Helmut Schmidt, politische Bedeutung und politisches Profil


Trabajo Escrito, 2003

128 Páginas, Calificación: 1,5


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Die frühen Jahre
1.1 Kindheit und Jugend in Hamburg
1.2 Die Lichtwarkschule
1.3 Soldat unter Hitler
1.4 Zwischen Krieg und erstem Bundestagsmandat

2.Der lange Aufstieg
2.1 Die ersten Bundestagsmandate und die Flut
2.2 Fraktionsvorsitzender
2.3 Helmut Schmidt als Bundesminister

3. Die Kanzlerschaft
3.1 Die geistig – moralische Grundhaltung Schmidts
3.2 Anfängliche Krise
3.3 Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit von 1975
3.4 Rambouillet, Weltwirtschaft und EMS

4. Die zweite Amtsperiode als Bundeskanzler
4.1 Die Wahl 1976 und darauf folgende Probleme
4.2 Helmut Schmidt zwischen Carter und Breschnew
4.3 Der heiße Herbst 1977 – Helmut Schmidt und die RAF
4.4 Das Kleeblatt – Schmidts Berater im Kanzleramt
4.5 Der NATO – Doppelbeschluss und die Afghanistan – Krise

5. Die dritte Amtsperiode als Bundeskanzler
5.1 Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß: Ein Vergleich zur Wahl 1980
5.2 Konflikte in der Innen- und in der Außenpolitik
5.3 Die Koalitionskrise mit der FDP
5.4 Das Ende der Kanzlerschaft Helmut Schmidts

6. Schlusswort

7. Didaktischer Teil
7.1 Einleitung und Lehrplanbezug
7.2 Methodische Aspekte und Medieneinsatz
7.3 Lernziele
7.4 Verlaufsplanung zur Unterrichtseinheit „Von der KSZE zur Konferenz von Reykjavik“

8. Literaturliste zu Helmut Schmidt

9. Anlage für die wissenschaftliche Hausarbeit

1. Die frühen Jahre

1.1 Kindheit und Jugend in Hamburg

Am 23. Dezember 1918 wird im Hamburger Stadtteil Barmbeck Helmut Heinrich Waldemar Schmidt als erstes Kind von Gustav und Ludovica Schmidt geboren. 1920 folgt sein Bruder Wolfgang. Der Arbeiterstadtteil Barmbeck gilt als „rote Siedlung“[1]. Der Vater gilt als politisch liberal und ist Volksschullehrer, erwirbt später das Diplom zum Handelslehrer. Das Besondere an Gustav Schmidt ist, dass er das Ergebnis eines großbürgerlichen, jüdischen Seitensprungs war. Diese Tatsache wurde zuerst von Jonathan Carr 1984 vollständig aufgedeckt. Der Großvater von Helmut Schmidt hieß mit Nachnamen Gumbel und gehörte einer Bankiersfamilie an. Den unehelichen Sohn Gustav brachte er bei einer Familie Schmidt unter, die ihn dann später adoptierte. Die Historie des Großvaters Gumbel ist bis heute verschollen.

Die Mutter Helmut Schmidts war künstlerisch begabt. Sie sang, spielte verschiedene Instrumente, besuchte Museen und war bestrebt, ihre Kinder der Musik nahe zu bringen. Helmut unterrichtete sie im Klavierspielen. Durch das künstlerische Leben seiner Mutter wird in Helmut schon als Junge das Interesse für Musik und die Malerei geweckt. Die Mutter ist unpolitisch[2].

Der Vater führt zu Hause ein strenges Regiment. Auch er ist bemüht, die Kinder unpolitisch zu erziehen[3]. Ab 1933 versucht er seine Söhne von den Organisationen der Nationalsozialisten fern zu halten.

Bis 1929 besuchte Schmidt die Volksschule, danach wechselte er auf die Lichtwark – Oberschule. Die Besonderheit dieser Schule werde ich später genauer im Kapitel 1.2 erläutern. In der selben Sexta des Jahres 1929 befand sich Hannelore Glaser, genannt Loki. Die Eltern Lokis waren zwar einfache Handwerker, doch sie bildeten ihre Kinder ebenfalls wie die Familie Schmidt in Malerei und Kunst weiter. Die familiären Unterschiede zwischen der Familie Glaser und der Familie Schmidt sind groß. Während Helmut aus einem Beamtenhaushalt kam, waren Lokis Eltern Handwerker. Die Familie Glaser war während der Weltwirtschaftskrise immer wieder von Arbeitslosigkeit bedroht und wohnte zu sechst in einer 28 m² großen Wohnung.

Helmut Schmidt ist ein sehr guter Schüler. Durch die starke Förderung der Kunst an der Lichtwark – Oberschule wird sein Interesse für die Expressionisten geweckt, die ihn später und bis heute begeistern werden. Er versuchte nach dem 2. Weltkrieg eine Art Wiedergutmachung zu betreiben, in dem er für die während des Naziregimes verbotenen Werke der Künstler warb: „(Beeinflußt...) durch die Kunsterziehung an der Lichtwarkschule, war ich seit meiner Jugend vom deutschen Expressionismus begeistert Als Bundeskanzler nutzte ich jede Möglichkeit, den Expressionisten im Bewußtsein sowohl der deutschen als auch des Auslandes zu ihrem wohlverdienten Durchbruch zu verhelfen, denn noch immer spielten sie in der Welt nur eine untergeordnete Rolle. Deshalb habe ich auch den Neubau des Bundeskanzleramtes mit expressionistischen Kunstwerken ausgestattet, was ausländischen Besuchern immer Anlaß zum Gespräch gab.“[4].

Durch seine aktive Mitgliedschaft in einem Hamburger Ruderverein wird er automatisch in die Marine – Hitlerjugend eingegliedert. 1934 bis 1936 war er Scharführer, doch kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag wurde er suspendiert („Ich nehme wirklich an, weil ich dauernd dummes Zeug geredet habe in deren Augen; denen ist meine Meckerei wohl auf die Nerven gegangen“[5]). Mit ein Grund hierfür war wohl ein Fries, was er entlang der Kellerwand des Ruderclubs gemalt hatte, und auf welchem er ein Nazilied zitiert hatte („Freiheit ist das Feuer, ist der helle Schein, solange es noch lodert ist die Welt nicht zu klein“). Aber verbunden mit seiner „Meckerei“ bekam der Text eine völlig andere Bedeutung. 1937 wird Helmut Schmidt nach nur acht Oberschuljahren zum Abitur zugelassen, welches er auch sehr gut bestand. Grund für die nur acht Jahre war sicherlich, dass Hitler junge Männer für seine bevorstehenden Kriege benötigte.

1.2 Die Lichtwarkschule

Die Lichtwarkschule hatte ihren Namen von ihrem geistigen Vater Alfred Lichtwark. Der 1914 verstorbene ehemalige Direktor der Hamburger Kunsthalle hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Kunst in das einfache Volk zu tragen. Er entwickelte ein pädagogisches Konzept, in dem die Kinder lernen sollten selbstständig zu denken, unterschiedliche Meinungen differenziert zu diskutieren, Kritik zu üben, aber auch mit Kritik umzugehen. Die musische und künstlerische Erziehung stand ganz oben in seinem pädagogischen Konzept. Völlig neu zu dieser Zeit war die Einführung der Koedukation.

Die Lichtwarkschule „war eine Frucht des kulturkritischen Aufbruchs, der nach dem ersten Weltkrieg immer mehr Menschen (...) ergriffen hatte“[6]. Neu war in der 1925 eröffneten Oberschule ebenfalls der tägliche Sportunterricht ebenso wie die Aufteilung in Kurs- und Kernunterricht. Man war bemüht, die Schüler zu selbständigem Arbeiten anzuregen. Es wurden Klassenreisen bis ins Ausland angeboten, und die Pädagogen führten die Schüler an das Leben mit der deutsche Sprache, der deutschen Literatur, an das deutsche Staats- und Wirtschaftsleben, an die deutsche Kunst und das deutsche Volkstum heran. „Die Lichtwark – Pädagogen lehnten aber (...) die alten Über- und Unterordnungen ab. Die soziale Erziehung war ebenfalls Teil des gemeinsamen Konzepts“[7]. Das Lehrer – Schüler – Verhältnis sollte völlig neu geordnet werden. Die Schüler durften mit ihren Erziehern den Unterricht gemeinsam bestimmen und gestalten. Die Zimmer waren nicht mit starren Bänken ausgestattet, sondern vielmehr mit beweglichen Tischen und Stühlen versehen. Die alten autoritären Verhaltensweisen sollten hin zu einem neuen herzhaften und demokratischen Verhältnis gewandelt werden. Die Schüler sollten Mitverantwortung an der täglichen Gestaltung des Schullebens tragen. Die Schule war als Institution gedacht, in welcher die Kinder „unausgesetzt üben konnten, Verantwortung zu tragen"[8]. Neu war auch, dass die Kinder so genannte „Jahresarbeiten“ abzuliefern hatten. Hier befasste sich Helmut Schmidt mit weit auseinander liegenden Themen. Sein erstes Thema lautete: „Die Konkurrenz zwischen den Seehäfen Antwerpen, Bremen und Hamburg“. Ein Anderes „Die Weserrenaissance in Hameln und Bückeburg“. Eine weitere Aufgabe war, „zwanzig Choräle in vierstimmigen Satz zu setzen“[9].

