Zeitgeschehen und Zeitkritik in 'Das Steinerne Herz' von Arno Schmidt - Der zeitgeschichtliche Hintergrund


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2012

20 Seiten


Leseprobe


Zeitgeschehen und Zeitkritik in "Das Steinerne Herz" von Arno Schmidt : Der zeitgeschichtliche Hintergrund

Einleitung

Der Roman im Spiegel der Kritik

Der Roman "Das Steinerne Herz" von Arno Schmidt kann aus verschiedenen Blickwinkeln gelesen und beurteilt werden. In den Fünfziger Jahren wurde er zum Beispiel laut Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" als Gegenwartsroman verstanden, der auf die kritische Erfassung der zeitgenössischen Wirklichkeit ausgerichtet war, allerdings auf dem Hintergrund der Geschichte des Königreichs Hannover im 17. Jahrhundert und der Romanze der Prinzessin Sophie Dorothea von Ahlden mit dem Grafen Philipp Christoph von Königsmarck. ("Spiegel" Nr. 25 vom 13. Mai 1959, 53) Andere Rezensenten hoben das autobiografische Element hervor und fassten den Roman als eine Art Initiationsgeschichte auf, in der der Autor am Beispiel seines Alter Egos Walter Eggers den Prozess des Fußfassens in der deutschen Gesellschaft nach den Jahren des Krieges und der Zerstörung veranschaulichen wollte. Wiederum andere erblickten in dem Roman eine mit sarkastischen Akzenten versehene Parodie auf die gewinnorientierte westdeutsche Wohlstandsgesellschaft im Gegensatz zur weniger entwickelten ostdeutschen Mangelgesellschaft. Manche verstanden ihn als Persiflage auf ein spießbürgerliches Moralempfinden nach dem Motto "Ehrlich währt am längsten" und als ironische Entlarvung einer kleinkarierten Anstandsmentalität, die sich in weiten Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft etabliert hatte. Aus einer anderen Perspektive betrachtet deutete man ihn schlicht als eine Art literarisches Manifest gegen christlich-abendländisch geprägtes Denken, Restauration und Wiederaufrüstung und als ein unverhohlenes Bekenntnis zum Atheismus, eine Absage an einen Ewigkeitsmythos und Hinwendung zu einer Diesseitigkeitsorientierung, die den Leser nachdrücklich zum Umdenken auffordert. Es war von Handlungsarmut und einem nicht abreißenden Strom von Bewusstseinsvorgängen und Befindlichkeiten des intellektuellen Ich-Erzählers die Rede. Andererseits schien der Roman aber nach dem Muster eines Kolportagereißers mit den bekannten Elementen Diebstahl, Betrug, Urkundenfälschung und Ehebruch vor dramatischen Handlungsmomenten geradezu überzuquellen. Heinrich Böll hielt ihn daher in seiner Rezension aus dem Jahre 1957 für eine "spannende Kriminalgeschichte" oder auch für eine "Schatzgräbergeschichte mit Happy End". ("Das weiche Herz des Arno Schmidt", in: Drews und Bock, 43) In jedem Falle offenbarte sich der Autor als Beobachter und Topograph einer gesellschaftlichen Realität, die er mit äußerster Gewissenhaftigkeit erfasst, mit beeindruckender Detailgenauigkeit und unter Einbeziehung von Jargon und Mundart der gesprochenen Sprache in der für ihn typischen Rastertechnik für den Leser aufbereitet.

Verschiedene Zeitebenen

Schaut man tiefer hinein ins Romangeschehen, so entdeckt man mehrere sich durchdringende bzw. überblendende Zeitebenen, in denen die Gegenwart der Protagonisten, geprägt durch den Gegensatz zwischen West und Ost, sich mit deren unmittelbarer Vergangenheit von Kriegs- und Fluchterlebnissen und der Geschichte des Königreichs Hannover vermischt. Die Frage ist, ob der Autor beabsichtigt und ob es ihm gelingt, diese Ebenen organisch miteinander zu verbinden oder ob sie vielmehr beziehungslos nebeneinander stehen, additiv aneinandergereiht oder übereinander gestapelt werden, ohne dass ein innerer Zusammenhang erkennbar wird. Mit anderen Worten: es ist zu prüfen, ob es sich hier nicht um ein bloßes

Sammelsurium beliebig zusammengestellter Einzeldaten historischer oder zeitgeschichtlicher Provenienz handelt, die der Autor in bekannter Sammlermanier vor dem Leser aufhäuft, um ihn mit dem ganzen Reichtum seines Wissens zu beeindrucken. Die Fülle der Aspekte scheint überwältigend. Der Roman steckt voller Widersprüchlichkeiten und Antagonismen, die auseinanderstreben, sich einer Kohärenz widersetzen und den Leser verunsichern. Hinzu kommt der im Roman ebenfalls behandelte Wandel im Verhältnis der Geschlechter, das sich nicht mehr an überkommenen Rollenzuweisungen zu orientieren scheint, und die Emanzipation der Frau.

