscheidung en und Optionen, die der Spieler während des Spiels auswählt.

17 Keitel (2003), S. 21.

18 Ebd., S. 12.

19 Vgl. Hartmann (2004), S. 85.

20 Keitel (2003), S. 13.

21 Ebd., S. 14-16.

22 Ebd., S. 21.

23 Vgl. ebd.

24 Art.: „Capcom“. In: Wirsing (2003), S. 81.

25 Art.: „Spielautomaten“. In: Ebd., S. 431.

26 Art.: „Beat-'em-Up“. In: Ebd., S. 54.

27 Fried (2008), S. 100.

28 Pinder, Wilhelm: Die Anerkennung des Betrachters. In: Kemp (1992), S. 54.

29 Vgl. Fried, Michael: Malerei und Betrachter. Jacques Louis Davids Blinder Belisarius. In: Kemp (1992), S. 222.

30 Ebd., S. 214f.

31 Vg l. ebd., S. 222.

32 Vg l. ebd., S. 216: „que ce soldat faisoit mon rôle“.

33 Ebd., S. 217.

34 Vgl. ebd., S. 227: „Man könnte sagen, das Bild sei nicht dazu bestimmt, betrachtet zu werden.“.

35 Fried (2008), S. 40.

36 Vgl. ebd.

37 Vgl. ebd.: „the painting was judged a failure“.

38 Zimmermann, Michael F.: »Il faut tout le temps rester le maître et faire ce qui amuse.« Zum Stand der Debatte um Manet. In: Germer (1992), S. 146.

Fin de l'extrait de 49 pages

Résumé des informations

Titre
Bild und Betrachter - Ereignisbildkonzepte bei Manet und mögliche Konsequenzen in den interaktiven Medien
Université
University of the Arts Berlin  (Kunstwissenschaft und Ästhetik)
Note
2,3
Auteur
Année
2011
Pages
49
N° de catalogue
V188046
ISBN (ebook)
9783656117339
Taille d'un fichier
2475 KB
Langue
allemand
Annotations
Zentrale besprochene Werke: das Gemälde "Die Erschießung des Kaiser Maximilians" von Manet und das Videospiel "Street Fighter" von Capcom
Mots clés
Manet, Erschießung des Kaiser Maximilians, Street Fighter, Super Nintendo, Videospiel, Bildkonzept, Ereignisbildkonzept, Betrachter, Gewaltdarstellung, Interaktivität, Betrachterstandort, Computerspiel, Edouard, Spiegelkonzept, Identifikationsfigur, Schaulustige
Citation du texte
Christian Lehmann (Auteur), 2011, Bild und Betrachter - Ereignisbildkonzepte bei Manet und mögliche Konsequenzen in den interaktiven Medien, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188046

Commentaires

  • Pas encore de commentaires.
Lire l'ebook
Titre: Bild und Betrachter - Ereignisbildkonzepte bei Manet und mögliche Konsequenzen in den interaktiven Medien



Télécharger textes

Votre devoir / mémoire:

- Publication en tant qu'eBook et livre
- Honoraires élevés sur les ventes
- Pour vous complètement gratuit - avec ISBN
- Cela dure que 5 minutes
- Chaque œuvre trouve des lecteurs

Devenir un auteur