Die Lichtwarkschule konnte aber nicht lange bestehen. Diese reformorientierte Schule war den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Sie empfanden „die eigenständige Kulturgesinnung, die hier heimisch geworden war, als Fremdkörper in ihrem Erziehungsprogramm und tilgten sie daher aus der pädagogischen Landschaft“[10]. Der Name wurde geändert, die Koedukation abgeschafft. Dies war auch der Grund, warum Helmut Schmidt sein Abitur auf einer anderen Schule abgenommen wurde. Sein Abschluss wird als „hochansehnlich“[11] bezeichnet. In keinem Fach war er schlechter als „sehr gut“ oder „gut“.

1.3 Soldat unter Hitler

Nachdem Helmut Schmidt 1937 sein Abitur bestanden hatte wurde er zum halbjährigen Arbeitsdienst abkommandiert. Diese Zeit war für ihn keine besonders angenehme, da er immer wieder an „geradezu dämlich – aufdringlichen politischen Schulungen“[12] teilnehmen musste. Er überbrückte diese Zeit damit, dass er für seine Vorgesetzten Aquarelle zur Zierde ihrer „schlichten Wände“[13] malte. Danach wurde er zur Wehrpflicht einberufen. Diese absolvierte Schmidt bei der Flakartillerie in Bremen – Vegesack. Eigentlich wollte er nach dem Wehrdienst Architektur studieren, doch der Zweite Weltkrieg kam ihm dazwischen. Der Feldwebel der Reserve wird zur Luftverteidigung Bremens eingesetzt, die zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht sehr gefordert wurde, da man noch über Deutschland die Lufthoheit besaß. Helmut Schmidt soll sich in seiner Zeit bei der Luftwaffe in Bremen verglichen mit seiner Zeit beim Arbeitsdienst „fast wie in einer Oase“[14] gefühlt haben. Während gleichaltrige schon in den Blitzkriegen Richtung Osten geschickt wurden, hatte er, verglichen mit ihnen, ein leichtes Leben. Das Blatt wendete sich aber für ihn, da er im Sommer 1941 mit einer Leichten Flakabteilung im Verband der 1. Panzerdivision nach Russland versetzt wurde. Zuerst ging es bis nach Leningrad, dann wurde er im Herbst in den Mittelabschnitt geschickt, der zum Ziel hatte, Moskau noch vor Wintereinbruch zu erobern. Inzwischen war Schmidt zum Leutnant der Luftwaffe befördert worden. Er überlebte eine Einkesselung bei Klein ebenso wie den russischen Winter 41/42. Im Januar 1942 wurde er zurück nach Berlin beordert. Hier soll er als Referent für die Ausbildung an leichten Flugabwehrwaffen im Oberkommando der Luftwaffe arbeiten.

Auch im Privaten ändert sich Schmidts Leben. Er traf seine Jugendfreundin Loki wieder, die als Lehrerin an Volks- und Realschulen begonnen hatte. Im Juni 1942 heirateten der Oberleutnant der Reserve Helmut Schmidt und Loki Glaser. Die Hochzeit war aber vor ein großes Hindernis gestellt: im Dritten Reich benötigte man zur Heirat einen so genannten „Ariernachweis“. Dies gestaltete sich bei Schmidt sehr schwierig, sollte doch verschwiegen werden, dass sein Großvater ein Jude gewesen war. Doch sein Bonner Vorgesetzter (dort wohnte dieser) stellte ihn vor keine großen Schwierigkeiten „...als der junge Offizier ihm [Oberstleutnant Andersen Anmerkung des Verf.] erklärte, von seinem Großvater wisse er leider nichts, hier habe er ihm ein Papier mitgebracht, da schaute der Kommandeur nur flüchtig hin und befahl seinem Adjutanten:‘ Machen sie eine Bescheinigung, daß der arische Nachweis erbracht ist‘“[15]. So entging Schmidt dank seines nicht zu sehr vom System überzeugtem Vorgesetzten der sicheren Entdeckung. Die Haltung des Oberstleutnants Andersen hat ihn bis in die heutige Zeit seine positive Einstellung gegenüber großen Teilen der Wehrmacht erhalten.

Helmut Schmidt galt aber auch in Berlin als Querkopf. Zur Abschreckung wurde er als Zuschauer in einem der Prozesse nach dem 20. Juli 1944 abkommandiert. An diesem Tag wurde gegen Carl Goerdeler, Ulrich von Hassel, Paul Lejeune – Jung, Wilhelm Leuschner und Joseph Wirmer prozessiert. Schmidt war von diesem Schauspiel, das der Prozessführer Roland Freisler gestaltete so entsetzt, dass er seinen Vorgesetzten bat, „ihm einen weiteren Tag zu ersparen“[16]. Er schrieb im Juni 1946 an die Witwe Ilse von Hassel: „Die ganze Prozedur sei ausschließlich auf menschliche Entwürdigung und seelische Vernichtung abgestellt gewesen. Die Verhandlung, die aller Prozeßordnung Hohn sprach, nennt Schmidt eine einzige Schaustellung Freislers, der dabei Goebbelssche Intelligenz und demagogische Zungenfertigkeit mit dem Jargon des Pöbels vereinigte ...“[17]. Aber auch dieser Schauprozess machte ihn nicht vorsichtiger. Auf Grund von negativen Äußerungen wurde gegen ihn ermittelt. Doch da sich keine Zeugen fanden, die gegen ihn Aussagen wollten oder konnten, blieb er zunächst unbehelligt. Ein ihm wohlgesonnener General erkannte aber die Gefahr, in die sich Schmidt immer wieder selbst begab. Um ihn und seine junge Familie zu schützen - am 26. Juni 1944 war ihr erstes gemeinsame Kind , Sohn Helmut – Walter zur Welt gekommen – ließ er Schmidt an die Westfront nach Belgien versetzen, um dort an der Ardennenoffensive teilzunehmen. Mit dieser Maßnahme wollte er den Oberleutnant dem Zugriff der Gestapo entziehen. Nach schweren Kämpfen wurde Helmut Schmidt im April 1945 in der Lüneburger Heide auf dem Rückzug gefangen genommen und entwaffnet. Aber „schon am letzten Augusttag kam er nach Hause, furchtbar abgemagert, nur noch ein Strich in der Landschaft“[18]. Sein Sohn Helmut – Walter war sieben Monate nach seiner Geburt an einer Hirnhautentzündung gestorben. Das Kind wurde in Bernau bei Berlin begraben, wo Loki damals arbeitete. Als Schmidt vom Tod seines Sohnes erfuhr, bekam er wenige Tage Urlaub. Er wollte gemeinsam mit Loki, die wieder in Hamburg wohnte, das Grab des Sohnes aufsuchen. Doch hier stellte sich ein nahezu unlösbares Problem: Bernau war inzwischen schon so gut wie Frontgebiet. Für ihn wäre es kein Problem gewesen diesen Ort aufzusuchen, doch für eine einfache Zivilistin wie Loki war es nahezu unmöglich. Nun wollte es das Schicksal, das zu diesem Zeitpunkt General von Rantzau nach Hamburg versetzt worden war. Dieser General war es gewesen, der Schmidt vor der Gestapo bewahrt hatte. Er ernannte Loki kurzer Hand zur „Luftwaffen – Helferin“[19] und ließ sie so beide nach Bernau reisen. Der General riskierte mit diesem Verhalten Kopf und Kragen, doch auch hier zeigte sich wieder eine Menschlichkeit, die Schmidt später von der Wehrmacht als „einzig anständigen Verein“[20] sprechen ließ.