Leben im Hier und Jetzt

Im zwischenmenschlichen Umgang spielt auch eine durch die Erfahrungen des Krieges bedingte seelische Abstumpfung eine Rolle, was im Titel des Romans bereits symbolisch zum Ausdruck kommt. Der Ich-Erzähler besitzt Züge eines Eigenbrötlers im Abseits der Gesellschaft, ohne Religion, ohne Vaterland und ohne Freunde, dem es aber durch raffinierte Täuschungsmanöver gelingt, sich in dieser Gesellschaft zu behaupten, weil er im aufkommenden westlichen Kapitalismus gelernt hat, Geld als Tauschmittel gegen die Ware Gefühl einzusetzen und davon zu profitieren. Alte Beziehungen sind zerbrochen. Sie gleichen den Trümmerlandschaften der Städte und müssen neu aufgebaut werden. Welche Bedeutung hat aber das neutestamentarische Prinzip "Glaubeliebehoffnung"[1] (StH, BA I/2, 137) in einer Welt, in der eheliche Treue nichts mehr gilt, in der alte Wertmaßstäbe überholt sind und die dadurch funktioniert, dass Gefühle ausgeblendet werden und Liebe einer exzessiven Sammelsucht, einer Gier nach Geld und sexueller Bestätigung Platz gemacht hat? Die Zeiten des "Märchenbuchliebergott" (Borchert, 42) sind endgültig vorbei. Ein neues Ethos ist nicht in Sicht und scheint nicht zeitgemäß. Das Denken ist auf Existenzsicherung im Hier und Jetzt ausgerichtet und beschäftigt sich nicht mit den großen Sinnfragen, schon gar nicht mit philosophischen Fragen der Jenseitigkeit oder der Ewigkeit. Stattdessen geht es um Banales und Alltägliches, um scheinbar Nebensächliches, um wie zufällig eingestreute Partikel von Wirklichkeitserfahrung, die ohne genaue Beachtung von Chronologie und Kohärenz, aber mit akribischer Präzision erfasst und wie "snapshots" abgebildet werden.

Individualgeschichte und Epochenroman

Trotz der anscheinend unübersehbaren Vielfalt der Aspekte, lassen sich - vereinfachend betrachtet - zwei Lesarten des Romans unterscheiden, die allerdings miteinander verwoben und verflochten sind. Man kann ihn als Individualgeschichte der vier Hauptprotagonisten (Walter Eggers, Frieda und Karl Thumann und Line Hübner) auffassen oder als Epochenroman mit zeitgeschichtlichem Hintergrund. Darüberhinaus erhebt sich die Frage einer literaturgeschichtlichen Einbettung, und hier ist er als Roman der Fünfziger Jahre abzugrenzen von der sogenannten "Trümmerliteratur"[2] der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945 bis etwa 1950). Dennoch ist unübersehbar, dass im "Steinernen Herzen" der Krieg unauslöschliche Spuren hinterlassen hat. Daher wird in dieser Untersuchung die unmittelbare Nachkriegszeit keinesfalls außer acht gelassen. Es soll darüberhinaus aufgezeigt werden, welche Impulse und nachhaltigen Wirkungen von Vertretern der frühen Nachkriegsliteratur (z. B. Wolfgang Borchert, Wolfgang Weyrauch, Hans Werner Richter, Heinrich Böll und anderen) auf die Literatur der Fünfziger Jahre und besonders auf Arno Schmidt und seinen Roman "Das Steinerne Herz" ausgegangen sind.