1.4 Zwischen Krieg und erstem Bundestagsmandat

Im April 1945 geriet Helmut Schmidt in britische Kriegsgefangenschaft, während er mit seiner Einheit in der Lüneburger Heide kämpfte. Er wurde im belgischen Lager Yabekke interniert. Dieses Lager gilt als der Quell seiner Sozialdemokratie. Hier war es ihm erstmals möglich freie Diskussionen über viele Themen zu führen, die während des Dritten Reichs nicht möglich gewesen waren. Diese Diskussionen fanden unter dem Einfluss älterer Kameraden statt und wiesen ihm die Richtung, „wie ein Staat wohl sein sollte“[21]. Besonders ein gewisser Oberstleutnant Hans Bohnenkamp (Schmidt: „ein religiöser Sozialist“[22]) wies ihm die Richtung hin zur Sozialdemokratie. Ebenfalls angenehm war Schmidt die Kameradschaft und die Solidarität unter den Soldaten (Schmidt: „Ja, die Solidarität fand ich sehr attraktiv. Das Streben nach sozialer Gleichgerechtigkeit, das ist für mich von ganz großer Bedeutung; das ist ja Erbteil der Sozialdemokraten aus dem vorigen Jahrhundert.“[23]). Schmidt suchte nach einem Sozialismus, der die Welt wieder aufbauen und verbessern sollte. Von utopischen Heilsvorstellungen und Klassenkämpfen hielt er wenig. Deswegen definierte er sich auch eher zu der Leitfigur Ferdinand Lasalle als zu Karl Marx („Ich würde für mich behaupten wollen: Meine Linie ist Lasalle, Bernstein, Friedrich Ebert – für mich eine ganz große, tragische Figur.“[24]). Während die von Schmidt genannten Personen eher der Zeitgeschichte angehörten, strebte ein Sozialdemokrat immer stärker empor: Kurt Schumacher. Die SPD war nach dem Zerfall des Dritten Reichs fast aus dem Stand wieder da. Mit Stolz und würde auftretend konnte sie als einzige Partei von sich behaupten, im Jahre 1933 das Ermächtigungsgesetz abgelehnt zu haben. Für Schmidt war Schumacher eine strahlende Figur („Schumacher war für mich überzeugend, weil er moralisch glaubwürdig war. Der ist aus ähnlichen Gründen nach dem Ersten Weltkrieg Sozialdemokrat geworden wie ich nach dem Zweiten. Der Impetus kam aus der Einsicht in die Notwendigkeit der sozialen Gerechtigkeit.“[25]). Neben diesem schon fast biografischen Aspekt war es für Schmidt Schumacher zuzuschreiben, dass „in dem politischen und geistigen Chaos der Nachkriegszeit wir Deutsche unsere Identität als Nation nicht auch gleich mit auf den Kehrichthaufen der Geschichte geworfen haben; daß wir die Idee des Rechtes auf Freiheit und Selbstbestimmung unseres ganzen Volkes nicht verloren“[26]. Kurt Schumacher, der sich klar zum Antikommunisten bekannte, hatte schon bald erkannt, dass es nach dem Krieg keine einheitliche SPD auf dem gesamten „Bundesgebiet“ geben würde. So sprach er sich, ganz zum Missfallen Otto Grotewohls, für getrennte Wege von West – und Ost SPD aus. Schumachers klares Bekenntnis gegen den Kommunismus kam Schmidt sehr entgegen. Für Marx interessierte der sich nämlich nicht (Vergleich Steffahn Seite 47). Vielmehr wurde Schmidt sehr schnell „ein Gegner der ideologischen Restbestände des Marxismus in der SPD“[27]. Für Schmidt stellte der Erste Hamburger Bürgermeister Max Brauer ein weiteres Vorbild des oben beschriebenen Musters dar. Als Helmut Schmidt 1946 der SPD beitrat, war er nicht unumstritten. Viele Sozialdemokraten waren während der Nazizeit in Konzentrationslager eingewiesen worden. Viele von ihnen hatten diese Zeit nicht überlebt. Helmut Schmidt als Oberleutnant Hitlers Wehrmacht war vielen suspekt. Noch viele Jahre später musste er sich den Vorwurf gefallen lassen, „er hätte seinen Sozialismus im Offizierskasino gelernt“[28]. Dies war natürlich völliger Unsinn, da es in den Gefangenenlagern der Alliierten keine solchen Kasinos gab. Die Gefangenen wurden unabhängig von Rang und Namen gemeinsam interniert. Aber in dieser Behauptung findet auch eine Distanziertheit Ausdruck, welche viele Sozialdemokraten ihrem späteren Bundeskanzler gegenüber besaßen. Einige konnten nicht oder nur schlecht mit seinem bisweilen arroganten und auch forschen Unterton in seinen Debattenbeiträgen zurechtkommen. Dies erinnerte die Kritiker eben mitunter an die Offiziere der Wehrmacht. Diese Kluft konnte Schmidt bis heute nicht überwinden. Für einen „Vernunftspolitiker“ wie ihn war die Partei oftmals ein Klotz am Bein. Schmidt fand in der SPD nie die berühmte „Nestwärme“, er benötigte sie wohl auch nicht. Er wurde auch nie zu den Politikern der „Basis“ , den Politikern des allgemeinen Fußvolks gerechnet. Er unterschätzte diese wichtige Gruppierung innerhalb der SPD. So scheiterte er auch am 1. Oktober 1982 nur äußerlich am inneren Umschwenken der FDP. Innerlich hatte ihn seine eigene Partei längst fallen gelassen. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Am 1. September 1945 kehrte Helmut Schmidt in seine Heimatstadt Hamburg zurück. Er war bei der Entnazifizierung als „Anti – Nazi“[29] eingestuft worden, was ihm die schnelle Entlassung ermöglichte. Hamburg war eine zu großen Teilen zerstörte Stadt. Die Einwohner kämpften anfangs um das nackte Überleben. Hier traf er in den allgemeinen Nachkriegswirren auf seine Ehefrau Loki. Diese hatte eine Stelle als Lehrerin in Hamburg. So wurde bei den Schmidts das klassische Rollenverständnis erst einmal umgekehrt. Helmut Schmidt, der studieren wollte, wurde von seiner Frau Loki ernährt. Da es für ihn keine Möglichkeit gab in der näheren Umgebung sein Wunschfach, die Architektur, zu studieren, besann er sich und wählte die Nationalökonomie als Studienfach aus. Vielleicht weil es nicht sein Wunschfach war konzentrierte sich Schmidt anfangs nicht sonderlich auf sein gewähltes Fach. Vielmehr begann er breit gefächert zu studieren. Besonderes Interesse zeigte er für Psychologie, Soziologie, europäische Geschichte und amerikanisches Staatsrecht (vergl. Krause – Burger S. 89). Der geistige Hunger der Studenten war enorm, galt es doch all die Dinge zu entdecken, die jahrelang verpönt oder gar verboten waren („Jetzt endlich konnte meine Generation, ..., die moderne Literatur des Auslands lesen"[30]). Schmidt las Hemingway, Sartre und Steinbeck. Während seiner Zeit an der Universität Hamburg begegnete er einem Mann, der in seinem späteren Leben noch eine große Rolle spielen sollte: Professor Karl Schiller. Schmidt bezeichnete ihn, als „einen der besten Volkswissenschaftler, die Deutschland je hatte“[31]. Schiller war zu dieser Zeit eine aufsteigende Größe am politischen Himmel Deutschlands. Nach einem Jahr der Professur an der Universität Hamburg wurde er zum Senator der Stadt Hamburg für die Bereiche Wirtschaft und Verkehr ernannt, in welcher Stellung er später Schmidt ein Sprungbrett in die Politik geboten hatte. Im Jahr 1966 wurde er Bundeswirtschaftsminister in Bonn und übernahm 1971 das „Superministerium“,

bestehend aus den Arbeitsbereichen Wirtschaft und Finanzen. Hiervon trat er ein Jahr später nach erbitterten Auseinandersetzungen im Kabinett zurück, und sein Nachfolger wurde sein ehemaliger Schüler Helmut Schmidt.

Schmidt findet zunächst im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) eine politische Heimat. Hier engagiert er sich sehr stark, und fällt auch schon bald durch seine Redegewandtheit auf. Dort lernt er auch seinen Freund und Weggenossen Willi Berkhan kennen, der ihn die ganzen nächsten Jahre begleiten wird. Hier im SDS bildeten sich Arbeitsgruppen, die noch Jahre später in Bonn zusammen gearbeitet haben. Der SDS war für Schmidt ein Ort, an dem er politische Erfahrungen sammeln konnte. Er befasste sich damals bereits mit einer Art Hochschulreform, forderte die Einrichtung politischer Fakultäten und prangerte die Zustände in den Hochschulen an. Bereits 1948 wurde er zum Vorsitzenden des SDS in der britischen Zone gewählt.

Im Jahre 1949 schrieb Schmidt seine Examensarbeit über das Thema „Die Währungsreformen in Japan und Deutschland im Vergleich“ und schloss sein Studium als Diplom Volkswirt ab. Sein früheren Professor, Karl Schiller, war zu dieser Zeit bereits als Senator in die Bürgerschaft Hamburgs berufen worden. Er erinnerte sich an seinen ehemaligen Schüler und bot ihm eine Stelle in seiner Behörde an, Schmidts erste zivile Anstellung. Zuerst beschäftigte er sich mit der allgemeinen Wirtschaftspolitik, wechselte dann ins Verkehrswesen und wurde 1952 Verkehrsdezernent der Stadt Hamburg („Das war ein für ihn typischer Schritt: weg von allgemeiner Theorie, so faszinierend sie auch sein mochte, hin zur Lösung praktischer Probleme.“[32]). Während er sich in der Verwaltung empor arbeitete, wuchs sein Ruf in der SPD ein guter Redner und schneller Denker zu sein. Im Jahr 1953 trugen mehrere Wahlkreisvorsitzende der SPD an Schmidt die Bitte heran, in ihrem Wahlbezirk doch für den Bundestag zu kandidieren („Und so hatte es sich gefügt, daß mich mehrere Vorstände zugleich gefragt haben, ob ich in ihrem Bereich nicht für den Bundestag kandidieren würde. Mich hat das sehr gereizt, und ich habe überhaupt keine Ahnung gehabt, wie sehr dieser Entschluß mein späteres Leben verändern würde.“[33]). Er kandidierte im Wahlkreis 18 der Gegend von Fuhlsbüttel und Langenhorn, einem mittelständisch geprägtem Stadtgebiet. Er verteilt an die Haushalte eine Werbebroschüre, in der er darum wirbt, sich besonders für den Ausbau der Verkehrswege, speziell des Hamburger Hafens und der Eisenbahn einzusetzen. Schmidt prangert in seiner Werbung das Durcheinander in der Verkehrspolitik der Bonner Regierung an und kritisiert „den Wirrwarr in der Sozialversicherung“[34]. Die Wahl verlor er an den Freidemokraten Hermann Schäfer. Da die SPD ihn aber sehr gut auf einem Listenplatz abgesichert hatte, wurde er als Sechster und gleichzeitig Letzter über die Landesliste Hamburg in den zweiten Deutschen Bundestag gewählt.

2.Der lange Aufstieg

2.1 Die ersten Bundestagsmandate und die Flut

Die Bundestagswahlen von 1953 hatten die CDU in ihrer Position als Regierungspartei gestärkt. Der Stimmenanteil war von 31 auf 45,2 Prozent emporgeschnellt. Die SPD dagegen hatte einen kleinen Teil ihrer Stimmen verloren. Ihr Stimmenanteil war von 29,2 auf 28,8 Prozent gesunken. Der enorme Zuwachs an Stimmen für die CDU wurde unter anderem auf die erfolgreiche Außenpolitik zurückgeführt. Die Westbindung der Bundesrepublik war für Adenauer mit das größte Ziel gewesen. Er trieb dieses Vorhaben so stark voran, dass es mitunter den Anschein hatte, dass er dieses Ziel für wichtiger als die Wiedervereinigung hielt. Der Koreakrieg, der 1950 begann, war ein erstes Anzeichen für die Notwendigkeit einem Verteidigungsbündnis beizutreten. Aber den meisten Stimmenzuwachs erhielt Adenauer sicherlich, nachdem man am 17. Juni 1953 mit ansehen musste, wie in der Sowjetischen Besatzungszone der Arbeiteraufstand zerschlagen wurde. Unter der Führung von Schumacher wäre das Ergebnis der Wahlen sicherlich anders ausgegangen. Er war aber im August 1952 verstorben. Erich Ollenhauer, sein Nachfolger, galt als „ganz ohne Nerv und Charisma“[35]. Die Zustände in der DDR machten der Bevölkerung von Westdeutschland klar, dass sie ohne eine Westbindung dem Sowjetblock schutzlos ausgeliefert sein würden.

Auch auf anderen Politikfeldern stand die SPD der CDU um einiges nach. Die Einstellung zur Verteidigungspolitik war völlig zerstritten, und „ihre Haltung in wirtschaftlichen und sozialen Fragen durch ideologischen Ballast des späten neunzehnten Jahrhunderts belastet“[36]. Im Wahljahr lief der „Motor“ des Wirtschaftswunders von Erhard schon weitgehend fehlerfrei. Die Arbeitslosigkeit sank, Wohnungen wurden gebaut, die Stahlproduktion stieg und „die Gold- und Devisenreserven der Bank Deutscher Länder (...) überstiegen acht Milliarden D – Mark“[37]. Große Teile der Bevölkerung konnten sich diesen wirtschaftlichen Aufschwung nicht unter einer SPD – Führung vorstellen. In dieses politische Chaos innerhalb der SPD gelangte Helmut Schmidt also durch seinen Listenplatz bei der Wahl zum zweiten Deutschen Bundestag. Die Konfusion, die in seiner Bundestagsfraktion herrschte, muss für ihn ein Schock gewesen. Auch das Umfeld, er war noch ganz ohne Parlamentserfahrung, war für ihn eine völlig neue Erfahrung. Schmidt schreibt später selber: „Nun aber, in Bonn angekommen, war ich zunächst ratlos. Es stellte sich heraus, daß ich finanziell – wegen all der zusätzlichen Kosten – schlechter gestellt war als vorher im Beruf. (...) Die Arbeitsmöglichkeiten in Bonn waren äußerst kümmerlich; man hatte keinen Mitarbeiter und keine Sekretärin. Ohne Lokis Lehrerinnengehalt wäre unser Leben sehr schwierig gewesen“[38].

Als Schmidt in Bonn ankam, war er wie Carlo Schmid und Herbert Wehner der Meinung, dass sich die SPD modernisieren müsse, um in Zukunft regierungsfähig zu sein. Diese Überzeugung steckte viele andere Abgeordnete an, was dann Ende 1959 zum so genannten „Godesberger Programm“ führte. Hierzu komme ich allerdings später. Auf Grund seiner Einstellung kamen für Schmidt nur zwei Tätigkeitsbereiche in Frage: zum einen die Wirtschafts- und zum anderen die Verteidigungspolitik. Zuerst beschäftigte sich Schmidt mit Verkehrsfragen. Es war anfangs immer schwer für einen Neuling sich im Parlament einen Namen zu machen. Nun war es aber so, dass der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Fritz Erler, sich im Laufe der EVG - Debatten ab 1954 mehr und mehr auf Fragen der Außenpolitik eingestellt hatte. „So bestand also ein Vakuum, das Schmidt füllen half (...)“[39].

Auf Grund seiner militärischen Erfahrung war er hierfür der geeignete Mann. Schmidt erinnerte die eigene Partei daran, dass die SPD nicht im Prinzip gegen eine eigene Armee war. Er zitierte hierbei das Erfurter Programm von 1891, in welchem „die Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit“[40] gefordert wurde. Des Weiteren verdeutlichte er den Parteigenossen, dass „früher oder später (..) die Bundesrepublik in der einen oder anderen Form militärische Streitkräfte aufstellen“[41] würde. Dennoch war es für viele SPD Abgeordnete nicht vorstellbar, dass in so kurzer Zeit die Bundeswehr wiederbewaffnet werden sollte. Einige von ihnen dachten, dass es die beste Lösung sei gegen die Bundeswehr zu wettern, sie zu boykottieren und sie schon zu verteufeln, bevor sie überhaupt richtig ins Leben gerufen war. Helmut Schmidt war es deswegen ein Anliegen, ihnen die Angst vor dem potenziellen Machtfaktor Bundeswehr zu nehmen. Er ermunterte die Genossen sich aufrichtig und objektiv mit den Soldaten auseinander zu setzen. Er erklärte: „ Sie wurden nicht in einer Kaserne geboren. Es sind ganz normale Leute, mit denen man reden – und die man überzeugen kann.“[42]. Schmidt erlangte durch seine Bemühungen schnell großes Ansehen innerhalb der eigenen Reihen. 1957 wurde er deswegen auch in den Fraktionsvorstand der SPD gewählt. Jonathan Carr führt das Misstrauen mancher Abgeordneter auf einen Generationenkonflikt zurück. Schmidt unterteilte die Abgeordneten in verschiedene Generationen. Die Erste „hatte ihre Ansichten über den Staat und Gesellschaft in ihrer Jugend unter Kaiser Wilhelm erworben. Die jüngsten, wie Schmidt selbst, hatten noch die Schule besucht, als die Nazis an die Macht kamen, waren aber schon alt genug gewesen, um in den Krieg zu ziehen. Dann gab es noch zwei Gruppen von Abgeordneten, die bereits in der Weimarer Zeit ein politisches Bewusstsein entwickelt hatten. Die einen hatten aktiv gegen die Gefahren gekämpft, die das demokratische System bedrohten, aber es war ihnen nicht gelungen die Nazis abzuwehren. Die anderen hatten sich der Entwicklung angepaßt (...)“[43].