Leben in der Nachkriegsgesellschaft

Im "Steinernen Herzen" wirken die Lebensbedingungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft noch deutlich nach. Sie beeinflussen das Denken und Handeln der Protagonisten in ihrem Bemühen, die Erfahrungen von Krieg, Flucht, Vertreibung oder Gefangenschaft, körperliche und seelische Verletzungen abzuschütteln, wieder Boden unter die Füße zu bekommen und sich im gesellschaftlichen Existenzkampf zu behaupten. Sie manifestieren sich in traumatischen Erinnerungen, Ängsten, Hoffnungen und Sorgen um die Zukunft, die mehr ins Alltagsleben hineinwirken, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, wenn man unter die Oberfläche des lakonischen Erzählduktus eines Walter Eggers schaut, der die erfahrene Wirklichkeit scheinbar schulterzuckend zur Kenntnis nimmt, sie mit ironischen oder auch zynischen Bemerkungen an sich ablaufen lässt und Missstände mit höhnischer, teils auch aggressiver Polemik anprangert.

Das Leben in der Nachkriegsgesellschaft wird bestimmt durch die Spaltung in Ost und West, die Erfahrung des Mangels an Lebensmitteln und alltäglichen Gebrauchsgütern, die Nachwirkungen von Verlusterlebnissen und Entbehrungen, die Suche nach menschlicher Nähe, Liebe und Sexualität, die Suche nach Zugehörigkeit und Geborgenheit in räumlicher Umgebung (Heimat, Wohnung), der allmählich einsetzende wirtschaftliche Aufschwung mit einem vergrößerten Warenangebot und einer neuen Erfahrung von "Luxus", die politische Restauration, das Bündnis von Politik, Kirche und Militär, gegen das der Autor durch sein Sprachrohr Walter Eggers mit ätzender Schärfe wütend polemisiert, und schließlich durch die Sehnsucht nach Annehmlichkeiten, auf die man lange hatte verzichten müssen und die in überdimensionierten Ausmaßen als Gier und unkontrollierbare Sucht vom Menschen Besitz ergreift.

Damit ist die Ausgangslage skizziert, die den Leser im Roman erwartet. Im weiteren Verlauf dieser Untersuchung geht es darum, über die Schilderung der Lebensverhältnisse im Nachkriegsalltag und die Suche nach neuen literarischen Ausdrucksformen einen Zugang zum Zeitgeschehen zu finden wie es im Roman gespiegelt wird und im Vergleich mit einigen anderen ausgewählten Texten der Nachkriegszeit aufzuzeigen, inwieweit diese mit der Darstellung im "Steinernen Herzen" korrespondieren.

Die Lebensverhältnisse im Nachkriegsalltag [3]

Überlebenssicherung und Wohnraummangel

Die Lebensverhältnisse in den ersten Nachkriegsjahren wurden geprägt durch die Erfahrung alltäglicher Not und Entbehrung. Die Menschen waren damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben zu sichern. Nahrungsmittel, Brenn- und Treibstoffe sowie viele lebenswichtige Gebrauchsgüter waren Mangelware. Die Strom- und Wasserversorgung war vielerorts unterbrochen oder fiel zeitweise aus. Millionen Flüchtlinge, Vertriebene, Umsiedler, ehemalige Zwangsarbeiter und entlassene Soldaten waren unterwegs auf der Suche nach Angehörigen oder einem neuen Zuhause und sahen einer ungewissen Zukunft entgegen. Weite Teile Deutschlands, insbesondere die großen Städte, lagen in Trümmern. Wohnhäuser waren zerbombt oder ausgebrannt, und es herrschte akute Wohnungsnot. [4] Dort, wo noch Wohnraum zur Verfügung stand, gab es Einquartierungen. [5] Die Zahl der Obdachlosen wuchs rapide an. Viele Menschen nutzten Böden und Keller als Wohnraum oder hausten in

Holzbaracken, Wellblechhütten, Behelfsheimen, ehemaligen Gefangenenlagern, Wohnlauben oder sonstigen Notunterkünften. [6] Viele Familien und Angehörige waren auf der Flucht auseinandergerissen worden. Kinder wurden von ihren Eltern getrennt und mussten sich alleine irgendwie durchschlagen. Der "entortete Mensch" (Eschenburg 62) wurde zur typischen Figur der ersten Nachkriegsmonate.

Die Ernährungslage

Zu der Wohnungsnot gesellte sich die Sorge um das tägliche Brot, beispielhaft beschrieben in Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte "Das Brot" (1947) oder in Heinrich Bölls Erzählung "Der Geschmack des Brotes". (1955) [7] In den ersten Nachkriegsjahren waren viele Menschen vor allem mit der Beschaffung von Nahrungsmitteln zum Überleben beschäftigt.