Im September 1957 fanden die nächsten Wahlen zum Deutschen Bundestag statt. Die SPD konnte zwar zehn Abgeordnetensitze dazu gewinnen, dennoch war die Enttäuschung über die von der Union erreichte absolute Mehrheit groß. Helmut Schmidt kandidierte dieses Mal im Wahlkreis 22, zu dem auch ein Stück des heimatlichen Barmbecks gehörte. Er erreichte das Direktmandat, wie in Zukunft bei allen anderen Wahlen auch mit der Ausnahme von 1965, wo er nur über die Landesliste kandidierte. Schmidt hatte sich durch seine Bemühungen die SPD in Verteidigungsfragen zu reformieren, in der Bevölkerung bereits einen Namen gemacht. Im Bundestag sollte er in Zukunft auch durch scharfzüngige Reden und Bemerkungen auffallen. Schmidt wurde zu einer von der Regierung gefürchteten Waffe der Opposition. Im März 1958 fand eine viertägige Debatte über Atomwaffen statt. Während dieser Debatte errang Schmidt seinen legendären Spitznamen „Schmidt – Schnauze“. Die SPD glaubte, „daß die Regierung trotz wiederholter Dementis darauf hinarbeitete, die Kontrolle über Atomwaffen zu erlangen“[44]. Schon vom Anfang seiner Rede an wurde Schmidt von schrillen Pfiffen und Pfui - Rufen von der Regierungsbank gestört. Er beschuldigte die CDU / CSU einer Massenpsychose erlegen zu sein. Aber einen regelrechten Proteststurm löste er aus, als er hinzufügte, dass es „die politischen Ahnherren dieser Adenauer – Koalition gewesen seien, die vor fünfundzwanzig Jahren Gesetzen zustimmten, die Hitler an die Macht gebracht hatten“[45]. Wütende Abgeordnete entgegneten ihm, dass seine politischen Ahnherren in der Deutschen Demokratischen Republik zu finden seien, „sie nannten ihn einen Totengräber der Demokratie, und den frechsten Lümmel im ganzen Haus“[46]. Der bayrische Abgeordnete Richard Jäger rief in den Saal: „Schmidt – Schnauze!“. Und so war sein Spitzname geboren. In dieser Debatte griff er auch vehement seinen parlamentarischen Rivalen Franz Josef Strauß an. Dieser war zu dieser Zeit Verteidigungsminister und für die Opposition während dieser Debatte Zielscheibe Nummer eins. Schmidt sagte: „Ich würde sagen: Wahrlich, er ist nicht einfach, er ist in seiner vielschichtigen Persönlichkeit durchaus eine beachtliche politische Potenz. Der Verteidigungsminister ist intelligent, er hat ein hervorragendes Gedächtnis, eine rasche Auffassungsgabe, eine nicht unbeträchtliche Bildung, und er ist vital, jawohl. Aber das Wichtigste, meine Damen und Herren: Bei all diesen vorzüglichen Eigenschaften ist dieser Mann ausschließlich vom Gefühl, vom Impuls gesteuert. Sein Gefühl für die Macht hat den Herrn Strauß schon nach atomarer Bewaffnung für die Bundeswehr streben lassen, als er noch gar nicht Verteidigungsminister war (...). Ich glaube, der Verteidigungsminister Strauß ist ein gefährlicher Mann, gerade wegen seiner überragenden Fähigkeiten, (...), ein gefährlicher Minister. Hüten wir uns vor solchen machtbesessenen Nachfolgern wie Franz Josef Strauß“[47]. Hier trat eine Feindseligkeit zu Tage, wie sie auch im späteren Plenarleben von Helmut Schmidt immer wieder auftreten sollte. Gerade gegenüber Strauß, seinem späteren Rivalen im Kampf um das Bundeskanzleramt, zügelte sich der Abgeordnete Schmidt fast nie. Dies soll aber nicht über die Tatsache hinweg täuschen, dass sich die beiden Männer sehr achteten und schätzten. Richtige Freunde sind sie allerdings nie geworden. An seinem Todestag bekannte Schmidt im Fernsehen: „Doch haben wir beide stets Respekt für den anderen empfunden – und auch menschliche Neigung . Er wird vielen seiner Freunde sehr fehlen, aber auch manchen seiner Gegner. Ich bekenne freimütig: Mir wird Franz Josef Strauß fehlen.“[48]. Schmidt räumte immer wieder ein, dass es für eine richtige Freundschaft nicht gereicht habe, dass man aber sehr viel voneinander gelernt habe.

Die Euphorie innerhalb der SPD über ihren neuen „Liebling“ Schmidt währte nicht lange. Sieben Monate später fiel er bei seiner Fraktion in Ungnade, was ihn dann auch schließlich die Angehörigkeit im Fraktionsvorstand kostete. Der Grund war ein ganz simpler. Er und sein Freund Willi Berkahn, der 1957 in den Bundestag gewählt worden war, nahmen als Freiwillige bei einem Manöver der Bundeswehrreserve teil. Viele Parteigenossen waren schockiert. Sie hielten es für nicht möglich, dass der Schmidt, der sich noch vor kurzer Zeit im Parlament gegen die Hardliner der CDU / CSU gerichtet hatte, jetzt an einer Wehrübung teilnahm. Aber dieser Akt war gar nicht so konträr zu Schmidts Auffassung in der Fraktion. Er war damals dafür eingestanden, die Soldaten als Menschen zu sehen, mit ihnen zu diskutieren, mit ihnen zu streiten. Eben mit ihnen die Demokratie zu leben. Und genau das tat er während seiner vier Wochen Übung. Es war für ihn eine völlig neue Erfahrung, da er nach seinem elfstündigen Kasernendienst stets bis nach Mitternacht von Soldaten umringt war, die mit ihm diskutieren wollten. „Ihr Wissensdurst auf Politik im weitesten Sinn, nicht nur auf Waffen und Verteidigungsfragen, war unmißverständlich.“[49] Am Ende dieser Wehrübung wurde Helmut Schmidt zum Hauptmann der Reserve befördert.

Wenige Monate nach seiner Reservistenübung und dem Ausschluss aus dem Fraktionsvorstand wurde Schmidt vierzig. Wäre er nach seinem Studium in die Wirtschaft gegangen, die sich zu diesem Zeitpunkt anschickte zu ungeahnten Höhenflügen zu starten, hätte er ohne Zweifel eine steile Karriere vor sich gehabt. So saß er im Bundestag, einer Partei angehörig, die zur Opposition verdammt zu sein schien. Selbst die Aussicht, auf lange Sicht einmal an der Regierung beteiligt zu sein, konnte ihm nicht gefallen. Es war ja nicht abzusehen, wann das sein würde. Dementsprechend hatte Schmidt nie einschätzen können, wie alt er dann zu diesem Zeitpunkt sein würde. Auch die Partei erkannte nun endlich die Problematik, als eine reine „Arbeiterpartei“ aus dem „Dreißig – Prozent – Getto“[50] einmal auszubrechen. Im November 1959 vollzog die SPD den entscheidenden Schritt um in Zukunft als regierungsfähig zu gelten. Sie verabschiedete ein Programm, was später auf Grund seines Entstehungsortes als „Godesberger – Programm“ bezeichnet wurde. Mit diesem Schritt zogen die Verantwortlichen der SPD die Konsequenzen aus einer ganzen Reihe von verlorenen Wahlen. Mit diesem Programm „nahm sie Abschied von der Ausrichtung als „Arbeiterpartei“ mit stark marxistisch – ideologischer Grundlage und wandte sich dem Bild einer neutralen „Volkspartei“ zu“[51]. Es ist bis heute schwer festzulegen, wer im Grunde der geistige Urvater dieses neuen Programms gewesen ist. Fest steht, dass Herbert Wehner maßgeblich daran beteiligt war. Auch ist bis heute die Rolle Helmut Schmidts bei dieser neuen Ausrichtung nicht umfassend geklärt. Aber dieser Umbruch war genau das, was Schmidt schon seit Jahren in der SPD vermisst hatte. Zum einen trat nun die SPD für die Landesverteidigung ein, ohne dabei die Bewaffnung mit atomaren Waffen zu befürworten, zum anderen warf sie mit diesem neuen Programm eine ganze Menge ideologischen Ballast ab, der sie umso manche Wählerstimme gebracht hatte. Neu eingeflossen war auch der Gedanke der „historischen Notwendigkeit“, der für die Generation Schmidts schon immer selbstverständlich gewesen war. Dieses Programm verhieß gute Wahlergebnisse, zumal Konrad Adenauer schon länger einige Verschleißerscheinungen bei seiner Führung erkennen lies.