Die Ernährungslage verschärfte sich durch den enormen Zustrom der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten. Die Nahrungsmittelproduktion wurde durch fehlende Maschinen, Arbeitspferde, landwirtschaftliche Facharbeiter, Transportmittel und zerstörte Transportwege behindert. Die Lebensmittelzuteilung wurde rationiert und konnte den Bedarf nur ansatzweise decken. Die Unterernährung weiter Bevölkerungskreise war so gravierend, dass viele Menschen unter Hungerödemen litten und anfällig für Infektionskrankheiten (z. B. Typhus oder Tuberkulose) wurden. Bedeutend besser war die Ernährungssituation auf dem Lande. Daher brachen große Teile der Stadtbevölkerung zu Fuß, mit dem Fahrrad oder in überfüllten Zügen zu sogenannten "Hamsterfahrten" auf, um sich mit dem Notwendigsten einzudecken. "Damals ging der Spruch um: Wer hamstert, gehört ins Zuchthaus, wer nicht hamstert, ins Irrenhaus." (Boetticher u. a. 19)

Verschiebung der Wertbegriffe

Trotz administrativer Anordnungen (Verbot von Schwarzschlachtung und Tauschhandel) blühte der illegale Handel auf dem Schwarzmarkt, basierend auf dem Prinzip der Naturalwirtschaft. Zum Maßstab der "Tauschwährung" wurden amerikanische Zigaretten, die sog. "Zigarettenwährung". Teilweise kam es auch zu Plünderungen der Vorratslager. Es herrschte Hochkonjunktur für Diebe, Geschäftemacher und Kleinkriminelle. Wer nicht "organisieren" konnte oder wollte, hatte das Nachsehen. Der Kölner Kardinal Frings erteilte in seiner Sylvesterpredigt 1946 der Bevölkerung für kleinere "Ungenauigkeiten", die der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienten, die Absolution. Im Volksmund wurde daher der Ausdruck "fringsen" zum geflügelten Wort. Heinrich Böll spricht in seiner Erzählung "Mein Onkel Fred" (1952) von einer Verschiebung der "Wertbegriffe" (Böll 2007, 25) und von "erheblichen Verletzungen des Eigentumsbegriffes, die man heute mit dem harten Wort Diebstahl bezeichnen muß." Und er fügt hinzu: "So ging ich fast täglich zum Diebstahl oder Verscheuern aus ..." (ebd. 24) Schon 1947 schreibt er in der Betrachtung "Vom Schwarzmarkt": "So schweben wir dauernd zwischen Hunger und Schwarzmarkt - denn es ist und bleibt die nackte Wirklichkeit, daß kein Mensch von seiner Ration leben oder sogar arbeiten kann, selbst wenn er sie ungeschmälert erhielte." (Böll 2003, 110)

Sammeln und Verwerten

Im Übrigen herrschte das Prinzip des Sammelns und Verwertens, nach dem Grundsatz: Not macht erfinderisch. Man erntete Wildkräuter auf den Wiesen, zog in die Wälder, las Bucheckern und Eicheln auf oder sammelte trockenes Holz und Tannenzapfen zum Feuermachen. Aus Brennnesseln, Löwenzahn und Sauerampfer bereitete man sich Salat zu

und ergänzte den Speiseplan durch Pilzmahlzeiten und Beeren als Nachtisch. Mit den einfachsten Mitteln kreierte man neue Gerichte und füllte damit die leeren Mägen. [8] Anlässlich der Verleihung des Arno Schmidt Preises 1984 schreibt Wolfgang Koeppen: "Arno und Alice Schmidt reisten in jener Zeit auf einem Tandem über Land. Sie besaßen ein Zelt, in dem sie schliefen. Regen fiel auf sie. Sie stellten das Zelt in Wäldern auf, dämpften sich im Kessel Wurzeln, Kohl und Brennesselgemüse." (zitiert nach Schardt u. Vollmer, Hrsg., 42) [9] Im Roman "Das Steinerne Herz" taucht das gleiche Motiv in Line Hübners Ostberliner Wohnlaube auf, als sie eine "Konservenbüchse voll abgelutschter Pflaumenkerne" hervorholt, deren Inhalt sie mit einem Schraubenzieher aufklopft, um ihn "als Mandelersatz" zum Kuchenbacken zu verwenden, und deren Schalen sie zum Feuermachen aufhebt. (StH, BA I/2, 93)

[...]


[1] Vgl N T, 1. Korintherbrief, Kapitel 13, Vers 13: "Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen."

[2] Auch Arno Schmidt kann mit seinen frühen Werken ("Leviathan", "Brand's Haide", "Die Umsiedler") zu den Vertretern der "Trümmerliteratur" gezählt werden.