Ein für alle SPD Genossen zufrieden stellender Erfolg wollte sich aber bei der nächsten Bundestagswahl 1961 nicht einstellen. Die Partei legte zwar auf 36,3 Prozent zu und die CDU verlor mit 45,3 Prozent der Stimmen ihre absolute Mehrheit, doch konnte sie weiterhin die Regierung in einer Koalition mit der FDP stellen. Die SPD hatte somit die vierte Bundestagswahl in Folge verloren. Für Helmut Schmidt zeichnete sich eine aussichtslose Situation ab. Nach acht Jahren „Wirkungslosigkeit im Angesicht so vieler Wirkungsmöglichkeiten, acht Jahren Ohnmacht vis – à – vis der Macht: da will er endlich auch einmal „Nägel mit Köpfen“ machen“[52]. Im Jahre 1961 war auf die Anregung Schmidts (noch zu Zeiten seiner Tätigkeit im Verkehrsdezernat) das Amt des Innensenators geschaffen worden. Dies bot man Schmidt an. Die Entscheidung für seine Heimatstadt fiel ihm nicht schwer, konnte er doch hier sinnvoll tätig werden. Erler und Wehner ermutigten ihn zu diesem Schritt. So nahm er im Dezember 1961 das Amt des Innensenators von Hamburg an. Unter dem Bürgermeister Paul Nevermann setzte er nun seine Arbeit für die Hansestadt fort. Schon bald sollte er vor einer der schwierigsten Aufgaben seiner Karriere stehen.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 fegte eine schwere Sturmflut über die Nordsee. Enorm starke Winde trieben das Elbwasser auf nahezu sechs Meter über dem normalen Wasserstand. Die Bevölkerung wurde zwar am Abend vorher durch die Medien gewarnt, doch hatten selbst diese die Gefahr die auf sie buchstäblich zukam unterschätzt. In den frühen Morgenstunden barsten in Hamburg die Deiche. Besonders betroffen war hier der Stadtteil Wilhelmsburg. Er liegt ein wenig unterhalb des Meeresspiegels und war von einer Deichkette geschützt. Als am Morgen die Deiche brachen, ergoss sich die Flut über den sich im Schlaf befindenden Stadtteil. Allein in diesem Stadtteil ertranken in diesen Morgenstunden „287 Bewohner, 6000 Kühe, Ochsen, Kälber, Schweine, 200 Pferde, 39000 Stück Federvieh. 5000 Wohnungen, 2000 Behelfsheime, 1000 landwirtschaftliche Anwesen“[53] wurden zerstört. Der Innensenator Schmidt befand sich am Tag davor auf einer Konferenz der Länder – Innenminister in Berlin. Als er sich im Morgengrauen des 17. Februar vor seinem Haus in Langenhorn absetzen lässt, warten schon eine Menge Alarmmeldungen auf ihn. Unverzüglich setzte er sich in seinen Dienstwagen und fuhr zum Polizeipräsidium von Hamburg, um die Rettungseinsätze zu koordinieren. Als er auf der Dienststelle eintraf, herrschte dort ein heilloses Chaos. Da der Erste Bürgermeister Nevermann sich zu einer Kur in Bad Hofgastein aufhielt, nahm Schmidt das Kommando an sich. Die folgenden Tage brachten ihm die Bezeichnung und auch den Spitznamen eines „Machers“ ein. Ohne Mandat und rechtliche Befugnis begann er das Katastrophenmanagement zu leiten. Er forderte vom Verteidigungsministerium Truppen an, „befehligte“ bis zu 7500 Soldaten, unter anderem auch Engländer, Belgier, Niederländer und Amerikaner. Er organisierte hunderte von Hubschrauben, die pausenlos Einsätze flogen, und das obwohl die Windstärken um das Doppelte über dem Maximalwert lagen, die es einem Hubschrauber erlaubten, bei Sturm zu fliegen. Schmidt antwortete später auf die Frage, wer ihm denn die Soldaten unterstellt hätte: „Die sind mir nicht unterstellt worden, ich habe sie mir genommen.“[54] Der Autor Harald Steffahn beschreibt die Situation im Polizeipräsidium wie folgt: „Es ist wie im Krieg in einem Armeehauptquartier, welches laufend Einzelmeldungen über schwere Feindeinbrüche empfängt, aber die Gesamtlage nur erahnen kann. Wie dort der Generaloberst improvisieren muß, mit dem Instinkt für möglichst wirkungsvolle Befehle zur Stabilisierung der Front, genauso verfährt der einstige Batteriechef Schmidt ohne die Lehrzeit in den höheren Stäben.“[55] Es gelingt der Rettungsarmada 1130 Menschen von ihren Dächern und aus den Fluten zu retten und 17.800 Bewohner zu evakuieren.

Schmidt überschritt in diesen Tagen ganz klar seine Befugnisse. Er setzte, ohne das Recht dazu zu haben Verordnungen außer Kraft, erließ neue und schaltete und waltete, wie es ihm gefiel. Aus jenen Tagen zog er auch den geistigen Nährstoff, den er später bei der Erstellung der Notstandsgesetzgebung mit einfließen lies. Bezüglich seiner Übertretung der ihm zugewiesenen Befugnisse sagte er später: „Da jedermann unsere Tätigkeit für vernünftig ansah, hat es keine Klage und auch keine Anklage gegeben; die meisten hatten wohl das Gefühl, daß ein „übergesetzlicher“ Notstand gegeben war.“[56] Nur einmal soll es, was Schmidt bis heute bestreitet, zu einem kleinen Zwischenfall gekommen sein. Als sich der Erste Bürgermeister halb scherzend danach erkundigt, ob die Hamburgische Verfassung noch in Kraft sei, soll Schmidt ihm entgegnet haben: „ Paul, nun halt endlich den Mund. Siehst du denn nicht, daß ich dringende Anweisungen zu diktieren habe?“[57] Auch in der Versorgung der Geretteten schaffte es Schmidt ein größeres Chaos zu vermeiden. Er brachte insgesamt achtzehntausend Menschen, die ihr zu Hause verloren hatten, in Notunterkünften unter. Später bezeichnete er die hamburgischen Behörden als „kopflos“ und ist der Meinung: „ Es war einfach notwendig, daß einer das Ruder übernahm. Einer mußte das in Ordnung bringen.“[58] Seine enormen Leistungen während dieses Dramas ließen seine Popularitätswerte steil nach oben schnellen. „Es überraschte niemanden, als eine Meinungsumfrage ergab, daß Schmidt noch populärer war als Hamburgs Fußballstar Uwe Seeler.“[59]

Als er 1965 das Innenministerium in Hamburg fertig aufgebaut hatte, galt sein Interesse wieder der Bonner Politik. Deswegen trat er auch als Verteidigungsminister dem Schattenkabinett des Kanzlerkandidaten Willy Brandt bei.

2.2 Fraktionsvorsitzender

Die Wahlen von 1965 waren wieder nicht zu Gunsten der SPD ausgegangen. Zwar konnte die sie ihre Stimmenanteile auf 39,3 Prozent ausweiten, doch die CDU erreichte 47,6 Prozent und konnte weiter mit der FDP (9,5 %) die Regierungsmehrheit stellen. Nur auf das Drängen von Wehner, Brandt und Erler entschied sich Schmidt sein neues Mandat, dass er über einen Listenplatz erreicht hatte, wahrzunehmen. Es war für ihn keine leichte Entscheidung gewesen. Die Regierungskrise von 1966 und der Bruch der Koalition war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht abzusehen. Doch der Wahlkampf um die Bundestagswahl war sehr „schmutzig“[60] gewesen. Man hatte mit allen Mitteln versucht, den Kanzlerkandidaten der SPD, Willy Brandt, zu diskreditieren. Unter anderem versuchten einige rechte Gruppen ihm seine Vergangenheit als Flüchtling aus Deutschland vorzuwerfen. Enttäuscht über die Schmähungen, die er über sich hatte ergehen lassen müssen zog er sich wieder als Regierender Bürgermeister nach Berlin zurück und „schwor, daß er sich nie wieder um das Amt bewerben werde.“[61] Herbert Wehner versuchte mit dem „neuen“ Abgeordneten Schmidt die Enttäuschung aus der Wahlniederlage auszugleichen. Aus dem gleichen Grund gewann er auch Schmidts früheren Chef in Hamburg Karl Schiller für eine erfolgreiche Kandidatur für den Deutschen Bundestag. Schiller hatte zu dieser Zeit das Amt des Wirtschaftssenators in Berlin inne.

Es ist strittig, ob Wehner Schmidt auf eine spätere Kandidatur als Bundeskanzler vorbereiten wollte. Die guten Beziehungen, die er zu dem ehemaligen Innensenator von Hamburg pflegte konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass Wehner Schmidts militärischer Vergangenheit nicht ohne Skepsis und auch einem gewissen Maß an Misstrauen gegenüber stand. Auch betrachtete Wehner den Kanzlerkandidaten Brandt nicht als erste Wahl. Diese negative Einstellung konnte er auch im weiteren verlauf der „Bonner Geschichte“ nicht ablegen. Als Brandt gegen Ende seiner Kanzlerschaft kränkelte und ein Ende absehbar war, konnte er sich gewisser Sticheleien nicht enthalten („Der Herr badet gern lau.“[62]). Die Beziehungen dieser drei großen Herren untereinander waren über Jahrzehnte nie frei von Reibungen. Wehners bestreben lag darin, die SPD nach jahrzehntelangem Oppositionsdasein regierungsfähig zu machen. Diesem Ziel galten seine ganzen Anstrengungen. Deswegen beschreibt der Schweizer Journalist Fritz René Allemann den ehemaligen Innensenator als „eine der großen Hoffnungen der SPD“[63]. Er hatte das, was viele andere Abgeordneten vermissen ließen: Regierungserfahrung.

Im Mai 1966 erlitt Helmut Schmidt eine herbe Niederlage. Er kandidierte als Landesvorsitzender für die SPD Hamburgs. Dies hatte den Hintergrund, dass er sich eine gewisse Hausmacht sichern wollte. Aber sein Plan scheiterte und er verlor mit 37 Stimmen Differenz gegen den Regierenden Bürgermeister Paul Nevermann. Das für Schmidt wirklich schlimme an dieser Niederlage war, dass Herbert Wehner in seiner Funktion als stellvertretender Parteivorsitzender mit eigenem Wahlkreis in Hamburg auch noch negativ gegen ihn Stimmung machte: „Ich glaube nicht, daß Helmut Schmidt es sich bei aller Vitalität zutrauen sollte, auch noch in Hamburg Politik zu machen.“[64] Diese Haltung war typisch für Wehner. Hier wird wieder einmal klar, was ich oben schon beschrieben habe. Er betrieb eine Politik, die es ausschließlich zum Ziel hatte, die SPD mit der bestmöglichen Besetzung regierungsfähig zu machen und zu halten. Hätte Schmidt diese Wahl gewonnen, wer weiß, ob er seine meiste Arbeitskraft weiterhin in die Bonner Politik eingebracht hätte. Mit ein Grund für die Niederlage war sicherlich auch, dass „der Hamburger Landesverband auch einen Mann an der Spitze haben [wollte[, der jederzeit der Stadt zur Verfügung stehen würde.“[65] Gegenüber der Autorin Sibylle Krause – Burger äußerte sich Schmidt sehr nachdenklich wie folgt: „Es war eine ambivalente Rede.“[66] Mit dieser Aussage machte er deutlich, dass es eine seiner herbsten Niederlagen war, die er auch nie vergessen hat. An diesem für ihn „einem der schlimmsten Tiefpunkten seiner Laufbahn“[67] konnte er noch nicht ahnen, dass er wenige Monate später stellvertretender Fraktionsvorsitzender einer an der Regierung beteiligten Partei sein sollte. In den Fraktionsvorstand hatte man ihn bereits 1965 gewählt.

Seit dem Sieg der Regierungskoalition 1965 war dem Kanzler Ludwig Erhard nicht viel Erfolg zugedacht worden. Die Wirtschaft verzeichnete ihre bis dato größte Krise. Die Inflationsrate (3,5%) und die Arbeitslosenquote (2%!) erreichten ungeahnte Höhen. Da Erhard ein überzeugter Gegner von staatlichen Wirtschaftsförderungsprogrammen war, vertraute er auf seinen Instinkt und seine Erfahrung aus der Nachkriegszeit und erhoffte sich einen wirtschaftlichen Aufschwung durch die Kraft des freien Marktes. Auf Grund der lahmenden Wirtschaft wurden die Schätzungen über das Steueraufkommen nach unten revidiert, was zur Folge hatte, dass 1967 ein sehr großes Loch im Etat klaffte. Dieses Haushaltsdefizit führte letztendlich zu den Schritten, die für das Scheitern der christlich - liberalen Koalition verantwortlich waren. Um das Steuerloch zu stopfen schlug der Bundeskanzler Steuererhöhungen vor, was die FDP nicht bereit war mit zu verantworten. Sie plädierte vielmehr für die Kürzung einiger Etats, unter anderem dem der Verteidigung. Auf Grund dieses Streits traten am 27. Oktober 1966 „die vier Minister aus Erhards Kabinett aus, und die Partei ging in die Opposition. Damit blieben der CDU / CSU im Bundestag nur mehr 245 Sitze gegen mögliche 251, wenn SPD und FDP gemeinsam stimmten. Ende November trat Erhard zurück.“[68] Somit war der Weg für Wehner und seine Genossen frei, der schon vorab der CDU einige Zugeständnisse gemacht hatte, unter anderem die Wahl Heinrich Lübkes zum Bundespräsidenten. Carlo Schmidt beschreibt diese Vorgänge in seinem Buch „Erinnerungen“ wie folgt: „Die führenden Sozialdemokraten waren entschlossen, alles zu versuchen, um in gebührender Stärke und über die Vordertreppe in die Regierung zu gelangen.“ Der Schritt hin zu einer Koalition mit der CDU war in der SPD nicht unumstritten. Zwar hatte der Vorschlag mit Wehner und Schmidt prominente Befürworter, doch Willy Brandt sprach sich für eine Koalition mit der FDP aus. Er hatte in Berlin als Regierender Bürgermeister mit dieser Koalition gute Erfahrungen gemacht. Doch gerade für Helmut Schmidt war eine „rot – gelbe“ Koalition nicht denkbar. Schmidt hielt die Möglichkeit einer solchen Koalition für „arithmetischen Unfug“[69]. Schmidt begründete sein Misstrauen gegenüber der FDP in seiner Bundestagsrede vom 15. Dezember 1966: „Wir haben 17 Jahre lang vergeblich die Festung der Bundesregierung belagert. Jetzt hat man uns die Tore öffnen müssen ... Sie [gemeint sind die Liberalen, Anmerkung des Verf.] waren während der 17 Jahre teilweise draußen, teilweise drin, dann wieder draußen, dann wieder drin, und jetzt sind sie gerade mal wieder draußen. Ja, es war nie so ganz klar [an den Fraktionsvorsitzenden Mischnick, Anmerkung des Verf.] auf welcher Seite Sie wirklich standen. Ihre Kollegen waren einesteils bei der Besatzung und anderenteils bei der Belagerung.“[70] Schmidt und Wehner konnten sich durchsetzen, und so gingen die SPD und die CDU am 26.11.1966 eine so genannte „Große Koalition“ ein.

Ein nicht gerade unbedeutendes Problem dieser Koalition, war das Problem der „Grabenüberwindung“. Nach so vielen Jahren der Opposition waren diese zwischen den beiden Partei entstanden. Die SPD hatte mit dem sehr prominenten Kabinett von Kiesinger einige Kröten zu schlucken. Die größte stellte ganz sicher der zukünftige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß dar. Auch das man dem CDU - Mann Gerhard Schröder das Verteidigungsressort zugedacht hatte, war in der SPD nicht unumstritten. Galt doch hierfür Schmidt als bester Mann. Diesem wurde das Verkehrsministerium angetragen, was er ablehnte. Zum einen war er nicht bereit ein „Minister zweiter Wahl“[71] zu werden, zum anderen lockte ihn der Fraktionsvorstand. Fritz Erler, damaliger Fraktionsvorsitzender, war schwer krank. Eine Zeit lang führte Schmidt die Fraktion als Vertretung von Erler. Als dieser am 22.02.1967 an einem Krebsleiden starb, zog man Helmut Schmidt dem dienstälteren Alex Möller vor. Für Schmidt war dieser Posten die Erfüllung. Er sagte selber über dieses Amt: „ Ich halte das Amt des Fraktionsvorsitzenden einer der großen Parteien im Bundestag für wichtiger als manches Ministeramt. Ein Fraktionsvorsitzender ist einer, ein Minister aber ist einer von zwanzig.“[72] Weiter führte er die Bedeutung der Fraktionsvorsitzenden für ihre Parteien gegenüber dem Autor Steffahn wie folgt ein wenig spöttisch aus: „Wenn die Fachleute, die alles von einer Sache verstehen, sich nicht mehr einigen können, dann rufen sie die Fraktionsvorsitzenden; die verstehen dann viel weniger von der Sache, aber dafür einigen sie sich auch.“[73] Schmidt war sich der Problematik der Großen Koalition wohl bewusst. Die FDP konnte auf Grund ihrer nur geringen Stärke keine all zu große Oppositionsrolle übernehmen. Deswegen waren anfangs viele Bundesbürger mit Misstrauen gegenüber dieser neuen Regierung erfüllt. Man befürchtete eine Koalition, die auf Grund ihrer starken Parlamentsmehrheit schalten und walten konnte, wie sie wollte. Um Befürchtungen um Demokratiedefizit aus dem Wege zu räumen beschrieb er das zukünftige parlamentarische Kräftespiel so: „Dieser Deutsche Bundestag wird in Zukunft nicht etwa nur ein Forum für Regierungsproklamationen und für eigene Akklamationen darstellen, sondern er wird vielmehr auch in Zukunft seine Aufgaben erfüllen, nämlich erstens politische Ziele zu setzen, zweites Initiativen zu ergreifen und vor allem drittens Kontrolle über die Bundesregierung auszuüben.“[74]

Helmut Schmidt wurde auch hier vom Zufall mit Glück belohnt. Dieses Glück kann man an verschiedenen Stellen seiner Biografie feststellen. Zum Beispiel 1962 bei der großen Flut. Schmidt war vorher nicht sonderlich bekannt. Er hatte gerade damit begonnen das Hamburger Innenministerium aufzubauen. Da ergoss sich die große Flut über die Stadt. Mit viel Eifer, Fleiß und auch einer gehörigen Portion Fortune gelang es ihm, diese gewaltige Katastrophe in den Griff zu kriegen und sie auch zu meistern. Wie eben beschrieben kam ihm 1966 das Leiden von Erler zu Gute, da er so schon als Stellvertretender Fraktionsvorsitzender einiges an Erfahrung sammeln konnte. Als dann Erler gestorben war, war der Weg für ihn frei. Überdies war die SPD 1966 zu einer mitregierenden Partei geworden, was seine Position als Fraktionsvorsitzender stark aufwertete. Auch als später der SPD – Bundeskanzler Brandt über den Spion Günter Guillaume stürzte, braucht er als Finanzminister mit Erfahrungen in allen drei klassischen Ministerressorts (Finanzen, Wirtschaft und Verteidigung) nur seine Zustimmung zu einer Kanzlerkandidatur geben. Ohne sein Zutun war Brandt gestürzt worden.