[3] Vgl. hierzu "Die neue Wirklichkeit", in: Eschenburg 61 - 135; "Deutschland nach 1945", in: Ausbüttel u. a. (Hrsg.) 230 - 241; "Nachkriegsjahre 1945 - 1949" 1 - 63; Boetticher u. a.

[4] Die hannoversche Innenstadt und die angrenzenden Stadtteile waren beispielsweise zu über 90 % vernichtet. Das ist sehr anschaulich an den in der Rathaushalle ausgestellten Stadtmodellen zu sehen.

[5] Für Niedersachsen stellen Boetticher u. a. fest: "Das Wohnraumgesetz vom 08. März 1946 erfasste 'leistungspflichtige Wohnrauminhaber' und 'leistungspflichtige Hauseigentümer' sowie verfügbare Wohnräume nach den Kriterien 'leer', 'teilmöbliert' und 'möbliert'. Bis Wohnraumprogramme entwickelt werden konnten, dauerte es noch bis 1949. Zu dieser Zeit fehlten immer noch 670.000 Wohnungen." ( Boetticher u. a. 20)

[6] In ähnlich dürftigen Verhältnissen hauste das Ehepaar Schmidt von Dezember 1945 bis November 1950 auf dem Mühlenhof in Cordingen: "Fast drei Stunden dauerte die Fahrt bis zum 'Mühlenhof' in Cordingen. Hier wohnt Arno Schmidt, einer von vierzehn Mietern, als Flüchtling. In seinem einzigen Zimmer waren es zwölf Grad. Wellpappkartons bilden ein Bücherregal. Eine primitive, hölzerne Bettstelle mit einer groben Decke steht in der Ecke. Der Tisch ist aus einer ehemaligen Schultafel gezimmert. Man könnte an Spitzwegs 'Poeten' denken. Die Armut ist da, aber beileibe keine Zipfelmütze." (A. P. Eismann: "Köpfe der Hansestadt. Arno Schmidt ...", in: Drews und Bock 13 - 15, hier: 13 f.)

[7] In Bölls Erzählung wird sehr eindringlich geschildert, wie das Denken und Handeln des Protagonisten ganz und gar auf die lebenserhaltende Wirkung des Brotes ausgerichtet ist und mit welcher Hingabe er es sich einverleibt: "Er grub ... mit seinen Zähnen, nahm auch die bräunlich lederne Kruste, packte den Laib in seine Hände und brach ein neues Stück ab; mit der Rechten essend, hielt er den Brotlaib mit der linken Hand fest [ ... ], dann spürte er rings um seinen Mund die Berührung des Brotes, wie eine trockene Zärtlichkeit, während seine Zähne sich weiter gruben." (Böll 1992, 116)

[8] Auch das Ehepaar Alice und Arno Schmidt wendete das Prinzip des Sammelns und Verwertens praktisch an. So schreibt Alice beispielsweise im Jahre 1973 an ihre Freundin Rosa Junge über ihre Zeit in Cordingen (Dezember 1945 - November 1950): "Wir freuten uns da über jede geschenkte Konservenbüchse [ ... ], die uns als Kochtöpfchen dienen konnte ..." (Reemtsma u. Rauschenbach 189)

[9] In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Arno Schmidt regelmäßig Care-Pakete von seiner Schwester Luzie erhielt, die seit ihrer Flucht mit ihrem jüdischen Ehemann in den Dreißiger Jahren in den USA lebte und der Arno Schmidt sein erstes veröffentlichtes Werk, die "Leviathan"-Trilogie, widmete, die 1949 bei Rowohlt erschien. Die Widmung lautet: "Mrs. Lucy Kiesler / New York, USA / meiner Schwester, / ohne deren nimmer fehlende Hilfe / ich längst verhungert wäre." (BA I/1, 507)

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Zeitgeschehen und Zeitkritik in 'Das Steinerne Herz' von Arno Schmidt - Der zeitgeschichtliche Hintergrund
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Zentrale Einrichtung für Lehre, Studium und Weiterbildung)
Autor
Jahr
2012
Seiten
20
Katalognummer
V189526
ISBN (eBook)
9783656137191
ISBN (Buch)
9783656138310
Dateigröße
452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
zeitgeschehen, zeitkritik, steinerne, herz, arno, schmidt, hintergrund
Arbeit zitieren
Hans-Georg Wendland (Autor:in), 2012, Zeitgeschehen und Zeitkritik in 'Das Steinerne Herz' von Arno Schmidt - Der zeitgeschichtliche Hintergrund, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/189526

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