Der andere Fraktionsvorsitzende der frischen Koalition hieß Rainer Barzel. Dieser zählte wie Schmidt zu der Kriegsgeneration. „In der Denkschärfe und Beredsamkeit stand der gebürtige Ostpreuße dem Hamburger ebenfalls nicht nach. (..) Sein sehr bestimmter Aufstiegswille wurde ihm in den eigenen Reihen verübelt, brachte ihm Rückschläge ein“[75]. Hierbei sind Parallelen zu Helmut Schmidt zu erkennen. Seit dem Dezember 1964 leitete Barzel das Amt des Fraktionsvorsitzenden. Er war wie Schmidt auch in den eigenen Reihen nicht unumstritten. Gerade der neu gewählte Kanzler Kurt Georg Kiesinger pflegte eine leichte Rivalität mit dem Fraktionsvorsitzenden, zählte dieser doch zu seinem einst schärfsten Rivalen beim Kampf ums Kanzleramt. Barzel hatte zu einem früheren Zeitpunkt erfolglos versucht Vorsitzender der CDU zu werden. „Trotz vieler Rückschläge schien Barzel dazu bestimmt, nach Kiesingers Abgang an die Spitze vorzustoßen.“[76]

Schmidt und Barzel kamen von Anfang an sehr gut miteinander klar. Barzel sagte später über Schmidt betreffend der Kameradschaft die sie verband: „Nicht einfach so eine Kollegialität oder eine Erinnerung an frühere Arbeitsstunden, das ist ein anderes. Aber wir halten was voneinander und sagen es auch anderen. Und wenn wir im Parlament die Klingen kreuzen, klirrt es sehr gewaltig, aber es ist immer oberhalb der Gürtellinie. Und wenn ich dann sage es tut mir leid Herr Bundeskanzler, aber ... dann glaubt dieser Mann, daß es mir leid tut, daß es nicht nur eine Phrase ist. Und wenn Schmidt dann entsprechend reagiert, weiß man das auch. Und das ist eigentlich etwas sehr Schönes: eine Beziehung von Respekt und Vertrauen, in der man zuverlässig miteinander ist. Es gibt ganz wenige Punkte, in denen wir übereinstimmen in der Politik. Wir stimmen aber überein in der Beurteilung vieler Menschen und stimmen sicherlich auch überein in dem, was für politische Arbeit die wichtigsten Eigenschaften eines Menschen sind. Das ist nämlich seine Zuverlässigkeit und seine Sachlichkeit. Und dann kommen erst Brillanz und was weiß ich alles noch.“[77] Auch Schmidt äußert sich durchweg positiv über seinen Amtskollegen. Er rechnete es ihm später hoch an, dass er von Barzel nie „hinters Licht oder aufs Glatteis“[78] geführt wurde. Oft fiel es den Beiden schwer Kompromisse zu finden, und sie führten heftige Auseinandersetzungen. Und doch war bei Beiden eine Verlässlichkeit vorhanden, auf die der Andere immer großen Wert gelegt hatte. Beide, sowohl Barzel als auch Schmidt hatten eine ähnliche Art ihre Fraktionen zu führen. Doch Barzel beschrieb Schmidt später als den strengeren Regenten. Wenn Barzel die Widersacher in der eigenen Partei zu kritisch wurden, nahm er sie bisweilen in die Koalitionsverhandlungen mit, um ihnen zu zeigen, auf welche Art der Fraktionsvorsitzende der SPD seine Kritiker bändigte. Dennoch fühlte sich die SPD – Fraktion stets gut geführt. Man hielt ihm zu Gute, dass er mit der Fraktion diskutierte, und nicht wie Herbert Wehner diskutieren gelassen hatte. Bei wichtigen Debatten scheute er auch nicht eine gewisse Länge, mitunter dauerte die Diskussion über ein wichtiges Gesetz bis tief in die Nacht. Dennoch verfuhr Schmidt immer nach einer ganz bestimmten Richtlinie. Er sagte dazu später: „ Viele meinen, Demokratie besteht aus endloser Debatte. Ich meine, Demokratie besteht aus Debatte und anschließender Entscheidung aufgrund der Debatte.“[79] Er drückte hierbei aus, was er für den Sinn einer Debatte hielt. Im Gegensatz zu Willy Brandt forderte er eine Entscheidung, ein Ergebnis, was am Ende stehen musste. Bei besonders schwierigen Gesetzesvorlagen, wie zum Beispiel die der Notstandsgesetze von 1968, ließ er es sogar zu, dass sich jedes Fraktionsmitglied zu Wort meldete. Solche Diskussionen wurden über die komplett verlangte Länge geführt, ohne dass Schmidt diese abbrach. Auch wenn am Ende ein Ergebnis stand, wobei er intern unterlegen war, brachte er es in die Koalitionsarbeit mit Barzel ein, und verteidigte es.

[...]


[1] Krause – Burger, Sybille: Helmut Schmidt, 1980 Seite 60

[2] Rupps, Martin: Helmut Schmidt, 1997 Seite 69

[3] ders.: Seite 69

[4] Schmidt, Helmut: Menschen und Mächte, 1998 Seite 211 ff

[5] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999 Seite 27

[6] Krause – Burger, Sybille: Helmut Schmidt, 1980 S.65

[7] dies. Seite 67

[8] dies.

[9] Dies. Seite 68

[10] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999 S.31

[11] ders.

[12] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999 S. 31

[13] Krause – Burger, Sybille: Helmut Schmidt, 1980 S. 72

[14] siehe 12

[15] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999 S. 37

[16] Krause Burger, Sybille: Helmut Schmidt, 1980 S. 76

[17] s. 15 Seite 40

[18] s. 15 Seite 43

[19] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999 S. 42

[20] Rupps, Martin: Helmut Schmidt, 1997 S.73

[21] Krause – Burger, Sibylle: Helmut Schmidt, 1980 S.82

[22] s.21 S.83

[23] s.19 S.44

[24] s.23

[25] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999 S.46

[26] Krause – Burger, Sibylle: Helmut Schmidt, 1980 S.85

[27] s. 25 s.47

[28] s. 27

[29] Krause – Burger: Sibylle, Helmut Schmidt, 1980 S.82

[30] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999 S.54

[31] Carr, Jonathan: Helmut Schmidt, 1985 S.29

[32] s. 31

[33] Krause – Burger, Sibylle: Helmut Schmidt, 1980 S.101

[34] s. 33 S.102

[35] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999 S.63

[36] Carr, Jonathan: Helmut Schmidt, 1985 S.35

[37] s. 36 Seite 34

[38] Schmidt, Helmut: Weggefährten, 1996 S.411ff

[39] Carr, Jonathan: Helmut Schmidt, 1985 S.35

[40] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999 S.64

[41] s.o.

[42] s. 39 S.37

[43] Carr, Jonathan: Helmut Schmidt, 1985 S.38

[44] s.o. S.39

[45] s. 44

[46] s. 44

[47] Krause – Burger, Sibylle: Helmut Schmidt, 1980, S.107

[48] Schmidt, Helmut: Weggefährten, 1996 , S.510

[49] Carr, Jonathan: Helmut Schmidt, 1985, S.40 f.

[50] s.o. S. 41

[51] s. 50

[52] Krause – Burger: Sibylle: Helmut Schmidt, 1980, S. 113

[53] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999, S. 76

[54] Blank / Darchinger: Helmut Schmidt, 1977, S. 24

[55] s. 53, S. 77

[56] s. 54

[57] Carr, Jonathan: Helmut Schmidt, 1985, S.43

[58] Schmidt / Wickert: Eigentlich wollte ich ... , 2001, S. 38/39

[59] s. 57

[60] Carr, Jonathan: Hellmut Schmidt, 1985, S. 58

[61] s. 60

[62] Knopp, Guido: Kanzler, 2000, S. 279

[63] Krause – Burger, Sibylle: Helmut Schmidt, 1980, S. 119

[64] Krause – Burger, Sibylle: Helmut Schmidt, 1980, S. 118

[65] Carr, Jonathan: Helmut Schmidt, 1985, S. 60

[66] s. 64

[67] s. 64

[68] Carr, Jonathan: Helmut Schmidt, 1985, S. 62

[69] Blank / Darchinger: Helmut Schmidt, 1977, S. 16

[70] Schmidt, Helmut: Beiträge, 1967, S. 170f

[71] Krause – Burger: Helmut Schmidt, 1980, S. 120

[72] s. 69 S. 121

[73] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999, S. 88

[74] Schmidt, Helmut: Beiträge, 1967, S. 175

[75] Steffahn, Harald: Helmut Schmidt, 1999, S. 87

[76] Carr, Jonathan: Helmut Schmidt, 1985, S.71

[77] Krause – Burger, Sibylle: Helmut Schmidt, 1980, S. 122

[78] s.o. S. 123

[79] s.o. S. 125

Final del extracto de 128 páginas

Detalles

Título
Helmut Schmidt, politische Bedeutung und politisches Profil
Universidad
University of Education Heidelberg  (Institut für Politikwissenschaften)
Calificación
1,5
Autor
Año
2003
Páginas
128
No. de catálogo
V18867
ISBN (Ebook)
9783638231244
Tamaño de fichero
811 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Helmut, Schmidt, Bedeutung, Profil
Citar trabajo
Christian Appel (Autor), 2003, Helmut Schmidt, politische Bedeutung und politisches Profil, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18867

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